1858-Rütli-Schwur in Brasilien
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1858-Rütli-Schwur in Brasilien
Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz 1858 Rütli-Schwur in Brasilien Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini. -2- Jeroen Dewulf Rütli-Schwur in Brasilien. Zu Thomas Davatz Die Kolonisten in der Provinz St. Paulo in Brasilien (1858), in: Oliveira, Teresa Martins de (Hg.): Eveline Hasler in Porto: Akten des Workshops über Eveline Hasler in Anwesenheit der Autorin, Coimbra: Cadernos do CIEG, Nr. 4, 2001, S. 55-68. 1858 RütliRütli-Schwur in Brasilien RütliRütli-Schwur in Brasilien Zu Thomas Davatz Die Kolonisten in der Provinz St. Paulo in Brasilien (1858) „Wenn man die Geschichte eines Volkes, einer Institution, einer Klasse studieren will, sollte man sich nicht damit begnügen, alles Wort für Wort zu akzeptieren, was uns die geschriebene Tradition überliefert hat. Man sollte vielmehr die riesige Masse stummer Figuranten sprechen lassen, die das Panorama der Geschichte gebildet haben und sehr oft interessanter und bedeutender sind als die, die lediglich die Geschichte aufgeschrieben haben.“1 Die Stummen der Geschichte sprechen lassen: Mit dieser Überlegung nahm der brasilianische Historiker Sérgio Buarque de Holanda bereits in den vierziger Jahren eine Kritik vorweg, mit der die Humanwissenschaften, und in erster Linie die Literaturwissenschaft, Ende der siebziger Jahre aufs schärfste konfrontiert wurden. 1978 vertrat nämlich Edward Said in seinem Werk Orientalismus die These, dass gerade weil in der ganzen Welt seit Jahrhunderten fast nur eine Stimme gehört wurde, das Bild dieser Welt von dieser Stimme bestimmt worden ist. Dabei handelte es sich um eine westliche, männliche, heterosexuelle, weisse, christlich geprägte Stimme, die, so Said, von seinem Weltteil, dem Orient, ein Bild geprägt hatte, in dem sich die eigentlichen Dargestellten kaum wiedererkennen konnten. Said sieht die Schuld nicht nur bei den historischen Machtverhältnissen, sondern auch bei denen, die die Möglichkeit gehabt hätten, zu vermitteln, und dies nicht oder schlecht genutzt haben. Die so von Said heraufbeschworene Polemik führte in den Humanwissenschaften zu einer Zunahme des Interesses für diejenigen, auf deren Stimme seit Jahrhunderten nicht gehört worden war, und die der nordamerikanische Historiker Eric Wolf „the people without history“ genannt hat. In diesem Zusammenhang ist das Werk Thomas Davatz von grosser Bedeutung. Nach dem brasilianischen Historiker Rubens Borba de Morais existieren über die Immigration in São Paulo viele Werke von Provinzabgeordneten, von Deputierten, Grossgrundbesitzern, Direktoren, Konsuln, von Leuten, die es sich leisten konnten, zu reisen, aber kaum von den eigentlichen Protagonisten: den Kolonisten. Daher betrachtet er Thomas Davatz’ Die Kolonisten in der Provinz St. Paulo in Brasilien als ein Unikat. (Morais 1972:VII) Die europäische Emigration nach Brasilien muss im Zusammenhang mit der Aufhebung der Sklaverei gesehen werden. Als England 1807 den Sklavenhandel verbot, war es dem damals aus Rio de Janeiro regierenden portugiesischen König João VI. klar, dass es auch in Brasilien mit der Sklaverei bald vorbei sein würde. Schon im nächsten Jahr erliess er daher eine Reihe von Gesetzen, die eine Einwanderung von Ausländern fördern sollten. Noch vor der Unabhängigkeit Brasiliens gibt es einen Versuch, mit Schweizern die Kolonie Neu-Freiburg (Nova Friburgo), im Bundesstaat Rio de Janeiro, zu gründen. So gelten Schweizer heute, neben den Deutschen, als die ersten nichtportugiesischen Kolonisten Brasiliens. 