Problematischer religiöser Fundamentalismus und das Kindeswohl

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Problematischer religiöser Fundamentalismus und das Kindeswohl
ZBFS - BLJA Mitteilungsblatt 4/2015
Problematischer religiöser Fundamentalismus und das Kindeswohl nach
deutschem Recht
Die bayerischen Jugendbehörden werden in den letzten Jahren wiederholt mit Kindeswohlverletzungen als
auch Verstößen gegen Kinder- und Jugendschutzgesetze konfrontiert, die einem problematischen christlichen
Fundamentalismus zuzuordnen sind. Am Beispiel der jugendhilferelevanten Themen „Züchtigung“ und
„Indizierung Kinder- und jugendgefährdender Schriften“ soll hier auf die bekanntesten negativen Auswirkungen
bestimmter fundamentalistischer Kreise und Gemeinschaften auf das Kindeswohl eingegangen werden. Diese
Kreise, Gemeinschaften und Bewegungen sehen ihre religiösen Wurzeln eher in protestantischer Tradition und
erklärter Abkehr von den katholischen Kirchen. Entsprechende Erscheinungen im römisch-katholischen
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Bereich, wie diese beispielsweise von Beinert, Wolfgang et al. dargestellt wurden, sollen deshalb hier auch
nicht thematisiert werden.
Um „typisch fundamentalistische“ Merkmale aus Sicht der Jugendhilfe näher festzustellen, ist eine Beurteilung
darüber nachrangig, ob es sich dabei um katholische „Traditionalisten“, „evangelikale“ Christen, Mitglieder von
„Freikirchen“, „konservative“ Mitglieder der Landeskirchen oder Anhänger von „Sondergemeinschaften“ bzw.
„Sekten“ mit christlichem Hintergrund handelt. Das Neutralitätsgebot des Staates hat dem Grundrecht der
Religionsfreiheit hier umfassend zu entsprechen, und das staatliche Wächteramt, wie es u. a. den
Jugendbehörden übertragen ist, hat ausschließlich dann tätig zu werden, wenn andere Grundrechte
eingeschränkt oder verletzt werden. Jedes Kind und jeder Jugendliche hat dann allerdings — wie auch jeder
erwachsene deutsche Bürger — in vollem Umfang Anspruch auf den Schutz seiner Grundrechte wie sie im
Grundgesetz, in der Verfassung und durch spezifische Einzelgesetze festgesetzt sind. Wird gegen diese Rechte
verstoßen, kommt in der Jugendhilfe der Rechtsbegriff des „Kindeswohls“ zum Zug. Das Kindeswohl ist der
Maßstab, an dem sich im Zweifelsfall die tatsächlichen, konkreten Auswirkungen religiös oder weltanschaulich
motivierter Einstellungen und Handlungen prüfen lassen müssen. In der Praxis kann dies neben Eingriffen ins
elterliche Sorgerecht bis zu strafrechtlicher Ahndung in Fällen von schwerer Misshandlung oder
Vernachlässigung von Schutzbefohlenen gemäß § 225 Strafgesetzbuch führen.
1.
Historie und Definitionen zum protestantischen Fundamentalismus mit besonderem
Blick auf das „Herkunftsland“ USA
Die Bezeichnung Protestantismus geht zurück auf die (politische) „Speyerer Protestation“ der evangelischen
Stände auf dem Reichstag in Speyer im Jahre 1529. Dieser politische Protest berief sich dabei bereits damals
auf die Glaubensfreiheit des Einzelnen.
In der Folgezeit wurden zu den Protestanten im engeren Sinne die Angehörigen der christlichen Konfessionen
gezählt, die sich im 16. Jahrhundert zuerst in Deutschland und der Schweiz und danach vor allem in Mittel- und
Nordeuropa gegenüber der römisch katholischen Kirche durchsetzen konnten.
Später nannte sich beispielsweise auch die anglikanische Kirche in den Vereinigten Staaten nach der
Unabhängigkeitserklärung „Protestant Episcopal Church in the United States of America“. Weiter sind die
evangelischen Freikirchen dem Protestantismus zuzurechnen.
Der aktuell vom US-Außenministerium herausgegebene Jahresbericht 2014 über Religionsfreiheit in der
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Bundesrepublik Deutschland vom 14. Oktober 2015 zählt im “Abschnitt I. Religiöse Demografie” die
evangelische Kirche (definiert als Zusammenschluss der lutherischen, unierten evangelischen und evangelischreformierten Kirche) sowie die Neuapostolische Kirche, die baptistischen Gemeinden (evangelische christliche
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2
Beinert, Wolfgang et al., „`Katholischer´ Fundamentalismus – Häretische Gruppen in der Kirche?“, Regensburg 1991
http://blogs.usembassy.gov/amerikadienst/2015/10/14/religionsfreiheit-2014/#more-9126
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Baptisten, International Baptist Convention, reformierte Baptisten, Bibel Baptisten und andere) und die
evangelisch-freikirchlichen Baptisten zu den protestantischen Bekenntnisgemeinschaften in Deutschland.
Aus diesem Gesamtbereich des Protestantismus weltweit soll im Weiteren — deutlich unterschieden —
ausschließlich der problematische fundamentalistische Protestantismus als Beispiel für religiösen
Fundamentalismus überhaupt behandelt werden.
Fundamentalismus und Moderne
Die christliche Religion heute zeichnet sich nach Thomas Meyer durch die Aufarbeitung ihrer eigenen
Geschichte und Geschichtlichkeit aus, die seit Beginn der historisch-kritischen Bibelwissenschaft in den
dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts unumgänglich wurde. „Mit dem seither durch die wissenschaftliche
Hermeneutik aufs äußerste verfeinerten Instrumentarium der Textkritik konnten die Entstehungszeiten und umstände der einzelnen Texte der Heiligen Schriften des Christentums weitgehend und eindeutig genug geklärt
werden, um die traditionalistische Annahme der unmittelbar göttlichen Abkunft jedes ihrer Sätze
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unwiederbringlich zu entkräften.“
Antimodernistische Fundamentalisten dagegen scheuen die liberale, wissenschaftlich argumentierende
Theologie daher wie der Teufel das Weihwasser. Die Heilige Schrift sagt dem aufgeklärten Gläubigen nur noch,
was er historisch nachvollziehen kann und aus seiner persönlichen Erfahrung heraus als sinnhaft zu deuten
vermag. „Modernisierte Religion ist die Konsequenz aus der kopernikanischen Wende, die Luther vollbrachte,
als er den einzelnen zu seinem eigenen Priester und den individuellen Glauben zur letzten Instanz religiöser
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Geltungsansprüche machte.“
Für die Entstehung des (insbesondere US-amerikanischen) protestantischen Fundamentalismus macht Meyer
u. a. die Modernisierungs-Verweigerung seiner Anhänger verantwortlich. Dass „provinzielle“ ModernisierungsVerweigerer häufig auch tatsächlich „Modernisierungs-Verlierer“ waren und sind, gehört wohl zu den
wirksamsten Entstehungsgründen des „Fundamentalismus“ jeglicher Couleur weltweit. So antwortet auch der
protestantische Fundamentalismus auf die krisenhafte Moderne mit Bestrebungen, die sich auf heilige Texte
berufen, um eine andere Gesellschaft aufzurichten oder zumindest die befürchtete Apokalypse heil zu
überstehen.
Der ursprüngliche amerikanische Fundamentalismus lässt sich am besten als eine konservative protestantische
Sammlungsbewegung charakterisieren. Deren Minimalkonsens besteht in den „five fundamentals“. Wichtigster
Punkt dabei ist das konsequente Verständnis der Bibel als das „Wort Gottes“, das folglich nicht symbolisch,
sondern wort-wörtlich zu interpretieren ist. Die anderen vier Glaubensprinzipien beziehen sich auf die
Jungfrauengeburt, die leibliche Wiederauferstehung, das stellvertretenden Sühneopfer und die physische
Wiederkehr Christi. Die gemeinsame theologische Frontstellung tritt der modernen Bibelkritik der liberalen
Theologie entgegen. Andererseits werden sozialreformerische Ansätze abgelehnt, die egalitäre Aspekte des
Urchristentums und die soziale Verantwortung des Christen in den Mittelpunkt stellen. Es wird dogmatisch auf
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einer individualistisch orientierten Position verharrt.
