Was Lex Luthor mit Genelun gemeinsam hat und warum

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Was Lex Luthor mit Genelun gemeinsam hat und warum
Was Lex Luthor mit Genelun gemeinsam hat und
warum Odysseus Tristan gemocht hätte. Die Kunst der
Intrige im kompetenzorientierten Deutschunterricht
Claudia Lauer
I.
Intrige und Intrigant im kompetenzorientierten
Deutschunterricht
Ob Iago in Shakespeares ›Othello‹, Franz Moor in Schillers ›Die Räuber‹, J.R.
Ewing aus der TV-Serie ›Dallas‹ oder Lex Luthor in ›Superman‹ – der Intrigant,
wie er in neuzeitlicher Literatur, TV-Serien und Filmen in Erscheinung tritt, ist in
der Regel der skrupellose, brutale und böse Feind in den eigenen Reihen. Machtund rachsüchtig oder einfach nur aus purer Lust an Boshaftigkeit versucht er,
anderen mit strategischer List, Lüge und Täuschung Schaden zuzufügen, um zu
seinem eigenen Vorteil zu kommen. Dabei ist ihm jedes Mittel recht: Er verheimlicht und betrügt, manipuliert und verwirrt und präsentiert sich mit seinem
falschen Spiel geradezu als Prototyp »menschlicher Verruchtheit und Schläue,
hinterhältiger List und abgründiger Tücke« (Deiters 1966, S. 143). Was als kulturund literaturgeschichtliches Phänomen spätestens mit der Aufklärung unter dem
Begriff ›Intrige‹ aus frz. intriguer (›Ränke schmieden‹, ›in Verlegenheit bringen‹)
seinen ›Siegeszug‹ in der Moderne antritt und v. a. in seiner deutschsprachigen
Semantik großen Widerwillen auslöst (vgl. Pourroy 1986, S. 103), genießt bei
seiner antiken ›Geburtsstunde‹ einen weitgehend anderen Ruf. Als besonderes
›Kunststück‹ und so genanntes mechnema (mhcánhma) vereint das Phänomen
sämtliche Formen strategischer Klugheit und wirft keinerlei ethisch-moralische
Bedenken auf: Die eigene Rettung bzw. das eigene Glück »oder aber das Verderben des Gegners ist das Ziel; dazu gilt es den Weg zu finden und – das kommt
entscheidend hinzu – den, gegen den sich das mhcánhma richtet, über Motive und
Ziele zu täuschen.« (Solmsen 1932, S. 4). Und so blickt die Antike mit großer
Anerkennung auf die berühmte »Urszene abendländischer Intrige« (Bucheli
2006) und den ›Feind im eigenen Innern‹: Versteckt im Bauch eines riesigen
Holzpferdes gelingt dem polymchanos, dem erfindungsreichen und listigen
Odysseus, planmäßig der bis dahin unmögliche Sieg über Troja und damit die
erfolgreiche Rache für die Entführung Helenas.
Die intensive Auseinandersetzung mit literarischen Werken, Gattungen und
Motiven ist wesentlicher Kern des schulischen Deutschunterrichts. Mit der Einführung von bundesweit einheitlichen Bildungsstandards hat sich die Perspektive
grundlegend verändert. Statt input-orientierten Lerninhalten stehen nun outputorientierte Lernziele im Zentrum, die der Ausbildung von Kompetenzen dienen,
die im Sinne individuell »verfügbare[r] oder durch sie erlernbare[r] kognitive[r]
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Fähigkeiten und Fertigkeiten« dazu beitragen, »bestimmte Probleme zu lösen«
und »motivationale, volitionale und soziale Bereitschaften und Fähigkeiten« mit
einschließen, um Problemlösungen »in variablen Situationen erfolgreich und
verantwortungsvoll nutzen zu können« (Weinert 2001, S. 27 f.). Das Fach Deutsch
umfasst hier, so formulieren es beispielsweise die KMK-Bildungsstandards 2012
für die Allgemeine Hochschulreife, sowohl domänenspezifische als auch prozessbezogene Kompetenzbereiche. Es leistet darüber hinaus aber auch einen
wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung, die die kompetente
Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung der Vielgestaltigkeit von Kultur und
Lebenswirklichkeit umfasst. Schülerinnen und Schüler sollen dabei Kompetenzen erwerben, die »die Fähigkeit zur Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben« (KMK-Bildungsstandards 2012, S. 10) festigen und einen »souveränen und verständigen Umgang mit dem kulturell Anderen« (ebd.) erlauben.
