Marc Aurel: Selbstbetrachtungen

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Marc Aurel: Selbstbetrachtungen
Marc Aurel: Selbstbetrachtungen (Viertes & Neuntes Buch)
(Übersetzer: Albert Wittstock, Verlag Philipp Reclam jun., 1949)
Viertes Buch.
1.
Wenn das in uns Herrschende seiner Naturbeschaffenheit folgt, so ist sein Verhalten bei den
Ereignissen des Lebens der Art, daß es sich stets in das Mögliche und Erlaubte mit
Leichtigkeit zu finden weiß. Es hat keine Vorliebe für irgendeinen bestimmten Gegenstand,
sondern die wünschenswerten Dinge sind nur ausnahmsweise Vgl. III, 11. Anm. Nur
bedingungsweise soll man gleichgültige Dinge wünschen. Gegenstände seines Strebens; was
ihm aber an deren Statt in den Weg tritt, das macht es sich selbst zum Stoff seines Handelns,
dem Feuer gleich, das sich dessen, was hineinfällt, bemächtigt, wovon ein schwächeres Licht
erlöschen würde; aber eine helle Flamme pflegt das, was ihr zugeführt wird, sich gar schnell
anzueignen und zu verzehren und lodert gerade davon nur um so höher empor.
2.
Keine deiner Handlungen geschehe aufs Geratewohl, keine anders, als es die Regeln der
Lebenskunst gestatten.
3.
Man sucht Zurückgezogenheit auf dem Lande, am Meeresufer, auf dem Gebirge, und auch du
hast die Gewohnheit, dich danach lebhaft zu sehnen. Aber das ist bloß Unwissenheit und
Schwachheit, da es dir ja freisteht, zu jeder dir beliebigen Stunde dich in dich selbst
zurückzuziehen. Es gibt für den Menschen keine geräuschlosere und ungestörtere
Zufluchtsstätte als seine eigene Seele, zumal wenn er in sich selbst solche Eigenschaften hat,
bei deren Betrachtung er sogleich vollkommene Ruhe genießt, und diese Ruhe ist meiner
Meinung nach nichts anderes als ein gutes Gewissen. Halte recht oft solche stille Einkehr und
erneuere so dich selbst. Da mögen dir dann jene kurzen und einfachen Grundsätze
gegenwärtig sein, die genügen werden, deine Seele heiter zu stimmen und dich instand zu
setzen, mit Ergebenheit die Welt zu ertragen, wohin du zurückkehrst. Denn worüber solltest
du auch unwillig sein? Über die Schlechtigkeit der Menschen? Aber sei doch des
Grundgesetzes eingedenk, daß die vernünftigen Wesen füreinander geboren sind, daß
Verträglichkeit ein Teil der Gerechtigkeit ist, daß die Menschen unvorsätzlich sündigen, und
dann, daß es so vielen Leuten nichts genützt hat, in Feindschaft, Argwohn, Zank und Haß
gelebt zu haben; sie sind gestorben und zu Asche geworden. Höre also endlich auf, dir Sorge
zu machen. Aber du bist vielleicht mit dem Lose unzufrieden, das dir infolge der Einrichtung
des Weltalls beschieden ist? Da rufe dir diese Alternative ins Gedächtnis: Entweder waltet
eine Vorsehung oder der Zusammenstoß von Atomen, Marc Aurel glaubte an eine göttliche
Vorsehung; aber er meint hier, man soll sich nicht um Dinge quälen, die man nicht ändern
kann. oder erinnere dich auch der Beweisgründe, daß diese Welt einer Stadt gleich ist.« Oder
belästigt dich der Zustand deines Körpers? Nun da beherzige nur, daß der denkende Geist,
wenn er sich einmal gesammelt hat und seiner eigenen Kraft bewußt geworden ist, von keinen
sanften oder rohen Erregungen unserer Sinnlichkeit beeinflußt wird, und beachte alle die
anderen Lehren, die du über Schmerz und Lust gehört und dir als wahr angeeignet hast. Aber
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vielleicht treibt dich eitle Ruhmsucht hin und her? Da beachte doch, wie schnell alles ins Grab
der Vergessenheit sinkt, welcher unermeßliche Abgrund der Zeit vor dir war und nach dir
kommen wird, wie nichtig das Lobgetöne ist, wie wandelbar und urteilslos diejenigen sind,
die dir Beifall zollen, und wie klein der Kreis, auf den dein Ruhm beschränkt bleibt! Ist ja
doch die ganze Erde nur ein Punkt im All, und welch kleiner Winkel auf ihr ist deine
Wohnung! Und hier, wieviel sind derer, die dich preisen werden, und von welcher
Beschaffenheit sind sie? Denke also endlich daran, dich in jenes kleine Gebiet
zurückzuziehen, das du selbst bist, und vor allem zerstreue dich nicht und widerstrebe nicht,
sondern bleibe frei und sieh alle Dinge mit furchtlosem Auge an, als Mensch, als Bürger, als
sterbliches Wesen. Unter den gebräuchlichsten Wahrheiten aber richte vorzüglich auf
folgende zwei dein Augenmerk: erstens, daß die Außendinge mit unserer Seele nicht in
Berührung, sondern unbeweglich außerhalb derselben stehen, mithin Störungen deines
Seelenfriedens nur aus deiner Einbildung entstehen, und zweitens, daß alles, was du siehst,
gar schnell sich verändert und nicht mehr sein wird. Und von wie vielen Veränderungen bist
du selbst schon Augenzeuge gewesen! Erwäge ohne Unterlaß: die Welt ist Verwandlung, das
Leben Einbildung.
4.
Haben wir das Denkvermögen miteinander gemein, so ist uns auch die Vernunft gemeinsam,
kraft der wir vernünftige Wesen sind; ist dem so, so haben wir auch die Stimme gemein, die
uns vorschreibt, was wir tun und nicht tun sollen; ist dem so, so haben wir auch alle ein
gemeinschaftliches Gesetz; ist dem so, so sind wir Mitbürger untereinander und leben
zusammen unter derselben Regierung; ist dem so, so ist die Welt gleichsam unsere Stadt;
denn welchen andern gemeinsamen Staat könnte jemand nennen, in dem das ganze
Menschengeschlecht dieselben Gesetze hätte? Ebendaher, von diesem gemeinsamen Staate
haben wir das Denkvermögen, die Vernunft und die gesetzgeberische Kraft, oder woher
sonst? Denn gleich wie das Erdartige an mir sich von gewissen Erdteilen abgesondert hat und
das Feuchte von einem andern Grundstoff und der Atem, den ich hauche, und das Warme und
das Feurige je aus einer eigentümlichen Quelle herrühren – denn von nichts kommt nichts, so
wenig wie etwas in das Nichts übergeht – ebenso ist natürlich auch das Denkvermögen
irgendwoher gekommen.
5.
Der Tod ist, ebenso wie die Geburt, ein Geheimnis der Natur, hier Verbindung, dort
Auflösung derselben Grundstoffe; durchaus nichts, dessen man sich zu schämen hätte; denn
es widerstreitet nicht dem Wesen eines vernünftigen Geschöpfes noch der Anlage seiner
Konstitution.
6.
Daß Leute jener Art notwendigerweise so handeln müssen, ist ganz natürlich. Wollen, daß es
anders sei, heißt wollen, daß der Feigenbaum keinen Saft habe. Überhaupt aber sei dessen
eingedenk, daß ihr beide, du sowohl als er, in gar kurzer Zeit sterben werdet; bald nachher
werden nicht einmal eure Namen mehr übrig sein.
7.
Laß die Einbildung schwinden, und es schwindet die Klage, daß man dir Böses getan. Mit der
Unterdrückung der Klage: »Man hat mir Böses getan« ist das Böse selbst unterdrückt.
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8.
Was den Menschen nicht schlimmer macht, als er von Natur ist, das kann auch sein Leben
nicht verschlimmern, kann ihm weder äußerlich noch innerlich schaden.
9.
Des Nutzens wegen ist die Natur gezwungen, so zu verfahren, wie sie es tut.
10.
Alles, was sich ereignet, geschieht gerecht. Wenn du sorgfältig alles beobachtest, wirst du das
erkennen; ich sage: nicht nur der natürlichen Ordnung, sondern vielmehr der Gerechtigkeit
gemäß, und wie von einem Wesen ausgehend, das alles nach Würdigkeit verteilt. Beachte dies
also wohl, wie du begonnen hast, und was du nur tust, das tue mit dem Bestreben, gut zu sein,
gut in der eigentlichen Bedeutung des Wortes. Das sei die feststehende Regel bei allem, was
du tust.
