Antonio Tabucchi: "Erklärt Pereira"

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Antonio Tabucchi: "Erklärt Pereira"
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WOZ DIE WOCHENZEITUNG NR. 46
12. NOVEMBER 2009
KULTUR
AGENDA
IMMER UND EWIG
«Erklärt Pereira»
Leben in Tel Aviv: Alila, eine überdrehte Polizeioffizierin, steht im Zentrum des Spielfilms «Alila» (2003) von Amos Gitai.
FILM
100 Jahre Tel Aviv
Vor hundert Jahren trafen sich auf einer
Sanddüne die «Gründer» der Stadt Tel
Aviv. Quasi aus dem Nichts wurde die erste jüdische Stadt der Moderne geschaffen, eine Stadt von Einwander-Innen aus
aller Welt, real gewordene zionistische
Utopie – eine multikulturelle Weltstadt
voller Widersprüche, geprägt von der
Architektur des frühen «International
Style» und des Bauhauses.
Das Jüdische Museum Hohenems
feiert den Geburtstag mit einer Retrospektive: «Tel Aviv im Film». Begleitet
von den Filmexperten Stewart Tryster,
Frank Stern, Ronny Loewy und Filmemacherin Nurit Sharett lädt die Reihe
zu einem Streifzug durch Geschichte und Gegenwart der Stadt ein. Den
Anfang macht am 17. November die
Europapremiere des Films «Agada Bacholot» («Legends in the Sands») von
Yaacov Gross. adr
lichkeit beschäftigt. Am Freitag, 13.
November, findet im Anschluss an die
Filmvorführung eine Gesprächsrunde
zum Thema Homosexualität im Fussball statt mit Tanja Walther-Ahrens,
ehemalige Profispielerin und Botschafterin der European Gay & Lesbian Sport
Federation (EGLSF), Ronny Blaschke,
Buchautor von «Der Versteckspieler»,
und Simon Weber, Mitglied von Wankdorf Junxx, dem schwul-lesbischen Fanclub der Young Boys. süs
miert. Culture Scapes stellte seit 2003
Georgien, die Ukraine, Armenien, Estland, Rumänien und die Türkei ins
Zentrum.
Im Berner Kulturzentrum Progr sind
Fotos der 1977 in Baku geborenen Rena
Effendi zu sehen. Als Übersetzerin für
die Azerbeijan International Oil Company kam sie als Neunzehnjährige mit
der Baku-Ceyhan-Pipeline in Kontakt.
Zuerst fotografierte sie im Auftrag von
British Petroleum für einen Kalender,
dabei wurde sie auf die Lebensbedingungen der Menschen aufmerksam, die
im Umland der Leitung lebten.
Als freie Fotografin folgte sie sechs
Jahre lang der 1700 Kilometer langen
Transportleitung. Sie beginnt im Kaspischen Meer vor Baku, streift Tiflis,
zieht eine Schleife über das türkische
Erzurum und findet bei Ceyhan am Mittelmeer ihren Hafen.
Im Fotoband mit dem Titel «Pipe
Dreams» sind die Auswirkungen der
Ölindustrie auf den Alltag der Leute
entlang der Röhre dokumentiert. Die
Pipeline hat die AnwohnerInnen zu
Queersicht in: BERN, Cine ABC, Cinematte,
Kino in der Reitschule, Kino ABC,
Kino Kunstmuseum, Progr, Do, 12. bis Mi,
18. November. www.queersicht.ch
FEST
15 Jahre Mädchenhaus
«Tel Aviv: Die ersten hundert Jahre» in:
HOHENEMS Jüdisches Museum DORNBIRN
Spielboden BREGENZ Filmforum FELDKIRCH
TaS-Kino, Di, 17. November, bis Di, 1.
Dezember. www.jm-hohenems.at
AUSSTELLUNG
«Ist ein Messer verrostet, ist alles vorbei; alles, was schlimm hätte sein können, hat der Rost verhindert für alle
Zeiten», schreibt Pedro Lenz im Text
«Verjährte Blutrache». Der Text ist in
einem kleinen, feinen Büchlein mit dem
Titel «Blind Dates» erschienen, in dem
auch Texte von Sandra Künzi, Sabine
Wen-Ching Wang, Christoph Simon,
Rolf Hermann und Raphael Urweider
abgedruckt sind.
