1 Orchester in der Stadt Samstag, 16. Mai 2015 – 20 Uhr Im

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1 Orchester in der Stadt Samstag, 16. Mai 2015 – 20 Uhr Im
Orchester in der Stadt
Samstag, 16. Mai 2015 – 20 Uhr
Im Rahmen der Tausendjahrfeier des Münsters
Straßburg, Münster
Marko Letonja Leitung
Valentina Kutzarova Mezzosopran 1
Tassis Christoyannis Bariton 2
Alix Gaëlle Sopran 3
Peter Kirk Tenor 4
Chor des OPS, Catherine Bolzinger, Chorleiterin 5
Chor Blagovest (Lettland) Aleksandrs Brandavs, Chorleitung
6
Pérotin dit Le Grand (Arrangement Robert Johnson)
Beata Viscera 1
Richter
Audin pulsantur tympana 2
Pleyel
La Révolution du 10 août : Le Tocsin 1 2 3 4 5
Tavener – AUFTRAGSARBEIT FÜR DAS OPS – WELTURAUFFÜHRUNG
It is Finished : a Ritual for Strasbourg Cathedral 1 2 5 6
Liszt
Die Glocken des Strassburger Münsters 1 2 5
Messiaen
Chant des Déportés 5 6
3’
12’
15’
20’
15’
7’
1
Pérotin dit Le Grand (Arrangement Robert Johnson)
Beata viscera
Über das Leben von Pérotin (auch Perotinus magnus) ist nur sehr wenig bekannt.
Aufs Mittelalter spezialisierte Musikwissenschaftler gehen davon aus, dass es sich
bei ihm um einen gewissen Petrus handelt, der in der Nähe der Kathedrale NotreDame de Paris geboren wurde und dort von 1207 bis 1238 als Succentor tätig war.
Seine beiden Brüder gehörten dem Klerus an, einer davon war Bischof im zyprischen
Nikosia. Pérotin war einer der wichtigsten Vertreter der Schule von Notre-Dame, und
sein Werk brachte große Fortschritte für die Vokalmusik. „Wie bei allen großen
Schöpfern zeigen sich Pérotins Talent und seine außergewöhnliche Begabung nicht
nur in dem, was er Neues erschafft, sondern auch in den Stilen und Formen, die er
von seinen Vorgängern überliefert bekam. Zwar reiht er sich in eine Tradition ein, die
sich weitgehend der Improvisationstechniken bedient, aber er wagt auch eine völlig
neue Herangehensweise, indem er die Strukturen und kontrapunktische Materialien
systematisch und gezielt einsetzt.“ Er schrieb als erster Komponist vierstimmige
Werke, die jedoch einige rhythmische und harmonische Schwierigkeiten beinhalten,
da zum einen der Gesang bis in die hohen Stimmlagen vordringt und zum anderen
die komplexen Mischungen von Konsonanzen und Dissonanzen ausgeglichen
werden müssen.
Dank Jean de Garlandes Schüler Anonymus IV lassen sich einige Kompositionen mit
Sicherheit Pérotin zurechnen, darunter Beata viscera. Der Text stammt von Philippe
le Chancelier, der von 1208 bis 1236 an Notre-Dame tätig war. Das kurze Vokalstück
beweist eindrücklich die melodischen Qualitäten seines Autors.
Franz-Xaver Richter
Audin pulsantur tympana
Franz-Xaver Richter wurde in Mähren geboren und war in Wien Schüler von Johann
Joseph Fux, der ihn in Kontrapunkt unterrichtete. Nach einer Italienreise trat der
Komponist in die Dienste des Reichsprälaten im bayerischen Kempten, wo er zum
stellvertretenden Kapellmeister ernannt wurde und durch seine Sinfonien
Bekanntheit erlangte, von denen übrigens sechs in Paris veröffentlicht wurden. Nach
dem Tod des Abts im Jahr 1747 holte ihn der Kurfürst von Mannheim an seinen Hof,
wo Richter gemeinsam mit Stamitz die Mannheimer Schule begründete, deren
Orchester zum besten in ganz Europa wurde. Dieses auch von Mozart hochgelobte
Ensemble begünstigte die Komposition neuer Werke und eröffnete der von
Spätbarock, Klassizismus und Vorläufern der Romantik geprägten Musikgeschichte
neue Perspektiven. Richter war sozusagen das Bindeglied zwischen Bach und
Mozart, der den Älteren im Übrigen sehr bewunderte. Während seiner Mannheimer
Zeit entstand ein Großteil von Richters Instrumentalwerken (Konzerte,
Kammersonaten, Streichquartette und Sinfonien). Obwohl seine Musik erfolgreich
und beliebt war, wurde Franz-Xaver Richter zu seinem Bedauern in Mannheim nie
befördert. Er verließ die Stadt, um anderswo nach einer Anstellung als Kapellmeister
zu suchen. Eine seiner besten Kompositionen, Super flumina Babylonis (eine
Vertonung von Psalm 136) wurde bei den Concerts spirituels in Paris mehrfach
gespielt und im Mercure de France begeistert kommentiert. „Dieser Erfolg in der
französischen Hauptstadt konnte das Domkapitel in Straßburg nur in seinem Sinne
beeinflussen, das Richter am 24. April 1769 für ein Jahresgehalt von 900 Pfund als
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Joseph Garniers Nachfolger berief.“ Dieses Amt hatte er bis zu seinem Tod inne.