11.
Fasse die Dinge nicht so auf, wie sie dein Beleidiger auffaßt oder von dir aufgefaßt haben
will; sieh dieselben vielmehr so an, wie sie in Wahrheit sind.
12.
Zu zweierlei mußt du stets bereit sein: erstens, einzig nur das zu tun, was die königliche
Gesetzgeberin Vernunft um des Menschenwohles willen dir eingibt, und zweitens, deine
Meinung zu ändern, sobald nämlich jemand dich dazu veranlaßt dadurch, daß er sie berichtigt.
Diese Meinungsänderung jedoch muß immer von der Überzeugung, daß sie gerecht oder
gemeinnützig oder dergleichen sei, einzig und allein ausgehen, keineswegs aber davon, daß
wir darin Annehmlichkeit oder Ruhm erblicken.
13.
Hast du Vernunft? – Ja. – Warum gebrauchst du sie denn nicht? Denn wenn du sie schalten
lässest, was willst du noch mehr?
14.
Als ein Teil des Ganzen hast du bisher gelebt und wirst in deinem Erzeuger wieder aufgehen,
oder vielmehr wirst du vermittels einer Umwandlung als neuer Lebenskeim wieder
aufkommen.
15.
Viele Weihrauchkörner sind für denselben Altar bestimmt, die einen fallen früher, die anderen
später ins Feuer; aber dies macht keinen Unterschied.
16.
Innerhalb zehn Tagen wirst du denen, die dich jetzt als ein wildes Tier und einen Affen
ansehen, wie ein Gott vorkommen, wenn du zu deinen Grundsätzen und zum Dienst der
Vernunft zurückkehrst.
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17.
Tue nicht, als wenn du Tausende von Jahren zu leben hättest. Der Tod schwebt über deinem
Haupte. Der Mensch kann jeden Augenblick ein Opfer des Todes werden. Solange du noch
lebst, solange du noch kannst, sei ein rechtschaffener Mensch.
18.
Wieviel Muße gewinnt der, der nicht darauf, was sein Nächster spricht oder tut oder denkt,
sondern nur auf das sieht, was er selbst tut, daß es gerecht und heilig sei; sieh nicht, sagt
Agathon, Agathon, ein Athener, Dichter vieler Tragödien, † um 400 v. Chr. die schlechten
Sitten um dich her, sondern wandle auf gerader Linie deinen Pfad, ohne dich irremachen zu
lassen.
19.
Wen der Glanz des Nachruhms blendet, erwägt nicht, daß jeder von denen, die seiner
gedenken, bald selbst sterben wird, und so hinwiederum jegliches folgende Geschlecht, bis
endlich dieser ganze Ruhm, nachdem er durch einige sterbliche Wesen fortgepflanzt worden
ist, mit diesen selbst stirbt. Aber gesetzt auch, daß die, die deiner gedenken werden,
unsterblich wären und unsterblich deines Namens Gedächtnis, welchen Wert hat denn das für
dich, wenn du tot bist, oder sagen wir, selbst wenn du noch lebst? Was frommt das Lob, außer
eben in Verbindung mit gewissen zeitlichen Vorteilen? Laß daher beizeiten jenes aufblähende
Geschenk fahren, das ja nur von fremdem Gerede abhängt.
20.
Alles Schöne, von welcher Art es auch sein mag, ist an und für sich schön, es ist in sich selbst
vollendet, und das Lob bildet keinen Bestandteil seines Wesens. Das Lob macht einen
Gegenstand weder schlechter noch besser. Das Gesagte gilt von allem, was man im gemeinen
Leben schön nennt, wie zum Beispiel von den Erzeugnissen der Natur und der Kunst. Was
wahrhaft schön ist, bedarf keines Lobes, ebensowenig wie das Gesetz, ebensowenig wie die
Wahrheit, ebensowenig wie das Wohlwollen, wie die Sittsamkeit. Wie könnte das durch Lob
erst gut oder durch Tadel schlecht werden? Verliert der Smaragd an seinem Werte, wenn er
nicht gelobt wird? Und ebenso das Gold, das Elfenbein, der Purpur, eine Leier, ein Degen,
eine Blume, ein Strauch?
21.
Wenn die Seelen fortdauern, wie kann der Luftraum sie von Ewigkeit her alle fassen? – Aber
enthält denn nicht die Erde die Körper derjenigen, die seit ebenso vielen Jahrhunderten
begraben wurden? Gleich wie diese hier nach einiger Zeit des Aufenthalts infolge ihrer
Verwandlung und Auflösung anderen Toten Platz machen, ebenso dauern auch die in den
Luftraum versetzten Seelen dort eine Weile noch fort, Über die Unsterblichkeit der Seele
waren die Ansichten der Stoiker verschieden. Nach einigen lebten nur die Seelen der
Gerechten nach dem Tode fort; andere glaubten an die Fortdauer aller Seelen ohne
Unterschied. werden dann verwandelt, zerstreut, geläutert, in den Grundstoff des Alls
aufgenommen und machen auf diese Art den Nachkommenden Platz. Dies etwa könnte man
auf die Frage nach der Fortdauer der Seelen antworten. Und hierbei muß man außer der
Menge der also beerdigten Menschenleiber auch noch diejenigen der Tiere hinzurechnen, die
täglich von uns und anderen Tieren verzehrt werden. Denn welch eine große Anzahl
derselben wird nicht verbraucht, die gleichsam in den Leibern derjenigen begraben sind, die
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sich davon nähren! Und doch reicht dieser Raum hin, sie aufzunehmen, weil sie hier teils in
Blut übergehen, teils sich in Feuer und Luft auflösen. Das Mittel, die Wahrheit über diesen
Gegenstand zu entdecken, heißt Unterscheidung von Materie und Form.
22.
Laß dich nicht hin und her reißen. Bei allem, was du tust, denke an das, was recht ist, und bei
allem, was du denkst, halte dich an das, was klar zu begreifen ist.
23.
Alles, was dir ansteht, o Welt, steht auch mir an. Die Welt als Gesamtinbegriff von Materie
und Form war den Stoikern häufig identisch mit der Gottheit. Nichts kommt mir zu früh,
nichts zu spät, was für dich zur rechten Zeit kommt. Alles, was deine Zeiten mitbringen, ist
mir eine liebliche Frucht, o Natur. Von dir kommt alles, in dir ist alles, in dich kehrt alles
Zurück. Jener sagt: »O du geliebte Cecropsstadt,« Cecrops, Erbauer Athens. Diese Worte
stammen aus einem Lustspiele des Aristophanes. Gottesstadt ist die ganze Welt. und du
solltest nicht sagen: »O du geliebte Gottesstadt?«
24.
Beschränke deine Tätigkeit auf weniges, sagt Demokritos, wenn du in deinem Innern ruhig
sein willst. Vielleicht wäre es besser zu sagen: Tu das, was notwendig ist und was die
Vernunft eines von Natur zur Staatsgemeinschaft bestimmten Wesens gebietet und so, wie sie
es gebietet; dies verschafft uns nicht nur die Zufriedenheit, die aus dem Rechttun, sondern
auch diejenige, die aus dem Wenigtun entspringt. In der Tat, wenn wir das meiste, was in
unserem Reden und Tun unnötig ist, wegließen, so würden wir mehr Muße und weniger
Unruhe haben. Frage dich also bei jeglicher Sache: Gehört diese etwa zu den unnötigen
Dingen? Man muß aber nicht nur die unnützen Handlungen, sondern auch die unnützen
Gedanken vermeiden; denn die letzteren sind auch die Ursache der überflüssigen Handlungen.
25.
Mach einmal den Versuch, wie sich's als rechtschaffener Mann lebt, der mit dem vom
Weltganzen ihm beschiedenen Schicksale zufrieden ist und in seiner eigenen rechtschaffenen
Handlungsweise und seiner wohlwollenden Gesinnung sein Glück findet.
26.
Hast du das ins Auge gefaßt? Nun so beachte auch folgendes: Beunruhige dich selbst nicht;
bleibe schlicht! Vergeht sich einer an dir? Er vergeht sich an sich selbst. Ist dir etwas
Zugestoßen? Gut. Alles, was dir widerfährt, war dir von Anfang an nach dem Lauf der
Weltgesetze so bestimmt und zugeordnet. Mit wenigen Worten: das Leben ist kurz; von der
Gegenwart muß man durch wohlüberlegtes und rechtschaffenes Tun Gewinn ziehen. Auch in
Erholungsstunden bleibe nüchtern.
27.