Die neue Gesellschaftsordnung bzw. das neue Leben i. S. des protestantischen Fundamentalismus war und ist
auf dieser Grundlage nur durch eine Rückwendung hin zu vormodernen, angeblich noch rechtgläubigen Zeiten
und Gemeinschaftsstrukturen zu erreichen. Als `patriarchalische Protestbewegung` (Martin Riesebroth) beruft
er sich auf das göttliche Gesetz, um gegen zeitgemäße Liberalisierungen vorzugehen. Die Moderne mit ihren
Chancen und Ambivalenzen wird als Verrat an der Tradition und damit als generelle religiöse und kulturelle
3
Meyer, Thomas, „Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne“, Hamburg 1989, S. 37/38
ebenda S. 38
5
siehe Martin Riesebrodt, Protestantischer Fundamentalismus in den USA. Die religiöse Rechte im Zeitalter der
elektronischen Medien, EZW-Information Nr. 102, EZW, Stuttgart VIII/1987, S. 2f.
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Identitätsgefährdung zum umfassenden Feindbild erklärt. Die Bedrohung dieser Identität soll dabei ausgehen
von neuzeitlichen Erscheinungen wie den verschiedenen „Befreiungsbewegungen“(Sexual-Moral, Laissez-fairPrinzip, usw.), der ökumenischen Bewegung, der kritischen Bibelexegese, der Evolutionstheorie, dem
„Sozialismus“, dem säkularen Humanismus, der „Aufklärung“ und vor allem von dem „Verfall der Familie“.
Sozialpsychologie fundamentalistischer Biographien und autoritärer Führungsstrukturen
Die (Sozial-)Psychologie des fundamentalistischen „Gemeindeaufbaus“ und ihrer Mitglieder kann hier nur
angerissen werden. So wurde im Rahmen der Forschungsprojekte der Enquete-Kommission des Deutschen
Bundestags „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ (1996-98) auch eine „Typisierung christlichfundamentalistischer Biographien“ vorgenommen. Untersucht wurden dabei Einmündung, Karriere, Verbleib
und Ausstieg entsprechender Interviewpartner (Aussteiger, Konvertierte und Überzeugte) aus Milieus und
Organisationen christlich-fundamentalistischer Prägung. Die dabei hervorstechenden unterschiedlichen
Zugangs- und Adaptionsweisen werden unterteilt in drei Typisierungen: Der „traditionsgeleitete Typus“(1) ist
durch familiale oder milieubezogene mono-kulturelle Religiosität geprägt und nimmt diese Einfügung als gutes
Schicksal oder göttliche Fügung hin. Dagegen ist beim „Mono-Konvertit“(2) eine familiale religiöse Sozialisation
nicht erkennbar oder unerheblich, und dennoch oder gerade deshalb verschreibt er sich wie unter Wahlzwang
„ein für allemal in seinem Leben einer bestimmten religiösen Orientierung“, die zugleich eine Entscheidung
gegen die bisherige Weltanschauung bedeutet. Beim „akkumulativen Häretiker“(3) ist eine familiale religiöse
Sozialisation ebenfalls (kaum) erkennbar, aber er bevorzugt offene religiöse Milieus, die er nutzt, um durch
selektive Auswahl aus unterschiedlichen religiösen und spirituellen Traditionen das ihm Akzeptable i. S. einer
7
Suchbewegung auszuwählen.
Treffen Personen insbesondere des Typus (1) und (2) auf problematische vereinnahmende Fundamentalisten,
kann es zu einer „Passung“ und intensiven persönlichen Bindung an entsprechende Kreise oder Gemeinden
kommen. Die Suche nach Halt, Orientierung oder Bewältigung persönlicher Krisen kann v. a. bei
autoritätsgläubigen Menschen zur Abhängigkeit oder gar Hörigkeit hinsichtlich machtbewusst auftretender
„charismatischer“ Leitungspersonen führen.
Patriarchalisch-autoritäre Gemeinde- und Familienstrukturen sind erkennbar an religiös begründeten
Machtstrukturen, die sich beispielsweise auf eine strikte Unterwerfung des Mannes unter „den Willen Gottes“,
auf die Unterordnung der Frau unter den Willen des Mannes und die Unterordnung der Kinder gegenüber den
Eltern berufen. Ein Missbrauch derartig definierter Autorität in problematischen fundamentalistischen Kreisen
lebt dabei psychodynamisch gesehen vom Missbrauch der frommen Hingabebereitschaft der schwächeren
Mitglieder.
Bei fundamentalistischen Gemeinschaften sind laut Hempelmann v. a. zu kritisieren: „…
-
Die Orientierung an charismatischen Führerpersönlichkeiten kann das Mündig- und Erwachsenwerden
im Glauben verhindern,
die Berufung auf die Bibel und auf den Heiligen Geist kann funktionalisiert werden für ein
problematisches Macht- und Dominanzstreben,
das gesteigerte Sendungsbewusstsein einer Gruppe kann umschlagen in ein elitäres Selbstverständnis,
das sich scharf nach außen abgrenzt, im Wesentlichen von Feindbildern lebt und Gottes Geist nur in den
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eigenen Reihen wirken sieht.“
6
Siehe dazu Hempelmann, Reinhard in Hempelmann, R. et al. (Hrsg.), „Panorama der Neuen Religiosität“, Gütersloh 2005,
S. 432f
7
siehe dazu Streib, Heinz, „Milieus und Organisationen christlich-fundamentalistischer Prägung“ in „Neue religiöse und
ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen“, Deutscher Bundestag 1998, Hoheneck-Verlag Hamm, S. 107 ff
8
s. Hempelmann, R., „Sind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch?“, in Materialdienst 1/06 der Evangelischen
Zentrale für Weltanschauungsfragen, EZW Berlin, S. 7f.
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Machtmissbrauch und Neigung zur Gewalt
Solcher Glaubenseifer, der sich auf den biblischen Missionsbefehl beruft, macht in der Konsequenz einen
religiösen Dialog unmöglich. Entsprechende Meinungsführer fühlen sich ggf. durch eine höhere Macht dazu
berufen, in selbstgerechter Weise biblische Aussagen durch Übertreibung zu entstellen oder sogar ins
Gegenteil zu verkehren.
Beim problematischen Fundamentalismus kann zum religiösen Fanatismus eine Neigung zur Gewalt hinzu
treten. Wenn zur Missionsarbeit unweigerlich die Bekämpfung von „äußeren Feinden“ gehört, muss
folgerichtig auch mit einer Bekämpfung von „inneren Feinden“ in der Gemeinschaft bzw. Familie gerechnet
werden. So kann selbst das eigene Kind mit seinen Bedürfnissen und seiner sich entwickelnden
Eigenpersönlichkeit als „rebellisch“ gegen die Eltern und damit gegen den Willen Gottes gekennzeichnet
werden. Derartige Propaganda kann in entsprechenden Gemeinden und Familien zur Legitimation missbraucht
und damit (Mit-)Ursache von „häuslicher Gewalt“ und insbesondere von Kindesmisshandlung sein. Wenn die
„Erbsünde“ oder der Einfluss des „Bösen“ im Kind angeblich nur durch Gewalt in der Erziehung zu beseitigen
sein soll, spätestens dann ist die Aufmerksamkeit der Jugendhilfe gefordert.
Variantenreicher Fundamentalismus
Innerhalb des Gesamtspektrums unterscheidet Hempelmann weiter den Wort-Fundamentalismus vom GeistFundamentalismus. „Die eine Gestalt nimmt Bezug auf das unfehlbare Gotteswort in der Bibel (biblizistische,
literalistisch-legalistische Orientierungen), die andere Gestalt sucht und findet Gewissheit in
außergewöhnlichen Erfahrungen des Heiligen Geistes (enthusiastische, pfingstlich-charismatische, pentekostale
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Orientierungen).“
In den letzten Jahren haben Gemeinschaften auffallend starken Zulauf, die sich einerseits besonders
„jugendaffin“ geben und sich äußerlich durch modern wirkende Kultformen hervortun. Musikalischer HighTech und Selbst-Stilisierung als „Gotteslob“ bei Superevents sorgen für eine hochemotionalisierte Stimmung in
der Fan-Gemeinde. Andererseits werden aber hinter der Kulisse nicht selten erzreaktionäre Botschaften über
Glaube, Selbstfindung, Gesellschaft, Ehe und Kindererziehung verkündet nach dem Motto: Selbstbefreiung
durch „Lebensübergabe“ anstatt Emanzipation!