1 “Para estudar o passado de um povo, de uma instituição, de uma classe, não basta aceitar ao pé de letra tudo quanto nos deixou a simples tradição escrita. É preciso fazer falar a multidão imensa dos figurantes mudos que enchem o panorama da história e são muitas vezes mais interessantes e mais importantes do que os outros, os que apenas escrevem a história.” (Buarque de Holanda, 1972: XLIV-XLV) -3Da die Einfuhr von afrikanischen Sklaven im Brasilien von nach der Unabhängigkeit noch bis 1854 anhält, kommt eine Immigration im grossen Ausmass erst Mitte des 19. Jahrhunderts in Gang. Erst dann fängt eine wirkliche Kolonisation an, und zwar im Sinne einer Urbarmachung des Bodens für die Landwirtschaft. Dies passiert aber lediglich in den drei südlichsten Bundesstaaten Brasiliens: Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul. Im Inneren der Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro, Minas Gerais, Espírito Santo und Bahia haben die Grossgrundbesitzer und nicht die Zentralregierung das Sagen. Diese übermächtigen Fazendeiros sind von Anfang an Gegner einer Kolonisierungspolitik; statt Kolonisten wollen sie „braços à lavoura“, d.h., Arbeitskräfte für ihre Zucker- und später ihre Kaffeeplantagen. (cfr. Borba de Morais, 1972:Vf.) Da es immer schwieriger wurde, Afrikaner für diese Arbeit zu beschaffen, wollten die Fazendeiros ihre Sklaven durch europäische Arbeiter ersetzen. Die europäischen Kolonisten wollten jedoch gar nicht auf einer Plantage arbeiten; ihr Traum war es, selber Grundbesitzer zu werden.2 Um trotzdem zu europäischen Fremdarbeitern zu kommen, plante der mächtige paulistanische Senator Nicolao Perreira de Campos Vergueiro Europäer nach Brasilien zu holen, die es sich nicht leisten konnten, auszuwandern. Solche fanden sich damals zu Tausenden in Mittel- und Nordeuropa, wo es, vor allem in den Notjahren 1816/17 und 1855, zu Hungersnöten gekommen war und wo die Hausindustrie infolge des Siegeszuges der mechanischen Weberei von 1840 an nicht mehr konkurrenzfähig war. (cfr. Keller, 1936:6) Das Vorgehen von Vergueiro war dem „indenture“-System, so wie es in den Vereinigten Staaten lange Zeit gehandhabt worden war, ähnlich. Man hatte vor, armen Europäern die Überfahrtskosten vorzuschiessen. Da ihnen die Hälfte des Ertrags der ihnen zugewiesenen Parzellen gehören würde, konnten sie mit der Arbeit auf der Plantage in wenigen Jahren ihre Schulden zurückbezahlen und so den Traum, auch eines Tages freier Kolonist zu werden, realisieren. Ein erster Versuch (1841) mit Portugiesen auf der Plantage Ibicaba (São Paulo) missglückte völlig, da sie bereits nach einem Jahr aus der Fazenda wegzogen ohne ihre Schulden zu bezahlen. Die Idee, deutschsprachige Familien heranzuziehen, kam vom Sohn des Senators, José Vergueiro. Dieser hatte nämlich in Preussen studiert, wo er selbst eine Zeit lang Gardelieutenant in der Armee Dienst tat.3 Das Haus Vergueiro spezialisierte sich im Import von Arbeitern aus deutschsprachigen Ländern, nicht nur für die eigenen Fazendas, sondern auch, gegen Kommission, für andere Grossgrundbesitzer. (cfr. Tschudi, 1889=1971, III:239ff.) Brasilianische Diplomaten wie José Maria do Amaral schwärmten zu jener Zeit einmal mehr von einer „Veredlung“ des brasilianischen Volkes, zumal sich, nach seiner Meinung, die weisse Rasse nur mittels einer massenhaften Emigration aus Nord- und Mitteleuropa gegen die Schwarzen würde behaupten können. (cfr. Buarque de Holanda, 1972:XXXII) In diesem Sinne ist z.B. auch die Rede des brasilianischen Deputierten Pereira da Silva zu interpretieren, wo er sagt: Wir können die Hände, deren unser Ackerbau bedarf, nicht mehr aus den glühenden Wüsten Afrikas, nicht mehr von den elenden Horden aus Mozambique, Loanda und der Küste von Mina beziehen. Richten wir denn unsere Blicke nach andern Ländern; sorgen wir, dass