Eine wichtige Rolle spielt hier der Vergleich »relevante[r] Motive, Themen und
Strukturen literarischer Schriften, die auch über Barock und Mittelalter bis in die
Antike zurückreichen können« (ebd., S. 21): Der Vergleich soll helfen, »diachrone und synchrone Zusammenhänge zwischen literarischen Texten [zu] ermitteln und Bezüge zu weiteren Kontexten« (ebd.) herzustellen, um »die in literarischen Werken enthaltenen Herausforderungen und Fremdheitserfahrungen kritisch zu eigenen Wertvorstellungen, Welt- und Selbstkonzepten in Beziehung zu setzen« (ebd.). Welche Wahrnehmungs- und Bewertungskompetenzen
können Schülerinnen und Schüler, so lässt sich also die Frage aufwerfen, durch die
systematische Beschäftigung mit der Intrige lernen, die als ein zentrales Thema
abendländischer Literaturgeschichte von Odysseus List über Franz Moors
Ränkespiel bis hin zu Lex Luthors Machenschaften reicht? Worin besteht ihre
epochenübergreifende Faszination und wie kann es geschehen, und das ist
ebenfalls entscheidend zu fragen, dass sie in modernen Texten und Medien so
radikal ins Negative kippt?
Der vorliegende Beitrag sucht Antworten auf diese Fragen. Er versteht sich als
ein Experiment im Spannungsfeld zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik
und setzt dabei bewusst aus mediävistischer Perspektive an. Zwei Gründe lassen
sich hierfür benennen. Erstens bietet die mittelalterliche Literatur generell, das
haben zahlreiche Veröffentlichungen der letzten Jahre gezeigt, aus fachdidaktischer Sicht einen besonderen Gewinn. Zum einen ist »das Mittelalter […] bei
Jugendlichen populär« (Miedema/Sieber 2013, Klappentext). Als »wichtiger
Bestandteil der kulturellen und literarischen Praxis von Kindern und Jugendlichen – sei es in Form von Computerspielen, […] im populären Genre der Fantasyliteratur oder […] im populären Kinder- und Jugendfilm« (Berthold 2012,
S. 115) – knüpft es gezielt an die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern an
und bietet damit für die pädagogische Praxis einen wichtigen Bezug zur außerschulischen Wirklichkeit. Zum anderen erweist sich die Alteritätserfahrung als
nützlich. Auf den ersten Blick als ›kulturell Anderes‹ in ihrer sprachlichen Verfasstheit und ihren fiktionalen Weltentwürfen ›unvertraut‹ und ›irritierend‹,
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Die Kunst der Intrige
aufgrund ihrer Kontinuität und gegenwärtigen Präsenz letztlich jedoch »keineswegs völlig fremd« (Kiening 2005, S. 162), regt die mittelhochdeutsche Literatur
textnahes Lesen an und unterstützt nachweislich Textverstehensprozesse sowie
einen historisch-reflektierten Umgang mit dem ›kulturell Eigenen‹ (vgl. Müller
1996 und Möbius 2010). Ein zweiter essentieller Grund für den mediävistischen
Ansatz ergibt sich durch das Thema ›Intrige‹ selbst – kommt hier der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters doch fachwissenschaftlich gesehen eine
besondere Schlüsselstellung zu. Literarische Helden wie der listige und täuschende Reinhart Fuchs oder König Rother, Siegfrieds Tarnkappe und sein tödlicher Verrat durch Hagen, Tristans strategische Liebeslisten und -lügen oder auch
die Ränkespiele seiner Gegner belegen nicht nur früh eine hohe Attraktivität von
Listmotiven und Täuschungsstrategien im Mittelalter. Zugleich entfaltet sich
hierbei auch ein reichhaltiges literarisches Tableau an Formen und Lizenzen, das
markant zwischen antiken Vorstellungen meist positiv gesehener listiger Selbsterhaltung bzw. -behauptung und neuzeitlicher, zumeist negativ konnotierter
Selbstermächtigung oszilliert und damit immer wieder signifikante Einblicke in
kulturhistorische Zusammenhänge und Wandlungsprozesse gibt.
Im Folgenden wird dieses doppelte ›mittelalterliche Potential‹ konsequent
genutzt. Der Beitrag will dabei nicht nur zeigen, wie variationsreich die Kunst der
Intrige in mittelhochdeutschen Texten verhandelt wird. Zugleich soll so auch die
Basis für eine abschließende historische Vergleichsskizze geschaffen werden, die
die mittelalterlichen List-Logiken in diachrone Zusammenhänge stellt und
deutlich macht, wie Schülerinnen und Schüler dabei einen vertieften Umgang mit
der eigenen kulturellen Lebenswirklichkeit erlernen können, der als wesentlicher
Bestandteil der ›Persönlichkeitsentwicklung‹ ein maßgebliches Ziel des kompetenzorientierten Deutschunterrichts ist.
II. Das Muster der Intrige
Will man das Thema ›Intrige‹ in synchronen wie diachronen Zusammenhängen
beleuchten, bedarf es zunächst einiger theoretisch-methodischer Vorüberlegungen. Als Ausgangspunkt bietet sich das Modell von Peter von Matt an, der die
Intrige erstmals als »universales Element der erzählenden Menschheit« (von
Matt 2006, S. 457) perspektiviert und kulturwissenschaftlich in ihrer metaphysischen Tiefendimension als »zivilisationsgeschichtliches Schlüsselereignis« (ebd.,
S. 226) gedeutet hat. Nach von Matt ist die Intrige eine »geplante, zielgerichtete
und folgerichtig durchgeführte Verstellung zum Schaden eines anderen und zum
eigenen Vorteil« (ebd., S. 54), der eine »präzise und feingliedrige Morphologie«
(von Matt 2002, S. 26) zu eigen ist. Die Intrige geht dabei zumeist von der Erfahrung einer Unzulänglichkeit, einer so genannten Notsituation, aus und
schreitet in zeitlicher Abfolge grosso modo drei Phasen ab: die Planung bzw.
