Der wilde Westen. Es ist die Zeit der Indianerkriege, kurz vor der

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Der wilde Westen. Es ist die Zeit der Indianerkriege, kurz vor der
Der wilde Westen. Es ist die Zeit der Indianerkriege, kurz vor der großen Schlacht am Little Big Horn 1876. Amerika
ist noch ein junger Staat, erst hundert Jahre alt. In Scharen kommen neue Einwanderer aus Europa. Auf der Suche
nach günstigem Farmland, Gold und Abenteuern dringen sie immer weiter in den unerschlossenen Westen vor.
Unerschlossen, aber nicht unbesiedelt. Mehrere Indianerstämme leben in dem steppenartigen Gebiet zwischen
dem großen Fluss Missisippi im Osten und dem Gebirge der Rocky Mountains im Westen. Doch je weiter die
Siedler in den wilden Westen gelangen, desto mehr drängen sie die Indianer zurück und nehmen ihr Land in Besitz.
Den Indianern werden Reservate zugewiesen, in denen sie leben sollen. Doch die Siedler halten sich nicht an
diese Grenzen. Die Indianerstämme beginnen sich zu wehren. Erbitterte Kämpfe brechen aus, in denen vor allem
die Indianer hohe Verluste zu beklagen haben. Frieden scheint fast nicht mehr möglich zu sein. Fast. Denn in den
unendlichen Weiten der Prärie, in der Nähe eines Berges – nennen wir ihn Monberg – ereignet sich etwas, das
später als Pfad des Großen Geistes bekannt werden soll.
Es ist ein heißer Vormittag. Orientierungslos irrt ein Cowboy durch die trockene Graslandschaft der
Prärie als er auf eine Indianerin trifft – ebenfalls umherirrend.
Cowboy: (erschrocken)Eine Rothaut!
Indianerin: (ebenso erschrocken) Ein Bleichgesicht!
Schnell zieht der Cowboy seinen Revolver. Die Indianerin schwingt drohend ihren Tomahawk.
Finster blicken sich beide an.
Cowboy: (drohend) Komm mir bloß nicht zu nahe, Rothaut!
Indianerin: (ebenso bedrohlich) Bleib weg von mir, Bleichgesicht!
Unsicher verharren sie in ihrer Position. Dann ergreift die Indianerin das Wort.
Indianerin: Sag, Bleichgesicht. Haben sich noch mehr von deiner Sorte hier versteckt?
Cowboy: (irritiert) Von meiner Sorte?
Indianerin: Cowboys meine ich: Grob, ungepflegt und ziemlich faul sind sie.
Cowboy:
Nein, ich bin allein hier. Und du, Rothaut. Hast du noch welche von deinen Brüdern mitgebracht?
Indianerin: Nein, aber ich hole gleich meine Brüder, wenn du dich auch nur einen Schritt näherst.
Cowboy:
Keine Sorge, ich bin ja nicht lebensmüde. Ihr Rothäute nehmt euch den Skalp eines weißen Mannes,
noch bevor er bis drei zählen kann.
Indianerin: Ich dachte, Cowboys können gar nicht zählen. Ihr seid doch nur Kuhhirten.
Cowboy:
Nicht so schnell. Ich würde sagen, du bist hier der Wilde von uns beiden.
Indianerin: (empört) Die. Wenn schon die Wilde.
Cowboy:
Oh. Das ist mir aus der Ferne gar nicht aufgefallen. Ihr Rothäute seht ja auch alle gleich aus: Schwarze
Haare, Adlernase und bunt bemalt.
Indianerin: Nicht wir, ihr Cowboys seid alle gleich. Lungert nur herum, kaut ständig Tabak und spielt
Mundharmonika.
Cowboy: (herausfordernd) Ich könnte dir das Lied vom Tod spielen, wenn du nicht bald deine Klappe hältst.
Indianerin: Ich habe keine Angst vor dir, Bleichgesicht.
Cowboy:
Dann sag mir ehrlich, was du hier machst, Rothaut?
Indianerin: Ich habe mich verirrt.
Cowboy: Typisch Frau. Kann keine Karte lesen und Fährten schon gar nicht.
Indianerin: Und du? Was machst du hier?
Cowboy: (druckst herum) Nun ja, ich habe mich auch – weißt du vielleicht wie ich in die Stadt komme?
Indianerin:(spöttisch) Oho, fragt mich da etwa gerade ein Mann nach dem Weg?