wir an die Stelle der schon uns zu mangeln beginnenden Sklaven, einer Rasse ohne Trieb nach Verbesserung und ohne Verständnis für die edleren Seite des Menschenwesens, freie Männer gewinnen, Männer der gleichen Rasse, der gleichen Freiheit mit uns, und die zu uns kommen, um Wohlstand, Bildung und Gesittung uns entfalten zu helfen. (Silva, apud Steger, 1857:103) 2 Senator Vergueiro bezichtigte die brasilianische Regierung, solche Ideen zu unterstützen, indem sie brasilianischen Boden an Ausländern “verschenke”. (cfr. Buarque de Holanda, 1972:XXII) 3 Davatz selber gibt an, dass sich die Vorliebe für Schweizer Kolonisten mit den republikanischen Sympathien des Senators Vergueiro zu tun hatte. (Davatz, 1858:120) -4Entscheidend war dabei die Rolle europäischer Agenten, die Emigranten ermitteln sollten. Dies gelang ihnen teilweise durch eine ingeniöse Propaganda, andererseits auch wegen der Bereitschaft vieler Gemeinden, ihre Armen, Kriminellen, Greise, unverheirateten Mütter und Behinderten los zu werden.4 Die belgische Regierung machte sogar Pläne, von Antwerpen aus ganze Schiffe voller Häftlinge nach Brasilien zu schicken, um so in den Gefängnissen wieder Platz zu schaffen.5 (cfr. Stols, 1996:46) In der Schweiz war es üblich, dass Gemeinden die Reisekosten für Leute bezahlten, die bereit waren, „unbrauchbare, verkommene Individuen“, wie sie damals genannt wurden, als Familienmitglieder zu akzeptieren. Die Folgen waren jedoch dramatisch, denn laut Kontrakt waren die Familien solidarisch haftbar für die Schulden aller Mitglieder, selbst wenn diese während der Schiffahrt starben. (cfr. Heusser, 1857:13f.) Das hohe Kopfgeld, die Zinsen, die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, die Art und Weise, wie sie auf einigen Plantagen behandelt wurden, wo sie sich wegen Mass- und Gewichtseinheiten, wie bei Rechnungen betrogen fühlten, und die schlechte Behandlung von Seiten der Direktoren machten die Emigration nach Brasilien für die übergrosse Mehrheit zum Alptraum. (cfr. Tschudi, 1889=1971:III:248) Die Enttäuschung und Frustration lässt sich auch darauf zurückführen, dass die Emigranten oft mit Paradiesvorstellungen nach Brasilien gelockt waren. In Polen z.B. gab es kurz vor dem ersten Weltkrieg die Legende, dass die Mutter Gottes erschienen war und polnische Bauern aufgeboten hätte, nach dem brasilianischen Bundesstaat Paraná auszuwandern. (cfr. Buarque de Holanda, 1972:XIX) In der Propaganda wurde auch immer wieder betont, dass man in Brasilien jeden Tag gut essen könne. So schreibt der Agent Schmidt aus Hamburg über das Leben eines Kolonisten in Brasilien: Um 11 Uhr kehrt man nach Hause zurück, weil dann die Hitze beträchtlich wird, und das Frühstück, kräftig und gesund wie ein Mittagessen, erwartet dann die Gäste. Gewöhnlich besteht es aus Schwein- oder Rindfleisch, Gemüse, Suppe und einer Tasse Kaffee. Nach genommenem Mahle wird bis 2 Uhr ausgeruht; die Sonne senkt sich schon hinab, und die Arbeit wird von Neuem bis zum Abende begonnen, worauf zur Nacht gegessen wird, bestehend aus Gemüse und Wurst, Kaffee mit Milch, Butter und Käse. Ist das Mahl vorüber so geht man aus, macht Besuche oder empfängt sie, umgeben von der Familie in der frischen Abendluft, und raucht dabei ein Pfeifchen von dem selbst gebauten Tabak. (Schmidt, 1852:109f.) Wer möchte da nicht Kolonist in Brasilien werden? Der Zynismus ereicht seinen Höhepunkt, als Schmidt bei der Beschreibung der Fazenda Ibicaba den Tod verschiedener Kinder dadurch erklärt, dass diese zuviel gegessen und ausserdem den bereits vollen Magen mit Früchten überladen hätten. (Schmidt, 1952:104) Es wundert daher nicht, dass die meisten Kolonisten nach wenigen Jahren enttäuscht nach Europa zurückkehrten. So