Leseprobe - UVK Verlagsgesellschaft mbH

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Einleitung: Zugehörigkeiten – Identitäten
Von Adams Benennungen im Paradies (Gen 2, 19-20) bis hin zu den selbst
gewählten User-Namen in virtuellen Räumen – es sind zunächst und vor
allen anderen Dingen die Namen, mit denen Menschen sich und andere auf
eine bestimmte Zugehörigkeit festlegen oder, zuweilen auch gewaltsam,
festzulegen versuchen.1 Längere Zeit galt das Augenmerk der Mittelalterforschung der im Namen sichtbar gemachten ethnischen Zugehörigkeit: so
etwa das von der DFG geförderte Großprojekt „Nomen et gens“2 oder die
Vielzahl der Studien, die sich mit den gentilen Differenzen in der Namengebung von Normannen und Angelsachsen befassen.3
Im späteren Mittelalter trat diese ethnische Dimension – so sie je die Bedeutung hatte, die ihr das 19. und 20. Jahrhundert zuschrieben – allerdings
immer mehr in den Hintergrund zugunsten anderer Referenz- und Wertesysteme. Immer mehr Menschen begannen zunächst Bei- dann immer häu-
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Le nom dans les sociétés occidentales contemporaines, hrsg. von AGNÈS FINE und
FRANÇOISE-ROMAINE QUELLETTE (Les anthropologiques), Toulouse 2005; BARBARA BODENHORN und GABRIELE VOM BRUCK, “Entangled in histories”: an introduction to the anthropology of names and naming, in: The anthropology of names and naming, hrsg.
von DENS., Cambridge 2006, S. 1–28; Namen, hrsg. von ULRIKE KRAMPL und GABRIELA
SIGNORI (L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft,
20. Jg. Heft 1), Köln und Wien 2009.
Person und Name. Methodische Probleme bei der Erstellung eines Personennamenbuches des Frühmittelalters, hrsg. von DIETER GEUENICH, WOLFGANG HAUBRICHS und
JÖRG JARNUT (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde
32), Berlin und New York 2002; Name und Gesellschaft im Frühmittelalter. Personennamen als Indikatoren für sprachliche, ethnische, soziale und kulturelle Gruppenzugehörigkeit ihrer Träger, hrsg. von DIETER GEUENICH (Deutsche Namenforschung auf
sprachgeschichtlichen Grundlagen 2), Hildesheim u. a. 2006; Namen des Frühmittelalters als sprachliche Zeugnisse und als Geschichtsquellen, hrsg. von ALBRECHT
GREULE und MATTHIAS SPRINGER (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 66), Berlin und New York 2009. Vgl. die Kritik von HANS-WERNER GOETZ, Gentes in der Wahrnehmung frühmittelalterlicher Autoren und moderner
Ethnogeneseforschung: Zur Problematik einer gentilen Zuordnung von Personennamen, in: Person und Name (wie oben), S. 204–20, sowie DERS., Probleme, Wege und Irrwege bei der Erforschung gentiler Namengebung, in: Name und Gesellschaft (wie
oben), S. 319–35.
Vgl. den Überblick von JANET L. NELSON und FRANCESCA TINTI, The aims and objects
of the prosopography of Anglo-Saxon England: 1066 and all that?, in: Name und Gesellschaft (wie Anm. 2), S. 241–58.
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figer auch feste Nachnamen zu führen. Gerne wird die Entwicklung auf den
wachsenden Einfluß des modernen Staates bzw. ,moderner’ Verwaltungsapparate zurückgeführt.4 Doch dies ist eine eigentümliche Verkürzung
eines an sich bemerkenswert vielschichtigen Sachverhaltes, der nicht in der
Verwaltung, sondern in der Kultur verankert ist.