„Bibeltreue“
Die für den problematischen protestantischen Fundamentalismus zentrale Berufung auf seine angebliche
„Bibeltreue“ kaschiert häufig nur seinen höchst selektiven Biblizismus. Es wird lediglich eine passende Auswahl
von Textpassagen wörtlich genommen.
Als Erkennungszeichen unter Fundamentalisten dient häufig der Begriff „bibeltreu“ wie im Falle der „Konferenz
Bibeltreuer Ausbildungsstätten“. In Formulierungen der vielzitierten „Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit
der Bibel“ heißt dies: „ […] 2. Da die Heilige Schrift Gottes eigenes Wort ist, das von Menschen geschrieben
wurde, die der Heilige Geist dazu ausrüstete und dabei überwachte, ist sie in allen Fragen, die sie anspricht, von
unfehlbarer göttlicher Autorität: Ihr muss als Gottes Unterweisung in allem geglaubt werden, was sie bekennt;
ihr muss als Gottes Gebot in allem gehorcht werden, was sie fordert; sie muss als Gottes Zusage in allem
aufgenommen werden, was sie verheißt. [ …] 4. Da die Schrift vollständig und wörtlich von Gott gegeben
wurde, ist sie in allem, was sie lehrt, ohne Irrtum oder Fehler. Dies gilt nicht weniger für das, was sie über
Gottes Handeln in der Schöpfung, über die Geschehnisse der Weltgeschichte und über ihre eigene, von Gott
gewirkte literarische Herkunft aussagt, als für ihr Zeugnis von Gottes rettender Gnade im Leben einzelner. […].“
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Hempelmann in „Panorama …“, a.a.O., S. 422; dort beschreibt der Autor auf den Seiten 411 – 509 sehr detailliert das
genannte Gesamtspektrum
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Der ungeschützte Begriff „Bibeltreue“ wird leider auch von problematischen Fundamentalisten gebraucht, um
Seriosität und Verbundenheit mit anderen Christen vorzutäuschen, oder um zu proklamieren, dass sie –
womöglich exklusiv – die wahre „Bibeltreue“ vertreten, während sie tatsächlich eine wie auch immer extreme,
einseitige bzw. selektive Bibelauslegung betreiben. Ein typisches Beispiel für eine derartige „biblische“
Theologie als Fundamentalkritik an Schulpädagogik, Staat und Verfassung in Deutschland findet sich auf der
Homepage eines öffentlich bekannten, bereits gerichtlich belangten christlichen Schulpflichtverweigerers, der
u. a. darauf besteht: „Die Heilige Schrift lehrt homeschooling´“.
Aus Sicht der Jugendhilfe ist hier eine „unüberhörbare“ Klarstellung der Amtskirchen überfällig: Welche
Bibelstellen sind hinsichtlich der in Deutschland geltenden Gesetze keinesfalls wörtlich auszulegen?
Insbesondere hinsichtlich des Rechtsbegriffs des „Kindeswohls“ und der Gewaltfreiheit als Erziehungsleitbild im
Sinne des Grundgesetzes ist hier endlich ein konsequenteres christliches „Machtwort“ angebracht. Durch eine
deutliche Abgrenzung kann auch der Vereinnahmung „normaler“ Kirchenchristen durch problematische
fundamentalistische Kreise am Rande der Kirchen vorgebeugt werden. Insbesondere ist dabei an junge Christen
zu denken, die auf der Suche nach einem sinnvollen Engagement oder einer eindeutigen Orientierung sind.
Zumindest zum Umgang mit Bibeltexten für den Bereich der reformatorischen Bekenntnisse bezieht
Hempelmann hier schon einmal wohltuend deutlich Stellung: „In der Frage der Begründung der
Glaubensgewissheit differieren reformatorisches und fundamentalistisches Bibelverständnis an einem
entscheidenden Punkt. Die reformatorische Theologie verzichtete darauf, die Verlässlichkeit des göttlichen
Wortes durch ein Verbalinspirationsdogma zu sichern. Ebenso verneinte sie eine prophetische Unmittelbarkeit,
die sich vom Wort der Schrift und den äußeren Mitteln göttlicher Gnadenmitteilung loslöst und bestand auf der
Wortbezogenheit des Geistwirkens. Gegenüber einem Wortfundamentalismus ist hervorzuheben, dass es
Gottes heilvolle Nähe in seinem Wort nur in gebrochenen und vorläufigen Formen gibt. Die Bibel ist weder in
den zentralen reformatorischen Bekenntnistexten noch in den altkirchlichen Symbolen Gegenstand des
10
Heilsglaubens. “
Aus Jugendhilfesicht ist dabei immer zu differenzieren, dass eine willkürlich-selektive Bibeltext-Interpretation
für sich allein hinsichtlich Erziehung und Kindeswohl bei Anhängern fundamentalistischer Sichtweisen letztlich
von der Religionsfreiheit gedeckt ist. Erst die damit u. U. verbundene Vehemenz der Umsetzung im
Erziehungsalltag, der Rigorismus und eine Neigung zur Gewalt, die sich engstirnig auf isolierte, extreme
Glaubensgehalte berufen (weil dies angeblich „Gottes Wille“ sei!), stellen mit ihren konkreten Auswirkungen
auf das Kind und die Familie das eigentliche Problem dar.
Calvinismus
Neben Martin Luther und Huldrych Zwingli war Jean Calvin der wirkungsmächtigste Reformator des
Protestantismus.
Die sich auf den Reformator Jean Calvin konkret berufenden Kirchen nennen sich selbst „Reformierte Kirchen“,
während der Überbegriff „Calvinismus“ den maßgeblichen Einfluss Calvins insbesondere auf die Vielzahl
protestantischer Kirchen und Denominationen gerade im anglo-amerikanischen Raum bezeichnet.
Die „Evangelische Kirche in Deutschland“(EKD) definiert den Calvinismus in ihrem offiziellen online-„GlaubensABC“ kurz und bündig wie folgt:
„Von der Reformation lutherischer Prägung unterscheidet er sich im Verständnis des Abendmahls, vor allem
aber durch den Gedanken der Prädestination (Vorsehung). Demnach ist der Mensch von Gott entweder zur
Seligkeit oder zur Verdammnis vorherbestimmt. Ob der Weg in den Himmel oder in die Hölle führt, lässt sich
am ehesten am Erfolg bzw. Misserfolg eines Menschen ablesen.“
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s. Hempelmann, R., „Sind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch?“ a.a.O. S. 14
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Gerade dieses calvinistische Selbstverständnis bildet nicht selten den Nährboden für das grundsätzlich negative
Menschen- und Weltbild, wie es in den problematischen „Erziehungsratgebern“ fundamentalistischer
Protestanten aus den USA überdeutlich zum Ausdruck kommt. Gerade solchermaßen gläubige Eltern werden
mit der Situation konfrontiert, ihre Kinder frühestmöglich zum Gehorsam und irdischen Erfolg zu erziehen,
obwohl das jenseitige „Ewige Leben“ bereits schicksalhaft festgelegt sein soll. Wird trotz aller
Erziehungsbemühungen der gewünschte Erfolg nicht sichtbar, erscheint das Bestrafen und
„Unschädlichmachen“ böser („rebellischer“) Kinder womöglich als einzige zielführende Methode. Als Folge der
Bezichtigung als „böse“ oder „sündig“ können Kinder im fundamentalistischen Umfeld systematisch
dämonisiert und damit psychisch massiv misshandelt werden, was je nach „Stabilität“/Resilienz der davon
Betroffenen zur Selbst-Aufgabe bzw. Verzweiflung mit den bekannten psychischen Beeinträchtigungen führen
kann.
