Universität Mannheim (Liebes)Kampf der Kulturen
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Universität Mannheim (Liebes)Kampf der Kulturen
KATRIN SCHNEIDER-ÖZBEK* Universität Mannheim (Liebes)Kampf der Kulturen und wortgewaltige Verzauberung Interkulturalität in den autobiographischen Romanen von Natascha Wodin und Ilma Rakusa In der modernen deutschsprachigen Literatur haben sich im Bereich der Migrationsliteratur von Frauen zwei Genres ausgebildet, die Karin Yeşilada als Chick-Lit und als Literatur über die geschundene Suleika bezeichnet.1 Der Erzählplot spinnt sich in den Werken dieses Genres um eine Frau, die entweder vermeintlich emanzipiert oder rechtlos geknechtet ihr Dasein verbringt und dem impliziten deutschen Leser eine scheinbare Wahrheit über die Welt der Migranten vermitteln will – Literatur also, die ein gerütteltes Maß an didaktischem Impetus mitbringt.2 Unter postkolonialistischer Perspektive erweisen sich diese Texte als der Idee vom gewaltsamen Öffnen eines als verschlossen dargestellten Raumes verpflichtet, es geht um das Abtasten von Intimität zur Befriedigung von Voyeurismus.3 Die Frauen selbst haben in diesen Texten – falls überhaupt – eine Stimme, die nur vermeintlich kritisch ist und die einer Form der Mainstream-Meinung über das Andere Vorschub leistet. Fremdheit und Alterität werden in diesen Texten aus Sicht der Frau kaum problematisiert, die männlich dominierte Mehrheitsgesellschaft ist immer cb Creative Commons Attribution 3.0 License E-Mail: [email protected] 1 Vgl. zuletzt Karin Yeşilada: „Nette Türkinnen von nebenan“. Die neue deutschtürkische Harmlosigkeit als literarischer Trend. In: Helmut Schmitz (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam 2009, S. 117142. 2 Deutschsprachige Minderheitenliteraturen – ein Begriff, den Karl Esselborn geprägt hat – umfasst zwar vieles, ihm bleibt allerdings das Problem der Stigmatisierung und Stereotypisierung anhaften. Denn dem interkulturellen Paradigma wird somit ein didaktischer oder erkenntnistheoretischer Sonderstatus zugesprochen. Die Problematik ist der Verfasserin durchaus bewusst. Der Ansatzpunkt der vorliegenden Studie ist daher auch die Figuration von Migration, die ihre Darstellung als Reflex der Gesellschaft versteht. (Vgl. Karl Esselborn: Neue Zugänge zur inter/transkulturellen deutschsprachigen Literatur. In: Von der nationalen zur internationalen Literatur, S. 43-76 sowie Mark Terkessideis: Interkultur. Berlin 2010, S. 125ff.). 3 Vgl. Yeşilada: „Nette Türkinnen von nebenan“, S. 118. * 172 andererseits Vol. 2 der Referenzrahmen, was ebenfalls im literarischen Text eine Asymmetrie zwischen den Geschlechtern erzeugt. Die Zuwanderin als fremde Frau ist in diesen Texten weiblicher Autorinnen dennoch das Objekt der Fremdheit: Der männliche, voyeuristische, orientalisierende Blick auf die Frau dominiert die meisten Geschichten. Neben diesen beiden Genres – Chick-Lit und Literatur über die geschundene Suleika – lässt sich jedoch ein Feld ausmachen, in dem die Vermischung von kultureller Alterität einerseits und genderspezifischem Zuschreibungsmuster andererseits kritisch betrachtet und diskutiert wird. Am offensichtlichsten ist dies in autobiographischen Texten, die die Konstruktion von Identität reflektieren.4 Es geht dort um das Entwerfen von Subjektivität und darum, sie „in ästhetischer Problemhandlung zur Disposition zu stellen.“5 Michaela Holdenried betont gerade das Ineinandergreifen von prozessualer und konstruktiver Identität in Autobiographien sowie deren Charakter von Lebensentwürfen.6 Versteht man im Rückgriff auf Jan Assmann und dem Vorschlag Lothar Blums folgend Autobiographien als Erinnerungsformen einer Kultur, verstärkt sich die enge Korrelation von kulturellen Selbstbildern und der Konstruktion von Identität: „Dieser Deutungsakt gilt nicht zuletzt der Imaginierung von Selbstbildern, die über Generationen hinweg Identität konstituieren und im kulturellen Gedächtnis gespeichert werden.“7 Gerade dem Erinnern, so betont auch Marita Krauss, kommt in interkulturell geprägten Autobiographien eine besondere Rolle zu, denn hier wird der Topos von Heimat und Territorialität des Menschen noch zusätzlich reflektiert.8 Den Paradigmenwechsel hin zu einer sich stetig fortschreibenden und zwischen mehreren Herkünften pendelnd sich austarierenden Identitätskonstruktion sieht Anna Kuschel in den Romanen von Barbara Honigmann:9 Dem Subjekt geht es dort nicht Vgl. Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart 2000, S. 52-57. Ebda., S. 56. 