Mit dem Taufnamen gleichermaßen wie mit den Bei- oder Nachnamen
wurden – um mit der Primärbeziehung der Verwandtschaft zu beginnen –
Filiationen (bzw. Stammbäume) nicht abgebildet, sondern häufig erst erschaffen.5 Söhne trugen den Namen ihrer Väter oder Großväter und Töchter den Namen ihrer Mütter oder Großmütter. Was für die ehelichen Kinder
zutraf, galt auch für die ‚natürlichen’ Kinder, ebenso für die Paten- und die
Adoptivkinder.6 Im Falle der ‚natürlichen’, also illegitimen Kinder brachten die Namen auch zusammen, was von Rechtswegen nicht zusammengehören sollte. Die im Namen dokumentierten Verwandtschaftsbezüge sind
allerdings nicht immer eindeutig. Ein und derselbe Name konnte auf verschiedene Träger zurückgehen. So konnte ein Taufname zugleich auf den
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JAMES C. SCOTT, JOHN TEHRANIAN und JEREMY MATHIAS, The production of legal identities proper to state. The case of the permanent family surname, in: Comparative
Studies in Society and History 44 (2002), S. 4–44. Die Autoren machen die These stark,
die Praxis, einen festen Nachnamen zu führen, sei ein Produkt moderner Staatlichkeit;
so neben vielen anderen auch CLAIRE JUDDE DE LARIVIÈRE, Du sceau au passeport. Genése des pratiques médiévales de l’identification, in: L’identification. Genése d’un travail d’État, hrsg. von GÉRARD NOIRIEL, Paris 2007, S. 57–78. Aus der deutschen
Forschung siehe zuletzt etwa RUDOLF SCHÜTZEICHEL, Einführung in die Familienkunde,
in: MAX GOTTSCHALD, Deutsche Namenkunde, hrsg. von RUDOLF SCHÜTZEICHEL, Berlin
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2006, S. 13–76, bes. S. 47: „Die historischen Bedingungen für das Aufkommen der Familiennamen werden am ehesten in den praktischen Bedürfnissen städtischer oder
ähnlicher Verwaltungen zu suchen sein. Hier mußte bei den wachsenden Einwohnerzahlen und den wachsenden Verwaltungsaufgaben am ehesten das Bedürfnis zu
klarer Unterscheidung und Bezeichnung der Personen entstehen.“
CHRISTIANE KLAPISCH-ZUBER, La maison et le nom. Stratégies et rituels dans l’Italie de
la Renaissance (Civilisations et sociétés 81), Paris 1990; DIES., L’arbre des ancêtres. Essai
sur l’imaginaire médiéval de la parenté (L’esprit de la cité), Paris 2000; DIES., L’arbre
des familles, Paris 2003.
KLAPISCH-ZUBER, La maison (wie Anm. 5); Liens de famille. Vivre et choisir sa parenté
(Médiévales 19), Condé-sur-Noireau 1990; GABRIELA SIGNORI, ‘Family traditions’.
Moral economy and memorial ‘gift exchange’ in the urban world of the late fifteenth
century, in: Negotiating the gift. Pre-modern figurations of exchange, hrsg. von GADI
ALGAZI, VALENTIN GROEBNER und BERNHARD JUSSEN (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 188), Göttingen 2003, S. 295–328. Zu den Patenkindern
vgl. den Überblick von CHRISTOF ROLKER in diesem Band (S. 17–37).
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Vater und das Patrozinium der Taufkirche oder auf eine Patin und die
Großmutter verweisen.
