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Zitierhinweis
Sven Keller: Rezension von: Florian Huber: Kind, versprich mir,
dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945,
Berlin: Berlin Verlag 2015, in sehepunkte 16 (2016), Nr. 4
[15.04.2016], URL:http://www.sehepunkte.de/2016/04/28784.html
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sehepunkte 16 (2016), Nr. 4
Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du
dich erschießt
Florian Hubers Buch mit dem erschreckenden Titel will, so die
Eigenwerbung, einem "verdrängten Kapitel der Zeitgeschichte" zu
größerer Wahrnehmung verhelfen: Den Massensuiziden "der kleinen
Leute" bei Kriegsende. Zumindest in der Fachwissenschaft war das
Thema ganz so "verdrängt" freilich nicht in den letzten Jahren; zumindest
einige einschlägige Titel finden sich in der mit knapp zwanzig Titeln
bedauernswert kurzen Literaturauswahl. [ 1 ] Und auch in diesen
Arbeiten ging es keineswegs nur um die Größen des NS-Staates,
angefangen bei Hitler, Goebbels oder Bormann, die in Berlin in den Tod
flüchteten, oder die Gauleiter und Generäle, die überall im Reich auf
Giftampullen bissen oder sich erschossen.
Nun ist bekannt, dass die Erkenntnisse der Zeitgeschichtsforschung
nicht immer den direkten Weg ins Bewusstsein einer breiten
Öffentlichkeit finden, und so ist es prinzipiell zu begrüßen, wenn ein
Journalist, studierter Historiker zumal, sich in einem gut lesbaren, gerne
auch eingängig aufbereiteten Buch eines Themas annimmt.
Im ersten Teil des Bandes ist das auch bestens geglückt: Hier bietet
Huber eine dichte Beschreibung der Ereignisse im mecklenburgvorpommerschen Demmin, wo sich zwischen dem 30. April und 4. Mai
1945 unmittelbar vor und nach dem Einmarsch der Roten Armee
Hunderte, vielleicht bis zu Tausend Menschen das Leben nahmen.
Demmin ist zweifelsohne der bekannteste Fall jenes erstaunlichen
Phänomens des kollektiven Suizids bei Kriegsende, der bereits mehrfach
von der Forschung aufgegriffen wurde und regional gut dokumentiert ist.
[ 2 ] Aus zahlreichen Augenzeugenberichten webt Huber im Stil der
historischen Reportage eine fesselnde Darstellung der "SelbstmordEpidemie" (passim) in dem Hansestädtchen. Sensibel schildert er die
Tragödien, die sich an diesem Tag ereigneten. Dabei ist es Huber
gelungen, das bereits bekannte Material durch eigene Funde im
Tagebucharchiv Emmendingen zu ergänzen. Die Überschrift des zweiten
Teils lautet "Demmin ist überall", und tatsächlich blieb das Phänomen der
massenhaften Selbsttötungen nicht nur auf diese Stadt beschränkt,
sondern griff im Osten auch andernorts um sich. Im Westen freilich war
die Dimension eine gänzlich andere.
Ehe Huber mit einem kurzen Kapitel über die Erinnerungsgeschichte
schließt, sieht er "Im Taumel der Gefühle" (Teil 3) den Grund für die
"Selbstmordwelle" (passim) im Frühjahr 1945. Dabei greift er weit aus:
Das Leiden der verwundeten Nation, die Erniedrigung in der
Weltwirtschaftskrise, der Freudentaumel der Machtergreifung,
Teilhabeeuphorie, Siegestrunkenheit und Führerliebe, schließlich Angst
und Schrecken der drohenden Niederlage. Emotionen hat die
Geschichtswissenschaft seit geraumer Zeit als historisch wirkmächtige
Faktoren erkannt, und ohne jeden Zweifel spielten sie eine eminent
wichtige Rolle für die autodestruktiven Reaktionen bei Kriegsende.
Jedoch: Huber reduziert seine Protagonisten auf diese Emotionalität.
Fast wirken die "kleinen Leute" wie ein Volk auf Speed, das sich an sich
selbst, an seinen Siegen und an Hitler berauscht hat, und das am Ende
den gewaltsamen Entzug nicht ertragen kann. Das ist nicht falsch, aber
es ist eindimensional und verkürzend. Es transportiert tendenziell ein
Bild der "kleinen" Deutschen als Opfer des großen Verführers Hitler. Das
ist vielleicht nicht Hubers Intention; es ergibt sich aber aus einer
eingeschränkten Rezeption neuerer Forschungen zur NS-Gesellschaft in
Verbindung mit seiner nicht kritisch reflektierten Quellenauswahl: viele
seiner Gewährsleute sind zum Zeitpunkt des Erlebens jugendlichen
Alters (die üblichen Verdächtigen: Melitta Maschmann, Lore Walb), und
nationalsozialistische "Erweckungserlebnisse" lassen sich in der
historischen Reportage natürlich gut verwerten. "Kleine Nazis" jenseits
der verführten Jugend scheinen jedenfalls kaum Teil der "kleinen Leute"
gewesen zu sein. Verstärkt wird das Problem durch eine mangelnde
Differenzierung zwischen zeitnahen Tagebüchern und nachgelagerten
Erinnerungen.