Ist die Welt etwas Wohlgeordnetes oder ein zufälliges Durcheinander, das man aber doch
Weltordnung nennt? Wie? In dir ist Ordnung, und im Weltganzen wäre alles Gewirr und
Unordnung? Und das bei der so harmonischen Verknüpfung aller möglichen Kräfte, die
einander widerstreiten und zerteilt sind.
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28.
Es gibt einen schwarzen Charakter, einen weibischen Charakter, einen halsstarrigen, einen
tierischen, viehischen, kindischen, dummen, zweideutigen, geckenhaften, treulosen,
tyrannischen Charakter.
29.
Wenn derjenige ein Fremdling in der Welt zu nennen ist, der nicht weiß, was in ihr vorhanden
ist, so ist der nicht weniger ein Fremdling, der nicht weiß, was in ihr geschieht. Ein Flüchtling
ist, wer sich den Staatsgesetzen entzieht; ein Blinder, wer das Geistesauge verschließt; ein
Bettler, wer eines andern bedarf und das, was zum Leben nötig ist, nicht selbst besitzt; eine
Geschwulst am Weltkörper derjenige, der vom Grundgesetz der Allnatur sich dadurch trennt
und lossagt, daß ihm die Ereignisse in derselben mißfallen, denn sie führt alles herbei und hat
auch dich hervorgebracht; ein Abtrünniger vom Staat ist, wer seine eigene Seele der allen
Vernunftwesen gemeinschaftlichen Seele abtrünnig macht. Die Welt wird nach den Stoikern
von einer einzigen Seele bewegt, von der jede einzelne Seele ein Teil ist.
30.
Hier ist einer Philosoph ohne Rock, Zyniker. dort ein anderer ohne Buch, ein dritter halb
nackt. Brot habe ich nicht, sagt er, und halte doch meine Lehre aufrecht. Auch mir gewähren
die Wissenschaften keinen Unterhalt, und ich bleibe ihnen doch ergeben.
31.
Die Kunst, die du gelernt hast, sei dir lieb; da mußt du verweilen. Den Rest deines Lebens
verbringe als ein Mensch, der alle seine Angelegenheiten von ganzer Seele den Göttern
überlassen hat und sich weder zu irgendeines Menschen Tyrannen noch Sklaven macht.
32.
Betrachte einmal zum Beispiel die Zeiten unter Vespasian, und du wirst alles finden wie jetzt:
Menschen, die freien, die Kinder erziehen, Kranke und Sterbende, Kriegsleute und
Festfeiernde, Handeltreibende, Ackerbauer, Schmeichler, Anmaßende, Argwöhnische,
Gottlose, solche, die den Tod dieses oder jenes herbeiwünschen, über die Gegenwart murren,
verliebt sind, Schätze sammeln, Konsulate, Königskronen begehren. Nun, sie sind nicht mehr,
sie haben aufgehört zu leben. Gehe dann zu den Zeiten Trajans über. Abermals ganz dasselbe.
Auch dieses Lebensalter ist ausgestorben. Betrachte gleichfalls die anderen Abschnitte von
Zeiten und ganzen Völkern und siehe, wie viele, die Großes geleistet, bald dahinsanken und in
die Grundstoffe aufgelöst wurden. Besonders aber rufe in dein Gedächtnis diejenigen zurück,
die du persönlich gekannt hast, wie sie über dem Haschen nach eiteln Dingen
vernachlässigten, das zu tun, was der eigentümlichen Beschaffenheit ihres Wesens gemäß
war, daran unablässig festzuhalten und hierauf ihre Wünsche zu beschränken. Hier mußt du
auch noch eingedenk sein, daß die auf jedes Geschäft verwandte Sorgfalt zu seiner
Wichtigkeit im rechten Maß und Verhältnis stehen muß. Denn dann wirst du keinen Unmut
empfinden, wenn du dich nicht mehr, als sich's gebührt, mit Kleinigkeiten beschäftigst.
33.
Einst gebräuchliche Worte sind jetzt unverständliche Ausdrücke. So geht es auch mit den
Namen ehemals hochgepriesener Männer, wie Camillus, Rettete Rom von den Galliern. Käso,
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Käso Fabius, Konsul. Volesus, Leonnatus, Ein Feldherr und Freund Alexanders des Großen.
und in kurzer Zeit wird das auch mit einem Scipio und Cato, nachher mit Augustus und dann
mit Hadrian und Antoninus der Fall sein. Alles vergeht und wird bald zum Märchen und sinkt
rasch in völlige Vergessenheit. Und dies gilt von denen, die einst so wunderbar geglänzt
haben. Denn die übrigen, wenn sie kaum den Geist ausgehaucht haben, »schwinden
unrühmlich dahin, weder gehört noch gesehen.« Erwähnung einer Stelle aus Homers Odyssee
(1,242), wo Telemach klagt, von seinem Vater keine Nachricht zu haben. Was wäre aber auch
eigentlich ein ewiger Nachruhm? Ein völliges Nichts. Was ist es also, worauf wir unsere
ganze Sorge lenken müssen? Nur das eine: eine gerechte Sinnesart, gemeinnütziges Handeln,
beständige Wahrheit im Reden und eine Gemütsstimmung, alles, was uns zustößt, mit
Ergebung hinzunehmen, wie eine Notwendigkeit, eine bekannte Sache, die mit uns einerlei
Quelle und Ursprung hat.
34.
Überlaß dich ohne Widerstand dem Geschick und laß dich von diesem in die Verhältnisse
verflechten, in die es ihm beliebt.
35.
Alles geht in einem Tage dahin, sowohl der Rühmende als der Gerühmte.
36.
Betrachte unaufhörlich, wie alles Werdende kraft einer Umwandlung entsteht, und gewöhne
dich so an den Gedanken, daß die Allnatur nichts so sehr liebt, wie das Vorhandene
umzuwandeln, um daraus Neues von ähnlicher Art zu schaffen; denn alles Vorhandene ist
gewissermaßen der Same dessen, was aus ihm werden soll. Du aber stellst dir nur das als
Samen vor, was in die Erde oder in den Mutterschoß fällt. Das ist ganz oberflächlich gedacht.
37.
Bald wirst du tot sein und bist noch nicht weder fest noch ohne Unruhe noch frei von der
Einbildung, daß du durch die Außendinge unglücklich werden kannst, nicht wohlwollend
gegen jedermann, nicht gewohnt, die Weisheit allein in rechten Taten zu suchen.
38.
Prüfe die Gemüter der Menschen, sieh, was die Weisen vermeiden und wonach sie trachten.
39.
Dein Übel hat seinen Grund nicht in der herrschenden Denkungsart eines andern, auch nicht
in der Veränderung und Umstimmung deiner körperlichen Hülle. Wo also? In dem Teile
deines Selbst, wo das Vermögen, über Übel gewisse Meinungen zu hegen, seinen Sitz hat.
Möge da keine falsche Vorstellung sein, und alles steht gut. Ja, würde selbst das mit ihm so
eng verbundene Körperchen geschnitten, gebrannt, vereitern, verfaulen, soll doch der Teil
deines Wesens, der über das alles seine Meinungen hegt, ruhig bleiben, das heißt, er fälle das
Urteil, daß das, was dem bösen und dem tugendhaften Manne gleicherweise zustoßen kann,
weder ein Übel noch ein Gut sei. Denn was sowohl dem naturwidrig als dem naturgemäß
lebenden Menschen ohne Unterschied begegnet, das ist selbst weder naturgemäß noch
naturwidrig.
7
40.
Stelle dir stets die Welt als ein Geschöpf vor, das nur aus einer Materie und aus einem
einzigen Geiste besteht. Sieh, wie alles der einen Empfindung derselben sich fügt; wie
vermöge einheitlicher Triebkraft alles sich bildet, wie alles zu allen Ereignissen mitwirkt,
alles mit allem Werdenden in begründetem Zusammenhang steht und von welcher Art die
innige Verknüpfung und Wechselwirkung ist.
41.
»Ein Seelchen bist du, von einem Leichnam belastet,« sagt Epiktet.
42.
Es ist kein Übel für die Wesen, die Veränderung zu erleiden, wie es kein Gut für sie ist, kraft
der Veränderung zu existieren. D. h.: Der Tod ist kein Übel und das Leben kein großes Gut.
43.
Die Zeit ist ein Fluß, ein ungestümer Strom, der alles fortreißt. Jegliches Ding, nachdem es
kaum zum Vorschein gekommen, ist auch schon wieder fortgerissen, ein anderes wird
herbeigetragen, aber auch das wird bald verschwinden.
44.
Alles, was geschieht, ist so gewöhnlich und bekannt wie die Rose im Frühling und die Frucht
zur Erntezeit. Dahin gehören also auch Krankheit und Tod, Verleumdung und Nachstellung
und was sonst noch die Toren erfreut oder betrübt.
