Arbeitsblatt für die 1

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Arbeitsblatt für die 1
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 1
Anfangssequenzen wichtiger Autobiographien
Wo ist das Kind, das ich gewesen,
ist es noch in mir oder fort?
Weiß es, dass ich es niemals mochte
und es mich auch nicht leiden konnte?
Warum sind wir so lange Zeit
gewachsen, um uns dann zu trennen?
Warum starben wir denn nicht beide,
damals, als meine Kindheit starb?
Und wenn die Seele mir verging,
warum bleibt mein Skelett mir treu?
Wann liest der Falter, was auf seinen
Flügeln im Flug geschrieben steht?
(Pablo Neruda: Buch der Fragen)
Aurelius Augustinus: Confessiones / Bekenntnisse (ca. 400)
ERSTES BUCH
Erstes Kapitel
Groß bist du, o Herr, und deines Lobes ist kein Ende; groß ist die Fülle deiner Kraft, und deine Weisheit ist
unermeßlich. Und loben will dich der Mensch, ein so geringer Teil deiner Schöpfung; der Mensch, der sich
unter der Last der Sterblichkeit beugt, dem Zeugnis seiner Sünde, einem Zeugnis, daß du den Hoffärtigen
widerstehest; und doch will dich loben der Mensch, ein so geringer Teil deiner Schöpfung. Du schaffest,
daß er mit Freuden dich preise, denn zu deinem Eigentum erschufst du uns, und ruhelos ist unser Herz,
bis es ruhet in dir. Kläre mich auf, o Herr, und laß mich erkennen, ob wir dich zuerst anrufen oder dich
preisen; ob wir dich eher erfassen als anrufen sollen? Doch wer ruft dich an, solange du ihm unbekannt
bist? Könnte dich, der dich nicht erkennt, statt des einen ein anderes Wesen anrufen? Oder wirst du zuvor
angerufen, auf daß du erkannt werdest? Wie sollen sie aber anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen
sie aber glauben an den, der ihnen nicht geprediget worden? Loben werden den Herrn, die ihn suchen. So
ihn aber suchen, werden ihn finden, und die ihn finden, werden ihn loben. Ich will dich suchen, o Herr, im
Gebet, und ich werde dich anrufen im Glauben: denn du bist uns verkündiget worden. Mein Glaube, den
du mir gegeben, o Herr, ruft dich an, mein Glaube, den du mir einhauchtest durch die Menschwerdung
deines Sohnes durch die Vermittlung deines Predigers.
Zweites Kapitel
Wie aber soll ich anrufen ihn, meinen Gott und Herrn? Denn zu mir hinein rufe ich ihn ja, wenn ich ihn
anrufe. Wie heißt die Stätte, dahin mein Gott komme zu mir, wohin der Gott komme zu mir, der Himmel
und Erde gemacht hat? So ist also, Herr mein Gott, etwas in mir, das dich zu fassen vermag? Fassen dich
denn Himmel und Erde, die du gemacht hast und in deren Bereich du mich geschaffen? Oder faßt dich
deshalb alles, weil ohne dich nicht wäre, was ist? Da nun auch ich bin, was bitte ich dich denn, in mich zu
kommen, der ich nicht wäre, wenn du nicht wärst in mir? Denn noch bin ich nicht im Reiche des Todes,
und doch bist du dort. Denn bettete ich mich auch in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Ein Nichts wäre
ich, mein Gott, wäre überhaupt nicht vorhanden, wenn du nicht wärest in mir. Oder ich wäre vielmehr nicht,
wenn ich nicht wäre in dir, von dem alles, durch den alles, in dem alles ist. Ja, so ist es, so ist es, o Herr.
Wenn ich dich anrufe, wohin rufe ich dich, da ich ja bin in dir? Von wannen sollst du kommen zu mir?
Wohin sollte ich wohl gehen über Erde und Himmel hinaus, daß von da käme zu mir mein Gott, der da
gesprochen: Bin ich es nicht, der Himmel und Erde füllet?
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 2
Jean Jacques Rousseau: Confessions / Bekenntnisse (1764-1770)
ERSTES BUCH
1712 – 1728
Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer
finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser
Mensch werde ich sein.
Einzig und allein ich. Ich fühle mein Herz – und ich kenne die Menschen. Ich bin nicht gemacht wie
irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, daß ich auch nicht gemacht bin wie
irgendeiner von allen, die leben. Wenn ich nicht besser bin, so bin ich doch wenigstens anders. Ob die
Natur gut oder übel daran getan hat, die Form zu zerbrechen, in der sie mich gestaltete, das wird man nur
beurteilen können, nachdem man mich gelesen hat.
Die Posaune des jüngsten Gerichts mag erschallen, wann immer sie will, ich werde vor den höchsten
Richter treten, dies Buch in der Hand, und laut werde ich sprechen: »Hier ist, was ich geschaffen, was ich
gedacht, was ich gewesen. Mit gleichem Freimut habe ich das Gute und das Böse gesagt. Vom Bösen
habe ich nichts verschwiegen, dem Guten nichts hinzugefügt, und sollte es mir widerfahren sein, irgendwo
im Nebensächlichen ausgeschmückt zu haben, so ist es niemals aus einem anderen Grunde geschehen,
als um eine Lücke auszufüllen, die mein Gedächtnis verursacht hat. Ich habe für wahr halten dürfen, was
meines Wissens hätte wahr sein können, niemals aber etwas, von dem ich wußte, daß es falsch sei. Ich
habe mich so gezeigt, wie ich gewesen bin: verächtlich und niedrig, wo ich es war, und ebenso edelmütig
und groß, wo ich es war: ich habe mein Inneres so enthüllt, wie du selber es geschaut hast, ewiger Geist.
Versammle um mich die zahllosen Scharen meiner Mitmenschen, sie mögen meine Bekenntnisse
anhören, mögen ob meiner Schändlichkeiten seufzen und rot werden ob meiner Schwächen. Jeder von
ihnen entblöße am Fuß deines Thrones sein Herz mit derselben Wahrhaftigkeit, und wer von ihnen es
dann noch wagt, der mag geruhig hervortreten und sprechen: ›Ich war besser als dieser Mann dort.‹«
Ich bin in Genf dem Bürger Isaak Rousseau und der Bürgerin Susanna Bernard im Jahre 1712 geboren
worden. Von einem äußerst geringen, zwischen fünfzehn Kindern zu teilenden Vermögen war auf meinen
Vater so gut wie nichts gekommen, so daß er sich für seinen Unterhalt einzig auf sein
Uhrmacherhandwerk angewiesen sah, in dem er allerdings eine große Geschicklichkeit besaß. Meine
Mutter, eine Tochter des Pfarrers Bernard, war reicher – und sie war klug und schön. Mein Vater hatte sie
nicht ohne Schwierigkeiten bekommen. Ihre Liebe hatte fast mit ihrem Dasein begonnen: von ihrem achten
und neunten Jahre an gingen sie allabendlich zusammen auf der Treille spazieren, und schon mit zehn
Jahren konnten sie nicht mehr voneinander lassen. Die Gleichgestimmtheit, der Einklang ihrer Seelen
festigte in ihnen noch das Gefühl, das die Gewohnheit erzeugt hatte. Alle beide waren von Natur zärtlich
und empfindsam, und so harrten sie denn nur des Augenblicks, der sie im anderen die gleiche Bereitschaft
entdecken ließ, oder dieser Augenblick harrte vielmehr ihrer, und jeder von ihnen versenkte sein Herz in
das erste, das sich ihm verlangend öffnete. [...]
