Management of Neuromuscular Diseases - Letter 5
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Management of Neuromuscular Diseases - Letter 5 Molekulargenetische Diagnostik der progressiven Muskeldystropie Typ Duchenne und Becker Tiemo Grimm und Wolfram Kress 1.Einleitung Die Muskeldystrophie Typ Duchenne (DMD) ist eine der häufigsten Muskelerkrankungen. Die ersten klinischen Beobachtungen stammen aus dem vorigen Jahrhundert (Duchenne, 1868; Gower, 1879). Becker und Kiener (1955) beschrieben, daß es neben der schweren DMD noch einen leichter verlaufenden X-chromosomen Typ gibt. Dieser erhielt später den Namen Muskeldystrophie Typ Becker (BMD). Schon in seiner Erstbeschreibung vermutete Becker (1955), daß beide Muskeldystrophien allelisch sind. Einen sehr guten historischen Überblick geben Emery und Emery in ihrem Buch „The History of a Genetic Disease" (1995). 2.Molekulare Pathologie Bereits Gowers (1879) beobachtete, daß bei der Muskeldystrophie im Kindesalter überwiegend Knaben betroffen sind und weitere Erkrankte nur in der mütterlichen Verwandtschaft vorkommen. Becker (1940) hat als erster klar zwischen der autosomal dominanten (=Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie), der autosomal rezessiven (=Gliedergürtelmuskeldystrophie) und der Form der progressiven Muskeldystrophie mit X-chromosomaler Vererbung unterschieden. 2.1.Dystrophin-Gen und sein Genprodukt Die Beobachtung von Mädchen mit einer chromosomalen X-Autosomen Translokation, die an einer Muskeldystrophie erkrankt waren (Greenstein et al., 1977), und Kopplungsanalysen mit einer DNA-Sonde (RC8 am Genort DXS9; Murray et al., 1982) erlaubten die Lokalisation des Genortes der Muskeldystrophie Duchenne auf den kurzen Arm des X-Chromosoms (Xp21). Bald standen flankierende und intragene DNA-Sonden zur Verfügung, um eine indirekte Genotypdiagnostik in DMD-Familien durchführen zu können (Davies et al., 1983; Müller et al., 1985). Worton und Mitarbeiter (1984) untersuchten die DNA einer an DMD erkrankten Frau mit einer X21 Translokation. Es gelang ihnen Teile des DMD-Gens zu klonieren. Kunkel und Mitarbeiter (1985) klonierten mit Hilfe einer großen Deletion im DMD-Gen eines Patienten weitere Genabschnitte. Sie benutzten dabei die sog. Phenol Enhanced Reassociation Technique (=PERT). Die dabei gewonnenen intragenen DNA-Sonden (PERT87 am Genort DXS 164) erlaubten bei etwa 6,5% der DMD-Patienten eine Deletion im DMD-Gen nachzuweisen (Kunkel et al., 1986). Inzwischen ist die gesamte cDNA des DMD-Gens kloniert worden. Das DMD-Gen besteht aus 79 Exons, die sich auf über 2300 kb verteilen (Den Dunnen et al., 1989). Das DMD-Gen ist damit genomisch das bisher größte bekannte menschliche Gen. Die 14 kb mRNA des DMD-Gens wird in ein Protein übersetzt, welches aus 3685 Aminosäuren mit einem Molekulargewicht von etwa 427 kD besteht. Dieses Protein hat den Kunstnamen „Dystrophin" erhalten (Hoffmann et al., 1987). Danach bezeichnet 1 von 8 Management of Neuromuscular Diseases - Letter 5 man das DMD-Gen auch als Dystrophin-Gen (Abb.1). Der Anteil des Dystrophins am Gesamtprotein im normalen Muskel beträgt nur 0,002%. Das Dystrophin-Molekül besteht aus vier funktionellen Einheiten (Domänen): der N-terminalen Aktin bindenden Domäne, 25 repetitiven tripelhelikalen Abschnitten, einer zysteinreichen Region und dem C-terminalen Ende. Innerhalb der Muskelzelle liegt Dystrophin an der Innenseite des Sarkolemms. Mit dem C-terminalen Molekülende ist es an einem Komplex von dystrophin assoziierten Glykoprote-inen (Sarkoglykane, Dystroglykane) gebunden. Mutationen in den sog. Sarkoglykanen führen zu autosomal rezessiven Muskeldystrophien (Passos-Bueno et al.,1996) Dystrophin wird nicht nur in der Muskulatur exprimiert, sondern es gibt auch mehrere Isoformen wie z.B. im Gehirn. Seine Funktion im Gehirn ist noch nicht bekannt. Einen Zusammenhang könnte es mit der Beobachtung geben, daß ein Teil der DMD-Patienten geistig retardiert ist. 2.2.Mutationen im Dystrophin-Gen Bei etwa 60% der DMD- und BMD-Patienten kann mit Hilfe der cDNA-Hybridisierung von Southern-Blots eine Deletion einzelner oder mehrerer Exons nachgewiesen werden (Read