45.
Das Folgende schließt sich jederzeit dem Vorangehenden verwandtschaftlich an. Es ist hier
nicht etwa so wie bei einer Reihe von Zahlen, die im Zusammenhang einen andern Wert
bezeichnen als jede einzelne; hier ist eine vernunftmäßige Verbindung; und gleich wie in
allem, was schon existiert, eine vollkommene Zusammenfügung herrscht, so zeigt sich auch
in dem, was noch geschieht, keine bloß äußerliche Aufeinanderfolge, sondern eine
wunderbare Zusammengehörigkeit.
46.
Stets erinnere dich des Ausspruchs von Heraklit, daß es der Erde Tod sei, zu Wasser zu
werden, des Wassers Tod, zu Luft zu werden, der Luft Tod, zu Feuer zu werden, und
umgekehrt. D. h.: Nichts stirbt, sondern wird in etwas anderes verwandelt. Erinnere dich jenes
Menschen, der es vergißt, wohin sein Weg führt, desgleichen wie wir mit der alles
regierenden Vernunft, mit der wir doch täglich verkehren, uns im Zwiespalt befinden und wie
uns selbst Dinge, die uns jeden Tag vorkommen, fremd erscheinen; ferner, daß wir nicht wie
Schlafende handeln und reden dürfen, denn auch im Schlaf scheinen wir zu handeln und zu
reden, und daß wir es endlich ebensowenig wie die verzogenen Kinder machen sollen, die nur
den Grundsatz haben: So haben wir's von unsern Eltern gelernt.
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47.
Gleichwie, wenn ein Gott dir sagte: »Du mußt morgen oder spätestens übermorgen sterben,«
du wohl nicht so sehr darauf bestehen würdest, lieber übermorgen als morgen zu sterben,
wofern du nicht etwa feige dächtest – denn wie kurz ist der Unterschied! – ebenso halte es für
gleichgültig, ob du erst nach langen Jahren oder morgen schon stirbst.
48.
Erwäge beständig, wie viele Ärzte schon dahingestorben sind, die oft am Lager ihrer Kranken
die Stirne in ernste Falten gelegt, und wie viele Astrologen, die wie etwas Wunderbares den
Tod anderer vorausgesagt! Wie viele Philosophen, die über Tod und Unsterblichkeit ihre
tausenderlei Gedanken ausgebrütet; wie viele Kriegshelden, die eine Menge Menschen
getötet; wie viele Gewaltherrscher, die, gleich als wären sie selbst unsterblich, ihre Macht
über fremdes Leben mit furchtbarem Übermute gemißbraucht haben! Wie viele Städte sind
nach ihrem ganzen Umfang, daß ich so sage, gestorben, Helice Einst Stadt in Achaja, sank bei
einem Erdbeben ins Meer. und Pompeji und Herkulanum und unzählige andere! Gehe nun
auch der Reihe nach alle deine Bekannten durch! Der eine hat diesen, der andere jenen
bestattet und ist bald selbst bestattet worden, und das alles in so kurzer Zeit! – Siehe denn also
im ganzen genommen das Menschliche jeder Zeit als etwas Flüchtiges und Wertloses an! Was
gestern noch im Keimen war, ist morgen schon einbalsamiertes Fleisch Bezieht sich auf den
Gebrauch, die Toten einzubalsamieren oder zu verbrennen. oder ein Haufen Asche. Durchlebe
demnach diesen Augenblick von Zeit der Natur gemäß, dann scheide heiter von hinnen, gleich
der gereiften Olive: Sie fällt ab, die Erde, ihre Erzeugerin, preisend und voll Dank gegen den
Baum, der sie hervorgebracht hat.
49.
Sei wie ein Fels, an dem sich beständig die Wellen brechen: Er steht fest und dämpft die Wut
der ihn umbrausenden Wogen. Ich Unglückseliger, sagt jemand, daß mir dieses oder jenes
widerfahren mußte! Nicht doch! sondern sprich: Wie glücklich bin ich, daß ich trotz diesem
Schicksal kummerlos bleibe, weder von der Gegenwart gebeugt noch von der Zukunft
geängstigt! Dasselbe hätte ja jedem andern so gut wie mir begegnen können, aber nicht jeder
hätte es ohne Kummer ertragen können. Warum wäre nun jenes eher ein Unglück als dieses
ein Glück? Kann man das überhaupt ein Unglück nennen, was den Endzweck der Natur des
Menschen nicht unerfüllt läßt, oder scheint dir etwas der Natur des Menschen zu
widersprechen, was nicht gegen den Willen seiner Natur ist? Was ist aber dieser Wille? Du
kennst ihn. Hindert dich denn das, was dir zustößt, gerecht, hochherzig, besonnen, verständig,
vorsichtig im Urteil, truglos, bescheiden, freimütig zu sein, alle Eigenschaften zu haben, in
deren Besitz die Eigentümlichkeit der Menschennatur besteht? Denke also daran, bei allem,
was dir Traurigkeit verursachen könnte, bei dieser Wahrheit Zuflucht zu suchen: Dies ist kein
Unglück, Nicht der Tod ist ein Unglück, sondern die Furcht vor dem Tode. vielmehr ein
Glück, es mit edlem Mute zu ertragen.
50.
Es ist ein gewöhnliches, aber wirksames Hilfsmittel zur Todesverachtung, sich diejenigen zu
vergegenwärtigen, die mit Zähigkeit am Leben hingen. Was haben sie vor denen, die früher
verstorben sind, voraus? Sie sind auch unterlegen: Cadicianus, Fabius, Julianus, Lepidus
Männer, die ein hohes Alter erreichten. und alle, die viele zur Bestattung hinausgetragen
haben und dann selbst hinausgetragen worden sind. Ja, da ist wenig Unterschied, und unter
wie vielen Mühseligkeiten und in welcher Gesellschaft und in was für einem Körper mußten
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sie diese Zeit zubringen! Mache also nicht soviel Wesens davon! Schau auf das Unermeßliche
der Zeit hinter dir und auf eine andere Unendlichkeit vor dir! Was ist denn da noch für ein
Unterschied zwischen einem, der drei Tage, und einem anderen, der drei Menschenalter Wie
Homer von Nestor erzählt. gelebt hat?
51.
Geh immer den kürzesten Weg. Der kürzeste Weg ist der naturgemäße, das heißt in allen
Reden und Handlungen der gesunden Vernunft folgen. Ein solcher Entschluß befreit dich von
tausend Kümmernissen und Kämpfen, von jeder Verstellung und Eitelkeit.
Fünftes Buch.
33.
Wie bald, und du bist Asche und ein Knochengerippe und nur noch ein Name, oder selbst
nicht ein Name mehr ist übrig! Der Name aber ist bloßer Schall und Widerhall. Und die
geschätztesten Güter des Lebens sind eitel, modernd, unbedeutend, Hunden gleich, die sich
herumbeißen, und Kindern, die sich zanken, bald lachen und dann wieder weinen. Treue aber
und Scham, Gerechtigkeit und Wahrheitsliebe
– – zum Olymp der geräumigen Erde entflohen.Aus Hesiod.
Was gibt es also, das dich hier unten zurückhält? Alles Sinnliche ist ja so wandelbar und
unbeständig, die Sinne selbst sind aber voll trüber Eindrücke und leicht zu täuschen, und das
Seelchen ist selbst nur ein Aufdampfen des Blutes. Und nun unter solchen Menschen berühmt
sein – wie nichtig! Warum siehst du also nicht gelassen deinem Erlöschen oder deiner
Versetzung entgegen? Bis aber dieser Zeitpunkt sich einstellt, was bleibt übrig? Was anders,
als die Götter zu ehren und zu preisen, den Menschen aber wohl zu tun Also Gottesfurcht und
Menschenliebe ist das vornehmste Gebot. und sie zu dulden oder auch zu meiden und zu
bedenken, daß alles, was außerhalb der engen Grenzen deines Fleisches und Geistes liegt,
weder dir gehört noch von dir abhängt.
Neuntes Buch.
1.