2. Besondere Schwerpunkte aus Sicht der Jugendhilfe:
2.1 Welche biblischen Weisheiten können heute noch missbraucht werden zur „Auf-Zucht“ von Kindern?
Und was besagt dagegen die „Frohe Botschaft“ Jesu als Ausgangspunkt christlicher Erziehung?
In der Bibel lässt sich eine ganze Reihe von Anweisungen zur „Züchtigung“ finden, die nach unserem heutigen
Verständnis als Aufforderung zur Kindesmisshandlung interpretiert werden müssen:
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Wenn ein Mann einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat, der nicht auf die Stimme seines Vaters
und seiner Mutter hört, und wenn sie ihn züchtigen und er trotzdem nicht auf sie hört [...] Dann sollen alle
Männer der Stadt ihn steinigen und er soll sterben. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Ganz
Israel soll davon hören, damit sie sich fürchten. (5. Buch Mose 21,18–21)
Wen der Herr liebt, den züchtigt er, wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat (Sprüche 3,12;
Einheitsübersetzung 1981); oder in bereits entschärfter Übersetzung: Denn wen der HERR liebt, den weist
er zurecht, und hat doch Wohlgefallen an ihm wie ein Vater am Sohn (Luther-Bibel 1968)
Wer Zucht liebt, liebt Erkenntnis, wer Zurückweisung hasst, ist dumm. (Sprüche 12,1)
Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht. (Sprüche 13,24)
Du schlägst ihn mit dem Stock, bewahrst aber sein Leben vor der Unterwelt. (Sprüche 23,14)
Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat. (Hebräer
12,6)
Mit letzterem Vers (Hebräer 12,6) hat es unter den problematischen Sprüchen des Alten Testaments in
besonders wirkungsvoller Weise der Vers Sprüche 3,12 (s. o.) ins Neue Testament „geschafft“. Der im Neuen
Testament singuläre Spruch heißt dort: “Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden
Sohn, den er gern hat“(Hebr.12, 6; Einheitsübersetzung 1981 bzw.:“ Denn welchen der Herr lieb hat, den
züchtigt er, und er straft einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt“ (Lutherbibel 1968). Man beachte die
Radikalisierung gegenüber dem Alten Testament, Sprüche 3,12: jeden Sohn. Dass die Töchter davon nicht
ausgenommen sind, ist für den patriarchalisch-autoritär eingestellten Autor wohl nicht einmal weiter
erwähnenswert.
Im Gegensatz zu diesen biblischen Anweisungen kann die/der wohlgesonnene Bibelleserin und Bibelleser sehr
wohl die Verkündigung Jesu als ethischen Maßstab für sein (erzieherisches) Handeln wählen und sich am Gebot
der Nächstenliebe, ja der Feindesliebe orientieren (s. „Bergpredigt“, Mt 5,43-47 und „Feldrede“, Lk 6,27 sowie
6,32-36). Der gravierende Unterschied (zum Alten Testament) der Einstellung Jesu den Kindern gegenüber
wird in der herausragenden Szene in Mt. 19, 13-14 deutlich:
„Die Segnung der Kinder: Da brachte man die Kinder zu ihm, damit er ihnen die Hände auflegte und für sie
betete. Die Jünger aber wiesen die Leute schroff ab. Doch Jesus sagte: Laßt die Kinder zu mir kommen; hindert
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sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Himmelreich.“ (Einheitsübersetzung). Jesus trat hier
ausdrücklich der Kinderfeindlichkeit seiner Jünger(!) entgegen und zeigte ihnen(!) gerade am Beispiel der
Kinder (generell), wer berechtigt ist, „das Himmelreich zu gewinnen/ zu erben“.
Wie diese eigentlich eindeutig formulierten Gebote im Laufe der Kirchengeschichte eine negative Veränderung
und Engführung erfahren konnten, ist leider bereits im Neuen Testament sichtbar. Als „der Nächste“ wurde
bereits bei Paulus v. a. „der Bruder im Herrn“ verstanden. Insbesondere „die Juden“, unbekehrbare Heiden und
Sünder, Ungläubige, Ketzer oder gar Abtrünnige wurden dagegen bald als zu bekämpfende (Gottes-)Feinde
ausgemacht. Hier kann auch ein Grundstein liegen für den Hass vieler problematischer Fundamentalisten,
deren Profilierung sich entsprechend deutlich an ihren Feindbildern erkennen lässt, ja deren jeweiliges (als
Projektion austauschbares) Feindbild häufig ihre vorrangige Orientierungsleitlinie darstellt.
Zur Suche nach dem „äußeren“ Feind kann die Suche nach dem Feind „im eigenen Lager“ dazukommen,
insbesondere wenn der äußere Feind (bisher) übermächtig und unangreifbar erscheint. Auch wenn die Mission
dem Kampf gegen den „Fürsten der Welt“ oder pauschal der sündhaften Moderne in der westlichen Welt gilt,
liegt es nahe, bei sich zu Hause anzufangen, weil bei den eigenen Kindern noch die besten Chancen für eine
entsprechende Menschenführung oder gar Indoktrination aufscheinen.
Nach dem Schema von Treue vs. Verrat kann es zu Erziehungsleitbildern und Grundhaltungen kommen, die im
Kind v. a. den künftigen Kämpfer für die Sache der „Rechtgläubigen“ wahrnehmen oder das Kind als dafür
ungeeignet oder gar schädlich einschätzen. Hier droht die Gefahr, dass das Kind von vornherein als durch die
„Erbsünde“ gezeichnet verstanden wird, von der es durch eine Erziehung nach dem „Willen Gottes“ zu befreien
ist. Dann droht die Gefahr, dass nicht nur das „rebellische Kind“ zum „Feindbild Kind“ an sich, zum reinen
Objekt von Erziehungs- oder gar Bekämpfungsmaßnahmen erniedrigt wird, sondern dass alle Kinder ohne
Unterschied „gezüchtigt“ werden müssen, um sie damit zu „retten“.
Das aus einem solchen Verständnis im Extremfall entstehende „dogmatisch-machtorientierte
Erziehungsverständnis“ zeichnet sich dadurch aus, dass „nicht die klassischen [fundamentalistischen]
Feindbilder wie eine Gesellschaft ohne Werte, der Humanismus oder die antiautoritäre Erziehung beschworen
[werden]. […] Beim machtorientierten Verständnis muss der Feind an einem anderen Ort gesucht werden, er
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befindet sich innerhalb der Ingroup selbst: Erschütternder Weise ist der Feind das Kind.“
Ein weiterer, hier relevanter Streitpunkt protestantischer Bibelinterpretationen betrifft das sog. Böse, die Figur
des Satans, die apokalyptischen Bilder von der drohenden ewigen Verdammnis und die Dämonisierung von
angeblich feindlichen Mächten. Aus Sicht der modernen, wissenschaftlich fundierten Theologie kann sich die
„Frohe Botschaft“ des Neuen Testaments sehr wohl auf das von aller apokalyptischen Angst befreiende JesusWort in Lukas 10, 18 u. 19 berufen, denn: „(18)Da sagte er zu ihnen: Ich sah den Satan wie einen Blitz vom
Himmel fallen. (19)Seht, ich habe Euch die Vollmacht gegeben, […] die ganze Macht des Feindes zu
überwinden. Nichts wird Euch schaden können.“ Dieser wohl authentische Ausspruch Jesu zeugt von seiner
Gewissheit, dass die entscheidende Wende, das Neue seiner Botschaft, die Entmachtung Satans nicht mehr in
der Zukunft liege, sondern bei Gott bereits erfolgt sei. „Nicht auszuschließen ist, dass dieses Logion die
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Berufungsvision Jesu zusammenfasst, die ihm möglicherweise bei seiner Taufe zuteil geworden ist.“ Der
zentrale Duktus der Verkündigung Jesu zielt nicht (mehr) auf die Angst machende Drohung vor dem
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kommenden Gericht, sondern auf die frohmachende Zusage der Gegenwart des Heils. Damit verbietet sich für
11
siehe „Erziehungsverständnisse in evangelikalen Erziehungsratgebern und –kursen“, Zürich, 5. April 2013 / Version 1.1,
S.22. Diese wegweisende Studie der „Fachstelle infoSekta“ in Zusammenarbeit mit der „Stiftung Kinderschutz Schweiz“ ist
zu finden unter:
http://www.infosekta.ch/media/pdf/Erziehungsverstandnisse_in_evangelikalen_Erziehungsratgebern_und_kursen__infoSe
kta_2013.pdf
12
Roloff, Jürgen, “Jesus“, München, 4. Aufl. 2007,S. 73)
13
s. Roloff a.a.O., S. 78
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Christen das Schüren apokalyptischer Ängste vor dem Endgericht und der Zwang, den Mitmenschen oder gar
das eigene Kind zum (Erziehungs-)Objekt für den Kampf gegen „das Böse“ zu degradieren.
