1858-Rütli-Schwur in Brasilien

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1858-Rütli-Schwur in Brasilien
Untervazer Burgenverein Untervaz
Texte zur Dorfgeschichte
von Untervaz
1858
Rütli-Schwur in Brasilien
Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
-2-
Jeroen Dewulf
Rütli-Schwur in Brasilien. Zu Thomas Davatz Die Kolonisten in der Provinz
St. Paulo in Brasilien (1858), in: Oliveira, Teresa Martins de (Hg.):
Eveline Hasler in Porto: Akten des Workshops über Eveline Hasler in
Anwesenheit der Autorin, Coimbra: Cadernos do CIEG, Nr. 4, 2001, S. 55-68.
1858 RütliRütli-Schwur in Brasilien
RütliRütli-Schwur in Brasilien
Zu Thomas Davatz Die Kolonisten in der Provinz St. Paulo in Brasilien (1858)
„Wenn man die Geschichte eines Volkes, einer Institution, einer Klasse studieren will,
sollte man sich nicht damit begnügen, alles Wort für Wort zu akzeptieren, was uns die
geschriebene Tradition überliefert hat. Man sollte vielmehr die riesige Masse stummer
Figuranten sprechen lassen, die das Panorama der Geschichte gebildet haben und sehr
oft interessanter und bedeutender sind als die, die lediglich die Geschichte
aufgeschrieben haben.“1
Die Stummen der Geschichte sprechen lassen: Mit dieser Überlegung nahm der
brasilianische Historiker Sérgio Buarque de Holanda bereits in den vierziger Jahren eine
Kritik vorweg, mit der die Humanwissenschaften, und in erster Linie die
Literaturwissenschaft, Ende der siebziger Jahre aufs schärfste konfrontiert wurden. 1978
vertrat nämlich Edward Said in seinem Werk Orientalismus die These, dass gerade weil
in der ganzen Welt seit Jahrhunderten fast nur eine Stimme gehört wurde, das Bild
dieser Welt von dieser Stimme bestimmt worden ist. Dabei handelte es sich um eine
westliche, männliche, heterosexuelle, weisse, christlich geprägte Stimme, die, so Said,
von seinem Weltteil, dem Orient, ein Bild geprägt hatte, in dem sich die eigentlichen
Dargestellten kaum wiedererkennen konnten. Said sieht die Schuld nicht nur bei den
historischen Machtverhältnissen, sondern auch bei denen, die die Möglichkeit gehabt
hätten, zu vermitteln, und dies nicht oder schlecht genutzt haben. Die so von Said
heraufbeschworene Polemik führte in den Humanwissenschaften zu einer Zunahme des
Interesses für diejenigen, auf deren Stimme seit Jahrhunderten nicht gehört worden war,
und die der nordamerikanische Historiker Eric Wolf „the people without history“
genannt hat. In diesem Zusammenhang ist das Werk Thomas Davatz von grosser
Bedeutung. Nach dem brasilianischen Historiker Rubens Borba de Morais existieren
über die Immigration in São Paulo viele Werke von Provinzabgeordneten, von
Deputierten, Grossgrundbesitzern, Direktoren, Konsuln, von Leuten, die es sich leisten
konnten, zu reisen, aber kaum von den eigentlichen Protagonisten: den Kolonisten.
Daher betrachtet er Thomas Davatz’ Die Kolonisten in der Provinz St. Paulo in
Brasilien als ein Unikat. (Morais 1972:VII)
Die europäische Emigration nach Brasilien muss im Zusammenhang mit der Aufhebung
der Sklaverei gesehen werden. Als England 1807 den Sklavenhandel verbot, war es dem
damals aus Rio de Janeiro regierenden portugiesischen König João VI. klar, dass es
auch in Brasilien mit der Sklaverei bald vorbei sein würde. Schon im nächsten Jahr
erliess er daher eine Reihe von Gesetzen, die eine Einwanderung von Ausländern
fördern sollten. Noch vor der Unabhängigkeit Brasiliens gibt es einen Versuch, mit
Schweizern die Kolonie Neu-Freiburg (Nova Friburgo), im Bundesstaat Rio de Janeiro,
zu gründen. So gelten Schweizer heute, neben den Deutschen, als die ersten nichtportugiesischen Kolonisten Brasiliens.