Meinen Vater rief man kurz nach der Geburt meines einzigen Bruders nach Konstantinopel; er reiste
hin und wurde Uhrmacher des Serails. Während seiner Abwesenheit trugen meiner Mutter ihre Schönheit,
ihr Geist und ihre Talente gar viele Huldigungen ein. Herr de la Closure, der Gesandte Frankreichs, war in
ihrer Darbringung einer der Allerhitzigsten. Seine Leidenschaft muß sehr heftig gewesen sein, da ich ihn
nach Verlauf von dreißig Jahren noch ganz gerührt gesehen habe, als er mir von meiner Mutter sprach.
Sie besaß zu ihrem Schutze mehr denn Tugend: sie liebte ihren Gatten aufs zärtlichste. Sie drängte ihn,
zurückzukehren, und er ließ alles im Stich und kam. Ich ward die traurige Frucht dieser Rückkehr. Nach
zehn Monaten wurde ich krank und schwächlich geboren, kostete meiner Mutter das Leben, und meine
Geburt war mein erstes Unglück.
Ich weiß nicht, wie mein Vater diesen Verlust ertrug, aber ich weiß, daß er ihn niemals verschmerzt hat.
Er glaubte sie in mir wiederzuerblicken, ohne jedoch vergessen zu können, daß ich sie ihm genommen
hatte; er umarmte mich niemals, ohne daß ich nicht an seinen Seufzern und dem krampfhaften Druck
seiner Arme fühlte, wie sich bittere Pein in seine Liebkosungen mischte; aber, sie wurden dadurch nur
noch zärtlicher. Wenn er zu mir sagte: »Komm, Jean-Jacques, wir wollen von deiner Mutter sprechen«,
antwortete ich: »Ach, Vater, sollen wir denn wieder weinen?«, und schon dieses Wort genügte, ihm die
Tränen in die Augen zu treiben. »Ach«, rief er stöhnend, »gib sie mir wieder, tröste mich über sie, erfülle
die Leere, die sie in meiner Seele zurückgelassen hat! Würde ich dich denn so lieben, wenn du nur mein
Sohn wärest?« Vierzig Jahre, nachdem er sie verloren, ist er in den Armen einer zweiten Frau gestorben,
aber mit dem Namen der ersten auf seinen Lippen und mit ihrem Bild auf dem Grunde seines Herzens.
Das waren die Urheber meiner Tage. Von allen Gaben, die der Himmel ihnen verliehen hatte, war ein
gefühlvolles Herz das einzige, was sie mir ließen: ihnen hatte es ihr Glück gezimmert, mir aber wirkte es
alles Unglück meines Lebens. [...]
Ich empfand, ehe ich dachte: das ist das gemeinsame Schicksal der ganzen Menschheit, ich erfuhr es
jedoch tiefer als irgend jemand anderes. Was ich bis zu meinem fünften oder sechsten Jahre trieb, ist mir
nicht bewußt. Auch wie ich lesen lernte, weiß ich nicht, ich erinnere mich nur der ersten Dinge, die ich las,
und ihrer Wirkung auf mich: und von dieser Zeit an datiert ohne Unterbrechung mein Selbstbewusstsein.
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 3
Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1809/1813)
Erster Teil
Ό µὴ δαρεὶς ά̉νθρωπος ου̉ παιδεύεθαι [Der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen.]
Als Vorwort zu der gegenwärtigen Arbeit, welche desselben vielleicht mehr als eine andere bedürfen
möchte, stehe hier der Brief eines Freundes, durch den ein solches, immer bedenkliches Unternehmen
veranlaßt worden.
„Wir haben, teurer Freund, nunmehr die zwölf Teile Ihrer dichterischen Werke beisammen, und finden,
indem wir sie durchlesen, manches Bekannte, manches Unbekannte; ja manches Vergessene wird durch
diese Sammlung wieder angefrischt. Man kann sich nicht enthalten, diese zwölf Bände, welche in einem
Format vor uns stehen, als ein Ganzes zu betrachten, und man möchte sich daraus gern ein Bild des
Autors und seines Talents entwerfen. [...].“
Erstes Buch
Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt.
Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag;
Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich
gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als
zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher
erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.
Diese guten Aspekte, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten,
mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein: denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme
kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß ich das Licht
erblickte. Dieser Umstand, welcher die Meinigen in große Not versetzt hatte, gereichte jedoch meinen
Mitbürgern zum Vorteil, indem mein Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, daher Anlaß
nahm, daß ein Geburtshelfer angestellt, und der Hebammenunterricht eingeführt oder erneuert wurde;
welches denn manchem der Nachgebornen mag zugute gekommen sein.
Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft
in den Fall dasjenige, was wir von andern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner
anschauender Erfahrung besitzen. Ohne also hierüber eine genaue Untersuchung anzustellen, welche
ohnehin zu nichts führen kann, bin ich mir bewußt, daß wir in einem alten Hause wohnten, welches
eigentlich aus zwei durchgebrochenen Häusern bestand. Eine turmartige Treppe führte zu
unzusammenhängenden Zimmern, und die Ungleichheit der Stockwerke war durch Stufen ausgeglichen.
Für uns Kinder, eine jüngere Schwester und mich, war die untere weitläuftige Hausflur der liebste Raum,
welche neben der Türe ein großes hölzernes Gitterwerk hatte, wodurch man unmittelbar mit der Straße
und der freien Luft in Verbindung kam. Einen solchen Vogelbauer, mit dem viele Häuser versehen waren,
nannte man ein Geräms. Die Frauen saßen darin, um zu nähen und zu stricken; die Köchin las ihren Salat;
die Nachbarinnen besprachen sich von daher miteinander, und die Straßen gewannen dadurch in der
guten Jahrszeit ein südliches Ansehen. Man fühlte sich frei, indem man mit dem Öffentlichen vertraut war.
So kamen auch durch diese Gerämse die Kinder mit den Nachbarn in Verbindung, und mich gewannen
drei gegenüber wohnende Brüder von Ochsenstein, hinterlassene Söhne des verstorbenen Schultheißen,
gar lieb, und beschäftigten und neckten sich mit mir auf mancherlei Weise.
Die Meinigen erzählten gern allerlei Eulenspiegeleien, zu denen mich jene sonst ernsten und einsamen
Männer angereizt. Ich führe nur einen von diesen Streichen an. [...]
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 4
Jean Paul: Selberlebensbeschreibung (1819/1826)
Erste Vorlesung
Wonsiedel – Geburt – Großvater
Geneigteste Freunde und Freundinnen!
Es war im Jahr 1763, wo der Hubertsburger Friede zur Welt kam und gegenwärtiger Professor der
Geschichte von sich; - und zwar in dem Monate, wo mit ihm noch die gelbe und graue Bachstelze, das
Rotkehlchen, der Kranich, der Rohrammer und mehre Schnepfen und Sumpfvögel anlangten, nämlich im
März; - und zwar an dem Monattage, wo, falls Blüten auf seine Wiege zu streuen waren, gerade dazu das
Scharbock- oder Löffelkraut und die Zitterpappel in Blüte traten, desgleichen der Ackerehrenpreis oder
Hühnerbißdarm, nämlich am 21ten März; - und zwar in der frühesten frischesten Tagzeit, nämlich am
Morgen um 1½ Uhr; was aber alles krönt, war, daß der Anfang seines Lebens zugleich der des damaligen
Lenzes war.