6 Vgl. ebda., S. 56f. 7 Lothar Blum: Herkunft, Identität, Realität. Erinnerungsarbeit in der deutschen Literatur. In: Ulrich Breuer und Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd. 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. München 2006, S. 69-80, hier S. 79. 8 Vgl. Marita Krauss: Heimat – Begriff und Erfahrung. In: Hermann Haarmann (Hg.): Heimat, liebe Heimat. Exil und Innere Migration (1933-1945). 3. Berliner Symposion. Berlin 2000, S. 11-28, hier S. 14. 9 Anna Kuschel: Identitätskonstruktionen im Spannungsfeld von Minorität und Majorität in Barbara Honigmanns „Damals, dann und danach“ In: Autobiographisches Schreiben in der Gegenwartsliteratur, Bd. 1, S. 60-88, hier S. 67. 4 5 2011 SCHNEIDER-ÖZBEK: (Liebes)Kampf der Kulturen 173 länger um eine sprachliche Rekonstruktion „eine[r] linearen Identitätsentwicklung, sondern es zeichnet sich vielmehr durch seine Bewegung und seine eigene Fortschreibung in einem Geflecht von Subsystemen innerhalb der Sprache, die sich permanent auflösen, verschieben und wieder neu konstituieren, aus.“10 Diesem Phänomen wird im Folgenden nachgegangen. Stellvertretend für die interkulturelle Autobiographie betrachte ich nach einer kurzen methodischen Reflexion Natascha Wodins Nachtgeschwister und Ilma Rakusas Mehr Meer.11 Beide Texte aus dem Jahr 2009 erzählen von der Konstruktion weiblicher Identität durch die Erfahrung von Fremdheit, insbesondere durch die Erfahrung einer scheinbar notwendigen Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft. Die beiden Autorinnen trennt nur ein knapper Monat Altersunterschied, so dass beide Autobiographien in ähnlichem Alter verfasst wurden,12 ihnen ist damit die Position des reflektierenden, älteren Ichs gemeinsam. Ein wichtiger Unterschied besteht hinsichtlich des erzählten Zeitraums: Wodin erzählt aus der Perspektive der erwachsenen Frau ihre Liebes- und Lebensgeschichte, die von Zerrissenheit zwischen Herkunft und Mehrheitsgesellschaft, zwischen Ost- und Westdeutschland und vom Liebeskampf der Geschlechter geprägt ist. In diesem Spannungsfeld versucht die Ich-Erzählerin, ihre Identität zu begründen, geht jedoch von einer abgeschlossenen Identitätskonstruktion aus. Sie erzählt ihre Geschichte prinzipiell linear, wobei durchaus Zeitsprünge auszumachen sind, die aber immer präzise eingeordnet werden können. Ilma Rakusa hingegen erzählt die Geschichte ihrer Kindheit und setzt damit beim Migrationsprozess an, es geht ihr um Erinnerungspassagen, wie die Autobiographie im Untertitel verkündet. Und damit verbunden geht es nicht nur um das Überschreiten von Grenzen, sondern auch um Bruchstellen der Identitätskonstruktion, der brüchigen Rekonstruktion von Erinnerung. Bei Rakusa finden sich „provisorische Identitätsmuster“13, die Selbstversicherung leisten sollen (MM, 90). Ihr Erzählverfahren könnte man elliptisch nennen, teilweise auch ohne Zeitangabe. Auf diese Weise verbindet Rakusa Heimat und Heimatlosigkeit mit den klassischen Topoi von Sprache, Essen, Ebda., S. 61. Kuschel stützt ihre These auf Almut Finck. Ilma Rakusa: Mehr Meer. Erinnerungspassagen. Wien 2009, im Folgenden im Text zitiert und abgekürzt mit MM; Natascha Wodin: Nachtgeschwister. München 2009, im Folgenden im Text zitiert und abgekürzt mit NG. 12 Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Weimar 2000, S. 84f. Interessant wäre es, dieses Faktum vor dem Hintergrund des autobiographischen Gedächtnisses weiter zu verfolgen. 13 Kuschel: Identitätskonstruktionen, S. 66. 10 11 174 andererseits Vol. 2 Landschaft, Fremdheit und Erwachsenwerden. „Die Sehnsucht nach der Kindheit und die Sehnsucht nach der Heimat haben […] vieles gemeinsam.“14 Denn, so stellt Krauss heraus, wie die Heimat beim Prozess der Auswanderung durch eine Grenze von der Fremde abgetrennt ist, so ist auch das Erwachsenenleben von der Kindheit abgetrennt: „hinter dieser Grenze bleibt die Kindheit zurück, die damit zu einem unerreichbaren Land der Sehnsucht wird.“15 Martina Wagner-Egelhaaf betont, dass sich Autobiographien, die im Sinne der écriture feminine eine andere Stimme als die der Mehrheitsgesellschaft sprechen lassen, „sich den Differenzen […] stellen“.16 Hinter dieser Selbstreflexivität steht oftmals ein ethischer Impuls: „Die Übernahme moralischer und politischer Verantwortlichkeiten basiert auf der Fähigkeit, sich selbst mit kritischer Distanz wahrnehmen zu können.