Texte zu Christos Wrapped Reichstag

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Texte zu Christos Wrapped Reichstag
Das Schlachthaus deutscher Geschichte künstlerisch läutern?
Projekt »Wrapped Reichstag« von Christo
Man stelle sich vor: Ein silbriges Gewebe
umhüllt vollständig den Bau, wirft scharfe
Falten und Schatten. Ein überdimensionaler,
primitiv zusammengeschnürter Verhüterli.
Inhalt: der Reichstag. Handelte es sich nicht
CHRISTO, Modell des verpackten Berliner Reichstags um das alte, nun wieder aufgewärmte
Kunstprojekt "Wrapped Reichstag" von Christo, man könnte das glänzende Gewand glatt für den
Werbegag eines Präservativherstellers halten.
Christo, unermüdlicher Agent in eigenen Diensten, war im Januar anläßlich einer Ausstellung der
Reichstags-Modelle im Marstall, Akademie der Künste Ost, nach Berlin gekommen, um die
Werbetrommel zu rühren für sein Lieblingsprojekt. "Die Menschen blicken auf die fremde Außenhaut,
und diese Verfremdung schärft ihren Sinn für die historische Situation", behauptete Christo im
"Spiegel". Die "Zeit", in deren Redaktionsräumen die Initiative für die Verhüllung einst gegründet
worden war, und der Berliner "Tagesspiegel" machten ebenfalls Stimmung für den Projekt-Evergreen.
Endlich könnte der Weltöffentlichkeit bewiesen werden, wie souverän die Deutschen mit ihrer
Geschichte und wie generös sie mit der Kunst umgehen. Die Verhüllung des Reichstags würde zudem
keinen Pfennig kosten; der Künstler, wie stets, finanziere seine Projekte selbst.
So schien die Chance für eine zweiwöchige Realisierung im Spätsommer '93 - knapp vor dem
geplanten Umbau des Reichstags zum Bundestag - nicht schlecht zu sein, zumal
Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth ("Ich bin dafür.") und Berlins Stadtentwicklungssenator Volker
Hassemer für Christos Kunst-Striptease votierten.
Daß man dem nackten Parlament die Hüllen anziehen wollte, statt sie fallen zu lassen, mißfiel CDUFraktions-chef Schäuble und Bundeskanzler Kohl. Sie sprachen sich gegen das Riesenkondom aus,
wenn auch aus dem falschen Grund. Seit 1971 war Christos Projekt immer wieder abgelehnt worden
mit der Begründung, es verletze Geschichte und Ansehen des Hauses und provoziere den Mob. Falsch
deshalb, da der schlechte Ruf eines Parlaments, das weltweit zum Symbol für Rechtsverdrehung
wurde, durch nichts beschädigt werden kann. Auch ist weniger ein Sturm der Entrüstung à la
Skulpturenboulevard als vielmehr eine breite Zustimmung zu befürchten, wie die Leserbriefspalten der
Berliner Tageszeitungen zeigten. Schließlich hatte das spektakelsüchtige Berliner Publikum in letzter
Zeit eine staatsverordnete Entziehungskur durchgemacht.
Daß sich Süssmuth und Hassemer für die populäre Verhütungsmaßnahme erwärmen, weist sie aber
nicht als kunstsinnig aus. Im Gegenteil: Sie haben begriffen, daß eine von ihren Gnaden abhängige
Kunst sich vortrefflich eignet zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. So schrumpft der
ohnehin magere ästhetische Wert der "Riesenbonbonnière" (DAAD-Direktor Joachim Sartorius) zum
Werkzeug der Politik und zum Spielzeug der Massen. Wolf Jobst Siedler schrieb im "Tagesspiegel":
"Berlin hat eine fatale Neigung, immer den Avantgardismus von gestern nachzuholen."
Christos gescheitertes Projekt ist nichts weiter als ein Seitenaspekt der Hauptstadtplanung; es verhüllt
die schlaue Absicht der Bundestagspräsidentin, das Schlachthaus deutscher Geschichte künstlerisch
läutern zu lassen, bevor die Parlamentarier einziehen. Das Bonner Veto, unfreiwillig, erwies der Kunst
einen guten Dienst.
Marius Babias
Erlösung
Zur Christo-Entscheidung im Bundestag von Ingo Arend
In dubio pro arte. Das wird sich die Mehrheit des Deutschen Bundestages wohl schließlich gesagt
haben, als sie dem Stoffunternehmer Christo Javacheff die Erlaubnis erteilte, den Reichstag zu
verhüllen. Das Bonner Signal war ebenso überfällig wie unerwartet mutig. Doch warum hat es
eigentlich so lange gedauert, bis es dazu kommen konnte?