Den letzten Einfall, daß ich und der Frühling zugleich angefangen, hab' ich in Gesprächen wohl schon
hundert Male vorgebracht; aber ich brenn' ihn hier absichtlich wie einen Ehrenkanonenschuß zum 101ten
Male ab, bloß damit ich mich durch den Abdruck außer Stand setze, einen durch den Preßbengel schon
an die ganze Welt herumgereichten Bonmot-Bonbon von neuem aufzutragen. Es ist nicht gut, wenn in die
Geschichte eines Mannes - und heckte er täglich die neuen Einfälle zu Schocken – das Schicksal selber
ein Wortspiel wie ein Nestei gelegt hat; auf diesem Ei sitzt und brütet er sein Leben lang und will etwas
herausbringen. So hab' ich einen Balbier und einen Kutscher gekannt, welche beide auf die Frage, wie sie
hießen, niemals anders oder einfacher oder mit weniger Witz [zu] antworten pflegten als: „Ihr gehorsamer
Diener“ - oder auch: „Ihr Diener Diener“; aber die Ursache war, jeder hatte das Unglück, Diener zu heißen,
und damit waren sie zu einem unaufhörlichen Einfalle verdammt und ihr Passat-Witz strömte nach einer
Richtung fort. - Um so weniger hoffe keiner von uns, meine Verehrtesten, irgendeinen Mann, der einen
Eigen- und Gemeinnamen zugleich führt, wie z. B. Ochs und Rapinat (beide sonst in der Schweiz) – Wolf Schlegel - Richter, einen solchen doppelnamigen Mann, mit irgendeinem noch so glänzenden
Wortnamenspiel zu überraschen; denn er hat lange genug mit seinem Namen gelebt, um nicht jede
Namenanspielung, die dem Neuling seiner Bekanntschaft neu, fern und witzig vorkommt, in sich als
abgenützte zu finden. Witziger wortspielte z. B. Müllner mit Schotten und Schatten; denn kein Schotte hielt
sich je für einen Schatten, und kein Schatte für einen Schotten, denn zwei Selblauter trennen sie ewig.
- Ich kehre aber zu unserer Geschichte zurück und begebe mich unter die Toten; denn alles ist aus der
Welt, was mich auf sie kommen sah. Mein Vater hieß Johann Christian Christoph Richter und war Tertius
und Organist in Wunsiedel; meine Mutter, die Tochter des Tuchmachers Johann Paul Kuhn in Hof, hieß
Sophia Rosina. Am Tage nach der Geburt wurd' ich vom Senior Apel getauft. Der eine Taufpate war
gedachter Johann Paul; der andere Johann Friedrich Thieme, ein Buchbinder, der damals nicht wußte,
welchem Mäzen seines Handwerks er seinen Namen verlieh; daher denn der von beiden
zusammengeschoßne Name Johann Paul Friedrich entstand, dessen großväterliche Hälfte ich ins
Französische übertragen und dadurch zum ganzen Namen Jean Paul erhoben, aus Gründen, welche in
spätern Vorlesungen dieses Winterhalbjahrs vollständig angegeben werden sollen.
Aber jetzo mag der Held und Gegenstand dieser historischen Vorlesungen unbesehen in der Wiege
und an der Mutterbrust so lange liegen und schlafen - da doch dem langen Morgenschlaf des Lebens
nichts für allgemein-welthistorisches Interesse abzuhören ist - so lange, sag' ich, bis ich von denen
gesprochen, wenn auch nicht viel und genug, nach welchen mein Herz sich und die Feder hindrängt, von
meinen Vorverwandten, von Vater, Mutter und Großeltern.
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 5
André Gide: Stirb und werde [Si le grain ne meurt] (1916/1926)
Erster Teil
1.
Ich wurde am 22. November 1869 geboren. Meine Eltern bewohnten damals in der Rue de Médicis eine
Wohnung im vierten oder fünften Stock, die sie einige Jahre später aufgaben und an die mir keine
Erinnerung geblieben ist. Nur den Balkon habe ich noch vor mir, oder vielmehr das, was man vom Balkon
aus sehen konnte: den Platz aus der Vogelperspektive mit dem Becken und dem Springbrunnen darin oder, noch genauer, ich sehe die Papierdrachen, die mein Vater mir gebastelt hatte und die wir von
diesem Balkon aus fliegen ließen; der Wind trug sie über den Platz und das Brunnenbecken hinweg bis
zum Jardin du Luxembourg, wo sie sich in den hohen Ästen der Kastanienbäume verfingen. Ich erinnere
mich auch an einen ziemlich großen Tisch, den Eßzimmertisch wohl, auf dem eine bis zum Boden
reichende Decke lag; darunter verkroch ich mich mit dem Sohn der Concierge, einem Jungen in meinem
Alter, der manchmal zu mir kam.
„Was treibt ihr denn da unten?“ rief mein Kindermädchen.
„Gar nichts. Wir spielen.“
Und wir machten ein bißchen Lärm mit einigen Spielsachen, die wir zum Schein mitgebracht hatten. In
Wirklichkeit amüsierten wir uns auf andere Weise: einer neben dem anderen, wenn schon nicht einer mit
dem anderen - wir hatten, wie ich später erfuhr, das, was man „schlechte Gewohnheiten“ nennt.
Wer von uns beiden hatte sie dem anderen beigebracht? Und von wem hatte sie der erste? Ich weiß es
nicht. Man wird wohl annehmen müssen, daß bisweilen ein Kind sie neu erfindet. Ich jedenfalls könnte
nicht sagen, ob mich jemand die Lust gelehrt hat oder wie ich sie sonst entdeckte; aber so weit ich auch
zurückdenken kann, ist sie da.
Ich weiß im übrigen, wie sehr ich mir damit schade, dies und alles folgende zu erzählen; ich sehe voraus,
wie man es gegen mich wird verwenden können. Aber mein Bericht hat nur Sinn, wenn er der Wahrheit
entspricht. Nehmen wir einmal an, daß ich ihn aus Reue schreibe.
In dem unschuldigen Alter, in dem man in der Seele gerne nichts als Lauterkeit, Zartheit und Reinheit
sieht, entdecke ich in mir nur Finsternis, Häßlichkeit und Heimtücke.
Man brachte mich in den Jardin du Luxembourg; aber ich weigerte mich, mit den anderen Kindern zu
spielen; ich blieb abseits und verdrossen bei meinem Kindermädchen sitzen und beobachtete ihre Spiele.
Mit ihren Eimern buken sie Sandkuchen, die sie fein säuberlich nebeneinander aufreihten... Plötzlich, in
einem Augenblick, als mein Kindermädchen gerade den Kopf abgewandt hatte, stürzte ich hin und
zerstampfte alle Kuchen mit den Füßen.
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 6
Thomas Mann: [Lebenslauf 1936]
Ich bin geboren am Sonntag den 6.Juni 1875 mittags zwölf Uhr. Der Planetenstand war günstig, wie
Adepten der Astrologie mir später oft versicherten, indem sie mir auf Grund meines Horoskops ein langes
und glückliches Leben sowie einen sanften Tod verhießen. Was das Leben betrifft, so konnten sie ihre
Prophezeiung zum guten Teil schon von seinen Tatsachen ableiten; denn viel Glück und Gunst kommt
darin vor, ja, seine Gesamttendenz ist glücklich zu nennen, mögen sich auch ernste Hemmungen und
Erschwierigungen unter seinen Voraussetzungen befinden. In einem meiner Bücher, den ‚Geschichten
Jaakobs’ habe ich gesagt: „Denn das ist dünner Aberglaube, zu meinen, das Leben von Segensleuten sei
eitel Glück und schale Wohlfahrt. Bildet der Segen doch eigentlich nur den Grund ihres Wesens, welcher
durch reichliche Qual und Heimsuchung zwischenein gleichsam golden hindurchschimmert.“ - Dieses
Aperçu ist durchaus von meinem eigenen Leben abgezogen.
Meine Geburtsstadt war Lübeck, eine schöne alte Stadt, nahe der Ostsee, von mittelalterlichem
Gepräge, welche ehemals, wie Hamburg, Bremen und Danzig, dem Hansa-Bunde angehört hatte (über
welchen meine amerikanischen Leser sich aus Geschichtsbüchern belehren mögen) und Freie
Reichsstadt geblieben war, republikanisch wie einst Venedig, regiert von einem Bürgermeister (Dogen),
der offiziell den Titel Magnifizenz führte, einem Senat, dessen Mitgliedern noch aus früherer Zeit der
allmählich humoristisch gewordene Titel ‚Euer Wohlweisheit’ anhing (mein Vater gehörte dieser
Körperschaft an), und einem Parlament, das aus der Bürgerschaft gewählt und darum auch einfach ‚die
Bürgerschaft’ genannt wurde.