1
“Para estudar o passado de um povo, de uma instituição, de uma classe, não basta aceitar ao pé de letra
tudo quanto nos deixou a simples tradição escrita. É preciso fazer falar a multidão imensa dos figurantes
mudos que enchem o panorama da história e são muitas vezes mais interessantes e mais importantes do
que os outros, os que apenas escrevem a história.” (Buarque de Holanda, 1972: XLIV-XLV)
-3Da die Einfuhr von afrikanischen Sklaven im Brasilien von nach der Unabhängigkeit
noch bis 1854 anhält, kommt eine Immigration im grossen Ausmass erst Mitte des 19.
Jahrhunderts in Gang. Erst dann fängt eine wirkliche Kolonisation an, und zwar im
Sinne einer Urbarmachung des Bodens für die Landwirtschaft. Dies passiert aber
lediglich in den drei südlichsten Bundesstaaten Brasiliens: Paraná, Santa Catarina und
Rio Grande do Sul. Im Inneren der Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro, Minas
Gerais, Espírito Santo und Bahia haben die Grossgrundbesitzer und nicht die
Zentralregierung das Sagen. Diese übermächtigen Fazendeiros sind von Anfang an
Gegner einer Kolonisierungspolitik; statt Kolonisten wollen sie „braços à lavoura“, d.h.,
Arbeitskräfte für ihre Zucker- und später ihre Kaffeeplantagen. (cfr. Borba de Morais,
1972:Vf.) Da es immer schwieriger wurde, Afrikaner für diese Arbeit zu beschaffen,
wollten die Fazendeiros ihre Sklaven durch europäische Arbeiter ersetzen. Die
europäischen Kolonisten wollten jedoch gar nicht auf einer Plantage arbeiten; ihr Traum
war es, selber Grundbesitzer zu werden.2 Um trotzdem zu europäischen Fremdarbeitern
zu kommen, plante der mächtige paulistanische Senator Nicolao Perreira de Campos
Vergueiro Europäer nach Brasilien zu holen, die es sich nicht leisten konnten,
auszuwandern. Solche fanden sich damals zu Tausenden in Mittel- und Nordeuropa, wo
es, vor allem in den Notjahren 1816/17 und 1855, zu Hungersnöten gekommen war und
wo die Hausindustrie infolge des Siegeszuges der mechanischen Weberei von 1840 an
nicht mehr konkurrenzfähig war. (cfr. Keller, 1936:6) Das Vorgehen von Vergueiro war
dem „indenture“-System, so wie es in den Vereinigten Staaten lange Zeit gehandhabt
worden war, ähnlich. Man hatte vor, armen Europäern die Überfahrtskosten
vorzuschiessen. Da ihnen die Hälfte des Ertrags der ihnen zugewiesenen Parzellen
gehören würde, konnten sie mit der Arbeit auf der Plantage in wenigen Jahren ihre
Schulden zurückbezahlen und so den Traum, auch eines Tages freier Kolonist zu
werden, realisieren. Ein erster Versuch (1841) mit Portugiesen auf der Plantage Ibicaba
(São Paulo) missglückte völlig, da sie bereits nach einem Jahr aus der Fazenda
wegzogen ohne ihre Schulden zu bezahlen. Die Idee, deutschsprachige Familien
heranzuziehen, kam vom Sohn des Senators, José Vergueiro. Dieser hatte nämlich in
Preussen studiert, wo er selbst eine Zeit lang Gardelieutenant in der Armee Dienst tat.3
Das Haus Vergueiro spezialisierte sich im Import von Arbeitern aus deutschsprachigen
Ländern, nicht nur für die eigenen Fazendas, sondern auch, gegen Kommission, für
andere Grossgrundbesitzer. (cfr. Tschudi, 1889=1971, III:239ff.) Brasilianische
Diplomaten wie José Maria do Amaral schwärmten zu jener Zeit einmal mehr von einer
„Veredlung“ des brasilianischen Volkes, zumal sich, nach seiner Meinung, die weisse
Rasse nur mittels einer massenhaften Emigration aus Nord- und Mitteleuropa gegen die
Schwarzen würde behaupten können. (cfr. Buarque de Holanda, 1972:XXXII) In
diesem Sinne ist z.B. auch die Rede des brasilianischen Deputierten Pereira da Silva zu
interpretieren, wo er sagt:
Wir können die Hände, deren unser Ackerbau bedarf, nicht mehr aus den glühenden
Wüsten Afrikas, nicht mehr von den elenden Horden aus Mozambique, Loanda und
der Küste von Mina beziehen. Richten wir denn unsere Blicke nach andern Ländern;
sorgen wir, dass wir an die Stelle der schon uns zu mangeln beginnenden Sklaven,
einer Rasse ohne Trieb nach Verbesserung und ohne Verständnis für die edleren
Seite des Menschenwesens, freie Männer gewinnen, Männer der gleichen Rasse, der
gleichen Freiheit mit uns, und die zu uns kommen, um Wohlstand, Bildung und
Gesittung uns entfalten zu helfen. (Silva, apud Steger, 1857:103)
2
Senator Vergueiro bezichtigte die brasilianische Regierung, solche Ideen zu unterstützen, indem sie
brasilianischen Boden an Ausländern “verschenke”. (cfr. Buarque de Holanda, 1972:XXII)
3
Davatz selber gibt an, dass sich die Vorliebe für Schweizer Kolonisten mit den republikanischen
Sympathien des Senators Vergueiro zu tun hatte. (Davatz, 1858:120)
-4Entscheidend war dabei die Rolle europäischer Agenten, die Emigranten ermitteln
sollten. Dies gelang ihnen teilweise durch eine ingeniöse Propaganda, andererseits auch
wegen der Bereitschaft vieler Gemeinden, ihre Armen, Kriminellen, Greise,
unverheirateten Mütter und Behinderten los zu werden.4 Die belgische Regierung
machte sogar Pläne, von Antwerpen aus ganze Schiffe voller Häftlinge nach Brasilien
zu schicken, um so in den Gefängnissen wieder Platz zu schaffen.5 (cfr. Stols, 1996:46)
In der Schweiz war es üblich, dass Gemeinden die Reisekosten für Leute bezahlten, die
bereit waren, „unbrauchbare, verkommene Individuen“, wie sie damals genannt wurden,
als Familienmitglieder zu akzeptieren. Die Folgen waren jedoch dramatisch, denn laut
Kontrakt waren die Familien solidarisch haftbar für die Schulden aller Mitglieder, selbst
wenn diese während der Schiffahrt starben. (cfr. Heusser, 1857:13f.) Das hohe
Kopfgeld, die Zinsen, die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, die Art und Weise, wie sie auf
einigen Plantagen behandelt wurden, wo sie sich wegen Mass- und Gewichtseinheiten,
wie bei Rechnungen betrogen fühlten, und die schlechte Behandlung von Seiten der
Direktoren machten die Emigration nach Brasilien für die übergrosse Mehrheit zum
Alptraum. (cfr. Tschudi, 1889=1971:III:248) Die Enttäuschung und Frustration lässt
sich auch darauf zurückführen, dass die Emigranten oft mit Paradiesvorstellungen nach
Brasilien gelockt waren. In Polen z.B. gab es kurz vor dem ersten Weltkrieg die
Legende, dass die Mutter Gottes erschienen war und polnische Bauern aufgeboten hätte,
nach dem brasilianischen Bundesstaat Paraná auszuwandern. (cfr. Buarque de Holanda,
1972:XIX) In der Propaganda wurde auch immer wieder betont, dass man in Brasilien
jeden Tag gut essen könne. So schreibt der Agent Schmidt aus Hamburg über das Leben
eines Kolonisten in Brasilien:
Um 11 Uhr kehrt man nach Hause zurück, weil dann die Hitze beträchtlich wird, und
das Frühstück, kräftig und gesund wie ein Mittagessen, erwartet dann die Gäste.
Gewöhnlich besteht es aus Schwein- oder Rindfleisch, Gemüse, Suppe und einer
Tasse Kaffee. Nach genommenem Mahle wird bis 2 Uhr ausgeruht; die Sonne senkt
sich schon hinab, und die Arbeit wird von Neuem bis zum Abende begonnen, worauf
zur Nacht gegessen wird, bestehend aus Gemüse und Wurst, Kaffee mit Milch,
Butter und Käse. Ist das Mahl vorüber so geht man aus, macht Besuche oder
empfängt sie, umgeben von der Familie in der frischen Abendluft, und raucht dabei
ein Pfeifchen von dem selbst gebauten Tabak. (Schmidt, 1852:109f.)