zeigt Eddy Stols, dass um 1900 mehr Europäer wegzogen aus Brasilien, als dass neue hinzukamen. (Stols 1996:45) Ein Beispiel eines solchen enttäuschen Heimkehrers findet sich im Büchlein Reise und Abenteuer eines SchweizerColonisten in Brasilien (1892) vom Schweizer L. Schär. Dieser emigrierte 1890 aus Arbon (Thurgau) nach der Schweizerkolonie Alpina in den Bergen des Bundesstaates Rio de Janeiro. Im Unterschied zu Davatz, der die Fazenda kaum verlassen hat, erzählt Schär von seinen Erlebnisse in Brasilien. Dies tut er in einer sehr einfachen Sprache und für ein nicht sehr gebildetes Lesepublikum. 4 Hans Frehner warnt schweizerische Auswanderer sogar ausdrücklich vor seinen eigenen Landsleuten in Brasilien. (Frehner, 1921:6) Vergleiche dazu auch: Buarque de Holanda, 1972:XXVIII, Tschudi, 1889=1971, III:242, Tschudi, 1960:2f. und Davatz, 1858:115. 5 Keller zeigt, dass die Berner Regierung bereits Anfang des XVIII. Jahrhundert ähnliche Pläne hegte, nämlich: “ob es nicht tunlich sein werde, in Amerikam einen Distrikt Lands zu erhandeln, um die hiesigen überlestigen Untertanen dahin ferggen zu können.” (Keller, 1936:5) -5Er hält es, z.B., für notwendig, zu erklären, dass Bordeaux eine Hafenstadt in Frankreich ist, oder auch dass Delphine „räuberische Tieren“ sind, die „Ähnlichkeiten mit einem Schwein“ haben. (Schär, 1892:6) In Brasilien wird er schwer krank, die Tiere fressen - ironischerweise während er am 1.-August-Fest teilnimmt - seine Ernte weg, und das wenige, das er noch retten kann, ist nachher unverkäuflich. So verlässt er enttäuscht Brasilien, und das erste, was er macht, als er wieder in der Schweiz ankommt, ist ein gutes Glas Bier trinken. Dabei seufzt er über Brasilien: „Schlangen gibt es dort mehr als Geld“. (Schär, 1892:23) Thomas Davatz' Bericht über das Schicksal der im April 1855 aus Graubünden nach Ibicaba ausgewanderten Gruppe Schweizer ist zwar weniger unterhaltsam, aber dennoch doppelt so interessant, weil er ausführlich darüber informiert, wie es zu einem Aufstand gegen die Fazendeiros gekommen ist. Früher sollte es zwar auch auf anderen Fazendas zu Widersetzlichkeiten von Seiten schweizerischer Kolonisten gekommen sein,6 aber nie wurde dabei, wie jetzt im Fall von Davatz, das Militär aufgeboten. Der Hauptgrund dieses Aufstands lag wohl darin, dass sich die Schweizer vom Geschäftsgebaren der Vergueiros betrogen fühlten. Ihre Schulden waren dermassen hoch, dass sie die Hoffnung verloren hatten, jemals freie Kolonisten werden zu können.7 Als sie damit anfingen, sich zu bewaffnen und die Unruhe auch auf andere Fazendas übergriff, rief José Vergueiro das Militär zur Hilfe. In seinem Brief an die Behörden dramatisiert er die Lage, indem er von einer Verschwörung europäischer Kräfte gegen Brasilien berichtet. Laut Vergueiro gäbe es Pläne einer Invasion ausländischer Truppen, und zwar unter der Führung der Schweiz (!), die zum Ziel hätte, alle Fazendas zu besetzen, die Brasilianer zu vertreiben und den Boden neu aufzuteilen. Dabei könnten die Kolonisten mit der Unterstützung von afrikanischen Sklaven rechnen und sogar von gewissen kommunistischen Verschwörern im eigenen Lande, die von São Paulo aus operieren würden. (Vergueiro 1857=1972:225ff.)8 Zu Gewalttaten kam es nicht, aber die Ereignisse beunruhigten dermassen die Behörden, dass sowohl brasilianische als auch schweizerische Untersuchungskommissionen nach Ibicaba entsandt wurden. Durch Vermittlung des bereits in Brasilien lebenden Schweizer Gesandten Christian Heusser, konnte Thomas Davatz mit seiner Familie die Fazenda verlassen. Heusser war es von der Familie Vergueiro erlaubt worden, auf der Fazenda Ibicaba eine Untersuchung durchzuführen. Wie er später zugab, wurde ihm diese Erlaubnis