et al., 1988); Duplikationen werden bei etwa 5–10% der Patienten gefunden (Den Dunnen et al., 1989). Mit dem Nachweis von Strukturanomalien im Dystrophin-Gen gelang auch der endgültige Beweis, daß DMD und BMD allelisch sind. Diese Mutationen sind nicht gleichmäßig über das Gen verteilt, sondern bilden zwei „hot spots" im Bereich der Exons 3–19 (etwa 30% der Deletionen) und der Exons 44–52 (etwa 70% der Deletionen) (Abb.2). Die Größe der Deletion hat i.d.R. keinen Einfluß auf den klinischen Verlauf der Krankheit. Monaco und Mitarbeiter (1988) fanden eine molekulargenetische Erklärung für den unterschiedlichen klinischen Verlauf bei DMD und BMD, die sog. Frame-shiftTheorie. Deletionen, die das Leseraster des Triplet-Codes unterbrechen, erzeugen danach in der Regel ein Stopcodon. Es kann dann nur noch ein instabiles funktionsloses Protein gebildet werden. Bei DMD-Patienten werden daher mit Dystrophin-Antikörpern nur noch Spuren oder überhaupt kein Dystrophin in der Skelettmuskulatur nachgewiesen, gut vereinbar mit dem schweren Krankheitsverlauf. Falls die Deletion jedoch das Leseraster aufrecht erhält, entsteht ein verändertes Protein (im Molekulargewicht, in der Menge), welches wahrscheinlich noch Restfunktionen wahrnehmen 2 von 8 Management of Neuromuscular Diseases - Letter 5 kann. Im Vergleich zu DMD-Patienten zeigen BMD-Patienten daher einen milderen Krankheitsverlauf (Abb.3). Diese Frame-Shift-Theorie stimmt in über 90% der Fälle. Beobachtete Ausnahmen konnten durch alternatives Spleißen erklärt werden (Malhotra et al., 1988). Punktmutationen und Mikrodeletionen von wenigen Basenpaaren machen den Rest der Mutationen bei DMD- und BMD-Patienten aus. Auch die kleinen Mutationen stehen in der Regel im Einklang mit der Frame-shift-Theorie (Roberts et al.,1994). 3.Genetik 3.1.Erbgang Die Muskeldystrophie Duchenne und Becker wird X-chromosomal rezessiv vererbt. Die heterozygoten Frauen sind in der Regel gesund. Die Hälfte der Söhne von Überträgerinnen erkranken. Die Töchter von Heterozygoten sind in der Regel alle gesund, aber 50% sind wiederum Konduktorinnen. Bei der BMD haben Patienten Nachkommen, die alle gesund sind; die Töchter sind obligate Überträgerinnen. Etwa 2,5% der heterozygoten Frauen können auch klinische Symptome zeigen (Norman und Harper, 1989). 3.2.Inzidenz Die Inzidenz der DMD (=neu aufgetretene Fälle bezogen auf alle Neugeborenen in einer bestimmten Bevölkerung; bei DMD bezogen auf die männlichen Neugeborenen) liegt bei etwa 30x10–5 (Emery, 1991). Aufgrund von genetischer Beratung, Heterozygotendiagnostik und Pränataldiagnostik könnte die Inzidenz sich gering verringern (Van Essen et al., 1992 b). Die Inzidenz der BMD liegt bei etwa 1,4x10–5 (Emery, 1991). 3.3.Mutationsrate Als Mutationsrate (µ) bezeichnet man die Zahl der Neumutationen pro Genort und Generation. Indirekte Schätzungen der Mutationsrate für DMD ergeben einen Wert von µ = 10–4 der deutlich höher liegt als bei anderen Erbkrankheiten. Für die BMD wird die Mutationsrate auf µ =5,4x10–6 geschätzt. Ein Geschlechtsunterschied konnte für die Mutationsrate von DMD nicht nachgewiesen werden (Müller et al., 1992). Berücksichtigt man jedoch die unterschiedlichen Mutationstypen (z.B. Deletionen, NichtDeletionen) findet man Geschlechtsunterschiede für die Mutationsraten. Deletionen entstehen eher in der Oogenese und Nicht-Deletionen (z.B. Punktmutationen) eher in der Spermatogenese (Grimm et al., 1994). 3.4.Keimzellmosaik Eine Mutation während der Keimzellentwicklung kann zu einem gewissen Prozentsatz von Oozyten oder Spermatozyten führen, welche die Mutation tragen. Dieser Vorgang stellt die Grundlage eines Keimzellmosaiks dar. Mit Hilfe von molekulargenetischen Methoden konnten bei der Muskeldystrophie Duchenne und Becker Keimzellmosaike nachgewiesen werden (Grimm et al., 1990; Van Essen et al., 1992 a). Während Überträgerinnen ein Wiederholungsrisiko von 50% haben, liegt das Risiko für Frauen mit einem nachgewiesenen Keimzellmosaik im Durchschnitt bei ca. 15%, einen Sohn mit DMD zu bekommen. Mütter eines DMD-Patienten, die nachgewiesen keine Überträgerin sind, haben aufgrund des Keimzellmosaikes eine Wahrscheinlichkeit von etwa 10% für einen Sohn, der an DMD erkrankt (Van Essen et al., 1992 a). 