Wer möchte da nicht Kolonist in Brasilien werden? Der Zynismus ereicht seinen
Höhepunkt, als Schmidt bei der Beschreibung der Fazenda Ibicaba den Tod
verschiedener Kinder dadurch erklärt, dass diese zuviel gegessen und ausserdem den
bereits vollen Magen mit Früchten überladen hätten. (Schmidt, 1952:104) Es wundert
daher nicht, dass die meisten Kolonisten nach wenigen Jahren enttäuscht nach Europa
zurückkehrten. So zeigt Eddy Stols, dass um 1900 mehr Europäer wegzogen aus
Brasilien, als dass neue hinzukamen. (Stols 1996:45) Ein Beispiel eines solchen
enttäuschen Heimkehrers findet sich im Büchlein Reise und Abenteuer eines SchweizerColonisten in Brasilien (1892) vom Schweizer L. Schär. Dieser emigrierte 1890 aus
Arbon (Thurgau) nach der Schweizerkolonie Alpina in den Bergen des Bundesstaates
Rio de Janeiro. Im Unterschied zu Davatz, der die Fazenda kaum verlassen hat, erzählt
Schär von seinen Erlebnisse in Brasilien. Dies tut er in einer sehr einfachen Sprache und
für ein nicht sehr gebildetes Lesepublikum.
4
Hans Frehner warnt schweizerische Auswanderer sogar ausdrücklich vor seinen eigenen Landsleuten in
Brasilien. (Frehner, 1921:6) Vergleiche dazu auch: Buarque de Holanda, 1972:XXVIII, Tschudi,
1889=1971, III:242, Tschudi, 1960:2f. und Davatz, 1858:115.
5
Keller zeigt, dass die Berner Regierung bereits Anfang des XVIII. Jahrhundert ähnliche Pläne hegte,
nämlich: “ob es nicht tunlich sein werde, in Amerikam einen Distrikt Lands zu erhandeln, um die
hiesigen überlestigen Untertanen dahin ferggen zu können.” (Keller, 1936:5)
-5Er hält es, z.B., für notwendig, zu erklären, dass Bordeaux eine Hafenstadt in
Frankreich ist, oder auch dass Delphine „räuberische Tieren“ sind, die „Ähnlichkeiten
mit einem Schwein“ haben. (Schär, 1892:6) In Brasilien wird er schwer krank, die Tiere
fressen - ironischerweise während er am 1.-August-Fest teilnimmt - seine Ernte weg,
und das wenige, das er noch retten kann, ist nachher unverkäuflich. So verlässt er
enttäuscht Brasilien, und das erste, was er macht, als er wieder in der Schweiz
ankommt, ist ein gutes Glas Bier trinken. Dabei seufzt er über Brasilien: „Schlangen
gibt es dort mehr als Geld“. (Schär, 1892:23)
Thomas Davatz' Bericht über das Schicksal der im April 1855 aus Graubünden nach
Ibicaba ausgewanderten Gruppe Schweizer ist zwar weniger unterhaltsam, aber dennoch
doppelt so interessant, weil er ausführlich darüber informiert, wie es zu einem Aufstand
gegen die Fazendeiros gekommen ist. Früher sollte es zwar auch auf anderen Fazendas
zu Widersetzlichkeiten von Seiten schweizerischer Kolonisten gekommen sein,6 aber
nie wurde dabei, wie jetzt im Fall von Davatz, das Militär aufgeboten. Der Hauptgrund
dieses Aufstands lag wohl darin, dass sich die Schweizer vom Geschäftsgebaren der
Vergueiros betrogen fühlten. Ihre Schulden waren dermassen hoch, dass sie die
Hoffnung verloren hatten, jemals freie Kolonisten werden zu können.7 Als sie damit
anfingen, sich zu bewaffnen und die Unruhe auch auf andere Fazendas übergriff, rief
José Vergueiro das Militär zur Hilfe. In seinem Brief an die Behörden dramatisiert er
die Lage, indem er von einer Verschwörung europäischer Kräfte gegen Brasilien
berichtet. Laut Vergueiro gäbe es Pläne einer Invasion ausländischer Truppen, und zwar