Die AutorInnen haben sich von einer Ausstellung des Filmemachers Felix Tissi und der Tänzerin Cécile Keller inspirieren lassen. Tissi und Keller
sammelten auf dem Brachland des abgebrochenen Berner Schlachthofs übersehene Schätze: Nägel, Türklinken,
Gabeln, Zahnspangen ... Sie trugen die
verrosteten Gegenstände nach Hause,
gaben ihnen Namen und hauchten ihnen neues Leben ein. Im Januar wurden
die Objekte im «Raum» in Bern gezeigt,
gleichzeitig wurden sechs AutorInnen
eingeladen, sich von den «Rosties» inspirieren zu lassen.
Daraus entstanden ist auch eine
schöne Kunst- und Literaturbox mit 48
Kunstkarten, auf denen die Gegenstände abgebildet sind. süs
«Tinu im Reich der Sinne – kleine Archetypologie des Rostes» in: BERN Raum,
Militärstrasse 60, Di, 17. November,
18 Uhr. www.kulturraum.ch
Röhrenträume
Im Rahmen der Veranstaltungsreihe
Culture Scapes zu Aserbaidschan, die
in verschiedenen Schweizer Städten
Ableger hat, wird mit Ausstellungen,
Filmen, Konzerten und Vorträgen über
das Land am Kaspischen Meer infor-
FOTO: RENA EFFENDI
«Rosties»
«Kleines Mädchen bei Hochzeitsfeier
in Marneuli, Georgien, 2006».
Menschen zweiter Klasse degradiert.
Ihre Interessen werden denjenigen der
Pipeline untergeordnet. Träume und
Hoffnungen haben sich in Nichts aufgelöst. ibo
RENA EFFENDI: «Pipe Dreams – Eine Chronik
des Lebens entlang der Pipeline».
Benteli Verlag. Bern 2009. 184 Seiten.
112 Duplex-Aufnahmen. 58 Franken.
«Eine Chronik des Lebens entlang der
Pipeline» in: BERN Progr, Mi, 18. November, 18 Uhr, Vernissage und Buchpräsentation. Mi–Sa, 16–20 Uhr. Bis 5. Dezember.
www.culturescapes.ch
FESTIVAL
Queersicht
Das lesbisch-schwule Filmfestival
Queersicht wartet auch in seiner 13. Ausgabe mit einem vielfältigen Programm
auf. Eröffnet wird mit dem Spielfilm «El
Niño Pez» der argentinischen Filmemacherin Lucia Puenzo. Neben weiteren
Langspiel- und Dokumentarfilmen bilden die Kurzfilme das Herzstück des Festivals. In drei Blöcken werden Kurzfilme
aus aller Welt gezeigt, die das lesbischschwule Leben zum Thema haben.
Der deutsche Fernsehjournalist Aljoscha Pause hat sich in seinen Filmen
«Das grosse Tabu» und «Tabubruch»
mit der Schwulen- und Lesbenfeind-
Seit fünfzehn Jahren gibt es in Zürich
das Mädchenhaus, die einzige hiesige
Kriseninterventionsstelle für Mädchen
und junge Frauen, die sexuelle, psychische und physische Gewalt in ihrem
Elternhaus erleben. Rund fünfzig Frauen finden hier jährlich Unterschlupf,
viele andere kommen, um sich beraten
zu lassen. Darüber hinaus macht das
Mädchenhaus auch gezielt Öffentlichkeitsarbeit, um einen Beitrag zur Enttabuisierung von sexueller Ausbeutung sowie psychischer, physischer und
struktureller Gewalt an Mädchen und
jungen Frauen zu leisten.
Sein 15-jähriges Bestehen feiert das
Mädchenhaus mit einem Fest, an dem
die Frauenband Delilahs und Evelynn
Trouble auftreten und die Luzerner DJ
Miss Brownsugar Musik zum Tanzen
auflegt. süs
15 Jahre Mädchenhaus in: ZÜRICH Stall 6,
Gessnerallee, Fr, 13. November, 20.30 Uhr.
www.maedchenhaus.ch / www.stall6.ch
PHILOSOPHIE
Zuhause?
«Wo wohne ich?»: Diese Frage steht am
Anfang der fünften Bieler Philosophietage. ReferentInnen wie Annemarie
Piper, Hans-Martin Schönherr-Mann,
Günter Figal, Mireille Lévy oder Bernard Crettaz begeben sich mit dem Publikum auf eine Odyssee. Mögliche Antworten auf die vermeintlich einfache
Grundfrage zu finden, ist das eine Ziel
der Diskurse, Podien und Ateliergespräche in verschiedenen Kulturorten
in der zweisprachigen Stadt. Auf weitere
Fragen zu stossen, das andere: Kann ich
den Ort meines Lebens noch verändern? Wie prägt unser Lebensraum unser Denken? Werden virtuelle Welten
mehr und mehr unsere neue Heimat?
