Was Lex Luthor mit Genelun gemeinsam hat und warum
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Was Lex Luthor mit Genelun gemeinsam hat und warum
Was Lex Luthor mit Genelun gemeinsam hat und warum Odysseus Tristan gemocht hätte. Die Kunst der Intrige im kompetenzorientierten Deutschunterricht Claudia Lauer I. Intrige und Intrigant im kompetenzorientierten Deutschunterricht Ob Iago in Shakespeares ›Othello‹, Franz Moor in Schillers ›Die Räuber‹, J.R. Ewing aus der TV-Serie ›Dallas‹ oder Lex Luthor in ›Superman‹ – der Intrigant, wie er in neuzeitlicher Literatur, TV-Serien und Filmen in Erscheinung tritt, ist in der Regel der skrupellose, brutale und böse Feind in den eigenen Reihen. Machtund rachsüchtig oder einfach nur aus purer Lust an Boshaftigkeit versucht er, anderen mit strategischer List, Lüge und Täuschung Schaden zuzufügen, um zu seinem eigenen Vorteil zu kommen. Dabei ist ihm jedes Mittel recht: Er verheimlicht und betrügt, manipuliert und verwirrt und präsentiert sich mit seinem falschen Spiel geradezu als Prototyp »menschlicher Verruchtheit und Schläue, hinterhältiger List und abgründiger Tücke« (Deiters 1966, S. 143). Was als kulturund literaturgeschichtliches Phänomen spätestens mit der Aufklärung unter dem Begriff ›Intrige‹ aus frz. intriguer (›Ränke schmieden‹, ›in Verlegenheit bringen‹) seinen ›Siegeszug‹ in der Moderne antritt und v. a. in seiner deutschsprachigen Semantik großen Widerwillen auslöst (vgl. Pourroy 1986, S. 103), genießt bei seiner antiken ›Geburtsstunde‹ einen weitgehend anderen Ruf. Als besonderes ›Kunststück‹ und so genanntes mechnema (mhcánhma) vereint das Phänomen sämtliche Formen strategischer Klugheit und wirft keinerlei ethisch-moralische Bedenken auf: Die eigene Rettung bzw. das eigene Glück »oder aber das Verderben des Gegners ist das Ziel; dazu gilt es den Weg zu finden und – das kommt entscheidend hinzu – den, gegen den sich das mhcánhma richtet, über Motive und Ziele zu täuschen.« (Solmsen 1932, S. 4). Und so blickt die Antike mit großer Anerkennung auf die berühmte »Urszene abendländischer Intrige« (Bucheli 2006) und den ›Feind im eigenen Innern‹: Versteckt im Bauch eines riesigen Holzpferdes gelingt dem polymchanos, dem erfindungsreichen und listigen Odysseus, planmäßig der bis dahin unmögliche Sieg über Troja und damit die erfolgreiche Rache für die Entführung Helenas. Die intensive Auseinandersetzung mit literarischen Werken, Gattungen und Motiven ist wesentlicher Kern des schulischen Deutschunterrichts. Mit der Einführung von bundesweit einheitlichen Bildungsstandards hat sich die Perspektive grundlegend verändert. Statt input-orientierten Lerninhalten stehen nun outputorientierte Lernziele im Zentrum, die der Ausbildung von Kompetenzen dienen, die im Sinne individuell »verfügbare[r] oder durch sie erlernbare[r] kognitive[r] Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 279 Claudia Lauer Fähigkeiten und Fertigkeiten« dazu beitragen, »bestimmte Probleme zu lösen« und »motivationale, volitionale und soziale Bereitschaften und Fähigkeiten« mit einschließen, um Problemlösungen »in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können« (Weinert 2001, S. 27 f.). Das Fach Deutsch umfasst hier, so formulieren es beispielsweise die KMK-Bildungsstandards 2012 für die Allgemeine Hochschulreife, sowohl domänenspezifische als auch prozessbezogene Kompetenzbereiche. Es leistet darüber hinaus aber auch einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung, die die kompetente Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung der Vielgestaltigkeit von Kultur und Lebenswirklichkeit umfasst. Schülerinnen und Schüler sollen dabei Kompetenzen erwerben, die »die Fähigkeit zur Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben« (KMK-Bildungsstandards 2012, S. 10) festigen und einen »souveränen und verständigen Umgang mit dem kulturell Anderen« (ebd.) erlauben. Eine wichtige Rolle spielt hier der Vergleich »relevante[r] Motive, Themen und Strukturen literarischer Schriften, die auch über Barock und Mittelalter bis in die Antike zurückreichen können« (ebd., S. 21): Der Vergleich soll helfen, »diachrone und synchrone Zusammenhänge zwischen literarischen Texten [zu] ermitteln und Bezüge zu weiteren Kontexten« (ebd.) herzustellen, um »die in literarischen Werken enthaltenen Herausforderungen und Fremdheitserfahrungen kritisch zu eigenen