“17 Es geht zudem um bestimmte „rhetorische Strukturen des fremdkulturellen Ichs“,18 das sich in seiner Autobiographie artikuliert. Das Anderssein eines Ichs, das als Einzelnes der Welt gegenübersteht, zeigt sich in einem „Ensemble einigermaßen stereotyper Wahrnehmungs- und Beschreibungsmuster“, „die sich als Gegenentwürfe von der Konstruktion einer linearen, geschlossenen, dominanten Moraltypologie ableiten“.19 Es gilt also, wie auch Michaela Holdenried unterstreicht, „grundlegende Aspekte unterschiedlicher Identitätsbildung [zu] berücksichtigen“.20 In beiden hier untersuchten Romanen steht das Ringen der Erzählerin um ihre Andersartigkeit im Vordergrund. Für beide literarischen Identitätsentwürfe stehen Fremdheit und Abgrenzung einer oder mehrerer Wir-Gruppen zu anderen Gruppen im Erzählfokus. Man könnte mit Alois Hahn von einer bewussten sozialen Konstruktion des Anderen sprechen,21 aber auch von einer Konstruktion des Anderen, um sich selbst abzugrenzen, um die eigene kulturelle Identität, auch in Hinsicht auf die Genderfrage, zu finden. Rakusa betont das Passagenhafte und damit das Gleiten auf einer flüchtigen Skala von Identität, die der Identität als angestrebte Aspiration Krauss: Heimat – Begriff und Erfahrung, S. 17. Ebda. 16 Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 89 17 Ebda. 18 Ebda., S. 90. 19 Ebda., S. 95. 20 Holdenried: Autobiographie, S. 83. 21 Vgl. Alois Hahn: Die soziale Konstruktion des Fremden. In: Walter M. Sprondel (Hg.): Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Frankfurt/M. 1994, S. 140-163, hier S. 140. Fremdheit ist Hahn zufolge keine natürliche Kategorie. 14 15 2011 SCHNEIDER-ÖZBEK: (Liebes)Kampf der Kulturen 175 entspricht.22 Bei Wodins Nachtgeschwistern ist es ein gewaltsames und auch teilweise gewalttätiges Ringen um die eigene Identität als Frau, als „Westfrau“ (NG, 80), und als Tochter verschleppter Zwangsarbeiter in Deutschland. Mit Blick auf beide Autobiographien erscheint es wichtig, sich die Kategorien interkultureller Literatur ins Gedächtnis zu rufen. Zwar kann man beide Autorinnen dem Feld der Migrationsliteratur zurechnen – formal ist dies mit der Vergabe des Chamisso-Preises an Wodin wie Rakusa bereits geschehen. Allerdings sind beide Autorinnen durchaus als Muttersprachlerinnen zu werten,23 haben sie die deutsche Sprache doch mit ihrem Schuleintritt im Kindesalter erworben und eine deutschsprachige Bildungsbiographie durchlaufen. In ihren Autobiographien spielt jedoch kulturelle und sprachliche Differenz – etwa als mehrsprachiges Individuum – eine Rolle, so dass besonders „Kategorien wie kulturelle Identität und Sprache zur Verhandlung stehen“ – ein Merkmal, das nach Mirjam Gebauer speziell auf interkulturelle Autobiographien zutrifft, die sich einem „transkulturellen Schreiben“ verpflichtet sehen.24 Natascha Wodin: (Liebes)Kampf der Kulturen Die Literaturkritik bemerkt zu Wodins Roman Nachtgeschwister, in seinem „Zentrum steh[t] ihre Erfahrung als Außenseiterin, als Fremde zwischen zwei Kulturen, der urmenschliche Zustand des Einzelnseins, das der Heimatlose und Unzugehörige im Äußersten erlebt.“25 Tatsächlich ist die 1945 als Tochter ukrainischer Zwangsarbeiter in Fürth geborene Natascha Wodin dafür bekannt, in ihren Werken „das Thema der Identitätssuche vor dem mehrkulturellen Hintergrund auf immer neue Art [zu] variier[en]“.26 In Nachtgeschwister thematisiert sie die Zeit ihrer Beziehung Vgl. Jürgen Straub: Identität. In: Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart, Weimar 2004, S. 277-300, hier S. 279f. 23 Vgl. zum Problem der Polyphonie auch Petra Thore: „wer bist du hier in dieser stadt, in diesem land, in dieser neuen welt“. Die Identitätsbalance in der Fremde in ausgewählten Werken der deutschsprachigen Migrationsliteratur. Stockholm 2004, S. 43-54. 24 Mirjam Gebauer: „Lebensgeschichten einer Zunge“. Autobiographisches Schreiben jenseits der Muttersprache bei Yoko Tawada. In: Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd. 3: Entwicklungen, Kontexte, Grenzgänge, S. 114-129, hier S. 117. 25 www.literaturport.de/ Natascha Wodin (abgerufen am 11.12.2010). 26 Thore: „wer bist du hier in dieser stadt, in diesem land, in dieser neuen welt“, S. 100. 22 176 andererseits Vol. 2 und Ehe mit Wolfgang Hilbig, wobei sie sich auf mehrere Erinnerungsebenen bezieht: Die Aufarbeitung der NS-Herrschaft in der BRD und der innerdeutsche Kulturunterschied zwischen DDR und BRD werden ebenso thematisiert wie ihre späteren Erfahrungen mit Identitätskonflikten zwischen Ost- und Westdeutschland. Der Roman antizipiert aber auch das Scheitern ihres Versuches, durch Liebe Unterschiede zu überwinden.27 Die Stationen des autobiographisch geprägten Romans sind zunächst in verschiedenen Städte in West-Deutschland verortet, unter anderem im pfälzischen Edenkoben; nach der Wende zieht die Protagonistin nach Berlin und Leipzig um. Wodin setzt sich in Nachtgeschwister mit der kulturellen Alterität auseinander, die sie zwischen sich selbst, dem Zwangsarbeiter-Kind, und Hilbig, dem DDR-Arbeiter-Schriftsteller, beobachtet. Sie formuliert die Hoffnung ihrer Ich-Erzählerin, in der DDR eine Seelenheimat gefunden zu haben, in der „[d]as Deutsche und das Russische, das in mir selbst immer ein antipodischer Gegensatz geblieben war, […] ineinander übergegangen [wären], […] eine Einheit geworden [wären].