erst erteilt, nachdem er José Vergueiro versprochen hatte, einen positiven Bericht über die Zustände auf der Fazenda zu schreiben. In seinem Brief vom 4. März 1857 lobt Heusser daher die gute Behandlung der Schweizer Kolonisten von Seiten der Familie Vergueiro. Die Schweizer hätten sich, so Heusser, missbrauchen lassen durch die politischen Feinde der Familie und seien ausserdem zu faul gewesen, um tüchtig zu arbeiten. Es hoffe deswegen, dass seine Landsleute ihren Irrtum bald einsehen werden und wünsche Herrn Senator Vergueiro viel Erfolg mit seinen Projekten. (Heusser, apud Buarque de Holanda 1972:167-168) In seinem Bericht an die Direktion der Polizei des Kantons Zürich – Die Schweizer auf den Kolonien in St. Paulo in Brasilien (1857) – berichtet er jedoch ganz anders über die Zustände in Ibicaba. Da liest man über die Familie Vergueiro unter anderem Folgendes: 6 Tschudi erwähnt eine Auflehnung von Schweizer Kolonisten in Nova Olinda bei Ubatuba. (Tschudi 1889=1971, III:248) 7 Sowohl bei Davatz (1858:90f.) und Heusser (1857:5, 46) wird klar, dass dies der Hauptgrund des Protestes ist. 8 Buarque de Holanda berichtet, dass die Angst vor einer gemeinsamer Aktion zwischen Kolonisten und Sklaven dermassen gross war, dass viele Fazendeiros nach der Rebellion auf Ibicaba, den Ruhetag der Europäer auf Freitag verlegten, damit sie am Sonntag nicht mit den Sklaven gemeinsame Sache machen konnten. (Buarque de Holanda, 1972:XL) -6Was aber die Leitung dieser ganzen Halbpacht-Kolonisation betrifft, so muss zugegeben werden, dass dabei das Haus Vergueiro, nachdem es die Kolonisten an irgend einen grösseren oder kleineren, reicheren oder ärmeren Gutsbesitzer abgegeben, sich nicht mehr um dieselben gekümmert, sondern ihrem Schicksal überlassen hat. Auch brachte die anfängliche Verschuldung es mit sich, dass die Kolonisten ganz wie Kaufmannsware, um nicht zu sagen, wie Sklaven behandelt wurden. (Heusser, 1857:88) Heusser, der meinte geschickt gewesen zu sein, komplizierte mit seinem Benehmen jedoch den diplomatischen Streit zwischen der Schweiz und Brasilien, weil sich jetzt sowohl die schweizerische, wie auch die brasilianische Regierung auf seinen Bericht berufen konnte. (vgl. Tschudi, 1860:1) Die Schweiz forderte nämlich, so wörtlich, „die kräftige Intervention der Regierung, damit die durch die Herrn Vergueiro & Co. Engagierten Schweizerkolonisten aus ihrer Sklaverei befreit werden“. Der Ausdruck „Sklaverei“ in einem offiziellen Aktenstück machte auf die brasilianische Regierung einen höchst unangenehmen Eindruck und rief sofort eine Erwiderung des Aussenministers hervor. (vgl. Tschudi, 1860:3) Das Problem war jedoch nicht nur das Schicksal der Schweizer Kolonisten, sondern hatte auch eine finanzielle Seite. Laut Vertrag war die "Casa Vergueiro" nämlich verpflichtet, den Heimatgemeinden der schweizerischen Kolonisten die von ihnen verabfolgten Reisevorschüsse aus dem Erlös der Arbeit der Beteiligten zu ersetzen. Ab 1857 hatte das Haus Vergueiro jedoch kein Geld mehr geschickt. Als Grund wurden die wegen der Revolution auf Ibicaba entstandenen Kosten angegeben, sowie die Arbeitsunfähigkeit der meisten Schweizer.9 Da sich das Haus Vergueiro verweigerte, die Vorschüsse zurückzubezahlen, entschied sich die Schweiz 1860 dazu, den Naturwissenschaftler und Südamerikaspezialisten Johann Jakob von Tschudi als Aussenordentlichen Gesandten nach Brasilien zu schicken.10 9 Wenn protestantische Kolonisten ein zusätzliches Problem bildeten, hat das mehr als nur mit religiöser Rivalität zu tun. Stärker als bei den Katholiken, herrschte unter protestantische Kolonisten ein Widerwille gegen jede Form der Integration in der brasilianischen Gesellschaft. Noch in den dreissiger