Wertvorstellungen, Welt- und Selbstkonzepten in Beziehung zu setzen« (ebd.). Welche Wahrnehmungs- und Bewertungskompetenzen können Schülerinnen und Schüler, so lässt sich also die Frage aufwerfen, durch die systematische Beschäftigung mit der Intrige lernen, die als ein zentrales Thema abendländischer Literaturgeschichte von Odysseus List über Franz Moors Ränkespiel bis hin zu Lex Luthors Machenschaften reicht? Worin besteht ihre epochenübergreifende Faszination und wie kann es geschehen, und das ist ebenfalls entscheidend zu fragen, dass sie in modernen Texten und Medien so radikal ins Negative kippt? Der vorliegende Beitrag sucht Antworten auf diese Fragen. Er versteht sich als ein Experiment im Spannungsfeld zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik und setzt dabei bewusst aus mediävistischer Perspektive an. Zwei Gründe lassen sich hierfür benennen. Erstens bietet die mittelalterliche Literatur generell, das haben zahlreiche Veröffentlichungen der letzten Jahre gezeigt, aus fachdidaktischer Sicht einen besonderen Gewinn. Zum einen ist »das Mittelalter […] bei Jugendlichen populär« (Miedema/Sieber 2013, Klappentext). Als »wichtiger Bestandteil der kulturellen und literarischen Praxis von Kindern und Jugendlichen – sei es in Form von Computerspielen, […] im populären Genre der Fantasyliteratur oder […] im populären Kinder- und Jugendfilm« (Berthold 2012, S. 115) – knüpft es gezielt an die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern an und bietet damit für die pädagogische Praxis einen wichtigen Bezug zur außerschulischen Wirklichkeit. Zum anderen erweist sich die Alteritätserfahrung als nützlich. Auf den ersten Blick als ›kulturell Anderes‹ in ihrer sprachlichen Verfasstheit und ihren fiktionalen Weltentwürfen ›unvertraut‹ und ›irritierend‹, 280 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen Die Kunst der Intrige aufgrund ihrer Kontinuität und gegenwärtigen Präsenz letztlich jedoch »keineswegs völlig fremd« (Kiening 2005, S. 162), regt die mittelhochdeutsche Literatur textnahes Lesen an und unterstützt nachweislich Textverstehensprozesse sowie einen historisch-reflektierten Umgang mit dem ›kulturell Eigenen‹ (vgl. Müller 1996 und Möbius 2010). Ein zweiter essentieller Grund für den mediävistischen Ansatz ergibt sich durch das Thema ›Intrige‹ selbst – kommt hier der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters doch fachwissenschaftlich gesehen eine besondere Schlüsselstellung zu. Literarische Helden wie der listige und täuschende Reinhart Fuchs oder König Rother, Siegfrieds Tarnkappe und sein tödlicher Verrat durch Hagen, Tristans strategische Liebeslisten und -lügen oder auch die Ränkespiele seiner Gegner belegen nicht nur früh eine hohe Attraktivität von Listmotiven und Täuschungsstrategien im Mittelalter. Zugleich entfaltet sich hierbei auch ein reichhaltiges literarisches Tableau an Formen und Lizenzen, das markant zwischen antiken Vorstellungen meist positiv gesehener listiger Selbsterhaltung bzw. -behauptung und neuzeitlicher, zumeist negativ konnotierter Selbstermächtigung oszilliert und damit immer wieder signifikante Einblicke in kulturhistorische Zusammenhänge und Wandlungsprozesse gibt. Im Folgenden wird dieses doppelte ›mittelalterliche Potential‹ konsequent genutzt. Der Beitrag will dabei nicht nur zeigen, wie variationsreich die Kunst der Intrige in mittelhochdeutschen Texten verhandelt wird. Zugleich soll so auch die Basis für eine abschließende historische Vergleichsskizze geschaffen werden, die die mittelalterlichen List-Logiken in diachrone Zusammenhänge stellt und deutlich macht, wie Schülerinnen und Schüler dabei einen vertieften Umgang mit der eigenen kulturellen Lebenswirklichkeit erlernen können, der als wesentlicher Bestandteil der ›Persönlichkeitsentwicklung‹ ein maßgebliches Ziel des kompetenzorientierten Deutschunterrichts ist. II. Das Muster der Intrige Will man das Thema ›Intrige‹ in synchronen wie diachronen Zusammenhängen beleuchten, bedarf es zunächst einiger theoretisch-methodischer Vorüberlegungen. Als Ausgangspunkt bietet sich das Modell von Peter von Matt an, der die Intrige erstmals als »universales Element der erzählenden Menschheit« (von Matt 2006, S. 457) perspektiviert und kulturwissenschaftlich in ihrer metaphysischen Tiefendimension als »zivilisationsgeschichtliches Schlüsselereignis« (ebd., S. 226) gedeutet