“ (NG, 23) Diese Hoffnung wird nach dem Mauerfall herb enttäuscht, als sie unvermittelt und ganz anders als erträumt zur „Außenseiterin“, zum „Fremdkörper“ wird und sich der „deutsche Osten“ eben nicht als „gelobte[s] Land“ entpuppt (NG, 216). „Ich hatte mit diesen Menschen keine gemeinsame Welt, keine gemeinsamen Erinnerungen, keine gemeinsamen Selbstverständlichkeiten, keine gemeinsamen Hintergründe, keine gemeinsame Sprache“ (NG, 216), konstatiert die Ich-Erzählerin. Aus dieser Retrospektive wird die Pfalz, wo das Paar sieben Jahre verbracht hatte, zum Paradies (NG, 187, 169), der Umzug nach Berlin zur „Vertreibung aus dem Paradies“ (NG, 177). Wodin entdeckt als neuen und zugleich bereits verlorenen Identitätsanker die innerdeutsche Grenze, die sich gerade aufgelöst hat. Sie war ihre „Identität“, ihre „Heimat“, ihr „einzig sichere[r] Ort auf der Welt“ (NG, 182). Ihr Verlust lässt auch sie nun schwanken, die Kategorien von Fremdem und Vertrautem verschwimmen. Berlin, das „weder Osten noch Westen“ war, wird zur Zukunftsvision, in der man sich eine „noch zu erfindende Wirklichkeit“ einrichten könnte. Sie wirkt kathartisch auf die Erzählerin, die sich dort „[w]ie von Zauberhand“ befreit fühlt. (NG, 217) Das Wissen um die eigene Alterität ist für Wodin Vgl. Carmine Chiellino: Interkulturelle Liebe als Wahrnehmungsprozess. Zur Entwicklung der interkulturellen Literatur in Deutschland In: Heinrich-BöllStiftung (Hg.): Migrationsliteratur. Eine neue deutsche Literatur? Berlin 2009, S. 65-75, hier S. 74. 27 2011 SCHNEIDER-ÖZBEK: (Liebes)Kampf der Kulturen 177 ein Auslöser ihres literarischen Schaffens. Sie beschreibt ihren Weg zum literarischen Schaffen als zunächst unbewusstes Schreiben, als Reflex auf eine bewusste Verschiedenheit von der Majorität der Gesellschaft: „Mir stand die Erkenntnis noch bevor, das Begreifen meiner Herkunft und meiner Zusammenhänge in der Welt, der Einbruch des Bewusstseins in meinen dunklen, pflanzenartigen Innenraum.“ (NG, 19) Das Schreiben und ihren Erfolg als Autorin erlebt sie als Befreiung aus diesem Innenraum, kann „das Bewusstsein meiner negativen Andersartigkeit“, das sie in ihrer Kindheit begleitet hat, abstreifen. (NG, 17) Die Perspektive ihrer Protagonistin auf sich selbst verändert sich, als ihr Mann sie, die sich selbst in West-Deutschland fremd fühlt, als typische „Westfrau“ anspricht. Die Passage einer schmerzlichen Reflexion verdeutlicht die Diskrepanz zwischen eigener Wahrnehmung und Fremdzuschreibung: Längst kannte er meine Geschichte, er wusste, dass ich in Barackenlagern aufgewachsen war, dass ich in Deutschland zur Rasse der slawischen Untermenschen gezählt hatte; er war hingerissen von meiner russischen Herkunft, sie schien fast der Hauptgrund seiner Liebe zu mir zu sein, aber zugleich blieb ich für ihn immer eine Westfrau, eine von der anderen Seite der Welt. Wenn er mir seine Verachtung zum Ausdruck bringen wollte, sprach er mich mit „ihr“ an, ihr Westmenschen, sagte er, ihr Herrenmenschen. (NG, 80) Dies ist genau jene Stereotypisierung, die auch Alois Hahn in der sozialen Konstruktion des Fremden sieht. Sie obliegt Hahn zufolge der Logik von Wir und Ihr, die eine homogene kulturelle Einheit konstruiert, die sich aus geteilter Sprache und Geschichte, aus geteilten Traditionen speist und der das ebenfalls vermeintlich homogene Andere gegenübergestellt wird. Durch diese Definitionen von Gruppen werden bestehende Beziehungen zwischen Individuen wie Freundschaft, Liebe oder geteilte Lebensanschauungen zerrissen. Hahn zufolge geht es bei Fremdheit um „institutionalisierte Fremdheit, die zur Wahrnehmung und Dramatisierung von Unterschieden führt.“28 Indem die Erzählerin in Nachtgeschwister einem Kollektiv, den „Westmenschen“, zugeordnet wird, wird sie aus einem anderen Kollektiv, ihrer Ehe, ausgeschlossen. Sich selbst nimmt sie nicht als Teil jenes Ihr-Kollektivs wahr, sondern sieht sich als Ausgegrenzte: Die Zuschreibungen von Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe durch Dritte werden als solche erkennbar. Beide Protagonisten sehen ihre eigene Fremdheit im jeweils anderen begründet, obgleich dieser Teil einer 28 Hahn: Die soziale Konstruktion des Fremden, S. 141. 