Jahren, betrachteten Nazi-Sympathisanten aus den deutschen Kolonien Brasiliens den Katholizismus als die grösste Gefahr für die Aufrechterhaltung eines „reinen Deutschtums“ . (cfr. Oberacker, 1936:58) 10 Trotz seiner Kritik an José Vergueiro zögert Tschudi, wie übrigens auch Heusser, nicht, die Hauptschuld für den Misserfolg des Parceriesystems bei den Kolonisten selbst zu suchen. (Tschudi, 1889=1971, III:253 u. Heusser, 1857:31, 45) Aus einem Dokument von Tschudi geht hervor, dass von 87 Schweizer Kolonisten, die 1858 nach Brasilien ausgewandert waren, nur 13 eine gewisse Erfahrung mit Landarbeit hatten, die meisten anderen waren Fabrikarbeiter. (Tschudi, apud Buarque de Holanda, 1972:XVII) Auch aus dem Bericht von Thomas Davatz wird klar, wie wenig die Schweizer sich in der Landwirtschaft auskannten. Dort, wo es in seinem Bericht um landbautechnische Ausdrücke geht, dominieren portugiesische Wörter. So spricht Davatz nicht von einer Sense, sondern er benutzt das eingedeutsche Wort „Phosse“, nach dem portugiesischen „foice“. (Davatz, 1858:12) Auch bei Schär wird der Misserfolg der Kolonie Alpina dadurch erklärt, dass die meisten Kolonisten kaum Kenntnis der Landwirtschaft hatten. (Schär, 1892:30) Es gibt sogar Berichte von Kolonisten, die versuchten, bereits gekochte Bohnen zu pflanzen. (Kooy, 1986:9) Sérgio Buarque de Holanda betont daher, dass der Einfluss europäischer Kolonisten auf die brasilianische Landwirtschaft fast bedeutungslos geblieben ist. Er deutet jedoch daraufhin, dass sie einen entscheidenden Beitrag zu der Modernisierung der Transportmittel geleistet haben. (Buarque de Holanda, 1972:XXXIVf.) Auch bei Davatz wird klar, dass sich die Schweizer über den, in ihren Augen mittelalterlichen, Karren aufregen, während sie sofort die brasilianischen Landbautechniken (wie z.B. die Brandrodung) übernehmen. (Davatz, 1858: 12f. u. 48) -7- Nach Tschudi belief sich die Gesamtschuld der "Casa Vergueiro" auf circa 200.000 Franken. (Tschudi 1889=1971, III:252) Er wurde zwar vom brasilianischen Kaiser Dom Pedro II. empfangen, konnte auch direkt mit Kolonisten aus Ibicaba über ihre Probleme sprechen, aber José Vergueiro verweigerte ihn den Besuch seiner Kolonien. (Tschudi, 1889=1971, III:296ff.) Daraufhin eröffnete der Schweizer Bundesrat einen Prozess gegen das Haus Vergueiro, aber 1865 liess José Vergueiro es zum Konkurs kommen, um sich so seinen finanziellen Verpflichtungen zu entziehen. Erst jetzt, wo deutlich war, dass man das Geld nie mehr zurückgewinnen konnte, strichen auch die letzten Schweizer Gemeinden den Kolonisten die Vorschüsse, damit sie ausgelöst werden konnten. Wenn man zurückblickt auf die Folgen, die Thomas Davatz Bericht gehabt hat, sind die tatsächlich erstaunlich. Wie konnte es aber ein armer Schullehrer aus einem kleinen Dorf im Bündnerland dazu bringen, dass die Schweiz sich genötigt sah, einen seiner Stardiplomaten nach Brasilien zu schicken, um dort mit dem Kaiser persönlich die Sache zu besprechen? Wie gelang es ihm, dass Preussen kurz nach dem Erscheinen seines Berichtes die Auswanderung nach Brasilien per Gesetz verbot und dass in São Paulo das ganze Parcerie-System wenige Jahre später aus Mangel an Kolonisten einging? Und wie kommt es, dass Davatz von den bedeutendsten brasilianischen Historikern unentwegt zitiert und gelobt wird? Wie versteht sich, dass Mário de Andrade, der berühmte Vertreter des brasilianischen Modernismus, voll Lob über Davatz schrieb? Oder wie erklärt sich, dass eine zeitgenössische Autorin, wie Eveline Hasler den Bericht von Davatz als Vorlage für einen erfolgreichen Roman wählte? Der vollständige Titel seines Berichtes lautet: Die Behandlung der Kolonisten in der Provinz St. Paulo in Brasilien und deren Erhebung