Wer unrecht handelt, ist gottlos. Denn die Allnatur hat die vernünftigen Wesen füreinander
geschaffen, um einander nach Bedürfnis zu nützen, keineswegs aber zu schaden; wer also
ihren Willen übertritt, der frevelt offenbar gegen die ewige Gottheit. Auch wer lügt, frevelt
gegen dieselbe Gottheit. Denn die Allnatur ist das Reich des Seienden. Das Seiende aber steht
mit allem Vorhandenen in engster Verbindung. Ferner wird jene auch die Wahrheit selbst
genannt und ist tatsächlich der Urquell alles Wahren. Wer also vorsätzlich lügt, handelt
gottlos, insofern er auf betrügerische Weise unrecht handelt; wer es aber unvorsätzlich tut,
gleichfalls, insofern er mit der Allnatur nicht im Einklang steht und durch seinen Streit mit
der Weltnatur ihre Ordnung stört. Doch auch wider sich selbst streitet ein solcher, indem er
sich zum Wahrheitswidrigen hinreißen läßt. Denn er hatte bei seiner Bildung von der Natur
Abneigung dagegen erhalten, durch deren Vernachlässigung er nunmehr außerstande ist, das
Falsche von dem Wahren zu unterscheiden. Ferner handelt gottlos, wer den sinnlichen
Genüssen als Gütern nachjagt, vor den Leiden aber, als vor Übeln, flieht. Denn notwendig
kommt ein solcher oft in die Lage, sich über die allwaltende Natur zu beschweren, als teile sie
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den Lasterhaften und den Rechtschaffenen ihr Los nicht nach Verdienst zu; denn, wie oft
leben die Lasterhaften in Sinnenfreuden und verschaffen sich die Möglichkeiten dazu,
während die Rechtschaffenen dem Leid und dem anheimfallen, was Leiden schafft. Zudem
kann, wer sich vor Leiden fürchtet, auch nicht ohne Furcht in die Zukunft blicken, was schon
gottlos ist; und wer Sinnenfreuden nachjagt, wird sich vom Unrechttun nicht fernhalten, und
das ist vollends offenbare Gottlosigkeit. Wogegen sich aber die gemeinsame Natur
gleichgültig verhält – sie würde aber nicht beides hervorbringen, wenn sie sich nicht gegen
beides nach einerlei Regel verhielte – dem gegenüber müssen auch diejenigen, die der Natur
folgen wollen, Gleichgültigkeit beweisen. Jeder nun, der gegen Leid und Freude, Tod und
Leben, Ehre und Schande, deren sich die Allnatur gleichgültig bedient, sich nicht ebenfalls
gleichgültig verhält, der handelt offenbar gottlos. Die gemeinsame Natur aber, sage ich,
bedient sich derselben nach einerlei Regel, darunter ist zu verstehen, diese Veränderungen
widerfahren der Naturordnung gemäß den jetzt wie den künftig Lebenden nach einerlei Regel,
und zwar schon zufolge einer uranfänglichen Bestimmung der Vorsehung, nach der sie schon
von Anfang an zu allen möglichen Veränderungen der Dinge den Grund legte, indem sie
gewisse Grundstoffe der werdenden Dinge zusammenfaßte und die erzeugenden Kräfte der
Substanzen selbst, ihrer Verwandlungen und ihrer derartigen Aufeinanderfolge beschloß.
2.
Das würde der vollkommenste Mensch sein, der aus dem Kreise der Menschen schiede, rein
von Lügengerede, von Heuchelei, Üppigkeit und Hoffart. Der zweite Rang, nächst ihm,
gebührt dem, der mit Abscheu gegen diese Dinge lieber den Geist aushauchen als in der
Bösartigkeit beharren möchte. Oder ziehst du es vor, unter der Schlechtigkeit zu verkommen,
und hat dich selbst die Erfahrung noch nicht gelehrt, dieser Pest zu entfliehen? Denn die
Verderbnis deiner Denkkraft ist eine Pest und zwar eine noch viel schlimmere als die
Verdorbenheit der uns umgebenden Luft und der plötzliche Wechsel des Dunstkreises; denn
letzterer ist nur eine Pest für tierische Wesen, insofern sie Tiere sind, jene aber für Menschen,
insofern sie Menschen sind.
3.
Verachte den Tod nicht, vielmehr sieh ihm mit Ergebung entgegen, als einem Gliede in der
Kette der Veränderungen, die dem Willen der Natur gemäß sind. Denn jung sein und altern,
heranwachsen und mannbar werden, Zähne, Bart und graue Haare bekommen, zeugen,
schwanger werden und gebären und die anderen Tätigkeiten der Natur, wie sie die
verschiedenen Zeiten des Lebens mit sich bringen, sind ja dem Aufgelöstwerden gleichartig.
Daher ist es die Sache eines denkenden Menschen, sich gegen den Tod weder hartnäckig noch
abstoßend und übermütig zu zeigen, sondern ihm als einer der Naturwirkungen
entgegenzusehen. Wie du des Augenblicks harrst, wo das Kindlein aus dem Schoße deiner
Gattin hervorgehen soll, ebenso sollst du die Stunde erwarten, da deine Seele aus dieser ihrer
Hülle entweichen wird. Willst du aber ein allbekanntes, herzstärkendes Mittel anwenden, so
wird der Hinblick auf die Gegenstände, von denen du dich trennen sollst, und auf die
Menschen, durch deren Sitten deine Seele nicht mehr verdorben werden wird, dich mit dem
Tode vollkommen aussöhnen. Denn du sollst zwar an den Bösen möglichst wenig Anstoß
nehmen, vielmehr für sie sorgen und sie mit Sanftmut ertragen, indessen darfst du doch daran
denken, daß es nicht eine Trennung von gleichgesinnten Menschen gilt. Dies allein nämlich,
wenn irgend etwas, könnte uns anziehen und im Leben festhalten, wenn es uns vergönnt wäre,
mit Menschen zusammenzuleben, die sich dieselben Grundsätze angeeignet haben. Nun aber
siehst du ja mit eigenen Augen, wieviel Verdruß aus der Menschen Uneinigkeit entspringt, so
daß du wohl ausrufen möchtest: Komm doch schneller heran, lieber Tod, damit ich nicht etwa
noch meiner selbst vergesse!
11
4.
Wer sündigt, versündigt sich an sich selbst; begangenes Unrecht fällt auf den Urheber zurück,
indem er sich selbst verschlechtert.
5.
Oft tut auch der Unrecht, der nichts tut; wer das Unrecht nicht verbietet, wenn er kann,
befiehlt es.
6.
Genug, wenn das jedesmalige Urteil klar, die jedesmalige Tätigkeit gemeinnützig, die
jedesmalige Gemütsverfassung mit allem zufrieden ist, was aus natürlichen Ursachen sich
ereignet.
7.
Unterdrücke die bloße Einbildung; hemme die Leidenschaft; dämpfe die Begierde; erhalte die
königliche Vernunft bei der Herrschaft über sich selbst!
8.
Den vernunftlosen Wesen ist eine Seele, den vernünftigen aber eine denkende Seele zugeteilt,
sowie es auch für alle Erdgebilde nur eine Erde gibt und wir alle, die wir sehend und belebt
sind, von einem Lichte sehen und eine Luft einatmen.
9.
Alle Dinge, die irgend etwas Gemeinschaftliches haben, streben zur Vereinigung hin. Was
von der Erde ist, neigt sich zur Erde, alles Feuchte und gleichermaßen alles Luftige fließt
zusammen, so daß es der Gewalt bedarf, um solche Stoffe auseinanderzuhalten. Das Feuer
zwar hat vermöge des Elementarfeuers Darunter verstanden die Stoiker den Äther. seinen Zug
nach oben, aber doch ist es zugleich geneigt, mit jedem hier befindlichen Feuer sich zu
entzünden, so daß alle Stoffe, die nur einigermaßen trocken und also weniger mit dem
gemischt sind, was der Entzündung wehrt, leicht in Brand geraten. Ebenso nun, oder auch
noch mehr, strebt alles, was an der gemeinschaftlichen, vernünftigen Natur teil hat, seinem
Ursprunge zu. Denn je mehr ein Wesen über den übrigen die Oberhand behält, um so
geneigter ist es auch, mit dem Verwandten sich zu vermengen und zusammenzufließen.
Bereits auf der Stufe vernunftloser Wesen finden sich ja Schwärme, Herden,
Fütterungsanstalten für die Jungen und sogar gewissermaßen Liebschaften. Denn in ihnen
schon wohnen Seelen und findet sich daher auch jener Gemeinschaftstrieb in stärkerem
Grade, als er bei Pflanzen, Steinen oder Bäumen vorhanden ist. Bei vernünftigen Wesen aber
kommt es zu Staaten, Freundschaften, Familien, gesellschaftlichen Verbindungen und im
Kriege selbst zu Bündnissen und Waffenstillständen. Sogar bei noch höheren Wesen findet,
trotz ihrer sonstigen Abstände voneinander, doch Einigung statt, wie bei den Gestirnen; und
so kann der Aufschwung zum Höheren auch bei sonst getrennten Wesen Sympathie
hervorbringen. Betrachte nun den jetzigen Gang der Dinge. Die denkenden Wesen sind es
nämlich jetzt allein, die dieses Zueinanderstreben und Zusammenhalten vergessen, und bei
ihnen allein ist jenes Zusammenfließen nicht ersichtlich. Und doch – mögen sie sich
immerhin fliehen, sie umschließen sich dessenungeachtet Denn die Natur behauptet ihr
Herrscherrecht. Gib nur acht und du wirst, was ich sage, bestätigt finden. Denn eher dürfte
12
man ein Erdteilchen treffen, das von keinem andern Erdteilchen berührt wird, als einen
Menschen, der von einem anderen Menschen ganz abgeschieden ist.
