Sehr geehrter Herr Präsident Meckel, sehr geehrte

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Sehr geehrter Herr Präsident Meckel, sehr geehrte
Ansprache von Pastor Klaus-Peter Weinhold, Seebad Ahlbeck
auf dem Golm, 12.03.2014
Sehr geehrter Herr Präsident Meckel, sehr geehrte Damen und Herren, liebe
Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dieser Gedenkfeier!
Was trägt und hält uns, wenn die Seele friert?
Ein junges Mädchen von 14 Jahren hat vor 69 Jahren darauf einmal so geantwortet:
„Solange es das noch gibt, … und ich es erleben darf, diesen Sonnenschein, diesen
Himmel, an dem keine Wolke ist, so lange kann ich nicht traurig sein“
Was sie selber als tröstlich erlebt hat, verallgemeinert sie für alle Menschen, auch
für uns:
"Für jeden, der Angst hat, einsam oder unglücklich ist, ist es bestimmt das beste
Mittel, hinauszugehen, irgendwohin, wo er ganz allein ist, allein mit dem Himmel, der
Natur und Gott. Dann erst, nur dann, fühlt man, dass alles so ist, wie es sein soll,
und dass Gott die Menschen in der einfachen und schönen Natur glücklich sehen
will." (Tagebuch S. 192)
„Solange ich diesen wolkenlosen blauen Himmel sehen kann, darf ich nicht traurig
sein.“ Dieses Zitat ist keine Naturromantik einer Jugendlichen, sondern es ist für mich
solch ein „Eckpfeiler der Erinnerungskultur“ – ein Gegenbild gegen das
unbegreifliche Grauen, ein Bild gegen die Härte der Realität. Es ist aufgeschrieben
worden in einem Amsterdamer Hinterhaus, wo eine kleine Dachluke das einzige
Fenster zur Welt da draußen war – ein Wort der Hoffnung, des inneren Widerstandes
eines Kindes wie ein wärmender Mantel gegen das Frieren der Seele, wie ein Stück
Brot gegen den Hunger des Herzens.
Es ist ja nicht so, als habe man allezeit den Lebenssinn wie ein Stück Brot als
Wegzehrung auf unserer Reise durchs Leben parat. Nein, ich glaube, sehr oft wird
ganz im Verborgenen, im Stillen, in der eigenen Seele über Hoffnung und Zukunft
ein hartes Ringen ausgefochten. Zum tiefen Glauben gehören auch Zweifel, Fragen
über die Ungerechtigkeiten in der Welt, das Erschrecken über sinnloses Leid, was
Menschen einander zufügen, das Dunkel der Einsamkeit, für das in unserer
christlichen Tradition das Kreuz steht und die Klage: "Mein Gott, warum hast du
mich verlassen".
Wir stehen nach unserem Kirchenjahr in der Passionszeit, wo wir gerade in der
Trauer und im Leid fragen, was Glauben und Vertrauen heißen kann. Wie sehr
sehnen und brauchen wir alle ein gutes Wort von außen, das uns trifft und das auch
von uns aufgefangen werden kann, damit es unseren Tiefenschichten der Seele
Kraft gibt. Wir suchen Zeichen der Liebe Gottes. Wir sehnen uns nach einer Geste
der Nähe und der Zuwendung, eine kleine Aufmerksamkeit oder ein Zeichen des
Verstehens, die uns sagen: "Es ist gut, wie du deinen Weg durchs Leben gehst - "es
ist gut, dass du da bist - oder da warst"; keiner kann uns dieses Geschenk der
Wärme nehmen, wenn unsere Seele friert.
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Vielleicht können wir Trauernden und Nachdenklichen - besonders in solchen
Augenblicken wie heute - dem nachspüren, was uns in allen Stürmen trägt und hält.
Wie wir zurückgeworfen auf die Liebe zum Leben schmerzlich und wehmütig
erahnen, dass unsere Zeit nur gestundet ist. Wir müssen mit unseren Grenzen leben
und können doch hoffen, dass ein Engel am Wege steht, der uns den Weg über die
Brücke von Zeit und Ewigkeit weist und uns begleitet. Auch wenn wir am Ende sind,
glauben wir: hinterm Horizont geht's weiter - ein neuer Tag - unsere Grenzen sind
nicht Gottes Grenzen - er fügt zusammen, was wir zerbrochen sehen.
Was trägt und hält uns, wenn die Seele friert?
Wir stehen hier an der Skulptur des Bansiner Bildhauers Rudolf Leptien, der 1952
den Auftrag bekam und ihr den Namen: „Die Frierende“ gab – eine Mutter blickt nach
Osten, frierend, umhüllt mit einem Soldatenmantel. Aber es passte damals nicht in
eine Zeit des kalten, frierenden Krieges – weil es sich anlehnte an künstlerische
Traditionen eines Ernst Barlachs oder einer Käthe Kollwitz. Barlach hat seinem
schwebenden Engel im Dom zu Güstrow das Gesicht von Käthe Kollwitz gegeben als Achtung und Anerkennung einer Kunst, die auf der Seite der Schwachen und
Armen war. 1914 hatte Käthe Kollwitz selbst ein trauerndes Elternpaar geschaffen in Erinnerung ihres Sohnes Peters, der 1914 an der Westfront in Flandern gefallen
war. Das ist 100 Jahre her. Dort, im Westen Europas erinnert es - wir hier im Osten an den Schmerz der Unschuldigen - und man ahnt etwas von der Tiefe des
Verlustes. Keine Verherrlichung falscher Götter und Götzen, falscher Ideologien und
Beteuerungen, sondern Bilder von Trauernden, Haltsuchenden, In-sichVersunkenen. Es ist viel, wenn sich ein Gott der Liebe ganz menschlich und
solidarisch ahnen lässt. Ein Vater im Himmel, der soviel Mütterliches, Tröstendes
spüren lassen kann.