unter der Führung der Schweiz (!), die zum Ziel hätte, alle Fazendas zu besetzen, die
Brasilianer zu vertreiben und den Boden neu aufzuteilen. Dabei könnten die Kolonisten
mit der Unterstützung von afrikanischen Sklaven rechnen und sogar von gewissen
kommunistischen Verschwörern im eigenen Lande, die von São Paulo aus operieren
würden. (Vergueiro 1857=1972:225ff.)8 Zu Gewalttaten kam es nicht, aber die
Ereignisse beunruhigten dermassen die Behörden, dass sowohl brasilianische als auch
schweizerische Untersuchungskommissionen nach Ibicaba entsandt wurden. Durch
Vermittlung des bereits in Brasilien lebenden Schweizer Gesandten Christian Heusser,
konnte Thomas Davatz mit seiner Familie die Fazenda verlassen. Heusser war es von
der Familie Vergueiro erlaubt worden, auf der Fazenda Ibicaba eine Untersuchung
durchzuführen. Wie er später zugab, wurde ihm diese Erlaubnis erst erteilt, nachdem er
José Vergueiro versprochen hatte, einen positiven Bericht über die Zustände auf der
Fazenda zu schreiben. In seinem Brief vom 4. März 1857 lobt Heusser daher die gute
Behandlung der Schweizer Kolonisten von Seiten der Familie Vergueiro. Die Schweizer
hätten sich, so Heusser, missbrauchen lassen durch die politischen Feinde der Familie
und seien ausserdem zu faul gewesen, um tüchtig zu arbeiten. Es hoffe deswegen, dass
seine Landsleute ihren Irrtum bald einsehen werden und wünsche Herrn Senator
Vergueiro viel Erfolg mit seinen Projekten. (Heusser, apud Buarque de Holanda
1972:167-168) In seinem Bericht an die Direktion der Polizei des Kantons Zürich – Die
Schweizer auf den Kolonien in St. Paulo in Brasilien (1857) – berichtet er jedoch ganz
anders über die Zustände in Ibicaba. Da liest man über die Familie Vergueiro unter
anderem Folgendes:
6
Tschudi erwähnt eine Auflehnung von Schweizer Kolonisten in Nova Olinda bei Ubatuba. (Tschudi
1889=1971, III:248)
7
Sowohl bei Davatz (1858:90f.) und Heusser (1857:5, 46) wird klar, dass dies der Hauptgrund des
Protestes ist.
8
Buarque de Holanda berichtet, dass die Angst vor einer gemeinsamer Aktion zwischen Kolonisten und
Sklaven dermassen gross war, dass viele Fazendeiros nach der Rebellion auf Ibicaba, den Ruhetag der
Europäer auf Freitag verlegten, damit sie am Sonntag nicht mit den Sklaven gemeinsame Sache machen
konnten. (Buarque de Holanda, 1972:XL)
-6Was aber die Leitung dieser ganzen Halbpacht-Kolonisation betrifft, so muss
zugegeben werden, dass dabei das Haus Vergueiro, nachdem es die Kolonisten an
irgend einen grösseren oder kleineren, reicheren oder ärmeren Gutsbesitzer
abgegeben, sich nicht mehr um dieselben gekümmert, sondern ihrem Schicksal
überlassen hat. Auch brachte die anfängliche Verschuldung es mit sich, dass die
Kolonisten ganz wie Kaufmannsware, um nicht zu sagen, wie Sklaven behandelt
wurden. (Heusser, 1857:88)
Heusser, der meinte geschickt gewesen zu sein, komplizierte mit seinem
Benehmen jedoch den diplomatischen Streit zwischen der Schweiz und
Brasilien, weil sich jetzt sowohl die schweizerische, wie auch die
brasilianische Regierung auf seinen Bericht berufen konnte. (vgl. Tschudi,
1860:1) Die Schweiz forderte nämlich, so wörtlich, „die kräftige
Intervention der Regierung, damit die durch die Herrn Vergueiro & Co.