Die Furcht vor dem alter ego. Vielleicht hat ja diese Angst in dem Areal politischer Isolationshaft im
Bonner Tulpenfeld Christos Projekt des verhüllten Reichstages wieder und wieder hinausgezögert. In
den Aktionen des Verhüllungskünstlers frappiert die Kunst als die bessere Politik. Christo initiiert
nicht nur mit einer ästhetischen Vision öffentliche Diskurse und soziale Strategien, um die ihn manch
kampagnenunfähige Partei im Superwahljahr 1994 beneiden kann.
Christos Aktionen sind ein mustergültiges, gesellschaftliches "work in progress". Die zehn Jahre, die
er und seine Frau Jeanne-Claude sich mit dem Pariser Brücken-Projekt, die zwanzig Jahre, die er die
Reichstag-Aktion in zahllosen Versammlungen unbeirrt durch einen Dschungel von Bürokratie,
Öffentlichkeit und narzistischer Politik kämpfte, sind mehr als eine Ehrenrettung des verrufenen
Bonner Lobbyismus. Getragen werden sie von einer fast gefährlich romantischen Kraft zur Vision. Im
Bonner Kunstmuseum konnte man kürzlich Christos Handwerkszeuge der Utopie besichtigen. Die
Stahltrosse und Stoffbahnen der Pont-Neuf-Verhüllung von 1985 scheinen zu sagen: Das Vorgestellte,
das scheinbar Unmögliche ist - um es mit einer beliebten Bonner Verhinderungsvokabel auszudrücken
- mach-bar. Demokratie durch Ästhetik: In dem Bild jenes Liebespärchens, das sich in die goldgelb
glänzenden Stoffbahnen in einer Nische der Pariser Brücke schmiegt, meint etwas davon zu spüren,
was Oskar Negt einmal die sinnliche Inbesitznahme sozialer Räume durch die Menschen nannte.
Manche politische Unterstützung für Christos Projekt macht immer mehr mißtrauisch. Mißtrauisch, ob
sie statt der Wahrnehmungsalternative Verhüllung das klotzige Identitätsmöbel Reichstag nicht als
zeitgemäße Nationalsymbolik zurechtzurren möchte. Wie die Zeiten, so verbogen sich auch die
Projektbegründungen. Den kritischen Grundzug der "Erkenntnis durch Verfremdung" aus seiner
Frühzeit, den SPD-Kunstkommissar Peter Conradi zu Beginn der Bundestagsdebatte anführte, nahm er
sogleich kniefällig zurück, als er bemerkte, die Aktion solle nur den Wert des Gebäudes
unterstreichen. Und selbst der sonst nicht gerade auf den Kopf gefallene Konrad Weiß vom
Bündnis90/Die Grünen sprach in einer nationalen Verbeugung von der "Ehrfurcht" vor dem Bau im
Spreebogen.
Das Projekt ist fest in deutscher Hand. Inzwischen soll nicht nur deutsches Tuch den Reichstag
umwehen, deutsche Näherinnen aus der Lausitz es zusammenheften und deutsche Bergsteiger unter
Pickelführung des Südtirolers Reinhold Messner es entrollen. Peter Conradi fügte in der
Bundestagsdebatte die deutschen Bauarbeiter hinzu, die in diesen Rezessionszeiten Arbeit bekämen
und lobte die "Schönheit und Kraft" des Projektes für die Berliner Zonenrandförderung. Kraft durch
Freude durch Christo?
Conradi und Wolfgang Thierse jubelten schon vor der Debatte von
"Funktionsumwandlung","Neubeginn" und "Neuanfang". Der Kunsthistoriker Werner Spies, der
kürzlich für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses mit dem ebenso naiven wie
aufschlußreichen Argument "hundert Meter Illusion" geworben hatte, sieht in der FAZ gar einen
"euphorischen Moment" und den "Exorzisten" Christo. CDU-Arbeitnehmer Heribert Scharrenbroich
fühlte sich an den verhüllten Christus erinnert und Weizsäcker-Protege Friedbert Pflüger sah schon
aus den fallenden Hüllen des Reichstages den neuen Bundestag wiederauferstehen.