Meine Kindheit war gehegt und glücklich. Mit vier Geschwistern wuchs ich auf in einem eleganten
Stadthause, das mein Vater sich und den Seinen erbaut hatte, und erfreute mich eines zweiten Heimes in
dem alten Familienhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert, mit dem Spruche ‚Dominus providebit’ am
Rokoko-Giebel, welches meine Großmutter väterlicherseits allein bewohnte und das heute als
‚Buddenbrook-Haus’ einen Gegenstand der Fremdenneugier bildet. - Während mein Vater, Inhaber einer
Getreidehandlung, die während meiner Kindheit ihr hundertjähriges Jubiläum beging, Enkel und Urenkel
Lübecker Bürger war, hatte meine Mutter in Rio de Janeiro als Tochter eines deutschen
Plantagenbesitzers und einer portugiesisch-kreolischen Brasilianerin das Licht der Welt erblickt und war
mit sieben Jahren nach Deutschland verpflanzt worden. Sie war von ausgesprochen romanischem Typus,
in ihrer Jugend eine vielbewunderte Schönheit und außerordentlich musikalisch. Frage ich mich nach der
erblichen Herkunft meiner Anlagen, so muß ich an Goethe's berühmtes Verschen denken und feststellen,
daß auch ich „des Lebens ernstes Führen“ vorn Vater, die „Frohnatur“ aber, das ist die künstlerischsinnliche Richtung und - im weitesten Sinne des Wortes - die „Lust zu fabulieren“, von der Mutter habe.
Die glücklichsten Zeiten meiner Jugend, ja wohl meines Lebens überhaupt, waren die vierwöchigen
Sommerferien, die ich mit den Meinen fast jedes Jahr in dem benachbarten Seebadeort Travemünde
verbrachte. Ich liebte die gepflegte und unbildenlose Idyllik dieses Aufenthaltes um so inniger, als ich die
Schule verabscheute und ihren Anforderungen bis ans Ende nicht Genüge tat. Was mich daran hinderte
und mir die Lernfron nebst allem Zubehör verhaßt machte, war Widersetzlichkeit gegen ihre Disziplin, ihre
Abrichtungsmethoden, es war träumerische Trägheit, Indolenz, Bedürfnis nach freier Zeit für Müßiggang
und stille Lektüre, Abneigung gegen Kameradschaft mit dem Durchschnitt und ähnliche
Charaktereigenschaften. Trotzdem war ich geachtet und sogar beliebt bei meinen Genossen, nicht nur
meiner patrizischen Herkunft wegen, sondern eigentlich und besonders auf Grund einer formalen und
allgemein geistigen Überlegenheit, die schwer zu definieren war und von den Kameraden als vage
anziehend, von den Lehrern vorwiegend als ungehörig und dienstwidrig empfunden wurde.
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 7
Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht (1949/1952)
Prolog
Wo beginnt die Geschichte? Wo sind die Quellen unseres individuellen Lebens? Welche versunkenen
Abenteuer und Leidenschaften haben unser Wesen geformt? Woher kommt die Vielfalt widerspruchsvoller
Züge und Tendenzen, aus denen unser Charakter sich zusammensetzt?
Ohne Frage, wir sind tiefer verwurzelt, als unser Bewußtsein es wahrhaben will. Niemand, nichts ist
zusammenhanglos. Ein umfassender Rhythmus bestimmt unsere Gedanken und Handlungen; unsere
Schicksalskurve ist Teil eines gewaltigen Mosaiks, das durch Jahrhunderte hindurch dieselben uralten
Figuren prägt und variiert. Jede unserer Gesten wiederholt einen urväterlichen Ritus und antizipiert
zugleich die Gebärden künftiger Geschlechter; noch die einsamste Erfahrung unseres Herzens ist die
Vorwegnahme oder das Echo vergangener oder kommender Passionen.
Es ist ein langes Suchen und Wandern: Wir mögen es zurückverfolgen bis ins fahle Zwielicht der Höhle,
des barbarischen Tempels. Das blutige Zeremoniell der Darbringung geht weiter in unseren Träumen; in
unserem Unterbewußtsein widerhallen die Schreie vom primitiven Altar, und die Flamme, die das Opfer
verzehrt, sendet noch immer ihre flackernden Lichter. Die atavistischen Tabus und inzestuösen Impulse
früher Generationen bleiben in uns lebendig; die tiefste Schicht unseres Wesens büßt für die Schuld der
Ahnen; unsere Herzen tragen die Last vergessenen Kummers und vergangener Qual.
Woher stammt diese Unruhe in meinem Blut? Unter meinen nordischen Vorfahren mag es Piraten
gegeben haben, deren Rastlosigkeit in mir weiterlebt. Welche meiner Schwächen und Laster verdanke ich
einem hanseatischen Urgroßvater - Kapitän, Handelsmann oder Richter -, dessen Namen ich nie kennen
werde? Was ich für mein persönlichstes Drama hielt, ist vielleicht nur die Fortsetzung von Tragödien, die
sich einst in der stickigen Gemütlichkeit eines norddeutschen Patrizierhauses abgespielt haben - weit weg,
irgendwo am Gestade der Ostsee.
Eine würdig-idyllische Kleinstadt mit engen Gassen und grauen, giebeligen Häusern: Beginnt hier die
Geschichte? Ich habe nichts mit dieser Stadt zu tun, noch verlangt es mich, sie jemals zu besuchen. Und
doch würde ich nicht existieren ohne einen gewissen Senator Heinrich Mann, hochrespektablen Bürger
der Freien Hansestadt Lübeck, aber eben doch nicht mehr völlig hochrespektabel, schon ein wenig
exzentrisch. Ein Lübecker Patrizier, der wirklich zur Gänze comme il faut ist, sucht sich seine
Lebensgefährtin unter den Töchtern der Stadt und wählt nicht eine junge Dame aus dem fernen Brasilien,
wie der Senator es tat. Sie war das Kind eines deutschen Kaufmanns und einer Eingeborenen. Daß sie als
kleines Mädchen den Ozean auf einem Segelschiff überqueren mußte, um nach Lübeck zu gelangen,
schien mir das aufregendste Detail ihrer Geschichte. Denn dort, in der nördlichen Fremde, genoß sie eine
durchaus ‚feine’, bedauerlich unromantische Erziehung und bewegte sich bald ganz natürlich unter den
blonden Gespielinnen. Doch blieb es reizend, sich den Großpapa vorzustellen - den ich übrigens in
Wirklichkeit nie gesehen hatte -, wie er mit seiner exotischen Braut zur Kirche fuhr. Der Senator, sehr
stattlich und distinguiert, mit Backenbart, hohem Stehkragen, lehnt, ein wenig befangen, im Fond der
prächtigen Kutsche, den er mit ihr teilt. Sie, das dunkle Köpfchen an ihn geschmiegt, darf hinter
geschlossenen Lidern noch einmal die Palmen und bunten Vögel ihrer brasilianischen Heimat sehen,
während der Wagen, vorbei an viel altem Gemäuer und majestätisch ragenden Türmen, den Weg zum
Altar nimmt.
Frau Julia schenkte dem Senator fünf Kinder, zwei Töchter und drei Knaben. Die beiden älteren Söhne
hießen Heinrich und Thomas.