Planszene, die Plandurchführung, die v. a. auf Akten der Simulation und DissiMitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426
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mulation basiert, und schließlich die Anagnorisis, das »Wiedererkennen im
wörtlichen Sinn« (von Matt 2006, S. 120) und die Auflösung des gesamten Täuschungsgeschehens.
Von Matts Studien geben zentrale literatur- und kulturwissenschaftliche Einblicke in die Charakteristika der Intrige, die sich für den kompetenzorientierten
Deutschunterricht fruchtbar machen lassen. Erstens bietet von Matt eine Definition, die sich mit Blick auf die historische Varianz des Phänomens zwischen
Antike und Moderne zu einer heuristischen Arbeitsbezeichnung umformulieren
lässt: Das Thema ›Intrige‹, so kann offen und konnotationsfrei reformuliert
werden, umfasst jede Art von List, Lüge und Täuschung, die sich als im Kern
strategisch-planmäßig bzw. absichtsvoll-intentional und als Aktion von innen,
d. h. aus den eigenen gesellschaftlichen Denk- und Handlungsmustern heraus,
erweist. Ob die intrigenhafte Aktion dabei primär – wie zumeist in der Neuzeit –
oder nur sekundär – wie häufig in der antiken Literatur – auf den Schaden anderer
zielt und sich vor dem Hintergrund bestehender Normen und Werte als »Triumph
der Klugheit oder Blendwerk des Bösen« (Semmler 1991, S. 9) erweist, bleibt so
also definitorisch offen bzw. Signum historischer Varietät. Zweitens liegt mit von
Matts Intrigenmorphologie eine Konzeption vor, die sich mit Hilfe erzähltheoretischer Grundlagen noch einmal präzisieren lässt. Die Intrige kann dabei zum
einen als ein Erzählmuster verstanden werden, das über einen »typische[n]
Handlungs- oder Erzählablauf« (Martnez 1997, Sp. 506) verfügt, der sich nach
spezifischen »Handlungsfixpunkten« (Schmid-Cadalbert 1985, S. 87) bzw. ›Stationen‹ (vgl. z. B. Pörksen/Pörksen 1980) sequenzieren und erschließen lässt. Im
Anschluss an den so genannten cultural turn der Geisteswissenschaften lässt sich
das Narrativ zum anderen aber auch als ein »anthropologisch vorgegebene[s],
kulturell entwickelte[s] und diversifizierte[s] Grundmuster« (Schönert 2004,
S. 132) verstehen, das sich in Hinblick auf die spezifische literarische Verhandlung
eines so genannten ›Kulturmusters‹ (vgl. Fulda 2010; Fulda/Kerschbaumer 2011)
qualitativ beleuchten lässt: Wie werden die Erzählbausteine in den literarischen
Texten präsentiert und welche Konzepte, Praktiken und Deutungsschemata
kristallisieren sich dabei heraus? Wie stehen diese in Bezug zu außerliterarischen
Denk- und Wahrnehmungsmustern der Zeit, aber auch zu kulturell anderen
Repräsentationen des Erzählmusters? Wo überschneiden sie sich und wo liegen
Differenzen? Mit der definitorischen Öffnung und der erzähltheoretischen
Grundierung des Intrigenverständnisses von von Matt liegt so ein Untersuchungsinstrumentarium vor, das es erlaubt, das Thema ›Intrige‹ nicht nur präzise
synchron in seinen unterschiedlichen literarischen Ausprägungen und kulturhistorischen Zusammenhängen zu beleuchten. Es lassen damit v. a. auch seine literarhistorischen Wandlungsprozesse als Kulturmuster systematisch-differenziert
nachvollziehen: von antiken mechnema-Konzeptionen über Mischformen bis
hin zu modernen Mustern der Intrige.
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Die Kunst der Intrige
III. Zwei mittelalterliche Fallbeispiele
Die deutschsprachige Literatur des Mittelalters zeichnet sich, wie bereits angedeutet, von Beginn an durch ein auffällig breites Spektrum an Listmotiven und
Täuschungsstrategien aus. So vielseitig das Tableau an Formen und Wertungen ist
– bei näherer Betrachtung offenbaren sich über die Perspektive von Pro- und
Antagonist zwei grundlegend verschiedene Spielarten, die sich an zwei frühen
großen Vertretern listigen und täuschenden Handelns exemplifizieren lassen: an
Tristrant aus dem gleichnamigen Werk Eilharts von Oberge und Genelun aus dem
›Rolandslied‹ des Pfaffen Konrad.