178 andererseits Vol. 2 intimen Zweiergemeinschaft ist. Fremdheit zeigt sich im Roman also genau dort, wo eigentlich die größte Nähe anzunehmen ist. Eine Vereinigung scheint nur gewaltsam bewerkstelligen zu sein, denn eine Schlüsselstelle des Romans ist eine brutale Vergewaltigungsszene, auf die die Flucht vor dem Partner und schließlich die endgültige Entscheidung für ein gemeinsames Leben folgt (NG, 105ff., 115). Der Wechsel von „innigster Nähe und weitester Ferne, tiefer Vertrautheit und eisiger Fremdheit“ (NG, 147) bleibt der die Beziehung bestimmende Faktor. Die Gegensätze von Ost/West, deutsch/russisch, fremd/vertraut, Liebe/Hass werden im Handlungsverlauf nicht aufgelöst. Der Roman endet mit der Erzählung über die Trauung und der aufgrund des elliptischen Erzählens durch einen Zeitsprung von mehreren Jahren sich unmittelbar anschließenden Trennung des Paares. (NG, 234f.) Die passivische Konstruktion von Identität erweist sich in Wodins Autobiographie als wesentlich stärker Gender-Kategorien verpflichtet, als dies auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint: So erfährt die IchErzählerin etwa Gewalt in Sinne von „sexuelle[r] Verfügungsgewalt“,29 ordnet sich damit allerdings in einen Täter-Opfer-Diskurs ein, der Frauen als friedfertig darstellt. Auch in Wodins Schreiben lässt sich die Dominanz von passiven Zuschreibungsmustern feststellen, denen wenig aktive Identitätsgestaltung gegenübergestellt wird, was als Gefangensein in einer vorgegebenen Rolle verstanden werden könnte. Der Kontrast der Geschlechter, der zu einer opponierenden schwarz-weiß-Darstellung führt, ist für die Konstruktion einer interkulturellen weiblichen Wirklichkeit bei Wodin zentral. Aus der Abgrenzung zwischen Mann und Frau entwickelt die Erzählerin Erklärungsmuster der Welt, die es gerade nicht schaffen, die Spannung von gefühlter Fremdheit und Mehrheitsgesellschaft aufzuheben. Deutlich wird dies besonders in Passagen, in denen regionale Beschreibung unvermittelt in einen interkulturellen Kontext gehoben werden, etwa wenn für die Schilderung der Südpfalz, Schemata des Orientalismus aktiviert werden. Der Landkreis Südliche Weinstraße, den Wodin beschreibt, wird orientalisiert – ganz im Sinne Saids.30 Es schien einen Unterschied zu machen, ob Menschen Rüben und Kartoffeln anbauten oder Wein; die Bewohner der Gegend waren die freundlichsten, heitersten Deutschen, denen Inge Stephan: Gender, Geschlecht und Theorie. In: Dies. und Christina von Braun (Hg.): Gender-Studien. Eine Einführung. Weimar, Stuttgart 2000, S. 58-96, hier S. 88. 30 Edward Said: Orientalismus. [1978] ü. v. Hans Günther Holl. Frankfurt/M. 2010, S. 65-91. 29 2011 SCHNEIDER-ÖZBEK: (Liebes)Kampf der Kulturen 179 ich je begegnet war, sie schienen bereits etwas vom französischen Laissez-faire im Blut zu haben, etwas von mediterraner Lebensfreude. Überall ertönte das ortsübliche „Allah“, das man sich bei Abschied sagte, das allgegenwärtige „Allah“, das mich immer irgendwohin nach Arabien versetzte. (NG, 175f.) Der Abschnitt vereinigt gleich mehrere Stereotype: Zunächst das Bild des unfreundlichen deutschen Michel, dem die Pfälzer nicht entsprechen. Dann der Versuch, diese Diskrepanz mit der Nähe zu Frankreich als „mediterranem Land“ zu erklären, was ausgeweitet wird auf ein Bild des mediterranen Orientalen insgesamt. Durch diese Verallgemeinerung spricht Wodin zugleich märchenhafte Bilder aus Tausendundeinenacht an, die seit dem 18. Jahrhundert als Stereotype der westlichen Gesellschaft aktiv waren. Auch die Verschmelzung des Pfälzischen alla, das sich vom französischen allez ableitet,31 mit dem arabischen Allah – also einer Gottesbezeichnung – ist eine Verschmelzung über alle Kategorien der Sprache hinweg. Wodins Verfahren kann als Beispiel für einen Hybridisierungsversuch gelten, der ihrem transkulturellem Schreiben zugrunde liegt. Seine Zugehörigkeit zur Kulturlandschaft des Weinanbaus, hier speziell Edenkoben, überträgt Wodin auf die Lebensart der Menschen: laissez-faire und mediterrane Mentalität werden ausgeweitet zu einem Bild orientalischer Gemütlichkeit. Die Ich-Erzählerin und ihr Partner stehen außerhalb dieser Gruppe; ihnen ist die vermeintliche Leichtigkeit der anderen nicht gegeben; sie sind wiederum Fremde im Westen. Das pfälzische Edenkoben erscheint als „kleine südliche […] Welt, die wie ein Ausland für uns war, ein Ort, den wir beide nicht unterbringen konnten in unserem Bild von Deutschland, eine Fremde, in der unser Fremdsein ein natürlicher Zustand war.