Bin ich zuhause?
Wer am Ende der Tagung noch immer
nicht weiss, wo er wohnt, dem sei zur
geistigen Entspannung der Sonntagsspaziergang mit den philosophischen
WegbegleiterInnen Dominique Plüss,
Raimund Rodewald und Peter Streiff
empfohlen. adr
5. Bieler Philosophietage in: BIEL Filmpodium, Stadttheater, Genossenschaftsbeiz
St. Gervais, Théâtre de Poche, Fr, 13., bis
So, 15. November. www.philosophietage.ch
Dass Antonio Tabucchis Roman «Erklärt Pereira» von1994 mit diversen
Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, erstaunt kaum. Erstens widmet
er sich politisch korrekt dem Faschismus, zweitens geht es um die politische Sprengkraft von Literatur, und
das lesen LiteraturjurorInnen natürlich gern. Doch trotz des Verdachts,
dass hier ein bewährtes Erfolgsrezept
angewendet wird, ist die Geschichte
gerade in ihrer Einfachheit bestechend.
Tatort ist Lissabon um 1938.
Die Salazar-Diktatur geht immer
radikaler gegen KritikerInnen vor.
Bespitzelung, Zensur und Antisemitismus beherrschen das Klima. Der
Journalist Dr. Pereira versucht, dieser
Realität zu entkommen, indem er sich
in die Vergangenheit verkriecht: Er
spricht mit dem Bild seiner verstorbenen Frau, übersetzt französische
Literatur des 19. Jahrhunderts und
schreibt Kolumnen über tote Dich-
BUCH
ter. Erst die Begegnung mit einem
jungen Doktoranden, der sich mit
halsbrecherischem Idealismus für
die Revolution einsetzt, bringt einen
Prozess in Gang, der Pereira langsam,
aber unaufhaltsam in die Gegenwart
befördert.
Doch wem und warum erklärt
Pereira seine Wandlung vom stillen Duckmäuser zum Mithelfer des
bewaffneten Widerstands? Zu befürchten ist, dass ihm die Flucht nach
Frankreich, zu der er sich am Ende
des Buches entscheidet, nicht gelang,
dass sein gefälschter Pass aufflog und
er sich vor der Polizei rechtfertigen
muss. Das wäre eine bittere Wendung
für einen Roman, der vorgibt, Pereiras Veränderung zu befürworten. Und
es müsste ein sehr böser Autor sein,
der seine Figur für ihre mustergültige
Emanzipation den faschistischen
Schergen ausliefert. Vielleicht versucht der Mann, sich selber zu verstehen? Oder ein Schriftsteller rechtfertigt die erstaunliche Entwicklung
seiner Figur? Auf jeden Fall wird hier
mehr verhandelt als auf einer Polizeistation, und gerade dass Pereira sein
Verhalten meist selber nicht versteht,
macht ihn so glaubwürdig.
Martina Süess
ANTONIO TABUCCHI: «Erklärt Pereira».
Deutscher Taschenbuch Verlag.
München 1997. 224 Seiten. Fr. 13.95.
CD
Bondys Premiere
BLK JKS
Da schreibt ein berühmter Regisseur
einen Roman, aber
sein Held ist ein
Niemand: der treue,
opportunistische
Mitarbeiter eines
grossen Regisseurs,
sozusagen sein
Schatten. Diese
Konstellation liefert Luc Bondy eine
gute Perspektive, um sarkastisch
die Schattenseiten der Theaterwelt
zu schildern. Wichtiger sind ihm
jedoch die Schattenseiten des Lebens an sich, die er mit feiner Ironie
aufblättert.
Der Ich-Erzähler Georg Donatey
geht auf die siebzig zu; er ist krank
und kann kaum gehen. Seine Freundin lässt ihn immer öfter allein, sein
Meister ist gestorben, und ausserdem ist der Berufsstand des Regisseurs ausgestorben, etwa um 2014.
Das ist in der Erzählzeit schon einige Jahre her, sodass sich niemand
mehr etwas unter dieser Tätigkeit
vorstellen kann. Viele Theater sind
zu Schwimmbädern oder Parkhäusern umgebaut worden.