Genelun
Die Geschichte Karls des Großen und seines Kreuzzugs gegen die Heiden in
Spanien gilt als eines der »Schlüsselwerk[e] der europäischen Literatur des Mittelalters« (Rolandslied, Vorwort Kartschoke). Mit der Übertragung der afrz.
›Chanson de Roland‹ schafft der Pfaffe Konrad dabei um 1170 nicht nur das »erste
[…] höfische Epos der deutschen Literatur« (ebd.). Im Rahmen der spannungsgeladenen Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen betritt zugleich
auch eine der ›dunkelsten‹ Figuren die deutschsprachige Bühne: Genelun, der
große Gegenspieler des Titelhelden.
Eingeführt wird Genelun gleich zu Beginn. Als Schwager Karls gehört er zu
den zwölf wsesten (v. 68), tapfersten und Gott ergebensten Fürsten, Herzögen
und Grafen, denen als enge Vertraute des Kaisers ein ratgebendes Mitspracherecht im Rahmen des theokratisch verankerten und vasallitisch geprägten Herrschaftsverbandes zukommt. Karls göttlicher Auftrag zum Kreuzzug gegen die
spanischen Heiden, dem die Franken sofort willic (v. 158) und einmütig folgen,
bringt, so zeigt sich, massive Probleme mit sich: Die Heiden können nicht endgültig besiegt werden und Karls Vertraute sind sich uneinig, wie sie auf das Taufund Friedensangebot des heidnischen Königs Marsilie reagieren sollen. Während
gut die Hälfte dafür plädiert, den Heiden zu misstrauen, rät Genelun, das Angebot
zu ihrer aller Ehre anzunehmen, heimzukehren und nur im Falle des Wortbruchs
zu kämpfen. Geneluns gut begründetes Friedensvotum, das dem Prinzip ›politischer Diplomatie‹ (vgl. Oswald 2004, S. 276) folgt, findet allerdings kein Gehör.
Im Gegenteil: Der Widerspruch gefährdet die »politische Handlungsfähigkeit des
Herrschaftsverbandes« (Hasebrink 2000, S. 108), erregt Karls Zorn und bringt
schließlich Genelun selbst in Not. Als er in einer weiteren Beratung seine Meinung wiederholt, einigt man sich auf einen Kompromiss: Karl solle einen erfahrenen Mann mit listen (v. 1233) zu Marsilie zu schicken, um dessen Rechtschaffenheit »mit Klugheit und Geschicklichkeit« (ebd., S. 110) auszukundschaften –
eine Lösung, der alle zustimmen und die dramatische Folgen hat. Auf den Vorschlag seines Stiefsohns Roland wird der kluge und tapfere Genelun in einer
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anschließenden Ratsversammlung gegen seinen Willen und ohne weitere Beratung von Karl beauftragt, sich als dessen Stellvertreter auf die lebensgefährliche
Botenfahrt zu begeben.
Wie problematisch die diskussionslose Beauftragung Geneluns ist, die diesen
in seinem Mitspracherecht beschneidet und gleichsam ›mundtot‹ (vgl. v. 1541)
macht, zeigt der weitere Verlauf. Genelun reagiert zornig und mit Rachedrohungen auf den Auftrag, der aus seiner Sicht eine »Intrige der Herrscherpartei«
(Brall-Tuchel 1983, S. 410) und das Ergebnis eines falschen Rats ist. Und so
kommt es auf der Fahrt zu Marsilie denn auch zu einer entscheidenden Wende.
Was wäre, so setzt Genelun, durch den Heiden Blancandiz in seinem Zorn bestärkt, an, wenn Gott es fügte, dass der Hochmut dieser Gesellen zu Fall käme (vgl.
v. 1877 – 1879)? Die auf das widerrechtliche Handeln des Rats, allen voran dasjenige Rolands, anspielende Frage erweist sich als Schlüsselstelle. Von den
Franken isoliert und auf sich allein gestellt, erwacht bei Genelun im Gespräch mit
den Heiden eine eigenwillige Klugheit: Angesichts der Tatsache, dass Karls Rat
aus seiner Sicht ohne grz[e] not (v. 1890) handelte und es besser sei, wenn zwölf
stürben als wenn alle umkämen, rät er zu einem list, der in kürzester Zeit auf den
Tod Rolands und des Rates zielt – eine Idee, die sich im heidnischen Lager
konkretisiert. Auf Marsilies Bitte hin fingiert Genelun einen minutiösen Plan, der
auf »der genauen Kenntnis der Logik des Handelns im christlichen Lager«
(Hasebrink 2000, S. 129) beruht: Der Heidenkönig solle das Angebot der Taufe in
Aachen bekräftigen. Karl werde daraufhin nach Hause zurückkehren und Roland
auf dessen Willen hin beauftragen, das Land zusammen mit seinen zwölf Gefährten zu bewachen. Diese Situation sollten die Heiden nutzen, um in der
Zwischenzeit eine eigene Streitmacht zu versammeln und einen Hinterhalt zu
legen. Denn wenn alle erschlagen seien, werde der Kaiser vor Kummer sterben
und Spanien nie wieder heimsuchen. Und so überzeugt Genelun die Heiden und
setzt seinen Plan auch folgerichtig mit listen (v. 2929) um. Er manipuliert heimlich
Herzog Naimes, um sich die Zustimmung Karls zu sichern, und nutzt bei seinem
Auftritt vor den Franken deren Meinungsverschiedenheiten für sich: Er empfiehlt
Roland als Statthalter und forciert damit eine einmütige Ratsentscheidung, der
sich der Kaiser beugen muss.