gegen ihre Bedrücker. Ein Not- und Hilfsruf an die Behörden und Menschenfreunde der Länder und Staaten, welchen die Kolonisten angehören. Zwei Wörter konzentrieren sofort alle Aufmerksamkeit auf sich: Erhebung und Bedrücker. Dennoch fängt der Bericht nicht mit der Darstellung dieser Erhebung an, vielmehr präsentiert uns Davatz zuerst eine eher langweilige, seitenlange Ausführung, wo wir mit ganz präzisen Auskünften über etwa die höchste Mittagstemperatur in Ibicaba, den Durchmesser einer Kohlpalme oder die verschiedensten Arten von Kürbissen gesättigt werden.11 Wer sich durchgelesen hat und beim zweiten Teil angelangt ist, ist zuerst wieder enttäuscht, denn es werden keine abenteuerliche Erfahrungen geschildert, sondern es erscheint eine ziemlich monotone Auflistung der Vertragsparagraphen, welche von Seiten des Hauses Vergueiro nicht respektiert wurden. Erst im dritten Teil wird ausführlich und lebhaft erzählt, wie es zu dem Aufstand gekommen ist. Wo im ersten Kapitel meistens unpersönlich in der dritten Person berichtet wird, und im zweiten Kapitel „wir - die Kolonisten“ als handelnde Person auftreten, dominiert im letzten Kapitel ganz klar die Ich-Perspektive. Das lange Hinauszögern des entscheidenden Teils seines Berichtes hat aber ein deutliches Ziel. Davatz überzeugt so seine Leser davon, dass das, was jetzt kommt, auch wahr ist. 11 Manchmal bringt er sein Mehrwissen auch mit Witz in den Vordergrund: “Man hat seiner Zeit vorgegeben, dass das Pflanzen in Brasilien nur eine leichte Gartenarbeit sei und keinen Pflug, sondern nur eine Harcke bedürfe. Man müsste aber wahrhaftig noch lange auf´s angestrengste an einem solchen Garten arbeiten, bis man nur einen Pflug darin gebrauchen könnte.” (Davatz, 1858:13) -8Aus dem armen, unerfahrenen Schullehrer Thomas Davatz ist im Laufe dieses Werkes ein überzeugter und überzeugender Erzähler geworden. Wenn er uns ganz genau zu erzählen weiss, dass das Thermometer in Ibicaba im März höchstens bis 35º steigen kann, wenn er haargenau den Nachsatz des von den Kolonisten unterschriebenen Artikels 10 zu interpretieren weiss, dann muss der Leser schon ein sehr ungläubiger Thomas sein, um jetzt noch etwaige Zweifel an seiner Darstellung der Erhebung zu hegen.12 Er war dort, er kennt sich aus und er hat gelitten.13 Dies vergisst Davatz nicht zu erwähnen. Die Strapazen der Fussreise vom Hafen in Santos nach Ibicaba, die traurige Lage seiner Hütte, die Schmerzen seiner Krankheit, die sklavenähnliche Behandlung, dies alles sorgt dafür, dass er uns immer sympathischer wird. In seinem festen Gottesvertrauen zeigt er keinerlei Angst, trotz aller Bedrohungen hält er tapfer durch, als ein kleiner, armer schweizerischer David, der sich dem reichen, mächtigen brasilianischen Goliath stellt.14 Aber wenn schon David, dann sicherlich eine eidgenössische Variante, einer, der Friedrich Schiller gelesen hat. Wo der Rütli-Schwur in Schillers Wilhelm Tell heisst: „Wir sind ein Volk, und einig wollen wir handeln“ (Schiller, 1808=1993: 44), einigen sich die Schweizer Kolonisten unter Ablegung eines „feierlichen, an Eidesstatt gegebenen Handgelübdes“, nach dem Grundsatz: „Einer für Alle, und Alle für Einen!