2.2
Beispiele besonders problematischer Erziehungsvorstellungen und Praktiken
Züchtigung von Kindern bei den „Zwölf Stämmen“
Die weltweit vertretene, vorgeblich „urchristliche“ Gemeinschaft der „Zwölf Stämme/The Twelve Tribes“
erregte in den letzten Jahren in Deutschland immer wieder große Aufmerksamkeit. Vor allem die (biblisch
begründeten!) Erziehungspraktiken führten immer wieder zu Auseinandersetzungen, die schließlich aufgrund
des erbrachten Nachweises regelmäßiger körperlicher Züchtigungen in der Herausnahme von insgesamt 40
Kindern im September 2013 gipfelten.
Zu Beginn des Erziehungshandbuchs der „Zwölf Stämme“: „Our Child Training Manual“ wird das zentrale
Erziehungsleitziel von problematischen fundamentalistischen Gemeinschaften exemplarisch definiert:
"Die Kontrollphase schafft die rechtmäßige Herrschaftsgewalt, mit der Eltern über den Willen ihrer Kinder
verfügen. Wenn Eltern ihre Kinder kontrollieren können, haben sie die nötige Grundlage für deren Gehorsam
und die Belehrung über die Gebote/Vorschriften gelegt. Dann werden ihre Kinder imstande sein, Söhne und
14
Töchter des Gebotes (Joh.14:21, 23, 24 ) zu werden." [...] " Spr. 22:6 gilt absolut/uneingeschränkt, sofern
Eltern ihrem Vater im Himmel von Herzen Gehorsam leisten. Die Eltern müssen die Gebote der Schrift als
absolute Wahrheit und unendlich überlegen gegenüber jedweder menschlichen Methode, jedwedem
Erziehungssystem oder Denken anerkennen. Es kann hier keinen Kompromiss durch einen Versuch geben, das
Wort Gottes, wie es in den Schriften steht, mit irgendwelchen menschlichen Philosophien, Psychologie,
Soziologie, religiösen Ansichten oder öffentlicher Meinung vereinbar zu machen.
Gottes Wort ist absolut zu akzeptieren ohne Verfälschung durch Menschenhand. Das Wort ist lebendig und
15
kraftvoll und heute wichtiger als in irgendeinem anderen Zeitalter der Menschheitsgeschichte.“ [Übersetzung
des Autors]
Dazu aus einem — mittlerweile aus dem Netz genommenen — Beitrag der „Zwölf Stämme“:
„Befinden wir uns in der Zeit, die Paulus in 2.Tim 3,1-3 beschreibt?
Das sollst du wissen: In den letzten Tagen werden schwere Zeiten anbrechen. Die Menschen werden
selbstsüchtig sein, habgierig, prahlerisch, überheblich, bösartig, den Eltern ungehorsam, undankbar, ohne
Ehrfurcht, lieblos, unversöhnlich, verleumderisch, unbeherrscht, rücksichtslos, grob, heimtückisch, verwegen,
hochmütig, mehr dem Vergnügen als Gott zugewandt. Den Schein der Frömmigkeit werden sie wahren, doch die
Kraft der Frömmigkeit werden sie verleugnen.
Kinder, die den Eltern ungehorsam sind, werden unter den Zeichen der Endzeit aufgeführt. Warum? Sind nicht
16
all diese aufgelisteten Eigenschaften auf mangelnde Kindererziehung zurückzuführen?“
14
[Wortlaut von Spr.22, 6 lt. Einheitsübersetzung: „Erzieh den Knaben für seinen Lebensweg, dann weicht er auch im Alter
nicht davon ab.“]
15
OUR CHILD TRAINING MANUAL 140601.1946 , S. 10, 1997 Yehudah , Child Training II – Introduction; Hervorhebungen im
Original): „The control phase is the establishment of the parents’ rights of rulership over the will of their children. When
parents can control their children, they have laid the necessary foundation for obedience and teaching them the
commandments. Then their children will be able to become sons and daughters of the commandment (Jn 14:21,23,24).“
[…] „Pr 22:6 is absolute if parents are obedient from the heart to their Father in heaven. The parents must accept the
commandments in scripture as absolute truth and infinitely superior to any human method or system of child training or
thinking. There can be no compromise by an attempt to modify the word of God found in the scriptures, to make it
compatible with any human philosophies, psychology, sociology, religious views, or public opinion. God’s word is to be
accepted absolutely without human adulterations. The word is living and powerful and is relevant today more than any
other period of human history.“.
16
www.zwoelf-staemme.de, „Wenn die Sonne nicht mehr scheint“, o. J., S. 5/6 (Hervorhebung im Original)
8
ZBFS - BLJA Mitteilungsblatt 4/2015
Unter den vielen persönlichen Berichten von Kindern der „Zwölf Stämme“ auf deren Homepage lobt folgende
Darstellung bezeichnenderweise die angewandten Erziehungspraktiken — sozusagen „am eigenen Leib
erfahren“ — und deren „bibeltreue“ Legitimation:
„Chavivah's Darstellung“ (12 Sep 2013) [dieser Beitrag wurde erst kürzlich aus dem Netz genommen]
Ich war auch eines der Kinder, die den Segen hatten, mit einer Absicht auf die Welt zu kommen und erzogen zu
werden. Meine Eltern haben mich nach dem Wort Gottes, wie es in der Bibel steht, erzogen. Wie der Spruch
22,6 besagt, wird ein Mensch später so sein, wie man ihn als Kind erzogen hat.[…] Weil also meine Eltern selber
eine Absicht im Leben hatten und für uns dieselbe Absicht hatten, gehorchten sie den Anweisungen in Sprüche
23,14-15 und 13,24.
Sprüche 23:14,15
14
Indem du ihn mit der Rute schlägst, rettest du seine Seele vom Tode. 15 Mein Sohn, wenn dein Herz weise
wird, so ist das auch für mein Herz eine Freude!
Sprüche 13:24
24
Wer seine Rute spart, der haßt seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn beizeiten.
Sie tolerierten keinerlei Ungehorsam, Respektlosigkeit oder Rebellion. Ich erinnere mich aber daran, dass ich
immer wusste, wie ich ihnen gefallen konnte. Es war mir ein Bedürfnis, sie glücklich zu machen. Der Gedanke
daran, dass sie meinetwegen Kummer haben würden, war für mich schrecklich. Dennoch wäre ich, wenn es
doch vorkam, nie weggelaufen, um mich für eine Weile zu verstecken – denn ich wusste, dass ich nur, wenn ich
meine Disziplin empfangen würde, wieder bessere Gefühle bekommen würde. Deshalb mussten sie niemals
wütend oder frustriert werden und hatten nie die Nase voll von mir, denn alles blieb immer einfach und klar.
Dann haben sie mir vergeben und alles war gut. Ich wusste immer, dass ich geliebt werde – weil sie mich
disziplinierten.
Bei Disziplin geht es niemals um Strafe und ist erst recht kein Kanal, um Frustration abzulassen. Disziplin ist die
Art und Weise unseres Vaters im Himmel, einem Kind das Gute und dem Vater und der Mutter Wohlgefällige
aufzuzeigen, ebenso das Schlechte, das ihnen nicht gefällt.