Engagierten Schweizerkolonisten aus ihrer Sklaverei befreit werden“. Der
Ausdruck „Sklaverei“ in einem offiziellen Aktenstück machte auf die
brasilianische Regierung einen höchst unangenehmen Eindruck und rief
sofort eine Erwiderung des Aussenministers hervor. (vgl. Tschudi, 1860:3)
Das Problem war jedoch nicht nur das Schicksal der Schweizer Kolonisten,
sondern hatte auch eine finanzielle Seite. Laut Vertrag war die "Casa
Vergueiro"
nämlich
verpflichtet,
den
Heimatgemeinden
der
schweizerischen Kolonisten die von ihnen verabfolgten Reisevorschüsse
aus dem Erlös der Arbeit der Beteiligten zu ersetzen. Ab 1857 hatte das
Haus Vergueiro jedoch kein Geld mehr geschickt. Als Grund wurden die
wegen der Revolution auf Ibicaba entstandenen Kosten angegeben, sowie
die Arbeitsunfähigkeit der meisten Schweizer.9 Da sich das Haus Vergueiro
verweigerte, die Vorschüsse zurückzubezahlen, entschied sich die Schweiz
1860 dazu, den Naturwissenschaftler und Südamerikaspezialisten Johann
Jakob von Tschudi als Aussenordentlichen Gesandten nach Brasilien zu
schicken.10
9
Wenn protestantische Kolonisten ein zusätzliches Problem bildeten, hat das mehr als nur mit religiöser
Rivalität zu tun. Stärker als bei den Katholiken, herrschte unter protestantische Kolonisten ein Widerwille
gegen jede Form der Integration in der brasilianischen Gesellschaft. Noch in den dreissiger Jahren,
betrachteten Nazi-Sympathisanten aus den deutschen Kolonien Brasiliens den Katholizismus als die
grösste Gefahr für die Aufrechterhaltung eines „reinen Deutschtums“ . (cfr. Oberacker, 1936:58)
10
Trotz seiner Kritik an José Vergueiro zögert Tschudi, wie übrigens auch Heusser, nicht, die
Hauptschuld für den Misserfolg des Parceriesystems bei den Kolonisten selbst zu suchen. (Tschudi,
1889=1971, III:253 u. Heusser, 1857:31, 45) Aus einem Dokument von Tschudi geht hervor, dass von 87
Schweizer Kolonisten, die 1858 nach Brasilien ausgewandert waren, nur 13 eine gewisse Erfahrung mit
Landarbeit hatten, die meisten anderen waren Fabrikarbeiter. (Tschudi, apud Buarque de Holanda,
1972:XVII) Auch aus dem Bericht von Thomas Davatz wird klar, wie wenig die Schweizer sich in der
Landwirtschaft auskannten. Dort, wo es in seinem Bericht um landbautechnische Ausdrücke geht,
dominieren portugiesische Wörter. So spricht Davatz nicht von einer Sense, sondern er benutzt das
eingedeutsche Wort „Phosse“, nach dem portugiesischen „foice“. (Davatz, 1858:12) Auch bei Schär wird
der Misserfolg der Kolonie Alpina dadurch erklärt, dass die meisten Kolonisten kaum Kenntnis der
Landwirtschaft hatten. (Schär, 1892:30) Es gibt sogar Berichte von Kolonisten, die versuchten, bereits
gekochte Bohnen zu pflanzen. (Kooy, 1986:9) Sérgio Buarque de Holanda betont daher, dass der Einfluss
europäischer Kolonisten auf die brasilianische Landwirtschaft fast bedeutungslos geblieben ist. Er deutet
jedoch daraufhin, dass sie einen entscheidenden Beitrag zu der Modernisierung der Transportmittel
geleistet haben. (Buarque de Holanda, 1972:XXXIVf.) Auch bei Davatz wird klar, dass sich die
Schweizer über den, in ihren Augen mittelalterlichen, Karren aufregen, während sie sofort die
brasilianischen Landbautechniken (wie z.B. die Brandrodung) übernehmen. (Davatz, 1858: 12f. u. 48)
-7-
Nach Tschudi belief sich die Gesamtschuld der "Casa Vergueiro" auf circa
200.000 Franken. (Tschudi 1889=1971, III:252) Er wurde zwar vom
brasilianischen Kaiser Dom Pedro II. empfangen, konnte auch direkt mit
Kolonisten aus Ibicaba über ihre Probleme sprechen, aber José Vergueiro
verweigerte ihn den Besuch seiner Kolonien. (Tschudi, 1889=1971,
III:296ff.) Daraufhin eröffnete der Schweizer Bundesrat einen Prozess
gegen das Haus Vergueiro, aber 1865 liess José Vergueiro es zum Konkurs
kommen, um sich so seinen finanziellen Verpflichtungen zu entziehen. Erst
jetzt, wo deutlich war, dass man das Geld nie mehr zurückgewinnen
konnte, strichen auch die letzten Schweizer Gemeinden den Kolonisten die
Vorschüsse, damit sie ausgelöst werden konnten.
Wenn man zurückblickt auf die Folgen, die Thomas Davatz Bericht gehabt
hat, sind die tatsächlich erstaunlich. Wie konnte es aber ein armer
Schullehrer aus einem kleinen Dorf im Bündnerland dazu bringen, dass die
Schweiz sich genötigt sah, einen seiner Stardiplomaten nach Brasilien zu
schicken, um dort mit dem Kaiser persönlich die Sache zu besprechen?