hat. Nach von Matt ist die Intrige eine »geplante, zielgerichtete und folgerichtig durchgeführte Verstellung zum Schaden eines anderen und zum eigenen Vorteil« (ebd., S. 54), der eine »präzise und feingliedrige Morphologie« (von Matt 2002, S. 26) zu eigen ist. Die Intrige geht dabei zumeist von der Erfahrung einer Unzulänglichkeit, einer so genannten Notsituation, aus und schreitet in zeitlicher Abfolge grosso modo drei Phasen ab: die Planung bzw. Planszene, die Plandurchführung, die v. a. auf Akten der Simulation und DissiMitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 281 Claudia Lauer mulation basiert, und schließlich die Anagnorisis, das »Wiedererkennen im wörtlichen Sinn« (von Matt 2006, S. 120) und die Auflösung des gesamten Täuschungsgeschehens. Von Matts Studien geben zentrale literatur- und kulturwissenschaftliche Einblicke in die Charakteristika der Intrige, die sich für den kompetenzorientierten Deutschunterricht fruchtbar machen lassen. Erstens bietet von Matt eine Definition, die sich mit Blick auf die historische Varianz des Phänomens zwischen Antike und Moderne zu einer heuristischen Arbeitsbezeichnung umformulieren lässt: Das Thema ›Intrige‹, so kann offen und konnotationsfrei reformuliert werden, umfasst jede Art von List, Lüge und Täuschung, die sich als im Kern strategisch-planmäßig bzw. absichtsvoll-intentional und als Aktion von innen, d. h. aus den eigenen gesellschaftlichen Denk- und Handlungsmustern heraus, erweist. Ob die intrigenhafte Aktion dabei primär – wie zumeist in der Neuzeit – oder nur sekundär – wie häufig in der antiken Literatur – auf den Schaden anderer zielt und sich vor dem Hintergrund bestehender Normen und Werte als »Triumph der Klugheit oder Blendwerk des Bösen« (Semmler 1991, S. 9) erweist, bleibt so also definitorisch offen bzw. Signum historischer Varietät. Zweitens liegt mit von Matts Intrigenmorphologie eine Konzeption vor, die sich mit Hilfe erzähltheoretischer Grundlagen noch einmal präzisieren lässt. Die Intrige kann dabei zum einen als ein Erzählmuster verstanden werden, das über einen »typische[n] Handlungs- oder Erzählablauf« (Martnez 1997, Sp. 506) verfügt, der sich nach spezifischen »Handlungsfixpunkten« (Schmid-Cadalbert 1985, S. 87) bzw. ›Stationen‹ (vgl. z. B. Pörksen/Pörksen 1980) sequenzieren und erschließen lässt. Im Anschluss an den so genannten cultural turn der Geisteswissenschaften lässt sich das Narrativ zum anderen aber auch als ein »anthropologisch vorgegebene[s], kulturell entwickelte[s] und diversifizierte[s] Grundmuster« (Schönert 2004, S. 132) verstehen, das sich in Hinblick auf die spezifische literarische Verhandlung eines so genannten ›Kulturmusters‹ (vgl. Fulda 2010; Fulda/Kerschbaumer 2011) qualitativ beleuchten lässt: Wie werden die Erzählbausteine in den literarischen Texten präsentiert und welche Konzepte, Praktiken und Deutungsschemata kristallisieren sich dabei heraus? Wie stehen diese in Bezug zu außerliterarischen Denk- und Wahrnehmungsmustern der Zeit, aber auch zu kulturell anderen Repräsentationen des Erzählmusters? Wo überschneiden sie sich und wo liegen Differenzen? Mit der definitorischen Öffnung und der erzähltheoretischen Grundierung des Intrigenverständnisses von von Matt liegt so ein Untersuchungsinstrumentarium vor, das es erlaubt, das Thema ›Intrige‹ nicht nur präzise synchron in seinen unterschiedlichen literarischen Ausprägungen und kulturhistorischen Zusammenhängen zu beleuchten. Es lassen damit v. a. auch seine literarhistorischen Wandlungsprozesse als Kulturmuster systematisch-differenziert nachvollziehen: von antiken mechnema-Konzeptionen über Mischformen bis hin zu modernen Mustern der Intrige. 282 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen Die Kunst der Intrige III. Zwei mittelalterliche Fallbeispiele Die deutschsprachige Literatur des Mittelalters zeichnet sich, wie bereits angedeutet, von Beginn an durch ein auffällig breites Spektrum an Listmotiven und Täuschungsstrategien aus. So vielseitig das Tableau an Formen und Wertungen ist – bei näherer Betrachtung offenbaren sich über die Perspektive von Pro- und Antagonist zwei grundlegend verschiedene Spielarten, die sich an zwei frühen großen Vertretern listigen und täuschenden Handelns exemplifizieren lassen: an Tristrant aus dem gleichnamigen Werk Eilharts von Oberge und Genelun aus dem ›Rolandslied‹ des Pfaffen Konrad. Genelun