Da enthüllt sich ein Bedürfnis nach ästhetischer Reinwaschung und Erweckung der Historie durch die
Kunst. Alles ersehnt, beschwört eine demokratische Wiedergeburt, zu der Politik selbst aber offenbar
nicht imstande ist. Für den Berliner "Tagesspiegel" soll die Aktion den Wandel der deutschen
Demokratie "politikdidaktisch illustrieren". Welchen Wandel - möchte man angesichts der neu
entflammten deutschen Scheiterhaufen fragen. Und: Die Kunst als austreibende Nationalpädagogik?
Auch wenn der Grat schmal ist, daß die Aktion zum vorschnellen patriotischen Kostümwechsel
mutiert. Wie immer im Grenzbereich von Kunst und Politik sollte man auf die autonome Kraft der
Kunst vertrauen. Der Pariser Aktion 1985 hat es nicht geschadet, daß der rechtsgewirkte Jacques
Chirac sie unterstützte. Wie bei dem Pariser Wahrzeichen der Pont-Neuf könnte auch die Berliner
Aktion zum wunden Kern vorstoßen, die Frage nach der Essenz der ruinösen deutschen Geschichte für
viele sichtbar wenigstens zu stellen. Egal wer sie jetzt noch nachträglich zu instrumentalisieren oder
wie die rührige FAZ, erst verhindern und dann mit der Forderung nach dem "Charme einer
Inszenierung" zu entschärfen versucht. Der bemerkenswerte Ruck, den sich Bundeskanzler Kohl für
die offene Parlamentsentscheidung gegeben hatte, hat nicht nur die große Präzedenzgefahr vermieden,
daß der Staat sich zum Kunstrichter aufwirft. Er hat auch den Grundstein für eine interessante große
Christo-Koalition im Bonner-Kunstparlament gelegt.
Diese in der deutschen Parlamentsgeschichte einzigartige Debatte war spannender als manche
Wahlkampfperformance, die uns noch bevorsteht. Der Fall Christo wirkt wie ein Stellvertreterkrieg im
deutschen Ringen um neue nationale Identität. Zäh beharrte die Unionsmehrheit auf einer
vormodernen politischen Symbolik in Gestalt unangetasteter Würde des Berliner Sakralbaues.
Wolfgang Schäubles Rückzieher aus dem Lager der Christobefürworter aus Angst vor der
"polarisierenden Wirkung" der Aktion und dem "Risiko der Beschädigung" sowie seine, unisono mit
dem SPD-Abgeordneten Eike Ebert nationalemphatisch vorgetragene Gegnerschaft zur Verhüllung
nach dem alten Adenauer-Motto: "Keine Experimente" beweist: Noch bevor eine einzige der silbrigen
Stoffbahnen ausgerollt ist. In Zustimmung wie Ablehnung zu dem Projekt enthüllt sich exemplarisch
die labile politische Befindlichkeit in Deutschland. Fast schon unfähig zu kritischer
Selbstwahrnehmung, schwankend zwischen Euphorie und Blockade. Alles wartet auf Erlösung.
DIE ERÖFFNUNGSREDE
KLAUS HONNEF
Christo: Wrapped Reichstag
Einführung zur Ausstellung CHRISTO:
Running Fence und Wrapped Reichstag, am 14.9.1977, im Rheinischen
Landesmuseum, Bonn.
Verehrte gnädige Frau, Herr Senator, meine Damen und Herren!