Wenn ich Kinder sehe, deren Eltern sie nicht disziplinieren, dann tun sie mir leid. Sie erfahren nur selten, dass
ihre Eltern Freude an ihnen haben oder wissen gar nicht, wie sie ihnen überhaupt gefallen können – weil sie
17
nicht gelehrt werden, sondern lediglich toleriert werden. [ …]“
Zwei von der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM)“ indizierte
(Internet) Erziehungsratgeber über Züchtigung als grundlegendes Erziehungsmittel
a)
Entscheidung Nr. 11264 (V) vom 16.12.2013 zum Internet-Beitrag :
„Warum die Rute gerecht ist“; Autor: Pastor Robert L. (Bob) Deffinbaugh; Hampton Keathley, Garland,
18
USA
In der ausführlichen Darstellung und Begründung der BPjM wird die Propagierung der Notwendigkeit
körperlicher Züchtigung als vorrangiger Erziehungsmethode in diesem umfänglichen „bibeltreuen“ InternetRatgeber verurteilt. Hervorgehoben werden dabei in der Entscheidung folgende Behauptungen:
17
http://twelvetribes.org/de/blog/ein-gesetz-gegen-liebe; diese deutschsprachige Seite wurde erst kürzlich aus dem Netz
genommen! Eine englische Version mit Film-Interview von Chavivah findet sich (abgerufen am 12.01.2016) unter:
http://news.twelvetribes.org/2013/09/12/chavivahs-testimony/
18
Entscheidung kann bei der BPjM angefordert werden (Personendaten sind entfernt)
9
ZBFS - BLJA Mitteilungsblatt 4/2015
„…
1. „DIE BIBEL FORDERT DEN GEBRAUCH DER RUTE, WEIL WIR VON SELBST NICHT VON IHR GEBRAUCH
MACHEN WÜRDEN.“
[Argument: Die meisten Eltern würden ihre Kinder aus verschiedenen Gründen von sich aus nicht züchtigen,
weshalb sie von Gott bzw. der Bibel dazu angehalten werden müssen.]
2. „DIE RUTE IST ERFORDERLICH, UM DIE SÜNDE DER KINDER IN GRENZEN ZU HALTEN.“
[Argument: Wie die Regierung die Bürger mit Strafen – etwa der Todesstrafe – von Sünden abhält, hält
körperliche Züchtigung Kinder von Sünden ab – „So wie die Regierung das Schwert trägt, so halten Eltern
die Rute.“]
3. „DIE RUTE IST ERFORDERLICH, WEIL SIE DEN CHARAKTER EINES KINDES OFFENLEGT.“
[Argument: Körperliche Züchtigung ist eine Charakterprüfung für das Kind, das die Bestrafung im Idealfall
akzeptiert und im Anschluss Reue und Besserung zeigt.]
4. „DIE RUTE IST ERFORDERLICH, UM DAS KIND ETWAS ZU LEHREN.“ „DIE RUTE IST ERFORDERLICH, WEIL ES
VERHEERENDE FOLGEN HAT, WENN MAN IHREN GEBRAUCH UNTERLÄSST.“
5. „DIE RUTE IST ERFORDERLICH, WEIL SIE GERECHT IST UND WEIL GOTT BEI SEINEN KINDERN VON DER RUTE
GEBRAUCH MACHT.“
In der Schlussfolgerung heißt es: Wir können aus den Schriften keinen anderen Schluss ziehen als den, dass
die Gerechtigkeit nach der Rute verlangt. Gottes Gerechtigkeit erfordert es, dass Er die Ungläubigen richtet
19
und Sein eigenes Volk züchtigt.“
Die Anweisungen zur Gewaltanwendung in diesem „Ratgeber“ auch schon in Bezug auf ganz kleine Kinder („Die
Rute dient zur Anleitung derer, die Erklärungen noch nicht zugänglich sind“) werden von der BPjM
entsprechend deutlich bewertet. So werde das Grundrecht von Minderjährigen auf körperliche Unversehrtheit
in extremer Weise negiert. Das Schlagen mit harten Gegenständen wie Rute oder Schlagstock zum Erreichen
von Demut und Fügsamkeit bei Kindern werde befürwortet und verharmlost. „Gerade die Achtung der
körperlichen Unversehrtheit anderer Personen sowie die Vermittlung von gewaltfreiem Verhalten gehören zu
den wichtigsten Erziehungszielen, die gewährleisten, dass Kinder und Jugendliche sich zu gemeinschaftsfähigen
Persönlichkeiten entwickeln.“
Aus Sicht des Kinder- und Jugendmedienschutzes wie der Jugendhilfe insgesamt, kommt gerade am Beispiel der
Indizierung dieses Internetangebots ein gravierendes Problem hinsichtlich seiner Verbreitung hinzu. So stellt
die BPjM auf S. 13 fest: „Da das Medium Internet-weit verbreitet und für Kinder und Jugendliche leicht
zugänglich ist, kann auch nicht von einem nur geringen Verbreitungsgrad ausgegangen werden.“ Umso
schlimmer ist, dass sich der US-amerikanische Anbieter „einen Teufel“ um die Entscheidung der BPjM (und
damit um deutsches Recht…) „schert“, und die kritisierte Seite weiterhin unverändert ins Internet stellt (Link s.
o.).
b)
Entscheidung Nr. 10919 (V) vom 5.4.2013 bekannt gemacht im Bundesanzeiger AT vom 30.4.2013 :
20
Das Buch „Eltern – Hirten der Herzen“ von Tedd Tripp, 3L Verlag gemeinnützige GmbH, Waldems
Auch zu dem Erziehungsratgebers dieses US-amerikanischen Pastors wird das „Tatbestandsmerkmal
´Gefährdung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihrer Erziehung zu einer
19
s. S. 3 der Entscheidung; Die „Argumente“ in eckigen Klammern stehen so in der Entscheidung
Entscheidung kann bei der BPjM angefordert werden (Personendaten sind entfernt);
oder Artikel der BPjM dazu: http://www.bundespruefstelle.de/bpjm/Service/Volltextsuche/volltextsuche.html > „Eltern –
Hirten der Herzen“ mit Anführungszeichen in diese Suchmaske eingeben.
20
10
ZBFS - BLJA Mitteilungsblatt 4/2015
eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit` in § 18 Abs. 1 Satz 1 JuSchG nach ständiger
21
Spruchpraxis der Bundesprüfstelle sowie höchstrichterlicher Rechtsprechung“ festgestellt.
Die BPjM begründet ihre Indizierungs-Entscheidung hier aufgrund ähnlicher, vorgeblich streng „bibeltreuer“
Aussagen und Anweisungen und greift folgende Textbeispiele aus dem indizierten Buch als beispielhaft für den
gefährdenden Charakter der Anweisungen dieses Autors, einem US-amerikanischen Pastor, heraus:
„Die „Rute“ ist per Definition eine elterliche Pflicht.“ (S. 135)
„Körperliche Züchtigung anzuwenden, das ist auch ein Akt des Glaubens. Gott hat ihren Gebrauch angeordnet.“
(S. 136)
„Die „Rute“ ist aber auch ein Ausdruck der Treue gegenüber dem Kind.“ (S. 136)
„Die „Rute“ ist eine Verantwortung.“ (S. 136)
„Die „Rute“ ist eine „Rettungsmission“. Das Kind, das diszipliniert werden muss, hat sich von seinen Eltern
22
durch Ungehorsam distanziert.“ (S. 137)
Insgesamt durchzieht das Buch die Forderung, dass man dem Kind Schmerz zufügen müsse, z.B.: „Es ist wichtig,
dass dein Kind spürt, dass es gezüchtigt wird. Es hilft nichts, wenn Windeln oder andere Kleidungsstücke
körperliche Züchtigung zur Streicheleinheit machen.“ Zeigt das Kind Zorn oder lehnt es die Disziplinierung ab,
muss die Züchtigung notwendigerweise wiederholt werden (vgl. S. 182).
Als besonders gravierend hat das Gremium auch die Tatsache angesehen, dass die Züchtigung für kleinere
Kinder (Säugling bis zum Vorschulalter) eher gefordert wird als für ältere Kinder, für die neben der Züchtigung
23
die Kommunikation ebenso (aber nur ebenso) entscheidend sei.