Die Geschichte Karls des Großen und seines Kreuzzugs gegen die Heiden in Spanien gilt als eines der »Schlüsselwerk[e] der europäischen Literatur des Mittelalters« (Rolandslied, Vorwort Kartschoke). Mit der Übertragung der afrz. ›Chanson de Roland‹ schafft der Pfaffe Konrad dabei um 1170 nicht nur das »erste […] höfische Epos der deutschen Literatur« (ebd.). Im Rahmen der spannungsgeladenen Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen betritt zugleich auch eine der ›dunkelsten‹ Figuren die deutschsprachige Bühne: Genelun, der große Gegenspieler des Titelhelden. Eingeführt wird Genelun gleich zu Beginn. Als Schwager Karls gehört er zu den zwölf wsesten (v. 68), tapfersten und Gott ergebensten Fürsten, Herzögen und Grafen, denen als enge Vertraute des Kaisers ein ratgebendes Mitspracherecht im Rahmen des theokratisch verankerten und vasallitisch geprägten Herrschaftsverbandes zukommt. Karls göttlicher Auftrag zum Kreuzzug gegen die spanischen Heiden, dem die Franken sofort willic (v. 158) und einmütig folgen, bringt, so zeigt sich, massive Probleme mit sich: Die Heiden können nicht endgültig besiegt werden und Karls Vertraute sind sich uneinig, wie sie auf das Taufund Friedensangebot des heidnischen Königs Marsilie reagieren sollen. Während gut die Hälfte dafür plädiert, den Heiden zu misstrauen, rät Genelun, das Angebot zu ihrer aller Ehre anzunehmen, heimzukehren und nur im Falle des Wortbruchs zu kämpfen. Geneluns gut begründetes Friedensvotum, das dem Prinzip ›politischer Diplomatie‹ (vgl. Oswald 2004, S. 276) folgt, findet allerdings kein Gehör. Im Gegenteil: Der Widerspruch gefährdet die »politische Handlungsfähigkeit des Herrschaftsverbandes« (Hasebrink 2000, S. 108), erregt Karls Zorn und bringt schließlich Genelun selbst in Not. Als er in einer weiteren Beratung seine Meinung wiederholt, einigt man sich auf einen Kompromiss: Karl solle einen erfahrenen Mann mit listen (v. 1233) zu Marsilie zu schicken, um dessen Rechtschaffenheit »mit Klugheit und Geschicklichkeit« (ebd., S. 110) auszukundschaften – eine Lösung, der alle zustimmen und die dramatische Folgen hat. Auf den Vorschlag seines Stiefsohns Roland wird der kluge und tapfere Genelun in einer Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 283 Claudia Lauer anschließenden Ratsversammlung gegen seinen Willen und ohne weitere Beratung von Karl beauftragt, sich als dessen Stellvertreter auf die lebensgefährliche Botenfahrt zu begeben. Wie problematisch die diskussionslose Beauftragung Geneluns ist, die diesen in seinem Mitspracherecht beschneidet und gleichsam ›mundtot‹ (vgl. v. 1541) macht, zeigt der weitere Verlauf. Genelun reagiert zornig und mit Rachedrohungen auf den Auftrag, der aus seiner Sicht eine »Intrige der Herrscherpartei« (Brall-Tuchel 1983, S. 410) und das Ergebnis eines falschen Rats ist. Und so kommt es auf der Fahrt zu Marsilie denn auch zu einer entscheidenden Wende. Was wäre, so setzt Genelun, durch den Heiden Blancandiz in seinem Zorn bestärkt, an, wenn Gott es fügte, dass der Hochmut dieser Gesellen zu Fall käme (vgl. v. 1877 – 1879)? Die auf das widerrechtliche Handeln des Rats, allen voran dasjenige Rolands, anspielende Frage erweist sich als Schlüsselstelle. Von den Franken isoliert und auf sich allein gestellt, erwacht bei Genelun im Gespräch mit den Heiden eine eigenwillige Klugheit: Angesichts der Tatsache, dass Karls Rat aus seiner Sicht ohne grz[e] not (v. 1890) handelte und es besser sei, wenn zwölf stürben als wenn alle umkämen, rät er zu einem list, der in kürzester Zeit auf den Tod Rolands und des Rates zielt – eine Idee, die sich im heidnischen Lager konkretisiert. Auf Marsilies Bitte hin fingiert Genelun einen minutiösen Plan, der auf »der genauen Kenntnis der Logik des Handelns im christlichen Lager« (Hasebrink 2000, S. 129) beruht: Der Heidenkönig solle das Angebot der Taufe in Aachen bekräftigen. Karl werde daraufhin nach Hause zurückkehren und Roland auf dessen Willen hin beauftragen, das Land zusammen mit seinen zwölf Gefährten zu bewachen. Diese Situation sollten die Heiden nutzen, um in der Zwischenzeit eine eigene Streitmacht zu versammeln und einen Hinterhalt zu legen. Denn wenn alle erschlagen seien, werde der Kaiser vor Kummer sterben und Spanien nie wieder heimsuchen. Und so überzeugt Genelun die Heiden und setzt seinen Plan auch folgerichtig mit listen (v. 2929) um. Er