Es zeigt sich: Geneluns List und seine Strategie der Lüge und Täuschung haben
Erfolg – Roland und die Nachhut sterben im Kampf gegen die Heiden. In einem
entscheidenden Punkt hat Genelun die Zukunft jedoch falsch ›berechnet‹. Der
Kaiser stirbt nach Rolands Tod nicht vor Kummer, im Gegenteil: Er kehrt voller
Zorn nach Spanien zurück und erringt in einer fulminanten Racheschlacht den
Sieg über die Heiden. Entsprechend drastisch lesen sich auch die Reaktionen auf
Genelun, als die Christen dessen Tat erahnen bzw. durchschauen: Genelun wird
als Mann des Teufels (v. 3299; v. 6102) bezeichnet, der mit boesem list (v. 4185) und
verrt (v. 5243, 6285) übel (v. 3109) und schlimmer als Iudas (v. 6103) gehandelt
habe und dem letztlich konsequent der Prozess gemacht wird. Ohne jegliche
Reue muss er am Ende zusehen, wie sein Neffe den zu einem Gottesurteil
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überhöhten Vertreterzweikampf gegen Rolands Ziehsohn verliert und der Seite
Karls somit die Wahrheit und Gerechtigkeit in Gott zugewiesen wird, die Genelun schließlich die Todesstrafe bringt. Noch verwerflicher sieht der Erzähler
Genelun. So lässt er dessen problematische Behandlung im Rat völlig unkommentiert. Stattdessen lenkt er den Blick auf die schlimmen Folgen für die
christliche Gemeinschaft und unterlässt nichts, um Genelun ins Unrecht zu setzen. Kein Zweifel besteht mehr beim Pakt mit den Heiden, in den sich der Erzähler sofort kräftig einschaltet. Er nennt den Teufel (v. 1988), der Genelun den
Verstand geraubt habe, und gibt eigensüchtige Beweggründe wie nt (v. 1989), den
Hass auf andere und, ohne dass dies auf der Handlungsebene derart explizit zu
greifen wäre, gebe (v. 1989), »die Anfälligkeit für irdische Güter« (Ott-Meimberg
1980, S. 348), als Motivation an. Darüber hinaus verurteilt er mit Hilfe von
christlichem Predigtwissen Geneluns zwiespältige natre (v. 1961), bei der schönes Äußeres und hässliches Inneres auseinandergehen, und bringt Genelun damit
sofort mit dem Hauptprädikat des Teufels in den Zusammenhang: der Lüge. Und
schließlich ist es die Illoyalität, die der Erzähler aufs Heftigste aburteilt. Er spricht
vom allerschlimmsten Rat, der je unter diesem Himmel beschlossen wurde (vgl. v.
1922 f.), bezeichnet Geneluns list als ungetriuwe (v. 1938) und vergleicht ihn
ebenfalls mit dem christlichen Verräter par excellence: Iudas (v. 1925), der Jesus
für dreißig Pfennige verriet. Der Erzähler kommentiert damit also nicht nur
Geneluns Verrat. Im Spannungsfeld mittelalterlicher Rechts- und Kirchenlehre
präsentiert er diesen sogar noch ›schwärzer‹: Er exponiert Genelun als ›Figur des
Dritten‹, die sich im Spannungsfeld zwischen Christen und Heiden einerseits
sowie zwischen Karl und Roland andererseits zum Schicksalsmacher für sich und
andere aufschwingt und dabei wortwörtlich diabolisch sämtliche christlichen
Ordnungsvorstellungen von innen heraus durcheinanderbringt. Genelun avanciert zum göttlichen »Widersacher […] auf Erden« (Stackmann 1997, S. 88), der
als »Inkarnation des Bösen« (Hoffmann 2001, S. 359) konsequent sterben muss.
Tristan
Fast zeitgleich mit Genelun taucht um 1170 in Eilharts von Oberge Adaptation
des Tristanstoffs eine zweite literarische Figur im deutschsprachigen Raum auf,
die bei ihrem Handeln ebenfalls intensiv auf List, Lüge und Täuschung setzt:
Tristan bzw., in der Variante Eilharts, Tristrant, der kluge Titelheld des Werkes.