Das Mannsche Haus gehörte zu den feinsten der Stadt. Man speiste vorzüglich dort, auch die Weine
ließen nichts zu wünschen übrig. Die Familie erfreute sich allgemeiner Beliebtheit, obwohl sie letzthin so
viel Pech gehabt hatte, daß es beinah anstößig wirkte. Die Schwester des Senators, Elisabeth, ließ sich
von ihrem süddeutschen Gatten scheiden und kam auch mit ihrem zweiten Gemahl nicht aus; noch
problematischer stand es um einen Bruder, meinen Großonkel Friedel, einen neurotischen Tunichtgut, der
sich in der Welt herumtrieb und über eingebildete Krankheiten klagte. Was aber die schöne Frau Senator
betraf, so ließ sich nicht leugnen, daß sie unter den Damen der bourgeoisen Aristokratie oft ein wenig fehl
am Platz wirkte. Nicht als ob an ihrem Lebenswandel etwas auszusetzen gewesen wäre! Man fand sie nur
ein bißchen zu ‚originell’. Es lag wohl an der exotischen Herkunft. In Lübeck paßt es sich nicht, so dunkle
Augen zu haben wie Frau Julia Mann; Schmelz und Feuer ihres Blickes hatten schon den Stich ins
Skandalöse. Sie spielte Klavier, gerade ein wenig zu gut für eine Dame in ihrer Stellung, und sang
fremdländische Lieder, die lieblich, aber auch verfänglich klangen: Nur gut, daß man den Text nicht
verstand... Die beiden Söhne, Heinrich und Thomas, wären gewiß viel lustiger und strammer geworden,
hätten sie eine Mama von gutem nordischem Schlage gehabt an Stelle der übertriebenen pikanten
Brasilianerin. Mit den beiden Jungen war nicht viel Staat zu machen; in der Schule fielen sie durch
Aufsässigkeit und Faulheit auf, was verzeihlich gewesen wäre, wenn sie sich wenigstens sportlich
hervorgetan hätten. Gerade auf diesem Gebiet aber waren sie komplette Versager. Es ging das Gerücht,
daß sie sich mit Literatur beschäftigten. Der Herr Senator konnte einem leid tun! Kein Wunder, daß er oft
so nervös und deprimiert erschien.
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 8
Lola Landau: Vor dem Vergessen. Meine drei Leben. Autobiographie (1952/1987)
1.
Aus meiner frühen Kindheit steigt ein Erlebnis auf - das tönt mit dem Grundklang künftigen Schicksals.
Die Vierjährige preßt ihr Gesicht an die Glasscheibe des fahrenden Zuges. Bäume und fremde Häuser
laufen vorüber. Aber das Kind starrt nur gebannt auf die Drähte vor dem Fenster, welche den Zug
begleiten.
Wie sie langsam heben, höher und höher klimmen! Sie wollen hinauf in den Himmel klettern, sie sehen
aus wie die Saiten des Cellos, mit dem der Vater an manchen Abenden Musik macht.
Wenn die Drähte den Himmel erreichen - so träumt das Kind -, werden auch sie zu singen beginnen,
nur schöner als das Cello von Engelshänden gestrichen.
Aber nun werden sie jäh zu Boden gerissen; die Drähte fallen, sie schleifen dicht über der Erde. Es tut
dem Kind weh, als ob es selber mitfiele, aus den Wolken auf die harte Erde.
O Wunder, nun steigen die Drähte wieder aufwärts, diesmal werden sie den Himmel gewiß erstürmen.
Doch wieder werden sie kurz vor dem Ziel niedergeschlagen, und erneut klettern sie mühsam in die Höhe.
Das Kind wird nicht müde diesem Spiel zuzuschauen, mitzusteigen und mitzusinken. Ahnt es in dieser
schwebenden, ewig vergeblichen und doch ewig hoffnungsvollen Bewegung das eigene Geschick voraus,
den Niederbruch und die Schleuderkraft, die es immer wieder aus tiefster Tiefe hochreißen wird?
So läuft mein Leben, ein tönender Draht neben dem sausenden Zug, Fall und Auftrieb, wieder und wieder.
Wenn ein Straßenbahnwagen vorüberfuhr, so klirrten die Glasgehänge an den Kronleuchtern im Salon,
und die ganze Front unserer Wohnung am Kurfürstendamm in Berlin schien zu zittern wie unter einem
kaum spürbaren Erdbeben. Das Dröhnen der bis in die tiefe Nacht belebten Prachtstraße begleitete das
Leben in meinem Elternhause, die rastlose Bewegung der Großstadt, von der man mitgetragen wurde. Es
war eine Straße, die mit ihrem Prunk aus Stuck, ihren verschnörkelten Fassaden, ihren Säulen aus
falschem Marmor vor den hohen Mietshäusern die Züge der Zeit zeigte, protzig, parvenuhaft, ein
Emporkömmling ohne Tradition in dem reich gewordenen Deutschland von 1913. Aber im Sommer gaben
die Balkone, mit roten und rosa Geranien bepflanzt, der Straße die Farbe echter Jugend, und dann wurde
sie zur eleganten Promenade schlendernder Spaziergänger, so daß wir aus den breiten Fenstern unserer
Wohnung wie auf einen Korso blickten.
Mein Vater, der neben seinem Beruf als Frauenarzt ein Liebhaber der schönen Künste war, hatte jeden
Raum in einem anderen Zeitstil eingerichtet, so daß ich von einem Zimmer in das nächste wie von einem
Jahrhundert in das andere wanderte. Von der Diele mit dem goldenen Dunkel ihrer gotischen
Holzmadonnen und verzückten Heiligen trat ich in den Musikraum in seiner frühlingshaften Helligkeit mit
den großgeblümten, damastseidenen Sesseln im Stil Louis seize, und von dort gelangte ich in das grüne
Empirezimmer mit den steifen, mit metallenen Beschlägen verzierten Kommoden und Stühlen. Dort hielt
ich mich nicht gerne auf und ging schnell in die Behaglichkeit des Biedermeierzimmers mit seiner
Sofaecke. Die schneeweißen Mullgardinen, der Klingelzug mit Perlstickerei und die Glasvitrine mit dem
handbemalten Porzellan hatten früher in meinem großelterlichen Hause in Süddeutschland gestanden,
und der Hauch von Behaglichkeit haftete an ihnen.
Wenn meine schöne Mutter mit ihren kleinen festen Händen dort den Tee einschenkte, füllte sich der
Raum mit dem warmen Glanz des Zuhause. Wenn sie dann im Salon am Flügel saß und mit ihrer tiefen
Altstimme Carmen sang, glich sie mit der Fülle ihres schwarzen Haares der feurigen Spanierin, und im
Empirezimmer, wenn sie Gäste empfing, war sie die große Dame. Wo sie auch war, selbst in der Küche,
wenn sie mit vorgebundener Schürze der Köchin eines ihrer Rezepte zeigte, strömte ihr überstarkes
Leben in die Dinge über, und ohne herrschsüchtig zu sein, dominierte sie doch uns alle völlig - meine
kleine Schwester, mich und scheinbar auch meinen Vater. Nur scheinbar. Denn mein noch immer in sie
verliebter Vater, dem sie so unentbehrlich war wie der Atem, wehrte sich doch manchmal gegen ihre
überstarke Persönlichkeit durch sein Lächeln. Es war ein Lächeln voll leiser Ironie, von überlegener
Weisheit, in die er sich vor dem stürmischen Lebenswillen seiner ehrgeizigen Frau bisweilen zurückzog.
Damals wußte ich nicht, daß es ein jüdisches Lächeln war, die Maske des assimilierten Juden in fremder
Umwelt. Aber dieses Lächeln, dieser gütige Spott meines Vaters erzog mich mehr als alle lebhaften
Ermahnungen der Mutter, die mich aus meinem Traumleben in die Sphäre der Wirklichkeit versetzen
wollte, mit allen Forderungen, die damals die bürgerliche Gesellschaft an ein jüdisches Mädchen stellte.