“ (NG, 164) Die eigene, konstruierte Fremdheit wird damit auf einen Ort übertragen, an dem das Paar sich als Zugereiste seinem Fremdheitsgefühl hingeben kann, ohne die Konstruktionsbedingungen hinterfragen zu müssen. Ein Durchbrechen der Isolation ist nicht erwünscht, es würde vielmehr zerstören, was von der Beziehung bleibt: Ein Band Gedichte, „die Worte für das, was nicht sagbar ist, für das Rätsel meiner Geschichte mit ihm“. (NG, 237) Ilma Rakusa: wortgewaltige Verzauberung Gänzlich anders erzählt Ilma Rakusa in Mehr Meer: Sie begibt sich auf eine Bildungsreise zu sich selbst, in der Genderzuschreibungen nur eine sehr Vgl. Rudolf Post: Pfälzisch. Einführung in eine Sprachlandschaft. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Landau/Pf. 1992, S. 138. 31 180 andererseits Vol. 2 untergeordnete Rolle spielen. Ilma Rakusa ist in der Slowakei geboren und als Kind mit ihren Eltern in die Schweiz migriert. Sie schreibt von der Reise ihrer Kindheit, die besonders durch die Sprachunterschiede und die veränderten Landschaften geprägt scheint. Die (Migrations)Bewegung wird zur „Losung“, sie selbst zum „Unterwegskind“, dem alles verhandelbar wird, das keinen festen Punkt mehr ausmachen kann: „Entdeckte das Jetzt, und wie es sich auflöst.“ (MM, 75f.) Die Reise der Erzählerin wird zum schillernden „Schaukelzauber“ (MM, 126), sie versteht das „Leben als eine Art Spielanordnung“ (MM, 143), überall entdeckt sie Zauberhaftes – sehr zum Wohlgefallen der Kritiker.32 So wird der Schlafraum, in dem die Protagonistin Mittagsruhe halten soll, zur „Wunderkammer“ (MM, 61), in der der „Jalousienzauber“ die Welt durch Licht und Schatten zum Sprechen bringt (MM, 135). Aus der Korrelation von Zauber und Sprache spinnt Rakusa einen lyrischen Roman voller Sprachmagie.33 Martina Meister unterstreicht, dass die Erinnerungspassagen […] wie Poesie [funktionieren], weil sie deren Bauprinzipien von Auslassung und Verdichtung folgen. So fängt sie das Lebens- oder Selbstbild, das sich der linearen Erzählung entzieht und der Alltagssprache sperrt, behutsam in Bildern aus Worten ein.34 Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen: So wird nach der Lektüre von Dostojewskis Schuld und Sühne die Stimme der Sonja zur „Kopfmusik“, die der kindlichen Erzählerin Verhaltensanweisungen erteilt. (MM, 164) Rakusas belebte „Innenwelt“ (MM, 165), die immer wieder Elemente des Fantastischen trägt, macht die Reise ihrer kindlichen Protagonistin zu einem Spagat zwischen „imaginierte[r] Vergangenheit Martina Meister spricht von der „poetischen Autobiographie“ (Martin Meister: Geschichte einer Rettung. Ilma Rakusas poetische Autobiographie erzählt von einer Jugend an den Bruchstellen der europäischen Gesichte. In: Die Zeit, 4.2.2010, S. 49). Die Literaturkritik feiert den „[p]oetische[n] Zauber“ des Romans, der „die Welt mit Poesie [erfülle]“ (Christine Lötscher. In: Tagesanzeiger, 16.11.2009, S. 29), das „poetische Temperament“ der Autorin sowie deren fast körperliche Sprachintensität (Martin Ebel: Plötzlich war das Zimmer belebt. In: Tagesanzeiger, 2.9.2009, S. 37). 33 In der Laudatio auf Mehr Meer betont Martin Ebel die Verzauberung des Lesers: „Das Mittel dazu ist das treffende Wort, das Dichterwort. Geschult im Umgang mit den großen Lyrikern, die sie übersetzt, interpretiert und vermittelt, geschult auch durch die eigene lyrische Arbeit, hat Ilma Rakusa mit ihren Erinnerungspassagen ein episches Werk geschaffen, das lyrische Ansprüche erfüllt.“ Martin Ebel: Laudatio. (www.ilmarakusa.info, abgerufen am 1.12. 2010). 34 Martin Meister: Geschichte einer Rettung, S. 49. 32 2011 SCHNEIDER-ÖZBEK: (Liebes)Kampf der Kulturen 181 und triste[r] Realität“ (MM, 122). Mit der Sprache gelingt es ihr, eine Verbindung zwischen beiden Welten herzustellen. Immer wieder thematisiert und reflektiert die Protagonistin den eigenen Umgang mit Sprache – ein Versuch, die eigene Migrationsgeschichte in Worte zu fassen. „Der Rekurs auf Sprache ist das alle Lebenserzählungen verbindende gemeinsame Prinzip.“35 Rückgriffe auf den Spracherwerb nehmen viel Raum ein in Rakusas Autobiographie, das immer neue Eintauchen in unbekannte Sprachen stellt einen wichtigen Teil der Identitätskonstruktion dar: „Ich bewegte mich zwischen fremden Gegenständen“, schreibt Rakusa, „umgeben von einer fremden Sprache. Die Gegenstände blieben, was sie waren, der Sprache näherte ich mich langsam.