'Kunst - was ist das? ' - Diese uns Museumsleuten nachgerade so geläufige
Frage stellte kürzlich ein - Museum: Die Kunsthalle in Hamburg. Doch mit
der Beantwortung dieser Frage, über deren Wichtigkeit ich nicht streiten
möchte, machte man es sich allzu einfach. Denn - pauschal gesagt -ist der
Ansicht dieses Museums zufolge im Grunde alles Kunst. Aber eine solche
Meinung ist ebenso unbefriedigend wie die, wonach alles Kunst sei, was
Künstler eben bewerkstelligten. Sie erzwingt nämlich unweigerlich die
Zusatzfrage, wer eigentlich als Künstler zu betrachten sei, und wer
bestimme, ob jemand ein Künstler ist oder nicht. Das Spektrum der
Antworten auf die Frage, was Kunst sei, läßt sich beliebig erweitern. Etwa
um diejenige von Christo, dessen Ausstellungen 'Running Fence' und
'Wrapped Reichstag' wir heute eröffnen. Mike Cullen deutet sie so: Christo
hege die Auffassung, daß Kunst keine Funktion haben dürfe und zitiert zum
Beleg dafür zwei seiner Sätze: 'Die Chinesische Mauer ist zweckgebunden;
also kein Kunstwerk. Ein Kunstwerk muß unbrauchbar sein'. Ich möchte
weniger dem Aperçu Christos widersprechen, als der Auslegung Mike
Cullens, und dies kurz am Werk Christos nachweisen. Mir ist kaum ein Künstler bekannt, der sich mit
dem Problem der Funktion von Kunst derart intensiv und derart erfolgreich herumgeschlagen hat wie
Christo. Und es ist auch meines Erachtens auch zweifelsfrei, daß ihn die Frage nach der Funktion der
Kunstwerke mehr interessiert als die Allerweltsfrage, was Kunst sei. Erlauben Sie mir einen etwas
kühnen Vergleich: Den großen anglo-amerikanischen Filmemacher Alfred Hitchcock hat man oft
gefragt, was ihn an Verbrechen dermaßen fasziniere. Seine Erwiderung darauf ist in vielerlei Hinsicht
aufschlußreich. Hitchcock sieht in dem Verbrechen einen Stein, der ins Wasser Gesellschaft geworfen
wird und dort seine Kreise zieht: durch das Verbrechen kristallisieren sich Reaktionen heraus, die es
vorher nicht gegeben hat, Attitüden werden offenkundig, die man für unvorstellbar gehalten hätte,
Zusammenhänge werden evident, deren Vorhandensein man sich zwar bewußt ist, aber nicht der
spezifischen Formen ihres Wirkens. Ähnliches gilt für die künstlerischen Projekte von Christo. Da
Christo seit einigen Jahren ausschließlich Projekte realisiert, die in der Öffentlichkeit angesiedelt sind,
folglich nicht in jenem sogenannten Freiraum, den man Künstlern gemeinhin noch zubilligt - dem
Museum, dem Kunstverein, der kommerziellen Kunstgalerie - setzt er Reaktionen frei, schafft den
Blick für verborgene Strukturen, für gesellschaftliche Strukturen und ruft - wie Karl Ruhrberg sagt Erkenntnisprozesse hervor. Insofern hat Christos Kunst - bleiben wir einmal einfach bei diesem
Terminus - sogar entlarvende Funktion. Ich meine das nicht polemisch. Ich meine das sachlich.
Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Christos Projekt einer Umhüllung des Reichstagsgebäudes in
Berlin. Salopp formuliert könnte man sagen: Indem Christo den Reichstag verhüllt, enthüllt er
politische, soziale und kulturelle Zusammenhänge, die man bestenfalls ahnen konnte, über die man
jedoch bislang nichts Konkretes wußte. Wie ein Archäologe Schicht um Schicht der Erde abtragen
muß, ehe er zu dem vorstößt, was von vergangenen Völkern und Kulturen noch übrig geblieben ist,
entfernt Christo Schicht um Schicht von Bewußtseinssträngen, offenbart Verdrängungen und
Verbiegungen des Bewußtsein, hier in diesem Falle namentlich des deutschen Nationalbewußtseins,
wirft die Frage nach seiner Identität auf, reflektiert das Selbstverständnis - oder umgekehrt den
völligen Mangel von nationalem Selbstverständnis einer geteilten Nation, provoziert Argumente und
Gegenargumente - liefert mit anderen Worten ein Anschauungsmaterial, wie es heute kaum jemand
sonst vermöchte, auch nicht die viel gepriesene Gesellschaftskunde. Und noch etwas: Christo fordert
prompt und unmittelbar eine eindeutige Stellungnahme heraus. Dafür oder dagegen - ein
gleichgültiges Achselzucken, ein Übergehen zur Tagesordnung gibt es angesichts seiner Projekte
nicht. Woran liegt das? Christos Projekte sind genau kalkuliert. Ihn interessieren nur die Projekte, die
sozusagen in ein Wespennest stoßen. Nicht, daß Christo sich unbedingt Ärger aufhalsen will. Ganz im
Gegenteil. Wäre er darauf aus, würde er nicht mit jener bewundernswerten Geduld immer wieder die
Öffentlichkeit von der Bedeutung und der Triftigkeit seiner Unternehmungen zu überzeugen - nicht zu
überreden - versuchen. Christo hebt ab auf die Verfassung der Realität, visiert jene hintergründigen
gesellschaftlichen Mechanismen an, die eine Gesellschaft natürlich in Gang halten. Seine Projekte
projizieren, was Kunst nun immer getan hat, helle Schlaglichter auf die Realität; sie öffnen blitzartig
den Blick und weiten damit vielleicht auch das Bewußtsein. Darum steht er auch einem mitunter an
ihn herangetragenen Ansinnen, irgendwelche Bauwerke, zumal diejenigen, die man selbst verdrängen
möchte, zu verpacken, ziemlich irritiert gegenüber. Christo ist kein Applikateur, er ist kein
Verpackungskünstler, er ist keiner, der mit seinen Arbeiten eine womöglich schlechte Wirklichkeit
mithilfe des schönen Scheins der Kunst zudecken will. Auf der anderen Seite heißt das jedoch nicht,
daß Christos Projekte ohne ästhetische Dimension seien: Es gehört zunächst unverzichtbar zum
Gelingen eines jeden Projektes, daß es verwirklicht wird, daß es Realität gewinnt. Eine Arbeit, die er
nicht zu realisieren vermag, ist für ihn gescheitert. Mag sie auch die überraschendsten Auskünfte über
die Zusammenhänge der Wirklichkeit zutage gefördert haben. Christo ist kein bloßer Registratur, er ist
kein Soziologe, am wenigsten ein Statistiker. Seine Absicht ist es, in die Wirklichkeit - oder zumindest
einen Teil davon - verändernd, gestaltend einzugreifen. The Running Fence hat die ausgewählte
kalifornische Landschaft in dem Maße verändert wie es The Wrapped Reichstag Berlin tun würde.