Mit den Namen wurden aber nicht nur Verwandtschaftsbezüge konstruiert. Über Ruf- und Familiennamen konnten sich die Menschen auch in
vielfältiger Weise in ihren Lebensraum einschreiben – in die Region, die
Stadt oder das Kirchspiel, in denen sie lebten und denen sie sich auf die
eine oder andere Weise zugehörig fühlten. Solche Zugehörigkeiten konnten
mit ,lokalen’ Namen wie Sebald in Nürnberg oder Afra in Augsburg zur
Schau gestellt werden. Aber auch mit Hilfe von Beinamen verbanden sich
Menschen mit Orten und Räumen, in denen sie sich bewegten: Besonders
in Gebieten mit Streusiedlung standen Namen und Orte in regem Austausch, trugen Menschen die Orte, an denen sie lebten, im Namen oder
gaben, umgekehrt, den Orten ihren Namen.7 In anderen Regionen erhob
sich das Haus bzw. der Hof, der einem gehörte, zum Namensträger oder
Namensspender. Dasselbe galt für das Haus in der Stadt.8
Schon kurzfristige Aufenthalte fern der Heimat konnten zu Umbenennungen führen, weil die ,Übersetzung’ von Namen anders als in der Moderne weithin gebräuchlich war, so dass ein Giovanni di Nicolao Arnolfini
(ca. 1400 – nach 1452) zum Jean Arnoulphin wurde, wenn er von Lucca nach
Brügge überwechselte.9 Stabiler als diese ephemeren Namensformen waren
hingegen die Beinamen von Migranten, die sich über den Ort auswiesen,
von dem sie herkamen.10 Solche Namen ersetzten vorhandene Beinamen,
häufiger aber noch traten sie neben die alten und trugen so zu der für die
spätmittelalterlichen Stadt charakteristischen Mehrnamigkeit als Spiegel
konkurrierender Zugehörigkeiten bei.11
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FRANÇOIS MENANT, Die Namen der Landbevölkerung im Mittelalter (Oberitalien und
Südfrankreich), in: Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung,
hrsg. von REINHARD HÄRTEL (Grazer grundwissenschaftliche Forschungen 3), Graz
1997, S. 423–40, hier S. 431.
Vgl. Häuser, Namen, Identitäten. Beiträge zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte, hrsg. von KARIN CZAJA und GABRIELA SIGNORI (Spätmittelalterstudien 1), Konstanz 2009. Das Phänomen war bzw. ist nicht allein in den süddeutschen Städten verbreitet, für viele andere Regionen aber noch gänzlich unerforscht.
Das Beispiel nach ARNOLD ESCH, Viele Loyalitäten, eine Identität. Italienische Kaufmannskolonien im spätmittelalterlichen Europa, in: Historische Zeitschrift 254 (1992),
S. 581–608.
Anthroponymie et déplacements. Migrations, réseaux, métissage dans la chrétienté
médiévale, hrsg. von MONIQUE BOURIN and PASCUAL MARTÍNEZ SOPENA, Paris 2009.
Dieser Befund stellt aus Sicht der prosopographischen Forschung vor allem ein heuristisches Problem dar, siehe etwa HEINRICH RÜTHING, Der Wechsel von Personenna9
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Nicht allein in den Städten finden sich solche Namen, sondern auch Mönche und Studenten trugen den Ort, von dem sie herkamen, im Namen mit
sich. Johannes Butzbach (1477–1516) hieß in Miltenberg noch nach dem Heimatort des Vaters, eben Butzbach. Als Abt von Laach hieß er Johannes von
Miltenberg bzw. Piemontanus. Bei den Scholaren waren Namen, die auf
ihre Herkunft verwiesen, schon im 12. und 13. Jahrhundert gang und gäbe
– man denke nur an Petrus Lombardus (alias Novariensis) in Paris oder Johannes Teutonicus in Bologna. Das Phänomen ist bekannt, und dementsprechend häufig werden Namen als Indikatoren für das Einzugsgebiet
einer Stadt, eines Konvents oder einer Universität genutzt, trotz der damit
verbundenen methodischen Schwierigkeiten. Andere knüpften, wenn sie
ihren Kindern Namen verliehen oder den eigenen verändern wollten, an
Vorbilder aus Geschichte und Literatur an; wiederum andere entschieden
sich für prominente Heilige.12