Cowboy:
Ja, äh, Nein. Ich weiß natürlich genau, wo es lang geht. Aber da du ja jetzt schon mal da bist, könntest
du mir helfen. Ich muss nämlich schnell dorthin. Ich habe um fünf vor zwölf ein Duell vorm Saloon.
(Er legt Gewicht in seine Stimme) Ist was Persönliches.
Indianerin: Dass ihr Cowboys euch immer duellieren müsst! Nur gut, dass du dich nicht auch noch für etwas
Belangloses umlegen lässt. Aber wie gesagt: Ich habe mich verirrt.
Cowboy:
Und wie ist das passiert?
Indianerin: Auf der Bisonjagd. So viele Monde schon habe ich keinen Bison mehr gesehen, weil der weiße Mann
hier alles, was grast, getötet hat. Plötzlich steht ein Bison mitten vor mir. Ich also auf mein Pferd und
hinterher. Da kreuzt doch so ne blöde Klapperschlange unseren Weg. Mein Pferd erschrickt, wirft mich
ab und lässt mich in dieser Einöde zurück.
Cowboy: (ungläubig) Einen Bison willst du gejagt haben? Das ich nicht lache.
Indianerin: (beleidigt) Natürlich habe ich das. Wieso nicht?
Cowboy:
Na, weil du eine Frau bist. Frauen können nicht Jagen. Das ist Männersache.
Indianerin: Vielleicht ist das bei euch so. In unserem Volk werden Frauen sogar zu Häuptlingen gewählt. Warum
sollte ich dann nicht auf die Jagd gehen? Aber was red‘ ich überhaupt mit dir. Ich muss gucken, dass ich
zu meinem Stamm zurückkehre.
Die Indianerin sammelt ein paar umliegende Zweige auf und entfacht damit ein Feuer. Anschließend bedeckt sie
das Feuer mit feuchtem Gras. Rauch bildet sich. Die Indianerin rollt eine Decke aus und hält sie in unregelmäßigen
Abständen über den Rauch. Kleine graue Wolken steigen in den Himmel.
Cowboy: Was machst du da, Rothaut?
Indianerin: Ich gebe Rauchzeichen, Bleichgesicht. Vielleicht sieht jemand von meinem Stamm das Signal und kommt
zu Hilfe.
Cowboy: Das ist aber eine veraltete Kommunikationsmethode! Man bräuchte hier einen Telegrafen, dann könnte
ich SOS ins nächste Posthaus senden.
Indianerin: Ein Telegraf? Was ist das?
Cowboy: Das Neueste auf dem Marktplatz. Ein Telegraf übermittelt Nachrichten von einem Ort zum anderen.
Die Nachricht geht durch ein Kabel und kommt am anderen Ende wieder heraus. So kann man mit
jemandem in Kontakt treten, der hunderte von Kilometern entfernt ist. Du wirst schon sehen, bald wird
hier alles verkabelt sein, die ganze Prärie.
Indianerin: Ja, wir Indianer haben euren Drang nach Fortschritt und Technik bemerkt. Unser Medizinmann
prophezeit, dass ihr irgendwann sogar eure Worte bis zu den Sternen schicken werdet und am anderen
Ende der Welt kann man sie hören. Geschichten werden nicht mehr auf einem Totempfahl festgehalten
werden, sondern in kleinen schwarzen Kästen mit vielen Tasten. In einem Buch mit Gesicht, wird jeder
Mensch aufgeführt sein und alle werden immer alles sofort voneinander wissen.
Cowboy:
Totempfahl, schwarze Kästen, Gesichtsbuch? Ich glaube, du bist ein bisschen zu oft ums Feuer getanzt.
Der Rauch hat dir die Sinne vernebelt.
Indianerin: Das einzige, was die Sinne vernebelt ist das Feuerwasser, mit dem ihr Cowboys uns Indianer krank
machen wollt. Aber ist schon klar, dass du von sowas nichts verstehst.
Cowboy:
Gut, dann lass uns hier noch hunderte Jahre warten, bis wir unsere Worte zu den Sternen schicken
können und Hilfe kommt. Ich mache in der Zeit ein Nickerchen.
Indianerin: (zu sich) Ich sag’s ja: Grob und vor allem faul sind Cowboys.
Der Cowboy lehnt sich an einen Stein und zieht seinen Hut ins Gesicht. Die Indianerin gibt weiter Rauchzeichen.