3.
Der rechtliche Maßstab des Kindeswohls in Deutschland
„Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner
Persönlichkeit [und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit; Ergänzung durch den Autor] im Sinne der Art. 1
I und Art. 2 I [u. Art. 2 II] GG. Eine Verfassung, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres
Wertsystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem
Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren. Die Anerkennung der Elternverantwortung findet daher ihre
Rechtfertigung darin, daß das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen
Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbilde des
Grundgesetzes entspricht […]. Hierüber muß der Staat wachen und notfalls das Kind, das sich noch nicht selbst
zu schützen vermag, davor bewahren, daß seine Entwicklung durch einen Mißbrauch der elterl. Rechte oder
24
eine Vernachlässigung Schaden leidet."
Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) betont in Artikel 19 :
Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung.
Nicht nur nebenbei sei dazu erwähnt: „Alle Staaten außer den USA haben die UN-Kinderrechtskonvention
25
ratifiziert.“ Inwiefern das der politischen Macht fundamentalistisch-christlicher Kreise in den USA geschuldet
ist, die neben anderen besonderen Freiheitsrechten auch auf das Recht von Eltern oder sogar Schullehrern
nicht verzichten wollen, ihre Kinder nach Gutdünken zu „züchtigen“, steht wohl kaum in Frage. Relevant ist
dieser Hinweis für uns deshalb, weil überwiegend aus den USA die von deutschsprachigen Kinder- und
21
s. S.2 der Entscheidung
s. S. 4 der Entscheidung
23
alle Zitate S. 4 der Entscheidung
24
BVerfG, Beschluß v. 29.7.1968 – 1 BvL 20/63, 31/66, 5/67; FamRZ 1968, S. 578
25
s. Homepage von UNICEF zu Kernpunkten der Konvention
22
11
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Jugendschutzstellen als gefährdend eingestuften protestantisch-fundamentalistischen „Erziehungsratgeber“
stammen, die im deutschsprachigem Raum in den „einschlägigen“ Kreisen die Runde machen (s. Beispiele o.
unter 2.).
Zu den entsprechenden sozialpolitischen Folgewirkungen im Kulturvergleich siehe auch die Einschätzungen von
Prof. Christian Pfeiffer/Kriminologisches Institut Niedersachsen(KFN).
Im deutschen Recht wird das Kindeswohl in § 1631 BGB Abs. 2 bestimmt: Kinder haben ein Recht auf
gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende
Maßnahmen sind unzulässig.
Dem kann aber selbst in Deutschland das Rechtsverständnis eines Vorsitzenden Richters eines Landgerichts
(lt. Angaben des Herausgebers) entgegenstehen. Verschiedene problematische Aussagen seines (unter einem
Pseudonym) auch im Internet verbreiteten juristischen Fachartikels in der Zeitschrift der „Konferenz für
Gemeindegründung“ mit dem Titel: „Juristische Aspekte körperlicher Züchtigung“ sprechen für sich:
„Anders als Gott und Sein Gesetz ist das von Menschen gesetzte Recht schon immer veränderbar gewesen.“
„Was staatliche Strafe bezweckt, nämlich die Besserung des Betroffenen, soll elterlichen Strafen also versagt
sein.“
„Nach der inzwischen aber wohl überwiegenden Meinung erfüllen auch diese „leichten“ Körperstrafen den
Tatbestand der Körperverletzung.“
„Die juristische Beurteilung körperlicher Züchtigung von Kindern durch ihre Eltern entspricht nicht dem
biblischen Befund.“
[Und im Schlussabsatz:]
„Die Gretchenfrage in diesem Zusammenhang lautet, ob wir Gott mehr gehorchen wollen oder nicht. Dies ist
26
eine Gewissensentscheidung, die jeder für sich zu treffen hat und die ich jedem selbst überlassen möchte.“
Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde prägte den berühmt gewordenen Satz: "Der freiheitliche,
säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Dieses grundsätzliche
Dilemma sieht der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD Bischof Wolfgang Huber in Zusammenhang mit der in
Deutschland vorherrschenden „Zivilreligion“, die er dabei von derjenigen in den USA unterscheidet. Er führt
dazu für den deutschen Rechtsstaat als Grenzziehung Folgendes aus:
„Der Staat verzichtet also darauf, selbst die Voraussetzungen zu definieren, aus denen sich
Freiheitsbewusstsein und Verantwortungsbereitschaft erneuern. Aber es ist ihm nicht gleichgültig, ob es
Institutionen gibt, die sich um den Inhalt und die Weitergabe solcher Voraussetzungen kümmern.
Er sieht sich zur Religionsneutralität verpflichtet. Aber er hat gute Gründe, diese Religionsneutralität mit einer
die Religion fördernden Haltung zu verbinden. Seine Religionsneutralität verpflichtet den Staat grundsätzlich
dazu, die Freiheit aller Religionen in gleichem Maß zu achten. Aber es kann ihm nicht gleichgültig sein, in
welchem Verhältnis die Religionen zur Verfassung des freiheitlichen, säkularisierten Staates stehen. Insofern
hat er eine besondere innere Affinität zu der Unterscheidung zwischen Staat und Religion, die eine
27
unaufgebbare Voraussetzung für die aufgeklärte Säkularität der Rechtsordnung bildet.“
Hinsichtlich der „Staatstreue“ zeigt sich so ein bezeichnender Unterschied zwischen dem Selbstverständnis der
deutschen (Amts-)Kirchen als Körperschaften eines demokratischen Rechtsstaates und der Haltung
problematischer fundamentalistischer Gemeinschaften und Bewegungen, die theokratisch anmutenden
Intentionen folgen. Bestimmte Fundamentalisten erklären genau die kooperative Haltung der großen Kirchen
26
siehe „Gemeindegründung“ Nr. 110, 2/12, S.3 und 20-27, als pdf-download zu finden unter:
http://kfg.org/zeitschrift/archiv/jahr-2012/
27
http://www.nua.de/html/homeschooling.htm
12
ZBFS - BLJA Mitteilungsblatt 4/2015
in Deutschland gegenüber dem freiheitlichen Rechtsstaat zum schlimmsten Verrat an ihrer Religion (s. z. B.
28
oben: „Die Heilige Schrift lehrt `homeschooling´“ ).
Auf das Kind bezogen ist das Recht des § 1 SGB VIII maßgeblich, wonach jeder junge Mensch ein Recht auf
Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen
Persönlichkeit hat.
Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Entziehung der elterlichen Sorge bei
Kindeswohlverletzungen nach §1666 BGB (Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls) u. § 8a
SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) hat das Bundesverfassungsgericht aktuell mit Beschluss (- 1
29
BvR 1178/14 - ) vom 19.11.2014 (bzw. Pressemitteilung des BVerfG v. 28.11.14) maßgebliche Grundsätze
festgehalten.
So haben die Fachgerichte im Einzelfall, um eine Trennung des Kindes von seinen Eltern zu rechtfertigen,
festzustellen, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in
seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt es nur
dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind
aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Eine Herausnahme und Fremdunterbringung setzt i. d. R. voraus,
dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher
Sicherheit voraussehen lässt. Stützen sich die Gerichte dabei auf Feststellungen in einem
Sachverständigengutachten, darf dessen Verwertbarkeit keinen verfassungsrechtlichen Zweifeln unterliegen.
Um diese auszuräumen, haben die Gerichte die Feststellungen in den Gutachten eigenständig tatsächlich
einzuordnen und rechtlicher Würdigung zu unterziehen.