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men in einer spätmittelalterlichen Stadt. Zum Problem der Identifizierung von Personen und zum sozialen Status von Stadtbewohnern mit wechselnden und/oder unvollständigen Namen, in: Medieval lives and the historian. Studies in medieval
prosopography, hrsg. von NEITHARD BULST und JEAN-PHILIPPE GENET, Kalamazoo,
Mich. 1986, S. 215–26 und die in der nächsten Anm. genannte Literatur. Für die ältere
Litera-tur siehe ADOLF BACH, Deutsche Namenkunde, Bd. 1: Die deutschen Personennamen (Grundriß der germanischen Philologie 18), Berlin 1943, § 347. Aus der neueren prosopographischen Forschung seien stellvertretend genannt: THOMAS ERTL, Ihr
irrt viel umher, Ihr jungen Leute. Der mittelalterliche Franziskanerorden zwischen
europäischer Entgrenzung und regionaler Beschränkung, in: Vita communis und ethnische Vielfalt. Multinational zusammengesetzte Klöster im Mittelalter, hrsg. von UWE
ISRAEL (Vita regularis 29), Berlin 2006, S. 1–34; RAINER CHRISTOPH SCHWINGES, Die Herkunft der Neubürger. Migrationsräume im Reich des späten Mittelalters, in: Neu- bürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten
Reiches (1250–1550), hrsg. von DEMS. (Zeitschrift für historische Forschung. Beihefte
30), Berlin 2002, S. 371–408; DERS., Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des alten Reiches, Stuttgart 1986, S. 222–30
sowie RAINER CHRISTOPH SCHWINGES und ROLAND GERBER, Einleitung, in: Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt 1392–1521 (Registrum baccalariorum de facultate arcium universitatis studii Erffordensis existencium), hrsg. von DENS.
(Veröffentlichungen der historischen Kommission für Thüringen. Große Reihe 3), Jena
und Stuttgart 1995, S. XI–LXV, hier S. XVIII–XXII zu wechselnden Namen und Namensformen.
Der Siegeszug der christlichen Namen ist insbesondere von der französischen Forschung schon vielfach beschrieben worden, vgl. Le prénom, mode et histoire. Entretiens de Malher 1980, hrsg. von JACQUES DUPÂQUIER, ALAIN BIDEAU und MARIEÉLIZABETH DUCREUX, Paris 1989; LOUIS PEROUAS, BERNADETTE BARRIÈRE, JEAN BOUTIER,
JEAN-CLAUDE PEYRONNET und JEAN TRICARD, Léonard, Marie, Jean et les autres. Les
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Höfische Vorlieben sind erkennbar, wenn Kinder Lanzelot hießen, während
der Name Alexander, wo immer er im Mittelalter auftaucht, den Anspruch
auf Weltherrschaft impliziert – im Übrigen auch bei den Päpsten.13 Äneas
oder Lukretia hingegen sind als humanistisches Bekenntnis zu lesen, zugleich stehen Namen wie Lukretia aber auch für ein neues Frauenbild, also
ein verändertes Wertesystem.14 Einige andere schließlich stellten im Namen
ihrer Söhne und Töchter ihre politische Gesinnung zur Schau, wenn sie sie
Friedrich, Maximilian, Karl oder Charles tauften.15 Auch an den Nachnamen wurde gearbeitet, wenn aus Konrad Pickel Conradus Celtes Protucius
(1454–1508) oder aus Rudolf Bauer Rudolfus Agricola Wasserburgensis (1490–
1521) wurde.16
Die Palette an Möglichkeiten, sich und seinen Kindern mit Hilfe der
Namen ein besonderes Profil zu verleihen, war demnach breit. Die Wahl
selbst, wie gesagt, aber selten eindeutig. Häufig verschmolzen Familientradition und Lokalgeschichte, Frömmigkeit und Pragmatismus, Politik und
Gewohnheit usw. Um dieses Spiel der Zugehörigkeiten und Bekenntnisse
begrifflich zu fassen, schien uns das Identitätskonzept sozusagen frei nach
Herbert Marcuse zu eindimensional.17 Im Vergleich zur Identität mögen
konkurrierende Zugehörigkeiten schlicht und farblos daherkommen, jedoch passt der Begriff besser zu unserem Anliegen. Es geht nämlich primär
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prénoms en Limousin depuis un millénaire, Paris 1984; JEAN-GABRIELA OFFROY, Le
choix du prénom, Paris 1993.