Was trägt und hält uns, wenn die Seele friert?
Helfen kann, wenn das Mütterliche bleibt. Denn die Mütter haben uns einst unter
ihrem Herzen getragen und haben uns auch Zeit ihres Lebens nie aus dem Herzen
verloren. Frauen, Mütter, Großmütter waren auf der Flucht. Sicherlich - wir brauchen
auch die väterliche Seite des Lebens, wir brauchen beides: das Lieben und das
Arbeiten - und wirklich glückliche Menschen sind nur da zu finden, wo beides
ineinander geht und zusammen verbunden ist; das hat nicht nur Albert Schweitzer
gewusst.
Ich wünsche uns für die Zeiten der Trauer viele gute Erinnerungen, Gespräche und
Erzählungen, die das Wichtige und Bleibende bewahren helfen und auch den Mut
und die Hoffnung, das Belastende schicksalsschwerer Tage auszuhalten. Von
solchen guten und heilsamen Erinnerungen heißt es in einem alten Wort: "Hüte dich
nur und bewahre deine Seele wohl, dass du nicht vergessest die Geschichte, die
deine Augen gesehen haben, und dass sie nicht aus deinem Herzen kommen alle
dein Leben lang. Und du sollst sie deinen Kindern und Kindeskindern kundtun". (5.
Mose 4,9)
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Es gibt keinen Königsweg durch die Trauer - Trauern ist Arbeit, wie uns die
Psychologie lehrt – und jeder von Ihnen und uns hat seine eigene Geschichte, seine
lebendigen Eindrücke und Bilder im Herzen. Erzählen wir uns Geschichten gegen
die Angst in Zeiten, wo die Seele friert.
In der jüdisch-christlichen Tradition ist das Erinnern und die
generationenüberspannende Weitergabe geschichtlicher Erfahrungen für die
individuelle wie kollektive Identitätsbildung zentral. Es geht um die Solidarität mit den
Opfern. Ziel solchen Erinnerns muss sein, dass sich Vergleichbares niemals
wiederholt. Aus dem Gedenken erwächst eine Stärkung zum Glauben, zu
Widerstand und Mündigkeit - eben eine Ermutigung zum Leben.
Was trägt und hält uns, wenn die Seele friert?
Eine Antwort hat unweit von hier schon im Jahre 1935 der Theologe Dietrich
Bonhoeffer im Predigerseminar Finkenwalde bei Stettin (heute: Sczeczin-Zdroje)
praktiziert. Er hat eine christliche Kultur in einer Zeit, wo auch in unserer Kirche vieles
aus dem Ruder gelaufen war, für den Garten des Menschlichen geschaffen und er
hat sie „einen Spielraum der Freiheit..." genannt. Dietrich Bonhoeffer spricht in seiner
Ethik, in seiner Einladung zum sinnvollen Leben, von der "Kultur als einem
Spielraum der Freiheit" – gegen alle Instrumentalisierung des Lebens.
Denn Kultur ist das Experimentierfeld des Möglichen. Pflegen wir die Kunst und
Musik, Literatur und Theater, den Sport und das Spiel. Denn sie führen ins Weite,
wenn sie von anderen Welten oder von dieser Welt anders erzählen. Wir brauchen
eine Kultur mit "Freiräumen des Unverfügbaren" (Kultur-Enquête des Bundestages),
in denen kulturelle Experimente und Begegnungen gelingen können.
Erinnerungsstätten, Kirchen können solche Räume sein, die das Ohr und den Blick in
die Weite führen. Ihre Geschichten, ihre Stimmungen und Gesänge weisen über den
Tellerrand hinaus. Und ich zähle die beeindruckende Arbeit in der
Jugendbegegnungsstätte Golm bewusst dazu. Hier, jenseits des Tellerrandes,
eröffnen sich "Räume der Begegnung". Deswegen ist es so wichtig für die Erfahrung
und Verteidigung der Freiheit, wenn Menschen – besonders junge Menschen –
miteinander spielen, musizieren, kochen und essen, erzählen und schweigen. So
bilden sie sich selbst und ihre Persönlichkeit – aber sie bilden auch ein Europa und
eine Welt, in der Menschen ihre Würde, ihre Freiheit und ihre Spielräume entdecken
können.
Was trägt und hält uns, wenn die Seele friert?
Noch einmal zurück zu unserem jungen Mädchen vom Anfang. Sie schreibt am Ende
in ihr Tagebuch:
„Das ist das Schwierige in dieser Zeit: Ideale, Träume, schöne Erwartungen kommen
nicht auf, oder sie werden von der grauenhaftesten Wirklichkeit getroffen und
vollständig zerstört. Es ist ein Wunder, dass ich nicht alle Erwartungen aufgegeben
habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar. Trotzdem halte ich an ihnen fest,
trotz allem, weil ich noch immer an das innere Gute im Menschen glaube.“
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Das Mädchen, das dieses Zeilen geschrieben hat, heißt Anne Frank – ihr Tagebuch
wurde und wird weiterhin von vielen Menschen gelesen. Sie starb im KZ BergenBelsen – und der 12. März 1945 – ist ihr vermutetes Todesdatum. So klein und so
nah ist diese Welt.
Was trägt und hält uns, wenn die Seele friert?
Auch weiterhin an „das innere Gute im Menschen“ glauben – wir Christenmenschen
nennen es „auf den Segen Gottes vertrauen“. Den wünsche ich Ihnen. Amen
Einladung zum Vaterunser
Vaterunser
Vater unser im Himmel.
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel,
so auf Erden,
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben
Unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich
und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen
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