Von Beginn an zeigen sich hier markant andere Akzentuierungen. Im Gegensatz zu Genelun wird Tristrant jung und nicht als fest integriertes Mitglied
eines Herrschaftsverbandes eingeführt. Unter prekären Umständen geboren,
verliert er gleich bei der Geburt seine Mutter und es zieht ihn früh in die Fremde,
um sich dort weiter erziehen zu lassen sowie Ruhm und Ehre zu erwerben. Der
Held betritt dabei – ebenfalls im Unterschied zum ›Rolandslied‹ – eine Welt, die
massiv vom Prinzip des Zufälligen und Unberechenbaren geprägt ist und Tristrant
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sukzessiv in unvorhergesehene Konflikte und Notsituationen bringt. Es zeigt sich:
Noch konstitutiver als für Genelun avanciert für den Helden list als »Stärke der
Schwachen« (Behr 2004) zu einer entscheidenden Überlebens- und Selbstbehauptungsstrategie. So verheimlicht er gleich zu Beginn bei der unerwarteten
Ankunft in Cornwall seine Identität gegenüber seinem Onkel Marke, fingiert,
nachdem es ihn zweimal zufällig ins Land seiner irischen Todfeinde verschlägt,
eine neue Identität und reagiert zuletzt auch auf die unerwartet einbrechende
Liebe zur Ehefrau seines Onkels, Isalde, mit außerordentlicher Klugheit, die von
Verheimlichung über Manipulation bis zu Lüge, Verkleidung und Verstellung das
gesamte Repertoire strategischen und taktischen Täuschungshandelns umfasst.
Tristrants list, das machen die Handlungs- und Funktionslogiken der erzählten
Welt deutlich, besitzt ein hohes negatives Irritationspotenzial. So wird der Held
zwar zu Beginn herzlich bei König Marke von Cornwall aufgenommen. Mit seinem Kalkül überschreitet er jedoch christlich-höfische Werte wie Wahrheit,
triuwe und Gemeinwohl und stört heftig die höfische Ordnung: Ähnlich wie
Genelun avanciert er zum Feind in den eigenen Reihen, der negative Emotionen
wie Leid, Trauer, Neid, Zorn und Rache evoziert und sein gesamtes Umfeld
destabilisiert und zerrüttet. Parallel dazu zeichnen sich drastische Folgen für den
Helden selbst ab. Tristrant gerät auf seinem listigen Weg wiederholt in Lebensgefahr, wird aufgrund seines Liebesverrats von Markes Hof verstoßen und verliert bei seiner letzten heimlichen Rückkehr als Narr vollends seine höfisch-ritterliche Identität. Entsprechend konsequent liest sich sein Ende: Der kluge Held
kann die aus den Fugen geratene Welt nicht mehr bewältigen und stirbt.
Und dennoch ist Tristrant kein perfider und ›schwarzer‹ Gegenspieler wie
Genelun. Im Gegenteil: Wie positiv der Held zu werten ist, zeigt sich auf zwei
Ebenen. Erstens geht Tristrants strategische List auf der Handlungsebene wiederholt auf und bringt dabei auch einen deutlichen Gewinn für andere. Sie
schenkt ›Tätern‹ wie ›Opfern‹ gleichermaßen Freude, Ehre und Liebe, vereint
widersprüchliche Eigen- und Fremdinteressen und mündet schließlich, das unterstreichen Tristrants ehrenvolle Bestattung und die Verflechtung von Rosenbusch und Weinstock auf seinem Grab mit Isalde, in der vollständigen Rehabilitierung des Helden. Noch deutlicher wird dieses ›weiße‹ Etikett zweitens auf der
Ebene des Erzählers. So lässt der Erzähler Tristrants fragwürdiges Inkognito bei
der Ankunft in Cornwall unkommentiert, betont wiederholt dessen Klugheit in
lebensgefährlichen bzw. scheinbar aussichtslosen Situationen und nimmt Tristrant explizit vor negativen Folgen wie dem Neid der Höflinge und dem Vorwurf
des Eigennutzes in Schutz. Wie sehr dabei gegen christlich geprägte Werte und
Normen anerzählt wird, zeigt sich besonders auffällig im Rahmen von Tristrants
Liebesverrat. Ähnlich wie bei Geneluns Pakt mit den Heiden schaltet sich der
Erzähler hier sofort an zentraler Stelle ein: Kurz nachdem Tristrant und Isalde
versehentlich den Minnetrank zu sich genommen haben, verurteilt er diesen
vehement als bse (v. 2439; v. 2346) und unterstreicht dessen zwanghafte Wirkung, der die Liebenden gegen ihren Willen (ane iren dang, v. 2368) agieren lässt.