manipuliert heimlich Herzog Naimes, um sich die Zustimmung Karls zu sichern, und nutzt bei seinem Auftritt vor den Franken deren Meinungsverschiedenheiten für sich: Er empfiehlt Roland als Statthalter und forciert damit eine einmütige Ratsentscheidung, der sich der Kaiser beugen muss. Es zeigt sich: Geneluns List und seine Strategie der Lüge und Täuschung haben Erfolg – Roland und die Nachhut sterben im Kampf gegen die Heiden. In einem entscheidenden Punkt hat Genelun die Zukunft jedoch falsch ›berechnet‹. Der Kaiser stirbt nach Rolands Tod nicht vor Kummer, im Gegenteil: Er kehrt voller Zorn nach Spanien zurück und erringt in einer fulminanten Racheschlacht den Sieg über die Heiden. Entsprechend drastisch lesen sich auch die Reaktionen auf Genelun, als die Christen dessen Tat erahnen bzw. durchschauen: Genelun wird als Mann des Teufels (v. 3299; v. 6102) bezeichnet, der mit boesem list (v. 4185) und verrt (v. 5243, 6285) übel (v. 3109) und schlimmer als Iudas (v. 6103) gehandelt habe und dem letztlich konsequent der Prozess gemacht wird. Ohne jegliche Reue muss er am Ende zusehen, wie sein Neffe den zu einem Gottesurteil 284 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen Die Kunst der Intrige überhöhten Vertreterzweikampf gegen Rolands Ziehsohn verliert und der Seite Karls somit die Wahrheit und Gerechtigkeit in Gott zugewiesen wird, die Genelun schließlich die Todesstrafe bringt. Noch verwerflicher sieht der Erzähler Genelun. So lässt er dessen problematische Behandlung im Rat völlig unkommentiert. Stattdessen lenkt er den Blick auf die schlimmen Folgen für die christliche Gemeinschaft und unterlässt nichts, um Genelun ins Unrecht zu setzen. Kein Zweifel besteht mehr beim Pakt mit den Heiden, in den sich der Erzähler sofort kräftig einschaltet. Er nennt den Teufel (v. 1988), der Genelun den Verstand geraubt habe, und gibt eigensüchtige Beweggründe wie nt (v. 1989), den Hass auf andere und, ohne dass dies auf der Handlungsebene derart explizit zu greifen wäre, gebe (v. 1989), »die Anfälligkeit für irdische Güter« (Ott-Meimberg 1980, S. 348), als Motivation an. Darüber hinaus verurteilt er mit Hilfe von christlichem Predigtwissen Geneluns zwiespältige natre (v. 1961), bei der schönes Äußeres und hässliches Inneres auseinandergehen, und bringt Genelun damit sofort mit dem Hauptprädikat des Teufels in den Zusammenhang: der Lüge. Und schließlich ist es die Illoyalität, die der Erzähler aufs Heftigste aburteilt. Er spricht vom allerschlimmsten Rat, der je unter diesem Himmel beschlossen wurde (vgl. v. 1922 f.), bezeichnet Geneluns list als ungetriuwe (v. 1938) und vergleicht ihn ebenfalls mit dem christlichen Verräter par excellence: Iudas (v. 1925), der Jesus für dreißig Pfennige verriet. Der Erzähler kommentiert damit also nicht nur Geneluns Verrat. Im Spannungsfeld mittelalterlicher Rechts- und Kirchenlehre präsentiert er diesen sogar noch ›schwärzer‹: Er exponiert Genelun als ›Figur des Dritten‹, die sich im Spannungsfeld zwischen Christen und Heiden einerseits sowie zwischen Karl und Roland andererseits zum Schicksalsmacher für sich und andere aufschwingt und dabei wortwörtlich diabolisch sämtliche christlichen Ordnungsvorstellungen von innen heraus durcheinanderbringt. Genelun avanciert zum göttlichen »Widersacher […] auf Erden« (Stackmann 1997, S. 88), der als »Inkarnation des Bösen« (Hoffmann 2001, S. 359) konsequent sterben muss. Tristan Fast zeitgleich mit Genelun taucht um 1170 in Eilharts von Oberge Adaptation des Tristanstoffs eine zweite literarische Figur im deutschsprachigen Raum auf, die bei ihrem Handeln ebenfalls intensiv auf List, Lüge und Täuschung setzt: Tristan bzw., in der Variante Eilharts, Tristrant, der kluge Titelheld des Werkes. Von Beginn an zeigen sich hier markant andere Akzentuierungen. Im Gegensatz zu Genelun wird Tristrant jung und nicht als fest integriertes Mitglied eines Herrschaftsverbandes eingeführt. Unter prekären Umständen geboren, verliert er gleich bei der Geburt seine Mutter und es zieht ihn früh in die Fremde, um sich dort weiter erziehen zu lassen sowie Ruhm und Ehre zu erwerben. Der Held betritt dabei – ebenfalls im Unterschied zum ›Rolandslied‹ – eine Welt, die massiv vom Prinzip des Zufälligen und Unberechenbaren geprägt ist und Tristrant Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 285 Claudia Lauer sukzessiv in unvorhergesehene