“ (Davatz, 1858:139). Die Warum-Frage dominiert den Schluss seines Berichtes. Im Moment, wo er die Plantage verlässt, während die anderen in Ibicaba bleiben müssen, richtet er sich mit Grossbuchstaben direkt an seine Leser und wird dabei pathetisch: Ihr aber, meine werten Leser [...], hört und vergesset nicht, wie und warum ich mich von den armen Leuten getrennt habe, und warum ich gerade nach dem Vaterlande zurückgekehrt bin. [...] Habet ein Herz für die armen Leute und helfet ihnen, so gut ihr es vermöget! Ja, um Gottes willen, helfet!!! (Davatz, 1858:186) Davatz schliesst seinen Bericht, indem er unentwegt von einer höheren Aufgabe und von einem paradiesischen Ziel spricht. Dieses Ziel wäre, die Kolonisten aus ihrer Sklaverei zu erlösen, sie auf eigene Ländereien zu übersiedeln und dafür zu sorgen, dass sie eine ordentliche Existenz erlangen. (Davatz, 1858:208) Es klingt wie die Verheissung vom Gelobten Land, von einem Land, das er, wie Moses, zwar sehen, aber nicht erleben wird. Dieses Kanaan, zu dem er sein Volk begleitete, lag in Ibicaba. In der Tupi-Sprache heisst Ibicaba „fetter Boden“. ------ 12 Dies wird auch deutlich aus Sätzen, wie “Wer glaubt aber auch nicht mit mir, dass…” (Davatz 1858:188). 13 Beispiel sind Sätze, wie: “Ich rede hier nicht aus der Luft, sondern ich gebe Solches, das ich, ach leider! nur zu oft mit meinen eigenen Ohren gehört habe”. (Davatz, 1858:4) 14 Vergleiche dazu: Davatz, 1858:154 und 157. -9- Bibliographie: Bär, H. (1903): Brasilien und Uruguay. Eine Reise nach und durch Brasilien und Uruguay. Land, Leute und wirtschaftliche Verhältnisse, Schweiz. Kaufmännische Centralblatt, Nr. 4/8. Bitterli, Urs (1991): Schweizer entdecken Amerika. Reiseberichte aus zwei Jahrhunderten, Zürich, Verlag NZZ. Davatz, Thomas (1858): Die Kolonisten in der Provinz St. Paulo in Brasilien, Chur, L. Hitz. Davatz, Thomas (1972): Memórias de um Colono no Brasil, São Paulo, Biblioteca Histórica Brasileira. [Portugiesische Übersetzung mit Einführung und Kommentaren von Rubens Borba de Morais und Sérgio Buarque de Holanda, ergänzt mit Briefen von José Vergueiro, Senator Vergueiro und Tavares Bastos] Frehner, Hans (1921): Ein Wort an Auswanderungslustige. Von einem ehemaligen schweizerischen Urwaldpfarrer in Brasilien, Uzwil, Verlag J. Fischer. Hasler, Eveline (1995): Ibicaba. Das Paradies in den Köpfen, Zürich, Nagel & Kimche. Heusser, Christian (1857): Die Schweizer auf den Kolonien in St. Paulo in Brasilien, Zürich, Verlag Friedrich Schulthess. Keller, Gottfried (1936): Das Auswanderungs-Problem in der Schweiz. Mit besonderer Berücksichtigung von Brasilien, Rorschach, E. Löpfe-Benz. Kooy, Hendrik Adrianus (1986): Carambei: 75 anos, Castro, Kugler Artes Gráficas. Moeschlin, Felix (1936): Ich suche Land in Südbrasilien. Erlebnisse und Ergebnisse einer Studienreise, Zürich/Leipzig, Albert Müller Verlag. Oberacker, Karlheinrich (1936): Die Weltpolitische Lage des Deutschtums in Rio Grande do Sul, Jena. Said, Edward W. (1978=1981): Orientalismus, Frankfurt/Berlin/Wien, Ullstein. Schär, L. (1892): Reise und Abenteuer eines Schweizer-Colonisten in Brasilien. Selbst erfahren und erlebt vom Verfasser dieses Büchleins, Arbon, Verlag G. Rüdlinger. Schiller, Friedrich (1808=1993): Wilhelm Tell, Stuttgart, Reclam. Schmidt, D.F. (1852): Die geregelte Auswanderung nach Brasilien und ihr erster glänzender Erfolg. Blätter zur Bekämpfung des gegen dieses Landes herrschenden Vorurtheile und zur Belehrung der dahin Auswandernden, Rudolfstadt, Verlag G. Froebel. Steger, Ud. (1857): Brasilien, für deutsche und schweizerische Auswanderer, Lichtensteig, Verlag G.J. Meisel. Stols, Eddy (1996): Brazilië: vijf eeuwen geschiedenis in dribbelpas, Leuven/Amersfoort, Acco. Tschudi, Johann Jakob von (1889=1971): Reisen durch Südamerika, Band I-V, Stuttgart, Brockhaus. Tschudi, Johann Jakob von (1860): Bericht des schweiz. Ausserordentlichen Gesandten in Brasilien, Herrn v. Tschudi, an den Bundesrath über die dortigen Verhältnisse der Kolonisten, 06.10.1860. Wolf, Eric. R. (1982=1997): Europe and the People Without History, Berkeley/Los Angeles/London, University of California Press. Wir danken dem Verfasser bestens für die freundliche Wiedergabebewilligung. Internet-Bearbeitung: K. J. Version 12/2006 ---------