Zu Papstnamen siehe BERND-ULRICH HERGEMÖLLER, Die Geschichte der Papstnamen,
Münster 1980.
Speziell zu den Frauen vgl. OLIVIER GUYOTJEANNIN, Les filles, les femmes, le lignage,
in: L’anthroponymie. Document de l’histoire sociale des mondes méditerranéens médiévaux, hrsg. von MONIQUE BOURIN, JEAN-MARIE MARTIN und FRANÇOIS MENANT (Collections de l’École française de Rome 226), Rom 1996, S. 383–400; PATRICIA SKINNER,
„And her name was ...?“ Gender and naming in medieval Southern Italy, in: Medieval
Prosopography 20 (1999), S. 23–49; JOSEPH MORSEL, Personal naming and representations of feminine identity in Franconia in the later Middle Ages, in: Personal names
studies of medieval Europe. Social identity and familial structures, hrsg. von GEORGE
T. BEECH, MONIQUE BOURIN und PASCAL CHAREILLE (Studies in Medieval Culture 43),
Kalamazoo 2002, S. 157–80.
JOSEPH MORSEL, De l’usage politique et social des prénoms en Franconie à la fin du
Moyen Âge, in: Commerce, finances et société (XIe–XVIe siècles). Recueil de travaux
d’histoire médiévale offert à M. le Professeur Henri Dubois, hrsg. von PHILIPPE CONTAMINE, THIERRY DUTOUR und BERTRAND SCHNERB (Cultures et civilisations médiévales
9), Paris 1993, S. 379–93.
BACH, Deutsche Namenkunde (wie Anm. 12), § 373, S. 442–4.
Zum Konzept vgl. HERBERT MARCUSE, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (Schriften 7), Frankfurt 1989.
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darum, zu zeigen, dass es im Spätmittelalter für fast alle möglich war, bei
der Namengebung oder beim Namenswechsel zwischen mehreren Bezugssystemen zu wählen und mit den verschiedenen Bedeutungen zu spielen bzw. zu operieren.
Um diese Wahlmöglichkeit der Namen im Spiel- und manchmal auch
im Spannungsfeld unterschiedlicher Zugehörigkeiten kreist schließlich auch
vorliegender Sammelband, der in drei Blöcke unterteilt ist. Im ersten Teil
steht die Namengebung durch Eltern und Elternfiguren im Zentrum der
Aufmerksamkeit, im zweiten geht es um den erweiterten Kreis von Freundschaft und Verwandtschaft. Im dritten Teil sind Studien zusammengefügt,
die jenseits von Familie und Verwandtschaft die orts- und gruppenspezifischen Namenspraktiken fokussieren.
Die ,Elternschaften’, um die es in den Beiträgen des ersten Teils geht,
sind ganz unterschiedlicher Art. Vor allen anderen Verwandten waren es
leibliche und geistliche Eltern, also Mütter und Väter sowie Patinnen und
Paten, die den Namen eines Neugeborenen bestimmten. Häufig, aber keineswegs immer, gaben sie dabei ihre eigenen Namen weiter, wie Christof
Rolker im europäischen Vergleich zeigt. Sein Interesse gilt besonders dem
eigenartigen Widerspruch zwischen der prominenten Rolle der Paten bei
der Namengebung und ihrer ,Unsichtbarkeit’ in vielen anderen Zusammenhängen. Andreas Kraß analysiert das Zeichensystem Namen in den spätmittelalterlichen Melusine-Romanen und seine Rolle für die Ordnung der
Geschlechter. Er versteht den Begriff Geschlecht sowohl im Sinne von gender als auch von ,Familienverband’. Nicht um literarische, sondern um
höchst reale, allerdings illegitime Elternschaft geht es anschließend im Beitrag von Gabriela Signori, die im Spiegel der Namengebung den Beziehungen zwischen den Vätern und ihren ,natürlichen’ Kindern nachgeht.