Es besteht kein Zweifel, dass viele derjenigen, die in den Freitod gingen,
Opfer waren; auch ist es selbstverständlich möglich, gleichzeitig Opfer
und Täter zu sein. Die Vielschichtigkeit des Phänomens Selbsttötung bei
Kriegsende bleibt bei Huber aber unterbelichtet. Warum der kollektive
Massenrausch nur im Osten zu Massensuiziden führte, wird kaum
erklärt, und warum und unter welchen Umständen sich die
vergleichsweise wenigen Selbstmörder im Westen umbrachten, ebenso
wenig: Dass der Suizid häufig einen kommunikativen Aspekt hatte, der
auf die Nachwelt zielte, wird nur gestreift; vom Trotz, mit dem so
manche den eigenen Tod inszenierten, erfährt man kaum. Die
Darstellung der Angst, zweifelsohne eine zentrale Emotion an der
Ostfront, bleibt unterkomplex: Abgesehen von der "Russenangst"
schildert Huber sie als Angst vor dem Krieg und dessen Ausweitung. Die
Angst, die sich aus der Kenntnis, mindestens der Ahnung der deutschen
Verbrechen speiste, verschwindet dagegen fast. Das knappe Kapitel trägt
noch dazu die unpassende Überschrift "Der Schatten der anderen". Der
Leser kann sich jetzt aussuchen, ob "die anderen" die kleinen Deutschen
exkulpiert ("andere" übten Gewalt) oder die Taten geradezu auf den Kopf
stellt (die Opfer, nicht etwa die Täter belasten mit ihren Schatten die
Deutschen).
Überhaupt spielt die von Deutschen ausgeübte Gewalt im Buch praktisch
keine Rolle - selbst da, wo sie für das Thema höchst relevant wäre. Das
Erleben oder gar Ausüben dieser Gewalt wird vor allem als
traumatisches Ereignis für die Täter oder Zeugen abgehandelt (235).
Gleich unter der Überschrift "Gefrorene Seele" liest man in den Worten
des Schweizers René Juvet von einem SS-Wachmann im
Konzentrationslager Mauthausen, der sich als "Opfer des Führers" in den
Suff rettet und an Selbstmord denkt. Die Kommentierung dieser Episode
überlässt Huber weitgehend Juvet. Während dem SS-Mann und seinem
Selbstmitleid viel Raum gegeben wird, erfahren wir quasi en passant
über die Häftlinge: "Wer erledigt werden sollte, den jagten sie in die
Hochspannungsdrähte. Einige gingen freiwillig" (238). Vermutlich nahm
sich Hubers seelisch schockgefrosteter SS-Mann tatsächlich nicht das
Leben - das bleibt aber offen. Realität aber war: Während sich Deutsche
ihr emotionales Gepäck aufluden (oder, so scheint es, aufgeladen
bekamen), das sie 1945 für den massenhaften Freitod disponierte,
trieben - nicht selten die gleichen! - Deutschen Hunderte und Tausende
Juden und andere Verfolgte in den Suizid: durch Marginalisierung und
Entrechtung seit 1933, nach der "Reichskristallnacht", in den Gettos und,
von Anfang an, in den Konzentrationslagern. Dieser "Selbstmord der
anderen" ist nicht Thema des Buches. Trotzdem hätte der Rezensent
gelegentliche Verweise unbedingt erwartet - der "größte
Massenselbstmord auf deutschem Boden" (136) war eben auch in dieser
Hinsicht nicht voraussetzungslos.
Huber glänzt mit seiner Technik der historischen Reportage in der
Schilderung der Tragödie von Demmin, und die zusätzlichen Quellen, die
er dazu aufgetan hat, sorgen für eine Erweiterung der Perspektive. Seine
Analyse des Phänomens der Massensuizide ist von vergleichbarer
sprachlicher Brillanz. Inhaltlich zu überzeugen vermag sie vom
historischen Standpunkt aus nur begrenzt. Hier zeigen sich die Grenzen
von Hubers "historischer Reportage": Zu selten löst er sich von der
Überlieferung seiner Zeugen, zu selten weitet er den Blick auf Ereignisse
und den Kontext, den sie nicht im Blick haben. Was seine Zeitzeugen
nicht sehen (oder sagen), nimmt auch Huber zu wenig wahr.
Anmerkungen :
[ 1 ] Wie etwa Christian Goeschel: Selbstmord im Dritten Reich, Berlin
2011, 230-255.
[ 2 ] Norbert Buske: Das Kriegsende in Demmin 1945. Berichte,
Erinnerungen, Dokumente, Schwerin 1994; Petra Clemens / Elke
Scherstjanoi: Das Kriegsende in Demmin 1945. Umgang mit einem
schwierigen Thema, Demmin 2013.