4.Genetische Beratung und Diagnostik Jede molekulargenetische Familienuntersuchung sollte in eine genetischen Beratung eingebunden sein. Grundlage einer genetischen Beratung ist die Sicherung der Diagnose beim Indexpatienten. Bei DMD und BMD müssen differentialdiagnostisch besonders die autosomal rezessiven Muskeldystrophien in Betracht 3 von 8 Management of Neuromuscular Diseases - Letter 5 gezogen werden. Klinisch können sie kaum von der X-chromosomalen DMD bzw. BMD unterschieden werden. Neben der klinischen Untersuchung ist eine molekulargenetische Analyse oder eine Muskelbiopsie erforderlich. Zuerst sollte an einer EDTA-Blutprobe ein Deletionsscreening im Dystrophin-Gen durchgeführt werden. Etwa 98% aller Deletionen im Dystrophin-Gen sind mit Hilfe der PCR-Technik leicht nachweisbar (Beggs et al., 1990). Die restlichen 2% müssen mit der Southernblot-Technik und cDNA-Proben nachgewiesen werden. Der Nachweis von Duplikationen erfordert in der Regel einen quantitativen Southernblot (Bettecken und Müller, 1989). Punktmutationen oder sehr kleine strukturelle Veränderungen erfordern bei der Größe des Dystrophin-Gens sehr aufwendige Untersuchungstechniken (z.B. SSCP-Analyse und Sequenzieren), die im Moment nicht für die Routine geeignet sind. Falls keine Mutation beim Patienten nachweisbar ist, kann zur Diagnosesicherung eine Muskelbiopsie erfolgen, um Dystrophin mit Hilfe der Immunzytochemie und des Westernblots zu untersuchen (Arahata et al., 1989; Hoffmann et al., 1987). DMD-Patienten zeigen in der Regel kein Dystrophin in der Muskulatur, bei BMD-Patienten ist das Dystrophin im Westernblot qualitativ und/oder quantitativ verändert, während Patienten der autosomal rezessiven Muskeldystrophien in der Regel einen normalen Dystrophin-Befund zeigen. Das folgende Diagnoseschema (Abb.4) erläutert ein sinnvolles diagnostisches Vorgehen bei Patienten mit der Verdachtsdiagnose DMD/BMD. Schwieriger ist die Diagnostik bei den fraglich heterozygoten Frauen. Diese Diagnostik sollte ebenfalls immer im Rahmen einer genetischen Beratung durchgeführt werden. Die Problematik liegt darin, daß eine Frau zwei X-Chromosomen hat. Bei den heterozygoten Frauen wird bei fast allen Untersuchungen die Mutation durch die normale Gensequenz des anderen X-Chromosoms überdeckt. Die günstigste Situation liegt vor, wenn beim Indexpatient – z.B. durch eine Deletion bedingt – eine mutationsspezifische Zusatzbande (junction fragment) in der cDNA-Analyse gefunden worden ist. Dies dürfte bei etwa 17% der Patienten der Fall sein (Den Dunnen et al., 1989). Der quantitative Nachweis einer halben Gendosis im Southernblot bei einer fraglich heterozygoten Frau mit Deletion ist sehr aufwendig. Eine bekannte Deletion in einer Familie kann in den Hotspot-Regionen mit der FISH-Technik nachgewiesen werden (Lichter et al., 1988). Häufig kann jedoch nur die molekulargenetische Familienuntersuchung (Haplotypanalyse) und eine anschließende Risikoschätzung mit Hilfe des Bayesschen Theorems zur Heterozygotendiagnostik herangezogen werden (Emery und Morton, 1968). Die Molekulargenetischen Methoden haben in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte im Verständnis der X-chromosomalen Muskeldystrophien gebracht und Hoffnungen auf neue Therapiemöglichkeiten in der nahen Zukunft gesetzt. Andererseits hat aber auch jeder Wissenszuwachs bei den Dystrophinopathien neue ungeklärte Fragestellungen der Genetik aufgeworfen. 5.Literatur 4 von 8 Management of Neuromuscular Diseases - Letter 5 Becker P E. Die Einteilung der Muskeldystrophien. Nervenarzt 1940; 13:209–214 Becker P E, Kiener F. Eine neue X-chromosomale Muskeldystrophie. Arch Psychiat Zeitschr Neurol 1955; 193:427–428 Beggs A H, Koenig M, Boyce F M, Kunkel L M. Detection of 98% of DMD/BMD deletions by PCR. Hum Genet 1990; 86:45–48 Bettecken T, Müller C R. Identification of a 220 kb insertion into the Duchenne gene in a family with an atypical course of muscular dystrophy. Genomics 1989; 4:592–596 Davies K F, Pearson P L, Harper P S et al. 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