“ (MM, 45) Die Protagonistin spricht slowenisch mit ihrem „ans Ungarische gewöhnten“ Pelzhandschuh Kesztye (MM, 45ff.), was übersetzt „Handschuh“ heißt (übrigens eine Information, die der Text nicht liefert), und erschließt sich auf diese Weise neue Beziehungen zu und zwischen den Gegenständen, etwa durch den Gleichklang von Garten und Tod im Slowenischen. Retrospektiv gehört Kesztye als Stellvertreter für das verzauberte Land der Kindheit irgendwann zum „unwiederbringlich [V]erlorenen“. (MM, 304) Der Spracherwerb wird zu einem nie abgeschlossenen Prozess; das Schriftdeutsch als vierte Sprache wird für die Protagonistin zum privaten „Fluchtpunkt und Refugium“. (MM, 106) Den Sprachen ordnet das Kind unbewusst verschiedene Zuständigkeitsbereiche zu. So bleibt Ungarisch für Gefühle, Tiere und Kleinkinder, Zärtlichkeit und Affekte; das Hochdeutsche als Schriftsprache ist die Sprache ihrer geheimen „Kopfreise“. (MM, 106, 120) Neben den erlernten Sprachen kommt den erfundenen eine wichtige Rolle für die kindliche Fantasiewelt zu. Ihr kleiner Bruder entwickelt gleich eine eigene Geheimsprache: „Mit seinen Freunden, den Stofftieren, führte er ausgedehnte Gespräche, in einer Geheimsprache, die nur er verstand. Sie klang mehr japanisch als deutsch oder ungarisch.“ (MM, 98) Sprache bildet in Mehr Meer den unmittelbaren Zugang zur Welt und die Verbindung mit der Welt, fungiert als „Sprachnabelschnur“ (MM, 276). Selbst unzugänglichen Fremdsprachen wohnt ein märchenhafter Zauber inne. Der Wortsinn des Moldawischen tritt für die Erzählerin zurück hinter den Klang der Sprache, er „[t]ut nicht weh“ und „rinnt weich durch meine Ohren.“ (MM, 213) Dieser Logik folgend hat der Text zahlreiche mehrsprachige Passagen, in denen die Erzählerin den inneren Zusammenhang von Sprachen reflektiert. So stehen etwa Reimwörter aus dem Ungarischen als Versuch, das Neue – den ersten Schweizer Schnee – zu begreifen, in dem sonst deutschen Fließtext. (MM, 91) Und auch dann, 35 Holdenried: Autobiographie, S. 55. 182 andererseits Vol. 2 wenn eine Bezeichnung oder ein Ausruf als Name oder geheimes Losungswort dient, wird es mehrsprachig in die Erzählung eingebettet. (MM, 139, 200, 246) Es stellt eine Gemeinschaft von Verbündeten her, die das Schibboleth verstehen. Auf diese Weise wird die Mehrsprachigkeit des Textes zur Chiffre, die entschlüsselt werden muss. Es entstehen intensive Beziehungen zwischen den Erzähler-Ich und den anderen Figuren. Rakusa fügt beides ebenso im Nachdenken der Protagonistin über den Wind zusammen: „Wind, vent, veter, szèl, im Grunde muß er einsilbig sein, der Wind, wie der Schnee, nicht wie die Wolke, die Formen annimmt“. (MM, 218) Über Sprachgemeinsamkeiten versucht sie, eine Verbindung mit der Welt herzustellen und sie zu begreifen. Dieses aus den ersten Tagen des Spracherwerbs stammende Verfahren der Erzählerin wird zum Prinzip erhoben, wie ihre ersten Sprachversuche mit dem Pelzhandschuh zeigen: „Den Pelzhandschuh ans Gesicht gedrückt spitzte ich die Ohren. VRT. Garten. SMRT. Tod. Ich lernte NOČ, VLAK, DAN, KRUH. Ich lernte stumm, ich sammelte die Welt. […] was hatte der Garten mit dem Tod zu tun?“ (MM, 45f.) Rakusa beschreibt aber nicht nur den eigenen mehrsprachigen Familienkosmos, sondern ist von Mehrsprachigkeit auch in anderen Familien fasziniert. So wirkt die Sprachenvielfalt im Hause einer Freundin, das „Grüßen und Rufen in allen möglichen Sprachen, Schalom und Bonjour“, auf sie „unwiderstehlich“. (MM, 149) Die Bindung an Sprachen und Personen wird zu einer elementaren Säule der Identitätskonstruktion: Die Protagonistin braucht keine festen Orte, sondern Menschen und feste Rituale, um frei zu sein. Die Mehrsprachigkeit wird zum Schlüssel einer Welt, in der man über-setzen kann, wohin es einen zieht. Einzelne Sprachen differenzieren unterschiedliche Lebensbereiche: Auf Hochdeutsch wird gelesen, Ungarisch ist die Familiensprache, die Sprache mit der Umgebung Schwyzerdütsch. Die Sprache wird zum Mittel der Abgrenzung einer Sprechergemeinschaft. (MM, 106) Allerdings: „Das Kind wusste nichts von Abgrenzung.“ (MM, 100) Vielmehr tauchen in Rakusas Autobiographie das Wandern und die Grenzüberschreitungen des reflektierenden Ichs und damit korrelierende statische, nationalstereotype (Fremd)Zuschreibungsmuster auf. Das Zusammen, das Nebeneinander und das Verschwimmen von Kulturen, kurz: die Reflexion von Interkulturalität, Transkulturalität und Hybridität wird trotz des Postulats der Wanderschaft nicht unkritisch betrachtet. (MM, 320) Dies zeigt sich besonders beim jüngeren Erzähl-Ich in Rakusas Autobiographie: Dieses findet im Lesen nicht nur eine Gegenwelt, sondern auch eine neue Rolle. Sie muss „nicht die angepaßte kleine Ausländerin“ sein, deren Rolle sie in der Mehrheitsgesellschaft spielt, und der der „[l]ockere Umgang“ mit den Nachbarn verwehrt ist. (MM, 108f.) Umgekehrt fragt sich die Erzählerin, wenn sie unterwegs ist, ob sie es 2011 SCHNEIDER-ÖZBEK: (Liebes)Kampf der Kulturen 183 auch wirklich sein will. Die Frage: „Hast du dir nicht vorgenommen, weniger herumzureisen, herumzustehen in zugigen Bahnhöfen?