Richter kam nicht alleine nach Straßburg, sondern in Begleitung seines Sohns, eines
Violinisten, sowie des begabten lutherischen Sängers Georg Jacobi, der als
Solobassist eingestellt wurde, gleichzeitig im Theaterorchester als Kontrabassist
arbeitete und ab 1791 Kapellmeister des Temple Neuf war.
In der Messe am 9. Mai 1770 anlässlich der Durchreise der Kronprinzessin MarieAntoinette sang Georg Jacobi den Solopart in der zwölfteiligen Motette Audin
pulsantur tympana in D-Dur.
Die Motette wird von Violinen, Viola, 2 Oboen, 2 Jagdhörnern in D, 2 D-Trompeten,
D-Pauken, Kontrabass, Cello und Fagott gespielt.
Die Musikwissenschaftlerin Anne Claire Pfeiffer beschreibt die Musik
folgendermaßen: „In obenstehender Liste kommt zwar keine Orgel vor, am Beginn
der Partitur wird sie jedoch als Instrument aufgeführt, wohingegen an dieser Stelle
weder Kontrabass noch Cello oder Fagott Erwähnung finden. Die drei Instrumente
wurden häufig für den Generalbass eingesetzt, weshalb man davon ausgehen kann,
dass dies auch hier der Fall war und sie gemeinsam mit der Orgel den basso
continuo spielten. Strukturell gesehen handelt es sich bei der Motette um eine Aria
da Capo in der Form ABA‘. Die Motette umfasst insgesamt 171 Takte (notierte
Noten, ohne da capo). Als Taktangabe ist alla breve notiert, Tonart ist D-Dur. Die zu
Beginn der Partitur angegebene Anweisung con brio bezieht sich auf das gesamte
Werk. Bei einer genaueren Strukturanalyse beginnt die Motette mit einer 33 Takte
langen Instrumentaleinführung. Der Teil A findet sich in den Takten 34 bis 125 und
Teil B in den Takten 125 bis 171.“
Ignace Pleyel
La Révolution du dix août ou Le tocsin allégorique
In ihrem Werk über berühmte Musiker in Straßburg, „Sur la trace des musiciens
célèbres à Strasbourg“, aus dem auch die meisten Zitate im Text stammen,
beschäftigte sich Geneviève Honegger unter anderem auch mit Ignaz (französisiert
Ignace) Pleyels Straßburger Jahren. Ab 1784 war er dort Assistent von Franz-Xaver
Richter. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Schüler von Joseph Haydn bereits vier
Streichquartette geschrieben, über die sich Mozart lobend äußerte, und seine Oper
Ifigenia in Aulida stand kurz vor der Aufführung im San Carlo Theater in Neapel.
Pleyel, der übrigens Freimaurer war, trat nach Richters Tod am 12. September 1789
dessen Nachfolge als Kapellmeister an. Über sein Wirken am Münster ist nur wenig
bekannt. Obwohl er dort zehn Jahre lang tätig war, komponierte er nur wenig
religiöse Musik, aber 41 Sinfonien, 8 Konzerte, 6 konzertante Sinfonien sowie
zahlreiche Orchester- und kammermusikalische Werke.