Immer wieder senkt sie ihre Decke über die Feuerstelle bis nur noch winzige Wölkchen aufsteigen. Doch weit und
breit ist keine Rettung in Sicht. Müde lässt sich die Indianerin zu Boden sinken. Der Cowboy wacht auf.
Indianerin: (entmutigt) Dann können mir jetzt nur noch höhere Mächte helfen.
Cowboy: (begeistert) Das ist gar keine schlechte Idee! Ich werde ein Gebet sprechen.
Der Cowboy faltet andächtig seine Hände. Die Indianerin unterbricht ihn.
Indianerin: Wie willst du das hier machen? Ich habe gehört, der Gott der Cowboys wohnt in einem großen Haus mit
Turm und empfängt nur sonntags Besuch.
Cowboy: (schroff) So’n Quatsch. Zu Gott kann man immer sprechen. Dazu braucht man nicht in die Kirche zu
gehen.
Indianerin: Und welcher Gott ist das, zu dem du sprechen willst? Ist es ein Wüstengeist? Oder ein Ahnengeist?
Oder ist es dein Schutzgeist?
Cowboy: (irritiert) Es gibt doch nur einen.
Indianerin: (enttäuscht) Das ist aber zu wenig. Einer allein kann sich doch gar nicht um alles kümmern. Bei uns gibt
es viele verschiedene Geister. Jeder ist für etwas anderes zuständig.
Cowboy: Dann sind eure Geister bestimmt gar nicht so mächtig, wenn man sie nur für eine Sache anrufen kann.
Unser Gott ist so machtvoll, dass er sich um alles gleichzeitig kümmert.
Indianerin: (beleidigt) Pah, dann werde ich eben den Großen Geist Manitu anrufen. Die Indianerin geht einige Meter weit weg und stellt sich vor einen Felsen. Andächtig schließt sie die Augen.
Der Cowboy unterbricht sie.
Cowboy: (mitleidig) Oje. Es muss ziemlich schlimm um eure Geister stehen, wenn du jetzt auch noch einen Stein
um Hilfe bittest. Indianerin: In diesem Felsen steckt der Große Geist. Wie in allem um uns herum: In einer Pflanze, in einem
Sandkorn, in einem Tier. Der große Geist wird durch diesen Felsen wirken und mir Hilfe schicken.
Cowboy: Wer ist denn dieser große Geist überhaupt?
Indianerin: Der Große Geist ist keine Person, es ist eine Kraft. Man könnte auch sagen, es ist das höchste Wesen,
das es gibt. Der Große Geist hat die Erde geschaffen und herrscht über sie.
Cowboy: Dann sprichst du von unserem Gott. Er ist der Schöpfer und Herrscher der Erde. Wir stellen ihn uns nur
ein bisschen anders vor. Wahrscheinlich aber haben wir denselben Gott. Indianerin: (spitzfindig) Das glaube ich nicht. Ich habe gehört, ihr müsst nach strengen Regeln leben und dürft
keinen Spaß haben. Wir leben nach der Natur und haben immer viel Spaß.
Cowboy: (eingeschnappt) Wir haben auch Spaß. Aber wie du meinst. Dann bete du zu deinem Gott und ich bete
zu meinem. Wir werden ja sehen, wer zuerst hilft. Beide schließen andächtig ihre Augen. Nach kurzer Zeit öffnen sie sie wieder, verschränken die Arme vor der
Brust und schauen sich trotzig an. Zehn, zwanzig, dreißig Minuten lang stehen sie so da, doch nichts passiert. Die
unendliche Weite der Prärie ist immer noch genau so wüst und leer und unendlich, wie sie es schon vor einer
halben Stunde war. Die Indianerin fängt an zu weinen.
Indianerin: (schniefend) Ach, es ist hoffnungslos. Wir werden niemals von hier wegkommen.
Cowboy: (mitfühlend) Brauchst du ein Taschentuch?
Der Cowboy reicht ihr ein rosafarbenes Taschentuch. Die Indianerin will sich gerade darin ihre Nase putzen, als sie
stutzig wird.
Indianerin: (entsetzt) Hey, Moment mal, das ist ja rosa. Und was ist da eingestickt? Mama? Oje, du bist ja gar kein
Revolverheld, du bist ein Pantoffelheld!
Der Cowboy reißt ihr das Taschentuch aus der Hand, stopft es zurück in seine Tasche und zieht ein blaues hervor.
Cowboy: (erschrocken) Hoppla, das ist mir völlig durchgegangen. Hier, nimm das! Das ist mein
Vorzeigetaschentuch.