„Die Gefahrenfeststellung darf zwar auf mögliche Defizite bei der Erziehungsfähigkeit von Eltern eingehen,
muss aber begründen, dass sich daraus ergibt, von welcher Art, Schwere und Wahrscheinlichkeit die deswegen
befürchteten Beeinträchtigungen des Kindes sind, und weshalb diese Gefahren so gravierend sind, dass sie
beispielsweise eine Fremdunterbringung legitimieren. „Für die Fachgerichte ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 und 3
GG das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach
konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes
von seinen Eltern zu bewerten. Stützen die Gerichte eine Trennung des Kindes von den Eltern - wie hier - auf
Erziehungsdefizite und ungünstige Entwicklungsbedingungen, aus denen die erhebliche Kindeswohlgefährdung
nicht ausnahmsweise geradezu zwangsläufig folgt, müssen sie sorgfältig prüfen und begründen, weshalb die
daraus resultierenden Risiken für die geistige und seelische Entwicklung des Kindes die Grenze des
30
Hinnehmbaren überschreiten.“
Nicht zuletzt sei hier auf das Gesetz über die religiöse Kindererziehung (RelKErzG) hingewiesen, aus dem sich
die auch von den Familiengerichten ernstzunehmenden Rechte von Kindern und Jugendlichen auf
Religionsfreiheit und Religionsmündigkeit ergeben.
Der Kindeswille und die volle Religionsmündigkeit mit 14 Jahren sind damit auch in den Fällen zu
berücksichtigen, wenn Minderjährige sich beispielsweise weigern, aus einer (vorübergehenden)
Fremdunterbringung zurück zur leiblichen Familie in eine Religionsgemeinschaft zu gehen, die den
Familienalltag rund um die Uhr bestimmt und vielleicht sogar die Schulpflicht verweigert (s. Beispiel „Zwölf
Stämme“).
Elterliches Erziehungsverhalten
28
„Die Heilige Schrift lehrt `homeschooling´“
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.2014 und die Presseerklärung dazu.
30
s. Pressemitteilung des BVerfG, S.3
29
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ZBFS - BLJA Mitteilungsblatt 4/2015
Es ist in jedem Einzelfall abzuwägen, inwieweit die Eltern in ihrer Person solche (problematischen)
Einstellungen, Erziehungsziele und -methoden repräsentieren, die den rechtlichen und allgemein anerkannten
außerrechtlichen Standards widersprechen und im konkreten Fall eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.
Es widerspricht dabei dem Art. 4 Abs. l GG, die Eignung zur Erziehung des Kindes allein mit dem Hinweis auf die
aktive Mitgliedschaft in einer bestimmten Glaubensgemeinschaft abzusprechen (OLG Stuttgart, FamRZ 95,
1290; OLG Saarbrücken, FamRZ 96, 561).
Eine Kindeswohlgefährdung ist näher zu prüfen, wenn die Eltern Erziehungsmethoden und -ziele praktizieren
bzw. verfolgen, für die z.B. kennzeichnend sind:
-
Gewaltanwendung als Erziehungsmittel (Züchtigung)
entwürdigende Überwachungsmaßnahmen
Schaffung von Abhängigkeitsverhältnissen
Leugnung der Komplexität der Welt
exklusiver Anspruch auf Wahrheit
Denken in Freund-, Feind-Schemata und das Kind wird hierbei zur Loyalität gegenüber Eltern/Lehre
gezwungen
Ausgrenzung von distanzierten/kritischen Familienmitgliedern/bisherigen Freunden (z. B. durch
Kontaktverbote)
Vehemente Abwehr jeglicher Kritik
Aufforderung zur Denunziation Andersdenkender/-gläubiger („Verhetzung“ als angeblicher
Missionsauftrag)
Soziale Isolation des Kindes
Drohungen/Hervorrufen existenzieller Ängste als Erziehungsmittel
(Die genannten Punkte sind beispielhaft und keinesfalls abschließend!)
Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls nach § 1666 BGB, seit 2008 näher festgelegt
(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die
Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen
zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
[(2) …]
(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere
1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der
Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu
nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte
aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.
(4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen
31
Dritten treffen.
31
Fassung aufgrund des Gesetzes zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls vom
04.07.2008 m. W. v. 12.07.2008; Fassung aufgrund des Gesetzes zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei
Gefährdung des Kindeswohls vom 04.07.2008 (BGBl. I , S. 1188) m. W. v. 12.07.2008
(http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl1
08s1188.pdf%27%5D__1452771565784 ; Link bitte in Suchmaschine eingeben)
14
ZBFS - BLJA Mitteilungsblatt 4/2015
4.
Ausblick
„Wir müssen Kindern politisch und gesellschaftlich den Stellenwert einräumen, den sie verdienen. Denn Kinder
sind das Fundament unserer Gesellschaft. Sie haben das Recht, durch eine liebevolle und fürsorgliche Erziehung
im Geist des Friedens, der Würde, der Toleranz, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität auf ein
individuelles Leben in der Gesellschaft vorbereitet zu werden – so lautet die Präambel der UNKinderkonvention.“ So beschloss Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit bereits 2001 ihren Artikel „Das Kind als Träger
32
eigener Rechte - Der lange Weg zur gewaltfreien Erziehung“
Deshalb erscheint es auch noch 15 Jahre nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der
Erziehung“ dringend erforderlich, auf die Missachtung dieses Gesetzes bei einem nicht unerheblichen Teil der
33
Bevölkerung ein wachsames Auge zu haben und Kindeswohlverletzungen und Misshandlungen zu verhindern.
Einen wichtigen Signalcharakter hatten hier in letzter Zeit in einer breiteren Öffentlichkeit gerade die
differenziert und wohlausgewogen getroffenen Gerichtsentscheidungen, die im Falle der „Zwölf Stämme“ und
der sog. „Sektenkinder von Lonnerstadt“ erwirkt wurden. Derartige Entscheidungen führen nicht nur zu einer
fachlichen Abklärung wertvoller Kriterien für die Jugendhilfepraxis, sondern haben auch eine maßgeblich
orientierende, warnende und aufklärende Funktion hinsichtlich der in Erziehungsverantwortung stehenden
Eltern und Bürger.
Durch den Tenor dieses Artikels könnte der falsche Eindruck entstehen, dass es der Jugendhilfe hinsichtlich des
religiösen „Fundamentalismus“ vor allem um den Aspekt der körperlichen Gewalt in der Erziehung gehe. Dem
ist nicht so, vielmehr handelt es sich bei den „Körperstrafen“ meist „nur“ um die von außen leichter sichtbare
„Spitze des Eisbergs“ von psychischer Gewalt bzw. von problematischer Erziehung überhaupt. Es ist
andererseits auch keine Lösung, aus der berechtigten Kritik an fragwürdiger Religiosität heraus eine bewusste
34
religiöse Kindererziehung überhaupt zu verurteilen. Wie eine dem Kindeswohl und einer gelingenden
liebevollen Erziehung entsprechende Grundhaltung positiv formuliert werden kann, zeigt hier beispielsweise
die Übersicht des Kinder- und Jugendpsychiaters Gunther Klosinski in seinem Beitrag auf: „Wann ist religiöse
35
Erziehung gelungen?“
36
Zum Schluss sei — zur erneuten Lektüre — an die Rede Astrid Lindgrens mit dem Titel: „Niemals Gewalt!“
anlässlich des 1978 an sie verliehenen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels erinnert. Hier wurde aus
wirklich christlichem Geist und konsequent gegen das (biblische) Motto: "Wer die Rute schont, verdirbt den
Knaben!" zur Gewaltfreiheit in der Erziehung aufgerufen, wie man das von offiziell amtskirchlicher Seite in
Deutschland bis heute zumindest in dieser Leidenschaft und Eindeutigkeit leider weiterhin vermissen muss.
Helmar Bluhm
32
in „frühe Kindheit“ 2/01, veröffentlicht von der „Deutschen Liga für das Kind“ http://liga-kind.de/fk-201-peschel-gutzeit/
http://www.polizei-beratung.de/themen-und-tipps/gewalt/kindesmisshandlung/fakten.html
34
AVBayKiBiG §4 (1): Alle Kinder sollen zentrale Elemente der christlich-abendländischen Kultur erfahren und lernen, sinnund werteorientiert und in Achtung vor religiöser Überzeugung zu leben sowie eine eigene von Nächstenliebe getragene
religiöse oder weltanschauliche Identität zu entwickeln.
35
http://www.pedocs.de/volltexte/2009/1736/pdf/2005_3_klosinski_wann_ist_religioese_W_D_A.pdf
36
http://www.zeit.de/reden/die_historische_rede/friedenspreis_lindgren
33
15

Documents pareils