Aber wie sollte ihr dies gelingen, da ich - zu sehr behütet - die Welt nur durch gläserne Wände
erblickte. Reichtum, den mein Vater in schwerer Arbeit errungen, umgab mich wie eine schützende Mauer,
hinter der erst das eigentliche Leben mit seiner Wildnis und seinen Kämpfen begann. Ich ahnte nichts
davon. Ich war erzogen wie die Mädchen meiner Generation, welche die Frauenemanzipation in ein rein
geistiges Studium drängte, das lebendige Leben in tote Formeln pressend. Ich hatte viel gelernt, viel
gelesen, und wie in den Räumen unserer Wohnung war ich heimisch in der Kulturgeschichte Europas, die
ich wie eine Bildergalerie durchstreifte. Es war ebenso leblos und gefahrlos wie ein Museum. Ich studierte
englische Literatur; bereitete mich darauf vor, die Prüfung zur Sprachlehrerin zu bestehen. Aber das
Leben hatte mir, dem wohlerzogenen jungen Mädchen, noch keine andere Prüfung aufgegeben, als den
Blick in den verwirrenden Spiegel der eigenen Seele, in den ich gebannt starrte. Das Ich, das zitternde,
neugierige Ich mit tausend unbestimmten Sehnsüchten war das Abenteuer. Dort im Inneren, in der Tiefe,
spielte sich für mich das Leben ab. Dort tauchte ich ein und lauschte einer lockenden, chaotischen Musik,
die mir das wohlgeordnete äußere Leben nicht gewährte, und in meinem Mädchenzimmer mit den
kindlichen weißen Möbeln lebte ich in einer tropischen Welt der Phantasie und schrieb - Gedichte.
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 9
Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend (1977)
Teil I: Rustschuk 1905 – 1911
Meine früheste Erinnerung
Meine früheste Erinnerung ist in Rot getaucht. Auf dem Arm eines Mädchens komme ich zu einer Tür
heraus, der Boden vor mir ist rot, und zur Linken geht eine Treppe hinunter, die ebenso rot ist. Gegenüber
von uns, in selber Höhe, öffnet sich eine Türe und ein lächelnder Mann tritt heraus, der freundlich auf mich
zugeht. Er tritt ganz nahe an mich heran, bleibt stehen und sagt zu mir: „Zeig die Zunge!“ Ich strecke die
Zunge heraus, er greift in seine Tasche, zieht ein Taschenmesser hervor, öffnet es und führt die Klinge
ganz nahe an meine Zunge heran. Er sagt: „Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab.“ Ich wage es nicht, die
Zunge zurückzuziehen, er kommt immer näher, gleich wird er sie mit der Klinge berühren. Im letzten
Augenblick zieht er das Messer zurück, sagt: „Heute noch nicht, morgen.“ Er klappt das Messer wieder zu
und steckt es in seine Tasche.
Jeden Morgen treten wir aus der Tür heraus auf den roten Flur, die Türe öffnet sich, und der lächelnde
Mann erscheint. Ich weiß, was er sagen wird und warte auf seinen Befehl, die Zunge zu zeigen. Ich weiß,
daß er sie mir abschneiden wird und fürchte mich jedesmal mehr. Der Tag beginnt damit, und es
geschieht viele Male.
Ich behalte es für mich und frage erst sehr viel später die Mutter danach. Am Rot überall erkennt sie die
Pension in Karlsbad, wo sie mit dem Vater und mir den Sommer 1907 verbracht hatte. Für den
Zweijährigen haben sie ein Kindermädchen aus Bulgarien mitgenommen, selbst keine fünfzehn Jahre alt.
In aller Frühe pflegt sie mit dem Kind auf dem Arm fortzugehen, sie spricht nur bulgarisch, findet sich aber
überall in dem belebten Karlsbad zurecht und ist immer pünktlich mit dem Kind zurück. Einmal sieht man
sie mit einem unbekannten jungen Mann auf der Straße, sie weiß nichts über ihn zu sagen, eine
Zufallsbekanntschaft. Nach wenigen Wochen stellt sich heraus, daß der junge Mann im Zimmer genau
gegenüber von uns wohnt, auf der anderen Seite des Flurs. Das Mädchen geht manchmal nachts rasch zu
ihm hinüber. Die Eltern fühlen sich für sie verantwortlich und schicken sie sofort nach Bulgarien zurück.
Beide, das Mädchen und der junge Mann, gingen sehr früh von zu Hause fort, auf diese Art müssen sie
sich zuerst begegnet sein, so muß es begonnen haben. Die Drohung mit dem Messer hat ihre Wirkung
getan, das Kind hat zehn Jahre darüber geschwiegen.
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 10
Simone de Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause (1958/ dt.: 1960)
I
Ich bin am 9. Januar 1908 um vier Uhr morgens geboren, und zwar in einem Zimmer mit weißlackierten
Möbeln, das nach dem Boulevard Raspail zu lag. Auf Familienphotographien, die aus dem folgenden
Sommer stammen, sieht man junge Damen in langen Kleidern und straußfedergeschmückten Hüten sowie
Herren mit ‘Kreissägen’ und Panamas auf dem Kopf, die einem Baby zulächeln; das sind meine Eltern,
mein Großvater, meine Onkel und Tanten - und ich. Mein Vater war damals dreißig Jahre alt, meine Mutter
einundzwanzig, und ich war ihr erstes Kind. Ich wende eine Seite im Album um: Mama hält ein Baby auf
dem Arm, doch das bin diesmal nicht mehr ich; ich trage bereits einen Plisseerock und eine Baskenmütze
und bin zweieinhalb Jahre alt; inzwischen ist meine Schwester auf die Welt gekommen. Ich war, so scheint
es, eifersüchtig, aber nur kurze Zeit. So lange ich mich zurückerinnern kann, war ich stolz darauf, die
Ältere und damit die Erste zu sein. Als Rotkäppchen verkleidet, trage ich einen Korb am Arm mit einem
Kuchen und einem Topf Butter darin; ich fühlte mich interessanter als das Baby, das ohne Hilfe noch nicht
aus seiner Wiege heraus konnte. Ich hatte eine kleine Schwester, aber der Säugling ‘hatte’ mich nicht.
Aus meinen ersten Jahren finde ich in mir nur noch einen unbestimmten Eindruck von etwas, das rot,
schwarz und warm ist. Die Wohnung war rot, und rot auch der Moquetteteppich, das
Renaissance-Speisezimmer, die gepreßte Seide, die die Glastüren verkleidete, sowie die Plüschvorhänge
in Papas Arbeitszimmer; das Mobiliar dieser geheiligten Stätte war aus schwarzem Birnbaumholz, ich
kroch in die Höhlung unter dem Schreibtisch und hockte dort, in Finsternis gehüllt. Es war da dunkel, es
war warm, und das Rot des Moquetteteppichs stach mir lebhaft in die Augen. So verging meine allererste
Zeit. Ich schaute, tastete und machte in warmer Geborgenheit Bekanntschaft mit der Welt.
Mein tägliches gesichertes Sein verdankte ich Louise. Sie kleidete mich morgens an, zog mich abends
aus und schlief nachts im gleichen Zimmer wie ich. Jung, ohne Schönheit und ohne Geheimnis, da sie –
so glaubte ich wenigstens - nur dazu da war, über mich und meine Schwester zu wachen, erhob sie
niemals die Stimme, niemals schalt sie uns ohne Grund. Ihr ruhiger Blick beschützte mich, während ich im
Luxembourggarten Sandkuchen backte und meine Puppe Blondine im Arme wiegte, die in der Christnacht
mitsamt dem Koffer, der ihre Ausstattung enthielt, vom Himmel herabgekommen war. Wenn es Abend
wurde, setzte sich Louise zu mir, sah mit mir Bilderbücher an und erzählte mir Geschichten dazu. Ihre
Gegenwart war für mich notwendig und erschien mir natürlich wie die des Bodens unter meinen Füßen.