“ (MM, 187), erweitert sich zu der Erkenntnis: „Der Drang fortzugehen, gepaart mit der Angst vor Verlust. Bin ich nicht genug unterwegs? Und will nun testen, ob es noch weiterginge.“ (MM, 236f.) Diese Erkenntnis kulminiert in der erneuten Verdichtung „Vermissen heißt Widerspruch“. (MM, 310) Auf diese Weise treibt sich die Erzählerin selbst weiter, verstrickt sich in der irrigen Annahme, dass sie infolge ihrer „Kofferkindheit“ (MM, 311) ein Leben auf Wanderschaft verbringen müsse, in dem auch die Orte und Topographien miteinander verschmelzen. Erinnerung ist der Faktor, der innere und äußere Landschaft verbindet. Auf einer Wanderung werden die äußeren „grünen Hügel“ bestiegen, und zugleich „andere (heimatliche) in uns“ erklommen (MM, 190). Erinnerungen werden durch Gerüche ausgelöst (MM, 190f.), ebenso durch Erzählungen, durch späteres Wissen – vor allem um kollektive Geschichtserfahrung (MM, 81, 129. NG, 33, 43, 97, 107). Die Erinnerung wird damit zur „Kraft“ die „mich – hierhin, dorthin – [lenkte], wo ich mir doch abhanden gekommen war“ (MM, 192);36 Erinnerung stellt Einheit her. Rakusas Romanstruktur erscheint für transkulturelle Erzählverfahren typisch: Der Erzählstrang verläuft nicht linear, folgt jedoch teilweise einer Chronologie. Rakusas Erzählung beginnt bei ihrer Kindheit und führt bis zu dem Zeitpunkt, als sie als Mittzwanzigerin an ihrer Dissertation schreibt. Diese chronologischen Passagen wechseln ab mit Reflexionsphasen aus Perspektive eines älteren Ich. Anzunehmen ist, dass es sich dabei um die Autorin zum Zeitpunkt der Niederschrift handelt. Das ältere Erzähl-Ich kommentiert und reflektiert sowohl das Erlebte, als auch das Verfassen einer Autobiographie, indem es sich zur argumentativen Unterstützung Gedanken Ilse Aichingers, Maurice Blanchots und Yoko Tawadas bedient. (MM, 315, 317f.) Bücher aus der Vergangenheit werden in diesen Reflexionen zu „Zeitkapseln“ (MM, 313), die Erinnerung konservieren. Das nichtlineare Erzählen des Romans offenbart sich auch in seiner thematischen Ordnung: So tragen die kurzen Kapitel keine Jahreszahlen, sondern widmen sich einzelnen Ereignissen wie der Konfrontation mit einer neuen Sprache und entwickeln dieses Thema. Verknüpft werden die einzelnen Themen untereinander durch ein Gedächtnismosaik: Sie werden später erneut zitiert – als bekannt vorausgesetzt – und reichern die Erzählung assoziativ an. Dieses dekonstruktivistische Erzählverfahren erscheint besonders geeignet, um eine nationalkulturell nicht verortbare Identität als Vgl. der „Seegfröni“ als „kollektives Ereignis“, das „kollektive Erinnerung barg“ (MM, 205). 36 184 andererseits Vol. 2 mosaikhaft nachzuzeichnen und damit die festen Schranken von Nationalkulturen zu unterlaufen. Die Autobiographie zeichnet das Bild einer in sich Grenzen aufnehmenden und – im dreifachen, dialektischen Wortsinn Hegels – aufhebenden Persönlichkeitsstruktur, die sich beständig sucht, obwohl sie sich gefunden hat. Konstruktion einer interkulturellen Identität Betrachtet man abschließend die Gemeinsamkeit beider Texte, so fällt auf, dass die Sprachmagie und Zauberhaftigkeit der Welt als narrative Erzählstrategien fungieren, um die Aspiration einer interkulturellen Identität sprachlich überhaupt fassen zu können. Der komplizierte und als problematisch erfahrene Reiz des Fremdseins, wird aufgelöst, indem die Grenze zum neuen Referenzpunkt erhoben wird, also als zentrale Membran zwischen nationalstaatlichen Kulturen. Es geht in beiden Texten um das Überschreiten von Grenzen – allerdings ohne Hybridisierung. Der Unverortbarkeit in äußeren Topographien wird eine versuchte Verortung in Gefühlsund Seelenlandschaften gegenübergestellt, die Erinnerung wird damit zur Selbstethnisierung. Autobiographisches und kollektives Gedächtnis sind scharf voneinander getrennt.37 Die kulturelle Verortung findet über eine Abgrenzung zur deutschen Erinnerungskultur statt, so dass in beiden Texten die nationalkulturelle Prägung nicht greift und das Individuum aus dem Kollektiv ausschließt. Die Autobiographien verraten in ihren letzten Sätzen auch, wie unterschiedlich die Protagonistinnen diese Spaltung zu überwinden versuchen: Bei Rakusa „[s]taun[t] und vertrau[t]“ die Protagonistin (MM, 321) – Wodins Erzählerin hingegen wartet nach wie vor auf die Auflösung des „Rätsels meiner Geschichte“. (NG, 237) 37 Vgl. Wagner-Egelhaff: Autobiographie, S. 88.