10.
Alles trägt seine Frucht. Sowohl der Mensch als auch Gott und die Welt bringen Frucht
hervor, und zwar ein jegliches zu seiner Zeit. Mag auch der herrschende Sprachgebrauch
diesen Ausdruck nur beim Weinstock und bei ähnlichen Gegenständen anwenden –
gleichviel. Auch die Vernunft trägt Frucht fürs Ganze und für den einzelnen. Und aus dieser
Frucht gehen andere Erzeugnisse derselben Art hervor, wie die Vernunft.
11.
Vermagst du es, so belehre den Fehlenden eines Bessern; wo nicht, so denke daran, daß dir
für diesen Fall Nachsicht verliehen ist. Sind doch auch die Götter gegen solche nachsichtig, ja
sie sind ihnen sogar zu Gesundheit, Reichtum und Ehre behilflich. So gütig sind sie! Auch dir
steht es frei, hierin den Göttern zu gleichen, oder sprich: Wer hindert dich daran?
12.
Arbeite nicht, als wärest du dabei unglücklich, oder um bewundert oder bemitleidet zu
werden; wolle vielmehr nur das eine, deine Kraft in Bewegung setzen oder zurückhalten, so
wie es das Gemeinwesen erheischt.
13.
Heute bin ich allen Hindernissen entgangen, oder richtiger gesprochen, habe ich alle
Bedrängnisse zurückgewiesen; denn sie lagen ja nicht außer mir, sondern in mir, in meinen
Vorurteilen.
14.
Alles bleibt dasselbe, alltäglich in Rücksicht auf die Erfahrung, vorüberfliehend hinsichtlich
der Zeit, verächtlich hinsichtlich des Stoffs. Alles, was jetzt ist, war ebenso bei denen, die wir
beerdigt haben.
15.
Die sinnlichen Gegenstände sind außer uns, einsam stehen sie, sozusagen vor unserer Türe.
Sie wissen nichts von sich selbst, urteilen auch nicht über sich. Wer ist es denn, der über sie
urteilt? Unsere Vernunft.
16.
Nicht auf Einbildung, sondern auf sein Wirken gründet sich das Wohl und Weh eines
vernünftigen, geselligen Wesens, gleichwie auch Tugend und Laster bei ihm nicht auf einem
leidenden Zustande, sondern auf Tätigkeit beruhen.
17.
Für den emporgeworfenen Stein ist es ebensowenig ein Übel herabzufallen, wie ein Gut, in
die Höhe zu fliegen. Vgl. V 11 I., 20.
13
18.
Dringe in das Innere der Menschenseelen ein, und du wirst sehen, vor was für Richtern du
dich fürchtest, und was für Richter sie über sich selbst sind.
19.
Alles im Verwandlungszustand! Auch du selbst in stetem Wechsel, ja gewissermaßen in
zunehmender Verwesung; ebenso die ganze Welt.
20.
Das Vergehen eines andern muß man da lassen, wo es ist. Vgl. VII., 29.
21.
Das Aufhören einer Tätigkeit, der Stillstand der Triebe und Meinungen, schon eine Art von
Tod, ist kein Übel. Geh einmal zu deinen verschiedenen Lebensstufen über; du wurdest Kind,
Jüngling, Mann, Greis, und es war ja auch jeder Wechsel von diesen ein Tod. Ist das etwas
Schreckliches? Denke jetzt an die Zeit zurück, die du noch unter deinem Großvater, nachher
unter deiner Mutter und dann unter deinem Vater verlebt hast, und wenn du nun alle
Trennungen, Umwandlungen und Auflösungen, die mit dir vorgegangen sind, erwägst, so
frage dich selbst: War daran etwas Schreckliches? Ebensowenig wird auch das Aufhören, der
Stillstand und die Umwandlung deines ganzen Lebens schrecklich sein.
22.
Forschend wende dich deiner eigenen Seele, der Seele des Weltganzen und deines Nächsten
zu: deiner eigenen Seele, um ihr Sinn für Gerechtigkeit einzuflößen, der Seele des
Weltganzen, um dich zu erinnern, du seiest ein Teil davon, der Seele deines Nächsten, um zu
erkennen, ob derselbe unwissentlich oder wissentlich gehandelt habe, und zugleich zu
bedenken, daß sie der deinigen verwandt ist.
23.
Wie du selbst als ein ergänzender Teil zur menschlichen Gesellschaft gehörst, so soll auch
jede deiner Handlungen im bürgerlichen Leben eine Ergänzung bilden. Hat eine oder die
andere deiner Handlungen keinen näheren oder entfernteren Bezug auf das Ziel des
allgemeinen Nutzens, so bringt sie Verwirrung in dein Leben, verhindert seine Einheit und ist
von so aufrührerischer Art, wie ein Mensch, der in einer Volksversammlung durch seine
einzelne Person die ganze Einstimmigkeit hindert.
24.
Wie Knabenzänkereien und Kinderspiele – so flüchtig sind unsere Lebensgeister, mit
Leichnamen belastet. Was ist da die Totenfeier! Da die Menschen nach Sophokles schon auf
Erden flüchtige Schatten und Scheingestalten sind, so kann ihr Hingang in das Reich der
Schatten, d. h. die Unterwelt, nichts Furchtbares haben. –
14
25.
Untersuche die Beschaffenheit der ursächlichen Kraft jedes Gegenstandes, denke ihn bei
deiner Betrachtung von seinem Stoffe getrennt und bestimme dann die längste Zeit, die er bei
seiner eigentümlichen Beschaffenheit vielleicht bestehen kann.
26.
Du hast viel Not und Schmerz ertragen müssen, weil es dir nicht genügte, daß deine Vernunft
ihrer Beschaffenheit gemäß handeln sollte. Nun genug hiervon; mißbrauche sie nicht mehr.
27.
Wenn dich jemand schmäht oder haßt oder man aus solch einem Grunde allerlei Gerüchte von
dir aussprengt, so tritt den Seelen dieser Leute näher, dringe in ihr Inneres ein und sieh, wie
sie geartet sind, und du wirst finden, daß du dich nicht zu beunruhigen brauchst, wenn solche
Leute so von dir urteilen. Dennoch aber bist du ihnen Wohlwollen schuldig; denn von Natur
sind sie deine Freunde und Nächsten, und auch die Götter sind ihnen in allerlei Weise, zum
Beispiel durch Träume Es war ein Aberglaube der Heiden, daß ihnen bei Krankheiten die
Götter im Traume ein Heilmittel offenbarten. und durch Orakelsprüche, zu dem behilflich,
woran ihnen so viel gelegen ist.
28.
Aufwärts, niederwärts, alles in der Welt ist in demselben Kreislauf von Jahrhundert zu
Jahrhundert. Entweder ist nun die Vernunft des Weltganzen bei jeder Veränderung wirksam,
und wenn sie dies ist, so sei dir, was sie hervortreibt, willkommen, oder sie hat sich nur ein
für allemal schöpferisch erzeigt, das übrige aber ist, nach einer notwendigen Aufeinanderfolge
gewissermaßen eines in dem andern begründet und enthalten; oder das Ganze ist nur ein
Gewirr von Atomen oder unteilbaren Teilchen. Kurz, gibt es einen Gott, so steht alles gut;
herrscht aber das Ungefähr, so folge du doch keinem blinden Ungefähr. Bald wird die Erde
uns alle bedecken; hierauf wird auch sie selbst sich verwandeln und so fort bis ins
Unendliche. Denn wer diese übereinander wogenden Fluten von Verwandlungen und
Veränderungen mit ihrer reißenden Schnelligkeit erwägt, der wird alles Sterbliche gering
achten.
29.