Wie gelang es ihm, dass Preussen kurz nach dem Erscheinen seines
Berichtes die Auswanderung nach Brasilien per Gesetz verbot und dass in
São Paulo das ganze Parcerie-System wenige Jahre später aus Mangel an
Kolonisten einging? Und wie kommt es, dass Davatz von den
bedeutendsten brasilianischen Historikern unentwegt zitiert und gelobt
wird? Wie versteht sich, dass Mário de Andrade, der berühmte Vertreter
des brasilianischen Modernismus, voll Lob über Davatz schrieb? Oder wie
erklärt sich, dass eine zeitgenössische Autorin, wie Eveline Hasler den
Bericht von Davatz als Vorlage für einen erfolgreichen Roman wählte?
Der vollständige Titel seines Berichtes lautet: Die Behandlung der Kolonisten in der
Provinz St. Paulo in Brasilien und deren Erhebung gegen ihre Bedrücker. Ein Not- und
Hilfsruf an die Behörden und Menschenfreunde der Länder und Staaten, welchen die
Kolonisten angehören. Zwei Wörter konzentrieren sofort alle Aufmerksamkeit auf sich:
Erhebung und Bedrücker. Dennoch fängt der Bericht nicht mit der Darstellung dieser
Erhebung an, vielmehr präsentiert uns Davatz zuerst eine eher langweilige, seitenlange
Ausführung, wo wir mit ganz präzisen Auskünften über etwa die höchste
Mittagstemperatur in Ibicaba, den Durchmesser einer Kohlpalme oder die
verschiedensten Arten von Kürbissen gesättigt werden.11 Wer sich durchgelesen hat und
beim zweiten Teil angelangt ist, ist zuerst wieder enttäuscht, denn es werden keine
abenteuerliche Erfahrungen geschildert, sondern es erscheint eine ziemlich monotone
Auflistung der Vertragsparagraphen, welche von Seiten des Hauses Vergueiro nicht
respektiert wurden. Erst im dritten Teil wird ausführlich und lebhaft erzählt, wie es zu
dem Aufstand gekommen ist. Wo im ersten Kapitel meistens unpersönlich in der dritten
Person berichtet wird, und im zweiten Kapitel „wir - die Kolonisten“ als handelnde
Person auftreten, dominiert im letzten Kapitel ganz klar die Ich-Perspektive. Das lange
Hinauszögern des entscheidenden Teils seines Berichtes hat aber ein deutliches Ziel.
Davatz überzeugt so seine Leser davon, dass das, was jetzt kommt, auch wahr ist.
11
Manchmal bringt er sein Mehrwissen auch mit Witz in den Vordergrund: “Man hat seiner Zeit
vorgegeben, dass das Pflanzen in Brasilien nur eine leichte Gartenarbeit sei und keinen Pflug, sondern nur
eine Harcke bedürfe. Man müsste aber wahrhaftig noch lange auf´s angestrengste an einem solchen
Garten arbeiten, bis man nur einen Pflug darin gebrauchen könnte.” (Davatz, 1858:13)
-8Aus dem armen, unerfahrenen Schullehrer Thomas Davatz ist im Laufe dieses Werkes
ein überzeugter und überzeugender Erzähler geworden. Wenn er uns ganz genau zu
erzählen weiss, dass das Thermometer in Ibicaba im März höchstens bis 35º steigen
kann, wenn er haargenau den Nachsatz des von den Kolonisten unterschriebenen
Artikels 10 zu interpretieren weiss, dann muss der Leser schon ein sehr ungläubiger
Thomas sein, um jetzt noch etwaige Zweifel an seiner Darstellung der Erhebung zu
hegen.12 Er war dort, er kennt sich aus und er hat gelitten.13 Dies vergisst Davatz nicht
zu erwähnen. Die Strapazen der Fussreise vom Hafen in Santos nach Ibicaba, die
traurige Lage seiner Hütte, die Schmerzen seiner Krankheit, die sklavenähnliche
Behandlung, dies alles sorgt dafür, dass er uns immer sympathischer wird. In seinem
festen Gottesvertrauen zeigt er keinerlei Angst, trotz aller Bedrohungen hält er tapfer
durch, als ein kleiner, armer schweizerischer David, der sich dem reichen, mächtigen
brasilianischen Goliath stellt.14 Aber wenn schon David, dann sicherlich eine
eidgenössische Variante, einer, der Friedrich Schiller gelesen hat. Wo der Rütli-Schwur
in Schillers Wilhelm Tell heisst: „Wir sind ein Volk, und einig wollen wir handeln“
(Schiller, 1808=1993: 44), einigen sich die Schweizer Kolonisten unter Ablegung eines
„feierlichen, an Eidesstatt gegebenen Handgelübdes“, nach dem Grundsatz: „Einer für
Alle, und Alle für Einen!“ (Davatz, 1858:139).