Konflikte und Notsituationen bringt. Es zeigt sich: Noch konstitutiver als für Genelun avanciert für den Helden list als »Stärke der Schwachen« (Behr 2004) zu einer entscheidenden Überlebens- und Selbstbehauptungsstrategie. So verheimlicht er gleich zu Beginn bei der unerwarteten Ankunft in Cornwall seine Identität gegenüber seinem Onkel Marke, fingiert, nachdem es ihn zweimal zufällig ins Land seiner irischen Todfeinde verschlägt, eine neue Identität und reagiert zuletzt auch auf die unerwartet einbrechende Liebe zur Ehefrau seines Onkels, Isalde, mit außerordentlicher Klugheit, die von Verheimlichung über Manipulation bis zu Lüge, Verkleidung und Verstellung das gesamte Repertoire strategischen und taktischen Täuschungshandelns umfasst. Tristrants list, das machen die Handlungs- und Funktionslogiken der erzählten Welt deutlich, besitzt ein hohes negatives Irritationspotenzial. So wird der Held zwar zu Beginn herzlich bei König Marke von Cornwall aufgenommen. Mit seinem Kalkül überschreitet er jedoch christlich-höfische Werte wie Wahrheit, triuwe und Gemeinwohl und stört heftig die höfische Ordnung: Ähnlich wie Genelun avanciert er zum Feind in den eigenen Reihen, der negative Emotionen wie Leid, Trauer, Neid, Zorn und Rache evoziert und sein gesamtes Umfeld destabilisiert und zerrüttet. Parallel dazu zeichnen sich drastische Folgen für den Helden selbst ab. Tristrant gerät auf seinem listigen Weg wiederholt in Lebensgefahr, wird aufgrund seines Liebesverrats von Markes Hof verstoßen und verliert bei seiner letzten heimlichen Rückkehr als Narr vollends seine höfisch-ritterliche Identität. Entsprechend konsequent liest sich sein Ende: Der kluge Held kann die aus den Fugen geratene Welt nicht mehr bewältigen und stirbt. Und dennoch ist Tristrant kein perfider und ›schwarzer‹ Gegenspieler wie Genelun. Im Gegenteil: Wie positiv der Held zu werten ist, zeigt sich auf zwei Ebenen. Erstens geht Tristrants strategische List auf der Handlungsebene wiederholt auf und bringt dabei auch einen deutlichen Gewinn für andere. Sie schenkt ›Tätern‹ wie ›Opfern‹ gleichermaßen Freude, Ehre und Liebe, vereint widersprüchliche Eigen- und Fremdinteressen und mündet schließlich, das unterstreichen Tristrants ehrenvolle Bestattung und die Verflechtung von Rosenbusch und Weinstock auf seinem Grab mit Isalde, in der vollständigen Rehabilitierung des Helden. Noch deutlicher wird dieses ›weiße‹ Etikett zweitens auf der Ebene des Erzählers. So lässt der Erzähler Tristrants fragwürdiges Inkognito bei der Ankunft in Cornwall unkommentiert, betont wiederholt dessen Klugheit in lebensgefährlichen bzw. scheinbar aussichtslosen Situationen und nimmt Tristrant explizit vor negativen Folgen wie dem Neid der Höflinge und dem Vorwurf des Eigennutzes in Schutz. Wie sehr dabei gegen christlich geprägte Werte und Normen anerzählt wird, zeigt sich besonders auffällig im Rahmen von Tristrants Liebesverrat. Ähnlich wie bei Geneluns Pakt mit den Heiden schaltet sich der Erzähler hier sofort an zentraler Stelle ein: Kurz nachdem Tristrant und Isalde versehentlich den Minnetrank zu sich genommen haben, verurteilt er diesen vehement als bse (v. 2439; v. 2346) und unterstreicht dessen zwanghafte Wirkung, der die Liebenden gegen ihren Willen (ane iren dang, v. 2368) agieren lässt. 286 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen Die Kunst der Intrige Tristrant und Isalde werden so von Beginn an als Mitleid erregende Opfer fataler Zufälligkeit exponiert. Zudem kappt der Erzähler das teuflische Potenzial der Eigenwilligkeit und entlastet damit das weitere Handeln des Paares. Parallel dazu verhindert er in der Folge mit allen Mitteln eine negative Sichtweise. Er setzt Tristrants Charakterisierung als höfisch vorbildlich fort, hebt weiter dessen Klugheit in dilemmatischen Situationen hervor (v. 2740 – 2742; v. 3901 f.) und nimmt ihm erneut die Schuld (v. 2842 – 2844; v. 3909 – 3914). Kongenial ergänzt wird dieses Bild durch eine ›überschwarze‹ Inszenierung der Liebesgegner und eine besonders ›schwache‹ bzw. irritierende Darstellung der beiden großen Opfer, Marke und Isalde II, die die Sympathien für den Helden schürt und im Tod des Paares ihren charakteristischen Abschluss findet: In einer Art Überblendung mit der Stimme des Erzählers erkennt Marke an, dass sich Tristrant und Isalde aufgrund des Minnetranks ane iren dang (v. 9472) lieben