Die Urkraft des Weltganzen ist wie ein gewaltiger Strom, der alles mit sich fortreißt. Wie
unbedeutend sind selbst diejenigen Staatsmänner, die die Geschäfte nach den Regeln der
Weltweisheit zu lenken wähnen! O Eitelkeit! Was willst du, Mensch? Tue doch, was gerade
jetzt die Natur von dir fordert. Wirke, solange du kannst, und blicke nicht um dich, ob's einer
auch erfahren wird. Hoffe auch nicht auf einen platonischen Staat, Platos Republik. Dieser
Idealstaat sollte die vollkommenste Vereinigung der Menschen unter dem Gesetze der
Vernunft sein, worin Sittlichkeit und Glückseligkeit in der vollkommensten Harmonie
angetroffen würden. sondern sei zufrieden, wenn es auch nur ein klein wenig vorwärts geht,
und halte auch einen solchen kleinen Fortschritt nicht für unbedeutend. Denn wer kann die
Grundsätze der Leute ändern? Was ist aber ohne eine Änderung der Grundsätze anders zu
erwarten als ein Knechtsdienst unter Seufzen, ein erheuchelter Gehorsam? Und nun komm
und sprich mir von einem Alexander, Philipp Philipp von Mazedonien. und Demetrius von
Phalerum. Demetrius, geb. 345, ausgezeichnet als Redner, Staatsmann und Philosoph, eine
Zeitlang der Abgott der wankelmütigen Athener. Wie steht's damit, ob sie den Willen der
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Allnatur erkannt haben und ihre eigenen Erzieher geworden sind? Haben sie aber nur eine
Schauspielerrolle gespielt, so verdammt mich niemand dazu, sie ihnen nachzuspielen. Die
Philosophie lehrt mich Einfachheit und Bescheidenheit; fort mit vornehmtuender
Aufgeblasenheit!
30.
Wie von einer Anhöhe aus betrachte die unzähligen Volkshaufen mit ihren unzähligen
Religionsgebräuchen, die Seefahrten nach allen Richtungen unter Stürmen und bei ruhiger
See und die Verschiedenheiten zwischen den werdenden, mit uns lebenden und
dahinschwindenden Wesen. Betrachte auch die Lebensweise, wie sie vormals herrschend war,
wie sie nach dir sein wird und wie sie jetzt unter unkultivierten Völkerschaften herrscht.
Ferner, wie viele nicht einmal deinen Namen kennen, wie viele ihn gar bald vergessen, wie
viele, jetzt vielleicht deine Lobredner, nächstens deinen Tadel anstimmen werden, und wie
weder der Nachruhm noch das Ansehen noch sonst etwas von allem, was dazu gehört,
Beachtung verdient.
31.
Zeige Gemütsruhe den Dingen gegenüber, die von äußeren Ursachen herkommen, und
Gerechtigkeit bei denen, die von deiner eigenen Tatkraft bewirkt werden, das heißt, dein
Streben und Tun soll kein anderes Ziel haben als das allgemeine Beste; denn das ist deiner
Natur gemäß.
32.
Viele unnötige Anlässe zu deiner Beunruhigung, die nur auf deiner falschen Vorstellung
beruhen, kannst du aus dem Weg schaffen und dir selbst unverzüglich einen weiten Spielraum
eröffnen; umfasse nur mit deinem Geiste das ganze Weltall, betrachte die ewige Dauer und
dann wieder die rasche Verwandlung jedes einzelnen Gegenstandes; welch kurzer Zeitraum
liegt zwischen der Entstehung und Auflösung der Geschöpfe; wie unermeßlich ist die Zeit, die
ihrer Entstehung voranging, wie unendlich gleicherweise die Zeit, die ihrer Auflösung folgen
wird!
33.
Alles, was du siehst, wird sich bald verändern, und die, welche diesen Veränderungen
zuschauen, werden selbst auch sehr bald vergehen, und derjenige, der in einem hohen Alter
stirbt, wird vor einem Frühverstorbenen nichts voraus haben.
34.
Sieh stets auf die herrschenden Grundsätze der Menschen, auf die Gegenstände ihrer
Bemühungen und die Beweggründe ihrer Zuneigung und Wertschätzung, mit einem Wort,
suche ihre Gemüter ohne alle Hülle zu erkennen. Wenn sie glauben, durch ihren Tadel zu
schaden oder durch ihre Lobpreisungen zu nützen, welch ein Wahn!
35.
Ein Verlust ist weiter nichts als eine Umwandlung, und daran findet die Allnatur Vergnügen,
sie, die alles mit so großer Weisheit tut, von Ewigkeit her gleicherweise tat und ins
Unendliche so tun wird. Wie kannst du nun sagen, alles, was auch geschehen sei oder immer
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geschehen werde, sei schlecht und folglich unter so vielen Göttern nie ein Vermögen
aufzufinden gewesen, um diese Zustände zu verbessern, vielmehr sei die Welt verdammt, in
den Banden unaufhörlicher Übel zu verharren.
36.
Der Stoff jedes Gegenstandes ist Fäulnis: Wasser, Staub, Knochen, Unflat. Die
Marmorbrüche sind nur Verhärtungen der Erde, Gold und Silber nur Bodensatz, unsere
Kleidung Tierhaare, Purpur Blut, und so verhält sich's mit allem übrigen. Selbst der
Lehensgeist gehört in diese Klasse, weil auch er einer steten Umwandlung unterworfen ist.
37.
Genug des elenden Lebens, des Murrens und des lächerlichen Benehmens. Was beunruhigt
dich? Was findest du hier so unerhört? Was macht dich ängstlich? Die ursächliche Kraft der
Dinge? Beobachte sie nur! Aber vielleicht der Stoff? Besieh ihn nur! Außer diesen aber gibt
es ja nichts. Sei also doch endlich einmal argloser und freundlicher gegen die Götter! Ist es ja
einerlei, ob du hundert oder nur drei Jahre lang den Lauf der Welt betrachtest.
38.
Hat jemand sich vergangen, so ist das sein Schade; vielleicht aber hat er sich nicht einmal
vergangen. Wir sollen also nicht vorschnell über unsere Nebenmenschen urteilen.
39.
Entweder ist ein denkendes Wesen die Urquelle, von der dem ganzen Weltall, als einem
Körper, alles zuströmt, und alsdann darf sich der Teil über dasjenige, was zum Nutzen des
Ganzen geschieht, nicht beklagen, oder das All ist ein Gewirr von Atomen, eine zufällige
Mischung und dann wieder Trennung; wozu dann deine Unruhe? Sprich eben zu deiner Seele:
Du bist tot, bist nur Schein und Verwesung, denkst nur wie ein Tier, deinen Hunger zu stillen
und deine Bedürfnisse Zu befriedigen.
40.
Entweder vermögen die Götter nichts, oder sie vermögen etwas. Wenn sie nun nichts
vermögen, warum betest du? Sind sie aber mächtig, warum flehst du sie nicht, statt um
Abwendung dieses oder jenes Übels oder um Verleihung dieses oder jenes Gutes, vielmehr
um die Gabe an, nichts von alle dem zu fürchten oder zu begehren oder darüber zu trauern?
Denn wenn sie überhaupt den Menschen zu helfen vermögen, so können sie auch dazu
verhelfen. Aber vielleicht entgegnest du: Das haben die Götter in meine Macht gestellt. Nun,
ist es da nicht besser, das, was in deiner Macht steht, mit Freiheit zu gebrauchen, als zu dem,
was nicht in deiner Macht steht, mit sklavischer Erniedrigung dich hinreißen zu lassen? Wer
hat dir denn aber gesagt, daß die Götter uns in dem, was von uns abhängt, nicht zu Hilfe
kommen? Fange doch nur einmal an, um solche Dinge zu beten, und du wirst sehen. Der
fleht: Wie erlange ich doch die Gunst jener Geliebten? Du: Wie entreiße ich mich dem
Verlangen danach? Der: Wie fange ich's an, um von jenem Übel frei zu werden? Du: Wie
fange ich's an, um der Befreiung davon nicht zu bedürfen? Ein anderer: Was ist zu tun, daß
ich mein Söhnchen nicht verliere? Du: Was ist zu tun, daß ich seinen Verlust nicht fürchte?
Mit einem Wort: Gib allen deinen Gebeten eine solche Richtung, und du wirst den Erfolg
sehen.
17
41.