2013 läuft Bondys Vertrag als
Intendant der Wiener Festwochen
aus, sein Roman liesse sich als persönliche pessimistische Zukunftsvision deuten. Aber das Leben des
Georg Donatey ist reich. Er steht
am Fenster und sieht draussen die
Vergangenheit auftauchen: sich
selbst als Kind, das sich auf dem
Spielplatz die Knie vorsätzlich blutig
schlägt, seine jüdischen Vorfahren,
verstorbene Freunde. Er spricht mit
den Toten und sieht sie in einem
neuen Licht, nicht mehr nur in
Bezug zu sich, sondern als unabhängige Wesen.
«Am Fenster» hat Bondy seiner
Mutter gewidmet. Auch wenn wir
ihm darin folgen, dass der Roman
nicht autobiografisch ist: Diese Mathild Donatey aus Offenburg, die
sich stets weigerte, ihrem Sohn von
der Zeit der Flucht und Emigration zu erzählen, und die ihm einige
böse Briefe hinterlassen hat, ist eine
starke Figur: Präsenter als Georgs
junge Gefährtin Seraphine, die mit
ihm lebt – und doch viel schattenhafter wirkt als die Schattenwesen
am Fenster. «Wo das Leben aufhört
und man nur noch vegetiert, da beginnt vielleicht das Leben», sinniert
Donatey. Man kann sich diesen
heiteren Melancholiker wahrhaft als
glücklichen Menschen vorstellen.
Eva Pfister
Im Mai schrieb
Judith Reker, die
WOZ-Korrespondentin für das
südliche Afrika,
über die Band
BLK JKS (sprich:
Black Jacks), dass der Prophet im
eigenen Land oft wenig oder nichts
gilt und eine Band zuerst im Ausland Anerkennung finden müsse.
Die Band aus Johannesburg, die
seit neun Jahren besteht, hat zu
Hause eine kleine Fangemeinde,
«aus jungen, vorwiegend weissen
Leuten aus der alternativen und
Indieszene», wie Reker schrieb. Der
Gitarrist Mpumi Mcata erzählte
von den Feindseligkeiten, denen sie
begegneten, weil Rock als Musik des
Feindes gilt.
In den USA liessen sich Molefi
Makananise, Tshepang Ramoba,
Linda Buthelezi und Mpumi Mcata
schon feiern. Nun ist die Band
seit Ende Oktober auch in Europa
erfolgreich unterwegs. Sie tourte
bereits durch England, Norwegen,
Deutschland, Holland. Auftritte in
der Schweiz, Italien und Frankreich
folgen. Die deutsche Musikzeitschrift «spex» hat ihr erste lange
CD «After Robots», die BLK JKS in
den USA aufgenommen haben, zur
Platte der aktuellen Ausgabe gekürt.
«Spex» spricht über «irres Turbogezwirbel» und von «einem Quartett
ambitionierter und musikalisch
zugleich sympathisch desorientierter junger Männer». Inzwischen
sollten erste Echos aus den USA
und Europa auch bis nach Südafrika
hallen ...
Dabei machen die BLK JKS
nur das, was viele Bands vor ihnen
schon gemacht haben: Sie mischen
verschiedenste Stile zu einem Amalgam, pflegen die weltmusikalische
Beliebigkeit, die sich auch für die
grossen Stadien eignet, zum Beispiel
während der Fussballweltmeisterschaft 2010. Ihre Musik kommt über
weite Strecken etwas gar pathetisch
und oppulent daher, sie verwenden Elemente von Rock, Pop und
Reggae, lassen Elemente südafrikanischer Musikstile einfliessen und
haben den Mbaqanga-Stil der sechziger Jahre wieder belebt. Die jetzige
Tour ist wohl die letzte Gelegenheit,
die BLK JKS in Clubatmosphäre live
zu erleben. ibo
LUC BONDY: «Am Fenster». Roman,
Zsolnay Verlag. Wien 2009. 160 Seiten.
Fr. 31.90.
BLK JKS: «After Robots». Secretly
Canadian / Universal.
BLK JKS in: ZÜRICH El Lokal, So,
15. November, 20.20 Uhr. DÜDINGEN
Bad Bonn, Mo, 16. November, 21.30 Uhr.
ST. GALLEN Palace, Di, 17. November,
21 Uhr. www.blkjks.com