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Tristrant und Isalde werden so von Beginn an als Mitleid erregende Opfer fataler
Zufälligkeit exponiert. Zudem kappt der Erzähler das teuflische Potenzial der
Eigenwilligkeit und entlastet damit das weitere Handeln des Paares. Parallel dazu
verhindert er in der Folge mit allen Mitteln eine negative Sichtweise. Er setzt
Tristrants Charakterisierung als höfisch vorbildlich fort, hebt weiter dessen
Klugheit in dilemmatischen Situationen hervor (v. 2740 – 2742; v. 3901 f.) und
nimmt ihm erneut die Schuld (v. 2842 – 2844; v. 3909 – 3914). Kongenial ergänzt
wird dieses Bild durch eine ›überschwarze‹ Inszenierung der Liebesgegner und
eine besonders ›schwache‹ bzw. irritierende Darstellung der beiden großen
Opfer, Marke und Isalde II, die die Sympathien für den Helden schürt und im Tod
des Paares ihren charakteristischen Abschluss findet: In einer Art Überblendung
mit der Stimme des Erzählers erkennt Marke an, dass sich Tristrant und Isalde
aufgrund des Minnetranks ane iren dang (v. 9472) lieben mussten, und das Paar
erhält folgerichtig (wieder) seine gesellschaftliche Ehre. Der Erzähler begünstigt
also von Beginn an »eine identifizierende Einstellung der Leser/Hörer«
(Schausten 1999, S. 68), die das ›Diabolische‹ strategischer List, Lüge und Täuschung von innen verblassen lässt. Zugleich bekräftigt er eine Lesart, die auf eine
besondere »Umwertung der Werte« (Ruh 1977, S. 49) zielt. Präsentiert wird nicht
nur ein Held, der, so formuliert es Tristrant selbst, alterseine wser (v. 8856) als alle
anderen ist und mit seinem klugen und geschickten Handeln die Welt nach eigenen Vorstellungen formt und bestimmt. Anders als Genelun darf der Titelheld
dies auch: Er handelt in sämtlichen Situationen weder vollends eigennützig noch
eigenwillig. Auch zielt er mit seiner Klugheit nie primär auf den Schaden anderer.
Und so liest sich Tristrant im Gegensatz zum Gegenspieler Genelun gleichsam als
»Vorbild höfischen […] Verhaltens« (Schausten 1999, S. 90): Er positiviert das
Negative einer vom Zufall geprägten Welt und bezeugt eine »doppelte Wahrheit«
(Ruh 1977, S. 50), die den obersten höfischen Werten und Normen letztlich nicht
entgegensteht.
IV. Historisch-vergleichende Abschlussskizze und schulischer
Kompetenzgewinn
Genelun und Tristrant – vom ›bösen Blendwerk‹ bis zum ›klugen Triumph‹ offenbaren sich im christlich-mittelalterlichen Kontext nicht nur zwei ganz unterschiedliche Aushandlungsprozesse strategischer List, Lüge und Täuschung.
Greifbar wird auch die gesamte Bandbreite des Themas ›Intrige‹ zwischen Antike
und Moderne. Dies erlaubt es am Ende, zumindest skizzenhaft, die mittelalterlichen List-Logiken noch einmal systematisch im Blick auf diachrone Zusammenhänge zu beleuchten, um so letztlich auch die Frage nach dem spezifischen
Kompetenzgewinn für Schülerinnen und Schüler zu beantworten.
Was sich in der antiken Literatur vor dem Hintergrund einer polytheistisch
geprägten Welt für Götter wie für Menschen als ein vielseitiges und positiv konMitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426
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notiertes Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen präsentiert, wird in der
christlich geprägten Literatur des Mittelalters, das zeigen Genelun und Tristrant,
hochgradig prekär. Ausgangspunkt sind immer Krisen und Konflikte. Aus mittelalterlicher Sicht setzt die Intrige damit betont an einer Störung des christlichen
ordo-Ideals an und benennt in skandalöser Weise die prinzipielle und beständige
Krisenanfälligkeit eines optimistischen Denkmodells, das alle Elemente der Welt
– von Himmel und Erde über die gesellschaftliche Ordnung bis hin zur körperlichen und geistigen Verfasstheit des Menschen – in einem Gleichgewicht sieht.