Waren die Rufnamen in diesem Sinne zunächst einmal Familien- oder besser gesagt Verwandtensache, verbanden ausgerechnet die sogenannten ,Familiennamen’ in der Vormoderne den oder die Einzelne keineswegs nur
mit der Herkunftsfamilie und gegebenenfalls Heiratsverwandtschaft, sondern auch mit anderen Gesellschaftsgruppen: Mit ,künstlichen’ Verwandtschaften wie im Fall der Renaissance-Künstler, mit denen sich Christiane
Klapisch-Zuber befasst, oder der Kölner und Nürnberger Ratsherren-Familien, die Marc von der Höh bzw. Karin Czaja in den Blick nehmen. Nicht
die Zugehörigkeit zu agnatischen Verbänden bestimmte den ,Familiennamen’, sondern die Künstler-Dynastien und ratsfähigen Geschlechter konstituierten sich erst um die Namen herum. Zugleich banden Namen aller
Art den Einzelnen immer auch in Gruppen ein, die weit größer waren als
,natürliche’ oder ,künstliche’ Familienvebände. Peter Stabel zeigt anhand
der Handwerker-Zünfte im spätmittelalterlichen Brügge, wie sich Muster
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sozialer und räumlicher Mobilität in der Namengebung niederschlagen
konnten, wenn Eingesessene und Zugezogene, Meistersöhne und Aufsteiger, Angehöriger dieser oder jener Zunft ihr Verhältnis zueinander bestimmten. Noch größeren Verbänden widmet sich Sparky Bookers Beitrag
zu den Engländern im spätmittelalterlichen Irland. Die markanten Unterschiede zwischen gälischen und englischen Namen wurden einerseits sowohl von Zeitgenossen als auch späteren Historikern immer wieder als
Basis ethnischer Zuordnungen verwendet. Zugleich schlug sich, allen diesbezüglichen Verboten zum Trotz, in den neuen Namensformen aber auch
der rege Austausch zwischen den englischen und den irisch-gälischen Bevölkerungsgruppen nieder. Ebenfalls um Differenz und gleichzeitiger Interaktion geht es in Lilach Assafs Beitrag, der sich mit den Namenspraktiken
im aschkenasischen Judentum auseinandersetzt. So faszinierend die Unterschiede zwischen jüdischer und christlicher Namengebung auch sein
mögen, etwa in der dem Christentum fremden Differenzierung zwischen
heiligem und profanen Namen (shem kodesh bzw. shem chol), weist die Entwicklung der jüdischen Namenspraktiken im 13. und 14. Jahrhundert dennoch auch auf ein hohes Maß von Interaktion mit ihrer christlichen Umwelt
hin.
Egal wie groß die durch Namen konstituierten Gruppen, von der Kernfamilie bis zu ,nationalen’ und religiösen Gemeinschaften, auch immer sein
mochten, so gut wie nie erscheint die Namengebung als eine explizit regulierte oder institutionalisierte soziale Praxis.18 Das gilt auch für den im gesamten Mittelalter seltenen ,Ordensnamen’, für den sich bestimmte Muster
allenfalls lokal herausbildeten, wie Christof Rolker zeigt. Nur allmählich,
im Widerstreit der Konfessionen, bildete sich eine entsprechende Praxis heraus, die erst im Rückblick als etablierte Tradition erscheinen konnte. Andere Formen von Zugehörigkeit nimmt Gabriela Signori in ihrem Vergleich
dreier Dorfgemeinschaften in den Blick. Namenspraktiken – Nennen und
Benanntwerden – variieren hier auf engstem Raum. Immer wieder anders
gestaltet sich das Wechselspiel zwischen Land und Leuten, Männern und
Frauen, Herrschaft und Genossenschaft.
Konstanz, 2010
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Christof Rolker und Gabriela Signori
Siehe auch KARIN CZAJA und GABRIELA SIGNORI, Editorial, in: Häuser, Namen, Identitäten (wie Anm. 8), S. 7-10, hier 7-8.
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