mussten, und das Paar erhält folgerichtig (wieder) seine gesellschaftliche Ehre. Der Erzähler begünstigt also von Beginn an »eine identifizierende Einstellung der Leser/Hörer« (Schausten 1999, S. 68), die das ›Diabolische‹ strategischer List, Lüge und Täuschung von innen verblassen lässt. Zugleich bekräftigt er eine Lesart, die auf eine besondere »Umwertung der Werte« (Ruh 1977, S. 49) zielt. Präsentiert wird nicht nur ein Held, der, so formuliert es Tristrant selbst, alterseine wser (v. 8856) als alle anderen ist und mit seinem klugen und geschickten Handeln die Welt nach eigenen Vorstellungen formt und bestimmt. Anders als Genelun darf der Titelheld dies auch: Er handelt in sämtlichen Situationen weder vollends eigennützig noch eigenwillig. Auch zielt er mit seiner Klugheit nie primär auf den Schaden anderer. Und so liest sich Tristrant im Gegensatz zum Gegenspieler Genelun gleichsam als »Vorbild höfischen […] Verhaltens« (Schausten 1999, S. 90): Er positiviert das Negative einer vom Zufall geprägten Welt und bezeugt eine »doppelte Wahrheit« (Ruh 1977, S. 50), die den obersten höfischen Werten und Normen letztlich nicht entgegensteht. IV. Historisch-vergleichende Abschlussskizze und schulischer Kompetenzgewinn Genelun und Tristrant – vom ›bösen Blendwerk‹ bis zum ›klugen Triumph‹ offenbaren sich im christlich-mittelalterlichen Kontext nicht nur zwei ganz unterschiedliche Aushandlungsprozesse strategischer List, Lüge und Täuschung. Greifbar wird auch die gesamte Bandbreite des Themas ›Intrige‹ zwischen Antike und Moderne. Dies erlaubt es am Ende, zumindest skizzenhaft, die mittelalterlichen List-Logiken noch einmal systematisch im Blick auf diachrone Zusammenhänge zu beleuchten, um so letztlich auch die Frage nach dem spezifischen Kompetenzgewinn für Schülerinnen und Schüler zu beantworten. Was sich in der antiken Literatur vor dem Hintergrund einer polytheistisch geprägten Welt für Götter wie für Menschen als ein vielseitiges und positiv konMitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 287 Claudia Lauer notiertes Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen präsentiert, wird in der christlich geprägten Literatur des Mittelalters, das zeigen Genelun und Tristrant, hochgradig prekär. Ausgangspunkt sind immer Krisen und Konflikte. Aus mittelalterlicher Sicht setzt die Intrige damit betont an einer Störung des christlichen ordo-Ideals an und benennt in skandalöser Weise die prinzipielle und beständige Krisenanfälligkeit eines optimistischen Denkmodells, das alle Elemente der Welt – von Himmel und Erde über die gesellschaftliche Ordnung bis hin zur körperlichen und geistigen Verfasstheit des Menschen – in einem Gleichgewicht sieht. Indem sich sowohl Genelun als auch Tristrant nicht ihren Notlagen fügen, sondern eigenwillig und kraft ihres eigenen Verstandes dem natürlichen Selbsterhaltungs- und -behauptungstrieb folgen, überlassen sie sich nicht dem Gesamtwillen Gottes und dessen wsheit als einem der Welt übergeordneten und sie ewig durchwaltenden Gesetz. Impliziert ist damit ein Anstoß erregender Zweifel an der göttlichen (Heils-)Ordnung. Explizit zur Diskussion gestellt wird aber auch die Bedeutung von Klugheit, mhd. list, die in der Nachfolge antiker Traditionen und lat. prudentia der göttlichen Ordnung dient, im Sinne von lat. astutia und dolus allerdings auch in das benachbarte Feld von Lüge und Täuschung reicht, die als luziferische Formen des Hochmuts (superbia) christlich-theologisch stark negativ besetzt sind. Und so wirft die Intrige – anders als in antiken Texten – im christlich geprägten Mittelalter explizit Fragen von Ethik und Moral auf. Zugleich wird sie vor dem Hintergrund eines dualistisch geprägten Denkens, das sich an der Wahrheit eines Gottes ausrichtet, auch hochgradig ambivalent. Auf der einen Seite, das offenbart das Beispiel Geneluns, zeigen sich enorme Abwehrreaktionen. Geneluns positiv besetzter list, der der wsheit gotes folgt, kippt radikal ins Negative: Präsentiert wird ein »geheime[r] Streit in der Triade« (Utz 1997), der von eigensüchtigen Motiven wie Hass, Rache und materiellem Eigennutz ausgeht, auf Lüge, Verstellung und Manipulation beruht und mit der »Dynamik von Teilung, Spaltung und Zerstörung« (Hasebrink 2000, S. 89) primär auf Schädigung zielt. Geneluns ›Umschrift‹ zum ruchlosen Gegenspieler, bei der sich die Vielfalt des antiken mechnema drastisch