In meine Mutter, die mir ferner und weit kapriziöser vorkam, war ich gewissermaßen verliebt; ich saß in
der duftenden Wohligkeit ihrer Arme auf ihrem Schoß und bedeckte ihre Haut, die noch die einer jungen
Frau war, mit Küssen; manchmal erschien sie des Nachts an meinem Bett, schön wie ein Gemälde in
ihrem mit einer malvenfarbenen Blume geschmückten moosgrünen Kleid oder in der von schwarzen
Jettperlen funkelnden Abendrobe. Wenn sie böse war, ‘sah sie mich groß an’; ich fürchtete diesen
Gewitterblitz, der ihr Antlitz unschön erscheinen ließ; ich brauchte ihr Lächeln.
Meinen Vater bekam ich nur wenig zu Gesicht. Jeden Morgen begab er sich ins ‘Palais’, den
Justizpalast, mit einer Mappe voller Dinge unter dem Arm, die man nicht anrühren durfte und die er seine
Akten nannte. Er trug weder Voll- noch Schnurrbart, seine Augen waren blau und vergnügt. Wenn er
abends heimkam, brachte er Mama Parmaveilchen mit, sie küßten einander und lachten. Papa lachte
auch mit mir; er lehrte mich singen: C'est une auto grise... oder Elle avait une jambe de bois. Er verbIüffte
mich, indem er aus meiner Nasenspitze Zehn-Sous-Stücke zog. Er verstand mich zu amüsieren, und ich
freute mich, wenn er sich mit mir beschäftigte; aber seine Rolle in meinem Leben war nicht sehr deutlich
umrissen.
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 11
Julien Green: Jugend. Autobiographie 1919 – 1930 (1984; dt. 1987)
[Motto: „En mon pays suis en terre lointaine“ (François Villon) – In meinem Land bin ich auf ferner Erde]
Fernes Land
An einem blau-goldenen Herbsttag setzte ich zum ersten Mal den Fuß auf amerikanischen Boden. Wir
standen alle auf einem der New Yorker Kais und warteten auf die Zollkontrolle. In diesem strahlenden
Licht kam ich mir gleichwohl wie in einem bösen Traum befangen vor. Zu meinen Füßen stand der große,
über und über mit bunten Etiketten beklebte Koffer meines Vaters sowie die schwarze, ein wenig nach
Trauer aussehende Offizierskiste, die mich an die wenigen Monate meines Militärdienstes bei der
französischen Artillerie erinnerte. Rings um mich her herrschte ein wüstes Durcheinander von geöffneten
Koffern, einem großangelegten Raubüberfall vergleichbar. Zum Glück hatte ich es mit einem väterlich
wirkenden Zollbeamten zu tun, der die Souvenirs aus Spanien aus meinem Koffer nahm und sie mit
amüsierter Miene betrachtete. „Kastagnetten und ein Tamburin“, meinte er, „fehlt nur noch die Señorita.“
Ich hätte ihm gern eine witzige Antwort gegeben, aber mir fiel nichts ein; er machte mir ein Zeichen, daß
ich meine Gepäckstücke wieder schließen könne.
Meine Kusine Sarah tauchte plötzlich vor mir auf wie ein von Panik ergriffener Geist. „Du bist fertig?“
rief sie mir hastig zu. „Dann sieh nach, ob nicht ‚Uncle’ Walter auf uns wartet, dort hinter der Schranke, wo
so viele Leute stehen.“ Ich gehorchte. Tatsächlich standen viele Leute hinter der Schranke, und ich
erkannte auch gleich meinen Onkel, der mit den Augen blinzelnd, denn er sah schlecht, nach uns
Ausschau hielt. Ich ging geradewegs auf ihn zu, blieb zwei Meter vor ihm stehen und merkte sofort, daß er
mich nicht erkannte. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war ich sechs Jahre alt, und während er sich
nur wenig verändert hatte, war ich selbst ein anderer geworden. Nach kurzem Zögern kehrte ich um und
lief zu meiner Kusine zurück. „Du gehst besser selbst“, sagte ich zu ihr. War ich schüchtern? Das war das
mindeste, was man sagen konnte.
Einen Augenblick darauf zog Sarah mich mit sich zu der Schranke, an der mein Onkel immer noch
zugleich mit etwa hundert anderen Leuten wartete. Er verzog das Gesicht, da die Sonne ihn blendete;
diese unwillkürliche Grimasse beunruhigte mich, weit mehr noch die rauhe, dumpfe Stimme, mit der er uns
willkommen hieß. Ich verstand nicht gleich, was er zu mir sagte, und er mußte mehrere Sätze wiederholen,
was er nicht ohne eine gewisse Anstrengung und einen Anflug von Ungeduld tat. Er war offenbar noch
nicht ganz fünfzig Jahre alt, doch sein Gesicht war schon völlig von Runzeln durchfurcht, und ich konnte
nur schlecht die Farbe seiner ständig halbgeschlossenen Augen erkennen.
Die Stunde, die dann folgte, ist mir für immer entschwunden. Ich sehe mich erst wieder, wie ich am
gleichen Nachmittag gemessenen Schrittes zwischen meinem Onkel und seiner Frau die Fifth Avenue
hinuntergehe. Trotz ihrer irischen Herkunft mußte ich beim Anblick meiner Tante an eine Odaliske denken;
jedenfalls entsprach sie meiner Vorstellung davon. Man wird vielleicht glauben, ich wolle mich über sie
lustig machen, doch das liegt mir fern. Ich habe meine Tante als gewiß eine der besten Frauen
kennengelernt, welche die Erde getragen hat, doch ebenso unbezweifelbar atmete sie durch und durch
Wollust. Ohne korpulent zu sein, war sie wohlgerundet. Ihre Arme, ihre Hüften, ihr üppiger Busen, das
alles hatte etwas herrlich Fülliges. Sie war so, wie man sich das Traumbild eines Lüstlings vorstellt. Ihr
bloßer Anblick war ein Festmahl. Ihr Gesicht war regelmäßig, ihre Lippen waren fleischig, ihre großen
grünen Augen einfach wundervoll. Sie trug lila Handschuhe und sprach mit einer Stimme, die den
unschuldigsten Bemerkungen etwas Duftiges und Verwirrendes verlieh. Gewöhnlich war sie ernst, und
nichts von alledem, was mir komisch erschien, konnte sie erheitern. Dafür aber konnte sie hemmungslos
über Dinge lachen, die mir platt vorkamen. Eine Minute genügte mir, um zu ahnen, daß wir einander
niemals würden verstehen können, wie groß auch ihre Liebenswürdigkeit und wie sehr ich selber
entschlossen war, mich in ihren Augen angenehm zu machen. Ich wünschte leidenschaftlich, ich sei über
alles ihrer Meinung gewesen, so wie sie der meinen. Das aber änderte nichts an der Tatsache, daß wir
nicht der gleichen Art von Lebewesen angehörten und daß ihre Anwesenheit mir ein sonderbares
Unbehagen bereitete. Ich beeile mich hinzuzufügen, daß diese so offenkundig sinnliche Frau von einer
geradezu verblüffenden moralischen Unantastbarkeit war. Man kannte sie als umschlossen von
unerschütterlichen Prinzipien, ihre Frömmigkeit war bewundernswert und ihr Glaube, so scheint es mir,
der Glaube eines Kindes, wie ich zu zeigen noch Gelegenheit haben werde. Doch sie konnte sich nicht in
einem bequemen Sessel zurücklehnen, ohne sofort den Anblick einer physischen Lust zu bieten, die zu
ihren damaligen Einstellungen in keinem Verhältnis stand. Auf der Stelle fühlte man Gedanken in sich
erwachen, die man sich nicht eingestehen durfte und bei deren Kenntnis sie vermutlich vor Entsetzen in
Ohnmacht gefallen wäre. Ich vermied es, ihr beim Essen zuzusehen. Das Merkwürdigste an dieser
Geschichte ist, daß sie einen Mann geheiratet hatte, auf den das Fleischliche eine nur geringe Macht
ausübte. Doch ich eile zu schnell voran und habe mich weit von der Fifth Avenue entfernt.