Während meiner Krankheit, sagt Epikur, unterhielt ich mich nicht über meine körperlichen
Leiden, auch sprach ich nicht mit denen, die mich besuchten, davon; vielmehr setzte ich
meine früher angefangenen Naturforschungen fort und beschäftigte mich hauptsächlich mit
der Frage, wie die denkende Seele, trotz ihrer Teilnahme an den Empfindungen des Körpers,
unerschütterlich bleiben und das ihr eigentümliche Gut bewahren könne. Auch gab ich, fährt
er fort, den Ärzten keine Veranlassung, sich damit zu brüsten, als hätten sie Wunder was an
mir getan; vielmehr führte ich auch damals ein gutes und heiteres Leben. Tue es ihm nur nach
in Krankheitsfällen und in allen Lagen des Lebens. Den Grundsatz haben ja alle Schulen
gemein, bei allen möglichen Vorkommnissen der Philosophie nicht untreu zu werden und in
das Geschwätz unwissender, der Natur unkundiger Menschen nicht einzustimmen, vielmehr
nur auf das, was gerade jetzt zu tun ist, und die zu dessen Ausführung dienlichen Hilfsmittel
achtzuhaben.
42.
Sooft du an der Unverschämtheit jemandes Anstoß nimmst, frage dich sogleich: Ist es auch
möglich, daß es in der Welt keine unverschämten Leute gibt? Das ist nicht möglich. Verlange
also nicht das Unmögliche. Jener ist eben einer von den Unverschämten, die es in der Welt
geben muß. Dieselbe Frage sei dir zur Hand hinsichtlich der Schlauköpfe, der Treulosen und
jedes Fehlenden. Denn sobald du dich daran erinnerst, daß das Dasein von Leuten dieses
Gelichters nun einmal nicht zu verhindern ist, wirst du auch gegen jeden einzelnen derselben
milder gesinnt werden. Auch das frommt, wenn man sogleich bedenkt, welche Tugend die
Natur dem Menschen diesen Untugenden gegenüber verliehen hat. So verlieh sie ja dem
Rücksichtslosen gegenüber, als eine Art Gegengift, die Sanftmut, und wieder einem andern
eine andere Gegenkraft, und im ganzen steht es in deiner Gewalt, den Irrenden den rechten
Weg zu zeigen. Jeder Fehlende aber irrt, insofern er sein Ziel verfehlt. Und nun, welchen
Nachteil hast du dadurch erlitten? Du wirst finden, daß keiner von denen, über die du dich so
sehr ereiferst, durch irgendeine seiner Übeltaten deine denkende Seele hat verschlechtern
können, vielmehr haben eben in dieser dein Übel und dein Schaden ihren vollen Grund. Wenn
aber ein ungebildeter Mensch eben wie ein Ungebildeter sich beträgt, was ist denn Schlimmes
oder Seltsames daran? Sieh zu, ob du nicht vielmehr dich selbst deshalb anklagen solltest, daß
solch ein fehlerhaftes Benehmen von diesem Menschen dir so unerwartet kam. Gab dir ja
doch deine Vernunft Anlaß genug zu dem Gedanken, daß es wahrscheinlich sei, er werde sich
so vergehen, und dennoch vergaßest du das und wunderst dich jetzt, daß er sich vergangen
hat. Besonders aber, sooft du dich über Treulosigkeit und Undank von jemand zu beschweren
hast, richte deinen Blick auf dein eigenes Innere. Denn offenbar liegt hier der Fehler auf
deiner Seite, wenn du einem Menschen von dieser Gesinnung zutrautest, daß er sein Wort
halten werde, oder wenn du ihm nicht ohne allerlei Nebenabsichten eine Wohltat erzeigtest
und nicht vielmehr in dem Gedanken, daß du von deiner Handlung selbst schon alle Frucht
eingeerntet habest. Denn was willst du noch weiter, wenn du einem Menschen eine Wohltat
erwiesen hast? Genügt es dir nicht, daß du deiner Natur gemäß etwas getan hast, sondern
verlangst du noch eine Belohnung dafür? Als ob das Auge dafür, daß es sieht, oder die Füße
dafür, daß sie gehen, einen Lohn fordern könnten! Denn wie diese Glieder dazu geschaffen
sind, daß sie im Vollzug ihrer natürlichen Verrichtungen ihren Zweck erfüllen, so erfüllt auch
der Mensch, zum Wohltun geboren, sooft er eine Wohltat erweist oder etwas für den
allgemeinen Nutzen Förderliches leistet, seinen natürlichen Zweck und empfängt damit das
Seinige.
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Zehntes Buch.
5. Alles, was dir widerfahren mag, war dir von Ewigkeit her so bestimmt, und die Verkettung
der Ursachen hat von Anfang an dein Dasein und dieses dein Geschick miteinander verknüpft.
6. Mag man nun die Welt als ein Gewirr von Atomen oder ein geordnetes Ganze ansehen, so
steht doch soviel fest: ich bin ein Teil des Ganzen, das unter der Herrschaft der Natur steht;
und zugleich bin ich notwendig mit allen mir gleichartigen Teilen in engem Zusammenhang.
Denn jenes ersten Grundsatzes eingedenk, werde ich mit nichts unzufrieden sein, was mir als
einem Teile vom Ganzen zugeteilt wird; kann ja doch nichts dem Teile schädlich sein, was
dem Ganzen zuträglich ist; denn das Ganze enthält nichts, was nicht ihm selbst zuträglich
wäre. Es gibt nichts im Weltsystem, was nicht dem Weltsystem diente. Dies haben alle
Naturwesen miteinander gemein, und die Weltnatur hat noch den weiteren Vorzug, daß sie
durch nichts von außen her gezwungen werden kann, etwas ihr selbst Schädliches zu
erzeugen. Weil es außer der Welt nichts gibt. Denke ich also nur daran, daß ich ein Teil eines
solchen Ganzen bin, so werde ich mit allem, was sich ereignet, zufrieden sein. Sofern ich aber
mit den mir gleichartigen Teilen in enger Verbindung stehe, werde ich nichts gegen das
Gemeinwohl tun, vielmehr werde ich, mit steter Rücksicht auf meine Mitmenschen, mein
Streben ganz auf das allgemeine Beste richten und vom Gegenteil ablenken. Bei solcher
Ausführung dieser Vorsätze muß mein Leben glücklich dahinfließen, so glücklich, wie der
Wahrnehmung nach das Leben eines Bürgers dahinfließt, der von einer seine Mitbürger
beglückenden Tat zur andern fortschreitet und alles, was ihm der Staat nur auferlegt, mit
Freuden übernimmt.
7. Alle Teile des Universums, das heißt alles, was die Welt in sich begreift, müssen notwendig
zerstört oder, mit einem bezeichnenderen Ausdrucke, umgewandelt werden. Wäre nun dies
für sie von Natur ein Übel und zwar ein notwendiges Übel, so hätte das Weltall bei dem steten
Übergang seiner Teile zur Veränderung und ihrer vorherrschenden Bestimmung zur
Zerstörung keine weise Einrichtung erhalten. Sollte aber wohl die Allnatur selbst die
Einrichtung getroffen haben, ihren eigenen Teilen Übles zuzufügen, ja, sie nicht nur ins Übel
zu stürzen, sondern diesen ihren Sturz sogar notwendig zu machen? Oder sollte es ihr
verborgen geblieben sein, daß so etwas eintreten wird? Beides ist ja unglaublich. Doch wenn
jemand, von der Allnatur absehend, diese Umwandlungen bloß aus der natürlichen
Einrichtung der Dinge herleiten wollte, so wäre es bei alle dem lächerlich, einerseits zu
behaupten, daß die Teile des Ganzen vermöge ihrer natürlichen Anlage sich verwandeln
müssen, und anderseits über manches Ereignis als naturwidrig sich zu verwundern oder zu
ärgern, zumal da die Auflösung in diejenigen Teile erfolgt, aus denen jedes Ding entstanden
ist, sei diese nun eine Zerstäubung der Grundstoffe, woraus dasselbe zusammengesetzt ward,
oder ein Übergang zum Beispiel der festen Teile in das Erdige, der geistigen in das Luftige, so
daß auch diese in den Keimstoff des Weltganzen aufgenommen wurden, mag nun dieses nach
einem bestimmten Kreislauf der Zeit in Feuer auflodern oder sich durch ewige
Umgestaltungen wieder erneuern. Denke aber nicht etwa, daß jene festen und geistigen Teile
deiner auflösbaren Konstitution von Geburt an dir ankleben, vielmehr ist dir ja dieses alles
erst von gestern oder vorgestern durch die Speisen und durch die eingeatmete Luft
zugeflossen. Nur das mithin, was auf solche Art deine Natur angenommen, nicht aber das,
was von der Mutter Natur dir angeboren ist, wird umgewandelt. Wolltest du aber auch
vorgeben, daß diese jenes mit deiner besondern Eigentümlichkeit so eng verflochten habe, so
halte ich dies Vorgeben in der Tat für einen nichtigen Einwurf gegen das Gesagte.
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