Indem sich sowohl Genelun als auch Tristrant nicht ihren Notlagen fügen, sondern eigenwillig und kraft ihres eigenen Verstandes dem natürlichen Selbsterhaltungs- und -behauptungstrieb folgen, überlassen sie sich nicht dem Gesamtwillen Gottes und dessen wsheit als einem der Welt übergeordneten und sie ewig
durchwaltenden Gesetz. Impliziert ist damit ein Anstoß erregender Zweifel an
der göttlichen (Heils-)Ordnung. Explizit zur Diskussion gestellt wird aber auch
die Bedeutung von Klugheit, mhd. list, die in der Nachfolge antiker Traditionen
und lat. prudentia der göttlichen Ordnung dient, im Sinne von lat. astutia und
dolus allerdings auch in das benachbarte Feld von Lüge und Täuschung reicht, die
als luziferische Formen des Hochmuts (superbia) christlich-theologisch stark
negativ besetzt sind. Und so wirft die Intrige – anders als in antiken Texten – im
christlich geprägten Mittelalter explizit Fragen von Ethik und Moral auf. Zugleich
wird sie vor dem Hintergrund eines dualistisch geprägten Denkens, das sich an der
Wahrheit eines Gottes ausrichtet, auch hochgradig ambivalent. Auf der einen
Seite, das offenbart das Beispiel Geneluns, zeigen sich enorme Abwehrreaktionen. Geneluns positiv besetzter list, der der wsheit gotes folgt, kippt radikal ins
Negative: Präsentiert wird ein »geheime[r] Streit in der Triade« (Utz 1997), der
von eigensüchtigen Motiven wie Hass, Rache und materiellem Eigennutz ausgeht, auf Lüge, Verstellung und Manipulation beruht und mit der »Dynamik von
Teilung, Spaltung und Zerstörung« (Hasebrink 2000, S. 89) primär auf Schädigung
zielt. Geneluns ›Umschrift‹ zum ruchlosen Gegenspieler, bei der sich die Vielfalt
des antiken mechnema drastisch auf die christlichen Attribute des Teufels verengt, nimmt so nicht nur neuzeitliche Intriganten wie Iago und Franz Moor vorweg. Im christlichen Spannungsfeld zwischen Gut und Böse eröffnet sich auch
eine Tradition, die sich bis zu den großen Widersachern moderner Superhelden
verfolgen lässt, die wie z. B. Lex Luthor in der Auseinandersetzung mit Superman
ihren geniehaften Verstand nutzen, um den Helden zu vernichten, Reichtum zu
erlangen und die Weltherrschaft an sich zu reißen. Auf der anderen Seite zeigt der
Fall des Titelhelden Tristrant explizite Bemühungen, das antike Phänomen positiv
einzubinden. Ähnlich wie der erfindungsreiche Odysseus agiert Tristrant in
dualistischen wie auch triadischen Konfliktkonstellationen und entfaltet ein
tricksterähnliches Potenzial, das das gesamte Repertoire an List, Lüge und Täuschung umfasst. Anders als bei Odysseus dient seine Klugheit allerdings durchgehend der eigenen Rettung und/oder der von anderen. Auch handelt Tristrant in
weiten Teilen fremdbestimmt und der Schaden, den er anderen zufügt, ist nur-
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mehr eine unbeabsichtigte Folge. Damit verschieben sich zum einen die antiken
handlungsbestimmenden Faktoren. Mit Zufall, äußerem Liebeszwang und Gemeinnutz werden zugleich aber auch spezifische Problemstellungen und Werte
der höfisch-adligen Gesellschaft präsentiert, die potenziell gefährliche Eigenwilligkeit und -mächtigkeit entschuldigen und positiv in das mittelalterliche
Weltbild einbinden. Und so ist Tristrant am Ende die volle Anerkennung sicher:
Er erstrahlt als tragischer Held in hellem Licht und wird zum Paradebeispiel
klugen Handelns, das Odysseus in nichts nachsteht.
Die synchrone Untersuchung und diachrone Einbettung des mittelalterlichen
Kultur- und Erzählmusters der Intrige trägt damit, so lässt sich mit Blick auf den
Deutschunterricht resümieren, neben der Vermittlung traditioneller literaturwissenschaftlicher Kompetenzen in zweierlei Hinsicht entscheidend zu einem
kompetenten und souveränen Umgang mit der eigenen Kultur und Lebenswirklichkeit bei. Erstens entschlüsselt sich die grundlegende Attraktivität des
Themas, die bis in die Gegenwart anhält. Die »Usurpation des Schicksals [und]
der Weltlenkung als eines göttlichen Privilegs« (von Matt 2006, S. 201) mittels
menschlicher Klugheit weist durch die Frage der Rechtmäßigkeit eine »intensive
affektive Erlebnisqualität« (Baisch 2010, S. 151) auf, die die Intrige insbesondere
in der ästhetischen Darstellung zu einem Faszinosum macht. Ihr skandalöses
Potenzial erregt Aufmerksamkeit, zieht unwiderstehlich an und besitzt eine hohe
»Bewertungsambivalenz« (ebd., S. 154), die sich im Spannungsfeld von Recht
und Unrecht bzw. Gut und Böse codieren lässt und deren Spiel mit Heimlichkeit
und Öffentlichkeit sowie Verhüllen und Enthüllen insbesondere auch heutige
junge Leser und Zuschauer in Atem zu halten vermag. Und differenziert nachvollziehbar wird für Schülerinnen und Schüler zweitens auch der spezifische
historische Wandel. An der Schnittstelle von Antike und Moderne werden Verhandlungsprozesse sichtbar, mit deren Hilfe sich nicht nur zeigen lässt, wie das
Kulturmuster von der Vergangenheit bis in die Gegenwart literarisch fortgeschrieben, transformiert und neu konfiguriert wird. Sie sensibilisieren in hohem
Maße auch das kulturelle Bewusstsein und schulen nachhaltig kulturhistorische
Analysefähigkeiten. Sie legen offen, wie ›alte‹ und ›neue‹ Muster zusammenhängen und fordern dabei immer wieder auf, Handlungspraktiken und Wertvorstellungen zu hinterfragen und adäquat einzuordnen: Wann ist intrigantes Handeln richtig? Wann ist es falsch? Oder anders formuliert: Wie weit kann strategische Listanwendung betrieben werden, bevor sie in hinterhältige, tückische und
böse Betrügerei umschlägt?
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Dr. Claudia Lauer, Tübingen, [email protected]
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