Am 18. März 1790, also während der Revolution, dirigierte Pleyel ein Te
Deum anlässlich der Einsetzung des neuen Stadtrats. Im Jahr darauf vertonte er eine
Hymne an die Freiheit seines Freundes Rouget de l’Isle, die am 25. September bei
den Feierlichkeiten zur Ausrufung des Verfassungsakts gespielt wurde. Im Dezember
nahm er eine Einladung nach London an. Dort sah er auch seinen Lehrer Joseph
Haydn wieder. Nach seiner Rückkehr 1792 nach Frankreich zog sich Pleyel nach
Ittenwiller zurück, wo er das ehemalige Pfarrhaus erwarb. Aus Opportunismus
schloss er sich der herrschenden Ideologie an und blieb so unbehelligt. In Ittenwiller
komponierte er auch La Révolution du dix août ou Le tocsin allégorique, zu dessen
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Entstehung eine haarsträubende Geschichte kursierte. Pleyel soll nach seiner
heimlichen Rückkehr nach Frankreich sofort festgenommen worden sein. Um der
Guillotine zu entgehen und seinen Patriotismus unter Beweis zu stellen, habe man
ihn gezwungen, unter der Aufsicht von zwei Gendarmen dieses Werk innerhalb von
einer Woche zu schreiben. Es gibt keinerlei Beweise für diese QuasiGefangenschaft. Zudem stellt sich die Frage, „wie Pleyel in nur einer Woche eine
146 Seiten lange Partitur mit Solopassagen, Chor und großem Orchester schreiben,
alles Nötige heranschaffen und mit einem großen Ensemble proben konnte“.
Die Révolution du 10 août ist eine Programmsinfonie, die im Einsatz der Sänger
gipfelt, deren Höhepunkt der Gesangspart mit vierfachem Chor, zwei Solisten,
Sopran und Tenor, ist. Auch die Orchesterbesetzung ist beeindruckend: 4 Flöten,
2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Clarinen (Barocktrompeten), 2 Hörner,
3 Posaunen, Pauken, große Trommel und Streicher, dazu Kavallerietrompeten,
Pfeifen, Trommeln und 7 kleine Glocken, die zu diesem Zweck im Chorraum des
Münsters aufgehängt werden.
Wir verzichten hier auf eine detaillierte Beschreibung und beschränken uns auf das
Vokalfinale: „Die Schlacht ist beendet. ‚Eine düstere und schaurige Färbung bringt
die Schreie der Sterbenden und ihr qualvolles Stöhnen zum Ausdruck‘, wie im
Programm für die Feier am 23. Thermidor im II. Jahr der Republik (Straßburg, 1794)
zu lesen war. Alles endet auf eine nur von den Streichern – pianissimo – gespielte,
chromatisch absteigende Tonfolge. Darauf folgen sechs Takte Fanfarenklänge, die
das Vokalfinale verkünden. Der Chor, unterstützt von den Instrumenten, ruft ‚La
victoire est à nous‘ [Der Sieg ist unser] und bedient sich dabei eines Themas aus
Grétrys La Caravane du Caire zu demselben Text. Danach nimmt er das
Bravourstück ‚Nous t’offrons les débris d’un trône‘ [Wir schenken dir die Scherben
eines Thrones] in Angriff, das vom Orchester zur Melodie des Ça ira skandiert wird.
Daraufhin singt eine Mutter (Sopran und Flöte) eine Romanze, und die Solisten
(Tenor und Oboe) nehmen die aus dem Volk kommenden Verwünschungen auf. Der
Chor kommentiert die Handlung in einer sehr einfachen vertikalen Komposition. Das
Stück endet mit der Wiederholung des triumphierenden, Nous t’offrons les débris
d’un trône‘.“
John Tavener (1944 – 2013)
It is Finished: a Ritual for Strasbourg Cathedral
Der im November 2013 verstorbene britische Komponist John Tavener hat ein
vorwiegend theologisch-liturgisches Werk hinterlassen. Seine kontemplative und
mystische Musik wird häufig mit der des Esten Arvo Pärt verglichen, mit der sie die
großen harmonischen Akkorde, die langangehaltenen Töne und die
Klangschichtungen gemeinsam hat. John Tavener wurde in eine sehr musikaffine
Familie hineingeboren und studierte an der Highgate School sowie der Royal
Academy of Music unter anderem bei dem Komponisten Lennox Berkeley. Seine
ersten Werke wiesen deutliche Einflüsse von Strawinsky, Messiaen und der
Avantgarde auf, doch seit den 1980er Jahren hatte er sich „eine einfache und
strahlende Transparenz angeeignet, die von seiner Konvertierung zum griechischorthodoxen Glauben im Jahr 1977 herrührte“. In den 2000er Jahren nahm er neue
religiöse Denkrichtungen in seine Ästhetik auf, die vor allem unter dem Eindruck von
Frithjof Schuons (1907-1998) Philosophie ständig komplexer wurde. Das
beeindruckendste Beispiel für die Neuerungen bietet The Veil of the Temple (2003),
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das Tavener selbst als „den Gipfelpunkt seines Lebens und als sein wichtigstes
Werk“ betrachtete. Das sieben Stunden lange Stück für vier Chöre, mehrere
Orchester und Solisten versteht sich als ökumenische Musik, in die Islam,
Buddhismus, Judentum, Hinduismus und Indianerkulte einfließen.