auf die christlichen Attribute des Teufels verengt, nimmt so nicht nur neuzeitliche Intriganten wie Iago und Franz Moor vorweg. Im christlichen Spannungsfeld zwischen Gut und Böse eröffnet sich auch eine Tradition, die sich bis zu den großen Widersachern moderner Superhelden verfolgen lässt, die wie z. B. Lex Luthor in der Auseinandersetzung mit Superman ihren geniehaften Verstand nutzen, um den Helden zu vernichten, Reichtum zu erlangen und die Weltherrschaft an sich zu reißen. Auf der anderen Seite zeigt der Fall des Titelhelden Tristrant explizite Bemühungen, das antike Phänomen positiv einzubinden. Ähnlich wie der erfindungsreiche Odysseus agiert Tristrant in dualistischen wie auch triadischen Konfliktkonstellationen und entfaltet ein tricksterähnliches Potenzial, das das gesamte Repertoire an List, Lüge und Täuschung umfasst. Anders als bei Odysseus dient seine Klugheit allerdings durchgehend der eigenen Rettung und/oder der von anderen. Auch handelt Tristrant in weiten Teilen fremdbestimmt und der Schaden, den er anderen zufügt, ist nur- 288 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen Die Kunst der Intrige mehr eine unbeabsichtigte Folge. Damit verschieben sich zum einen die antiken handlungsbestimmenden Faktoren. Mit Zufall, äußerem Liebeszwang und Gemeinnutz werden zugleich aber auch spezifische Problemstellungen und Werte der höfisch-adligen Gesellschaft präsentiert, die potenziell gefährliche Eigenwilligkeit und -mächtigkeit entschuldigen und positiv in das mittelalterliche Weltbild einbinden. Und so ist Tristrant am Ende die volle Anerkennung sicher: Er erstrahlt als tragischer Held in hellem Licht und wird zum Paradebeispiel klugen Handelns, das Odysseus in nichts nachsteht. Die synchrone Untersuchung und diachrone Einbettung des mittelalterlichen Kultur- und Erzählmusters der Intrige trägt damit, so lässt sich mit Blick auf den Deutschunterricht resümieren, neben der Vermittlung traditioneller literaturwissenschaftlicher Kompetenzen in zweierlei Hinsicht entscheidend zu einem kompetenten und souveränen Umgang mit der eigenen Kultur und Lebenswirklichkeit bei. Erstens entschlüsselt sich die grundlegende Attraktivität des Themas, die bis in die Gegenwart anhält. Die »Usurpation des Schicksals [und] der Weltlenkung als eines göttlichen Privilegs« (von Matt 2006, S. 201) mittels menschlicher Klugheit weist durch die Frage der Rechtmäßigkeit eine »intensive affektive Erlebnisqualität« (Baisch 2010, S. 151) auf, die die Intrige insbesondere in der ästhetischen Darstellung zu einem Faszinosum macht. Ihr skandalöses Potenzial erregt Aufmerksamkeit, zieht unwiderstehlich an und besitzt eine hohe »Bewertungsambivalenz« (ebd., S. 154), die sich im Spannungsfeld von Recht und Unrecht bzw. Gut und Böse codieren lässt und deren Spiel mit Heimlichkeit und Öffentlichkeit sowie Verhüllen und Enthüllen insbesondere auch heutige junge Leser und Zuschauer in Atem zu halten vermag. Und differenziert nachvollziehbar wird für Schülerinnen und Schüler zweitens auch der spezifische historische Wandel. An der Schnittstelle von Antike und Moderne werden Verhandlungsprozesse sichtbar, mit deren Hilfe sich nicht nur zeigen lässt, wie das Kulturmuster von der Vergangenheit bis in die Gegenwart literarisch fortgeschrieben, transformiert und neu konfiguriert wird. Sie sensibilisieren in hohem Maße auch das kulturelle Bewusstsein und schulen nachhaltig kulturhistorische Analysefähigkeiten. Sie legen offen, wie ›alte‹ und ›neue‹ Muster zusammenhängen und fordern dabei immer wieder auf, Handlungspraktiken und Wertvorstellungen zu hinterfragen und adäquat einzuordnen: Wann ist intrigantes Handeln richtig? Wann ist es falsch? Oder anders formuliert: Wie weit kann strategische Listanwendung betrieben werden, bevor sie in hinterhältige, tückische und böse Betrügerei umschlägt? Primärliteratur Eilhart von Oberge: Tristrant. Hg. von Franz Lichtenstein. Straßburg, London 1877 (Nachdruck: Hildesheim/New York 1973). Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 289 Claudia Lauer Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übers. und komm. von Dieter Kartschoke. Stuttgart 2007. Sekundärliteratur Baisch, Martin: Faszination als ästhetische Emotion im höfischen Roman. In: Machtvolle Gefühle. Hg. von Ingrid Kasten. Berlin/New York 2010, S. 139 – 166. 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