Dank der vorzüglichen Dokumentation von Wolfgang Volz wird mehr als eine schwache Ahnung von
diesem berauschenden Seherlebnis vermittelt, das Running Fence augenscheinlich gewesen ist. Die
ästhetische Komponente von Christos Arbeiten kann man aber nicht von der sozialen, politischen und
ökonomischen trennen. Dazu sind seine Projekte schon in der Anlage zu komplex, zu wirklichkeitsverhakt. Das Ästhetische tritt erst in Kraft, wenn die politischen, sozialen und technischen Probleme
gelöst sind. Und diese sind stets dann gelöst, wenn Christo sämtliche Beteiligten vom Sinn und vom
Wert seines Unterfangens überzeugt hat. Ich kenne nur wenige Künstler, in deren Arbeit die
Verwirklichung eines Kunstwerkes derart eng mit der praktischen Bewältigung von täglichen
Realitätsfragen verbunden ist wie in Christos künstlerischem Werk. Darüber hinaus ist Christo allem
äußeren Anschein zum trotz ein ungewöhnlich bescheidener Künstler. Er legt keinen Wert darauf - um
Werner Spies zu paraphrasieren - eine bereits überfüllte Welt noch zusätzlich zu möblieren. Christos
Projekte sind zeitunterworfen, zeitbedingt. Sie verschwinden nach kurzer Dauer wieder, lassen keine
Spuren zurück es sei denn ihren dokumentarischen Niederschlag. Ihr ausschließliches Ziel ist es, die
Grenzen des menschlichen Erfahrungshorizontes ein Stück weiter zu stecken, sowohl neue, nie
gekannte Seherlebnisse zu evozieren und zugleich Denkprozesse, meinethalben auch
Bewußtseinsprozesse, anzubahnen. Und irgendwie, ohne daß es direkt dingfest wird, haftet ihnen auch
unterschwellig ein utopisches Moment an - jenen Lichtmomenten, die von einer unendlichen Freiheit,
von einer Hoffnung auf eine bessere, ja schönere Welt zu künden scheinen. Auch das war
Kunstwerken stets eigen. 'Kunst - was ist das?' Ich meine, Christos Werke sind Kunstwerke; und ganz
gewiß nicht deshalb, weil alles Kunst sein kann. Aus diesem Grunde möchte ich energisch an die
politisch Verantwortlichen appellieren, sich Christos Vorschlägen anzunehmen und den Reichstag in
Berlin für vierzehn Tage zu verhüllen. Nichts könnte ein schlagenderes Bekenntnis dafür sein, daß
man Kunst hierzulande auch künftig als eine Herausforderung an die Gesellschaft begreifen will; eine
Herausforderung ohne die ein Gesellschaftssystem zwangsläufig vom allmählichen Erstarren befallen
würde. Ich danke Ihnen.
CHRISTO und JEANNE-CLAUDE, Collage, 1978, Der Reichstag
Christo, Reichstagverhüllung, 17.7.1995 - 9.8.95, Foto: Michael Cornelius Zepter
Christo und Jeanne-Claude, Wrapped Reichstag, 1995
CHRISTO und JEANNE-CLAUDE vor dem verpackten Reichstag, Juni 1995
CHRISTO und JEANNE CLAUDE, Verhüllter Reichstag, Projekt für Berlin, 1995