Die Warum-Frage dominiert den Schluss seines Berichtes. Im Moment, wo er die
Plantage verlässt, während die anderen in Ibicaba bleiben müssen, richtet er sich mit
Grossbuchstaben direkt an seine Leser und wird dabei pathetisch:
Ihr aber, meine werten Leser [...], hört und vergesset nicht, wie und warum ich mich
von den armen Leuten getrennt habe, und warum ich gerade nach dem Vaterlande
zurückgekehrt bin. [...] Habet ein Herz für die armen Leute und helfet ihnen, so gut
ihr es vermöget! Ja, um Gottes willen, helfet!!! (Davatz, 1858:186)
Davatz schliesst seinen Bericht, indem er unentwegt von einer höheren Aufgabe und
von einem paradiesischen Ziel spricht. Dieses Ziel wäre, die Kolonisten aus ihrer
Sklaverei zu erlösen, sie auf eigene Ländereien zu übersiedeln und dafür zu sorgen, dass
sie eine ordentliche Existenz erlangen. (Davatz, 1858:208) Es klingt wie die
Verheissung vom Gelobten Land, von einem Land, das er, wie Moses, zwar sehen, aber
nicht erleben wird. Dieses Kanaan, zu dem er sein Volk begleitete, lag in Ibicaba. In der
Tupi-Sprache heisst Ibicaba „fetter Boden“.
------
12
Dies wird auch deutlich aus Sätzen, wie “Wer glaubt aber auch nicht mit mir, dass…” (Davatz
1858:188).
13
Beispiel sind Sätze, wie: “Ich rede hier nicht aus der Luft, sondern ich gebe Solches, das ich, ach leider!
nur zu oft mit meinen eigenen Ohren gehört habe”. (Davatz, 1858:4)
14
Vergleiche dazu: Davatz, 1858:154 und 157.
-9-
Bibliographie:
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Bitterli, Urs (1991): Schweizer entdecken Amerika. Reiseberichte aus zwei
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Davatz, Thomas (1858): Die Kolonisten in der Provinz St. Paulo in Brasilien, Chur, L.
Hitz.
Davatz, Thomas (1972): Memórias de um Colono no Brasil, São Paulo, Biblioteca
Histórica Brasileira. [Portugiesische Übersetzung mit Einführung und
Kommentaren von Rubens Borba de Morais und Sérgio Buarque de Holanda,
ergänzt mit Briefen von José Vergueiro, Senator Vergueiro und Tavares Bastos]
Frehner, Hans (1921): Ein Wort an Auswanderungslustige. Von einem ehemaligen
schweizerischen Urwaldpfarrer in Brasilien, Uzwil, Verlag J. Fischer.
Hasler, Eveline (1995): Ibicaba. Das Paradies in den Köpfen, Zürich, Nagel & Kimche.
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Moeschlin, Felix (1936): Ich suche Land in Südbrasilien. Erlebnisse und Ergebnisse
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Oberacker, Karlheinrich (1936): Die Weltpolitische Lage des Deutschtums in Rio
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Said, Edward W. (1978=1981): Orientalismus, Frankfurt/Berlin/Wien, Ullstein.
Schär, L. (1892): Reise und Abenteuer eines Schweizer-Colonisten in Brasilien. Selbst
erfahren und erlebt vom Verfasser dieses Büchleins, Arbon, Verlag G. Rüdlinger.
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Froebel.
Steger, Ud. (1857): Brasilien, für deutsche und schweizerische Auswanderer,
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Tschudi, Johann Jakob von (1860): Bericht des schweiz. Ausserordentlichen Gesandten
in Brasilien, Herrn v. Tschudi, an den Bundesrath über die dortigen Verhältnisse
der Kolonisten, 06.10.1860.
Wolf, Eric. R. (1982=1997): Europe and the People Without History, Berkeley/Los
Angeles/London, University of California Press.
Wir danken dem Verfasser bestens für die freundliche Wiedergabebewilligung.
Internet-Bearbeitung: K. J.
Version 12/2006
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