Wir gingen langsam, weil meine Tante sich nur mit kleinen vorsichtigen Schritten vorwärtsbewegte.
Mein Onkel ließ mich die Wolkenkratzer bewundern, die ich mit einer Mischung aus Staunen und
Mißtrauen betrachtete. Ich bemühte mich, sie so schön zu finden, wie er es von ihnen behauptete, aber
etwas in mir erhob Einspruch gegen diese unmenschliche Architektur, und auf dem Grunde meines
Herzens verzweifelte ich bei dem Gedanken, in einer Stadt leben zu müssen, die ich häßlich fand.
HS Härle / Steinbrenner: Autobiographik (SoSe 2002)
Autobiographie-Anfänge, S. 12
Stefan Heym: Nachruf (1988)
1
Natürlich gibt es das nicht, ich weiß. Kein Neugeborenes ist, kaum daß es den ersten Schrei ausgestoßen,
bewußter Beobachtung fähig. Es mag Bewegungen in seiner Umgebung bemerken, Licht, Schatten. Aber
Gestalten unterscheiden, Stimmen, Worte?
Dennoch findet sich in seinem Gedächtnis, als erstes Bild des Films, den ein jeder mit sich herumträgt:
wie er der jungen Mutter in den Arm gelegt wird, und die Wärme des Arms, der ihn nun umfängt, die
Geborgenheit - das Gefühl, das er immer wieder suchen wird sein Leben lang. Und dazu die freudig
trompetende Stimme des Arztes, des Dr. Götz: „Ein Jungchen! Ein sehr schönes Jungchen!“ Der Dr. Götz
hat Lachfältchen im Gesicht, die lose Haut unterm Kinn ist gleichsam aufgespießt auf den Ecken des
gestärkten Hemdkragens, die wulstigen Lippen sind in die Breite gezogen.
Es war eine Erstgeburt, vorgenommen im Schlafzimmer der Wohnung im zweiten Stock des Hauses
Kaiserplatz 13 in der sächsischen Industriestadt Chemnitz; vom Fenster aus hat man die Sicht auf das
Frühlingsgrün der Bäume auf dem Kaiserplatz. Der Arzt mag Komplikationen erwartet haben, die junge
Frau ist eher zierlich gebaut, aber die Geburt verlief normal: ein schönes Jungchen, ein braves Jungchen,
nur ein Mädchen hätte es werden sollen, wie das Jungchen später erfuhr, sogar den Namen hatte es
schon, Helene, nach der verstorbenen Mutter des Vaters, des Kaufmanns Daniel Flieg aus der kleinen
Stadt Schrimm in der Provinz Posen; nun wird notgedrungen aus Helene ein Helmut, und wenige Tage
später wird er, wie sich's gehört, beschnitten, vom Lehrer Sommerfeld und mit dem Daumennagel, knips, ab.
Das Haus Kaiserplatz 13 existiert nicht mehr. In meinem Besitz befindet sich ein Photo von S. H.,
darauf steht er, in amerikanischer Uniform, vor den Resten seines Geburtshauses, der Vorderwand mit
den hohlen Fenstern und den schwärzlich angesengten, ehemals roten Ziegeln. Er steht da breitbeinig, die
Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Kappe schief auf dem Schädel. Ein Sieger?
Ich weiß noch, was ihm durch den Kopf ging. Daß alles ganz anders war als erwartet, und war dies
wirklich die Rückkehr, die Rückkehr zu den Wurzeln? Da war nicht nur der Krieg gewesen, der die Bäume
auf dem Platz geknickt und das Haus zertrümmert hatte bis hinein in das Souterrain vorn rechts, wo der
Schuhmacher Bernhardt immer gesessen hatte unter seiner weißen Glaskugel, die Holzstifte zwischen
den Lippen; auch die Proportionen hatten sich verändert, waren geschrumpft. Aber wenn er die Augen
schloß, waren sie alle wieder da, die Bilder der Kindheit, die aus ihm unerfindlichen Gründen stets in
Sonnenlicht getaucht waren. Also ein glückliches Kind?
Der amerikanische Soldat vor der übriggebliebenen Vorderwand des Hauses Kaiserplatz 13 schüttelt
den Kopf, zuckt die Schultern und geht.
Wie groß die Freude des Kaufmanns Daniel Flieg über die Geburt des Stammhalters gewesen ist, läßt
sich schwer sagen; er war ein Mensch, der seine Emotionen selten zeigte, und seinen Kindern gegenüber
fast nie. Er muß vieles in sich hineingeschluckt haben, verdrängt, wie man heutzutage sagt, und wenn er
des Abends stundenlang in der Sofaecke saß, den Brockhaus auf dem Knie, doch ohne die Seite zu
wenden, spürte der kleine Sohn plötzlich die Fremdheit des Mannes, die nicht zuließ, daß man ihm auf
den Schoß kroch und sich anschmiegte an ihn. Daniel Flieg war ein Pflichtmensch, mit preußisch-gerader
Haltung; auf Sonntagsspaziergängen wurde Helmut durch die nach hinten gedrehten Ellbogen der
Spazierstock geschoben; der Stock, waagerecht gegen das Rückgrat gepreßt, zwang zu aufrechtem
Gang, Kopf hoch, Junge, Brust heraus. Das war dem Jungen nicht einmal unangenehm, und er hatte ja
auch nichts einzuwenden gegen eine gute körperliche Haltung; untergründig lag darin, daß man rechtzeitig
etwas tun mußte gegen den krummen jüdischen Rücken.
Aber die Pflicht, die zu erfüllen war, war nicht nur eine preußische; sie war jüdisch ebenso, denn sie
war Pflicht vor allem der Familie gegenüber. Früh schon war dem Kaufmannslehrling Daniel Flieg durch
den Tod seines Vaters, Abraham hatte er geheißen, und den bald darauf folgenden Tod der Mutter die
Sorge um die Geschwister auferlegt worden, ihrer sieben an Zahl, darunter fünf Mädchen, die alle der
Reihe nach unter die Haube gebracht werden mußten: Recha (vergast), Linka (vergast), Dora (emigriert),
Regina (vergast), Liesel (emigriert). Ohne eigenes Verschulden war der Kaufmannslehrling Daniel Flieg
also in die Rolle des Milchmanns Tewje aus Anatevka geraten, in eine Rolle, der er sich nicht entzog, das
wäre undenkbar gewesen, und um deretwillen er die Verse verkümmern ließ, die sich in seinem Kopfe
bildeten, und seine Phantasie abschnürte, der nachzuhängen ihm gegeben war. Oh nein, die Mädchen
wurden verheiratet, eine nach der anderen, und je jünger die Schwester, desto höher stand der Erkorene
im bürgerlichen Leben: die Älteste bekam einen, der nicht viel mehr als ein Schnorrer war, ein
seelensguter Mensch und später besonders geliebt von dem Knaben Helmut; die jüngeren wurden
Rechtsanwälten und Notaren gegeben, der reicheren Mitgift entsprechend. Im tiefsten Innern muß Daniel
Flieg die Familie gehaßt haben, deren Patriarch er schon in jungen Jahren war; der Knabe Helmut hatte
ein Gespür dafür, auch wenn ihm nicht sofort bewußt wurde, was der Blick bedeutete, die Handbewegung,
mit der sein Vater die Tanten empfing, die nun ihrerseits den Kronprinzen mit bewunderndem Jauchzen
begrüßten: Ach, was für ein hübsches und begabtes Kind!

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