Indianerin: (ungläubig) Ich hätte nie gedacht, dass Cowboys überhaupt Taschentücher benutzen. Du bist wirklich
anders, als ich mir einen Cowboy vorgestellt habe.
Cowboy: Und du bist anders als ich mir Indianer vorgestellt habe. Du heulst wie die Niagara-Fälle. Dabei sagt man
doch immer, Indianer kennen keinen Schmerz.
Indianerin: Ja, komisch. Und deinen Skalp hast du auch immer noch, obwohl wir hier schon den halben Vormittag
rumhängen.
Cowboy: Stimmt. Das kann nur daran liegen, dass ich dich bisher noch nicht mit meinem Mundharmonika-Spiel
genervt habe.
Beide fangen an zu lachen.
Cowboy: Da haben wir schon recht seltsame Dinge voneinander gedacht.
Indianerin: Ja, aber gut, dass wir uns getroffen haben, um zu sehen, dass das gar nicht stimmt. (stichelt) Bis auf die
Sache mit den Duells.
Cowboy: (stichelt zurück) Und die schwarzen Haare.
Beide lachen erneut.
Cowboy: Sag mal, hast du eigentlich einen Namen, Rothaut?
Indianerin: Natürlich. Ich heiße „Schöner Tag“. Und du Bleichgesicht?
Cowboy: Wolfgang.
Indianerin: (grübelt) Hm… Wolfgang… Ich werde dich „Der mit dem Wolf geht“ nennen.
Der Cowboy überlegt.
Cowboy: Was hältst du davon, wenn wir ab jetzt zusammen nach einem Ausweg suchen?
Indianerin: Geht klar. Aber zuerst setzen wir uns hin und rauchen Friedenspfeife. Mein Volk sagt: „Ein Kriegsbeil ist
erst dann begraben, wenn man nicht mehr weiß, wo es liegt.“
Die Indianerin holt eine kleine Pfeife mit langem Stil hervor und zündet sie an. Nach ein paar Zügen reicht sie die
Pfeife dem Cowboy. Dieser zieht ebenfalls daran. Dann holt er ein Döschen Kautabak hervor und reicht es der
Indianerin. Beide kauen vergnügt vor sich hin, als plötzlich eine Staubwolke am Horizont erscheint. Pferde wiehern.
Eine Gruppe Indianer galoppiert heran.
Indianerin: (aufgeregt) Schau! Dahinten! Da kommen meine Brüder. Der große Geist hat sie auf meine
Rauchzeichen aufmerksam gemacht und hergeschickt.
Cowboy: (geknickt) Hast du ein Glück.
Indianerin: (geheimnisvoll) Du auch. Warte einen Moment.
Die Indianerin rennt auf die Gruppe zu. Nach kurzer Zwiesprache kommt sie zurück. An ihrer Hand hält sie ein
Pferd, das sie dem Cowboy gibt.
Indianerin: Hier, das ist schneller Wind. Du kannst es haben und damit zurückreiten.
Cowboy: (überrascht) Das ist wirklich sehr großzügig von dir, Schöner Tag. Als Zeichen meiner Freundschaft
schenke ich dir diesen Sheriffstern. Mein Vater trug ihn einst. Er ist das Symbol für Aufrichtigkeit,
Tapferkeit und Gerechtigkeit.
Indianerin: (anerkennend) Auch ich danke dir, „Der mit dem Wolf geht“. Als Zeichen meiner Wertschätzung
bekommst du von mir diese Feder. Sie ist leider nicht rosa, aber sie ist das Zeichen unserer
Stammeszugehörigkeit.
Die beiden tauschen die Gegenstände aus und schwingen sich auf ihre Pferde.
Indianerin: Leb wohl, „Der mit dem Wolf geht“. Meine Brüder sagen, dass du etwa eine halbe Stunde der Sonne
entgegen reiten musst, dann kommst du auf eine Straße, die dich in die Stadt des weißen Mannes führt.
Zu deinem Duell wirst du aber wahrscheinlich nicht mehr rechtzeitig kommen.
Der Cowboy gibt dem Pferd die Sporen und schwingt seinen Cowboyhut.
Cowboy:
Ach, das ist gar nicht so schlimm. Heute habe ich etwas viel Größeres gewonnen:
Die Freundschaft zu einer außergewöhnlichen Indianerin.
ZEIT: ca. 12 min
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»Der Pfad des
Großen Geistes«
ist ein Projekt der
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