It is Finished: a Ritual for Strasbourg Cathedral sollte John Taveners letzte
Komposition werden. Darin vermischt er zwei Texte, ein von zwei Solisten mit
Streicherbegleitung gesungenes Gedicht von David Gascoyne (1916-2001) und den
Psalm 51 (Miserere), den der von den Blechbläsern begleitete doppelte Chor singt.
Das Werk endet mit einem Sanskritsatz. Der Umgang mit dem Chor, die Harmonien
und spannungsfreien Aneinanderreihungen sowie der Einsatz eines Doppelchors
vermitteln ein Gefühl von Schwerelosigkeit, Ruhe und Ernsthaftigkeit. Außerdem
sorgt die Positionierung der Instrumentalensemble (Solisten und Streicher / Chor und
Blechbläser / doppelte Paukenbesetzung) in den vier Ecken des Münsters für eine
Raumerfahrung, die zur Verzauberung des Publikums beiträgt, das sich der
Schönheit dieses letzten Werks von John Tavener nicht entziehen können wird.
Franz Liszt
Die Glocken des Strassburger Münsters
Der Schöpfer der Faust Symphonie besuchte Straßburg zwischen 1823 und 1885
insgesamt viermal. Als Zwölfjähriger gab er dort im Dezember 1823 zwei Konzerte,
am 5. im Hotel de l’Esprit und am 6. im Theater. Am 28. Juni 1845 spielte der
berühmte Pianist, der überall in Europa mit Beifallsstürmen begrüßt wurde,
gemeinsam mit dem Violinisten Simon Schwaerdelé in der Salle de la Réunion des
arts. Acht Jahre später verbrachte er gemeinsam mit Richard Wagner, Carolyne
Sayn-Wittgenstein und seiner Tochter Marie einen Tag in Straßburg. Am 3. Juni 1885
hörte sich der alte Meister ein großes Vokal- und Instrumentalkonzert an, das zu
seinen Ehren im Aubette-Saal gegeben wurde. Auf dem Programm stand auch seine
am 10. März 1875 in Budapest unter seiner Leitung uraufgeführte Komposition aus
dem Jahr 1874, Die Glocken des Strassburger Münsters. Dazu hatte ihn nicht etwa,
wie man annehmen könnte, das Glockenspiel des Münsters inspiriert, sondern eine
Ballade des amerikanischen Dichters Henry W. Longfellow aus seiner Goldenen
Legende, die ihm Carolyne Sayn-Wittgenstein ans Herz gelegt hatte. In einem Brief
vom 2. Dezember 1873 schrieb Franz Liszt an seine Freundin: „Der Vorschlag mit
dem dialogischen Gedicht von Longfellow, in dessen Mittelpunkt der Straßburger
Glockenturm steht, gefällt mir außerordentlich. Schenken Sie mir das Gedicht, in
einer deutschen oder französischen Übersetzung – denn ich verstehe die
schändliche englische Prosa nur ansatzweise – zu Neujahr 74. Vor dem nächsten
Jahr ist es mir vollkommen unmöglich, Noten niederzuschreiben […]. Was die Kürze
einer solchen Komposition angeht, so bin ich davon keineswegs überzeugt.“ Er kam
am 8. Februar 1874 erneut darauf zu sprechen: „Herzlichen Dank für die Goldene
Legende. Sie ist grandios, aber schwierig zu komponieren – dennoch werde ich mich
vielleicht daran versuchen.“ Er komponierte in der Villa d’Este und schloss das Werk
im Juli ab: „Das Gießen der Glocken geht seinen Gang – ich bringe Sie Ihnen bereit
für ihr bummbumm, am kommenden Samstag. Außerdem ein Präludium, das zu den
Glocken passen könnte – das Motiv ist demselben Dichter Longfellow zu verdanken:
Excelsior.“
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Franz Liszt widmete seine Komposition dem amerikanischen Dichter und erläuterte:
„Excelsior! So lautet die Maxime der Dichtung und der Musik.“ Das kurze Präludium
bildet ein eigenständiges Orchesterstück, denn Liszt erlaubt ausdrücklich die
Weglassung der Passagen für Mezzosopran und Chor. Eines der Motive aus dem
Präludium nahm er in Am Grabe Richard Wagners (1883) wieder auf, und Wagner
selbst machte keinen Hehl daraus, dass er es in Parsifal verarbeitet hatte.
Der zweite Teil, Die Glocken, ist auch der längste. Der Bariton übernimmt den Part
des Luzifers, der das Haus Gottes zerstören möchte. Seine fünf Angriffe werden von
den fünf Glocken abgewehrt, die verkünden, dass sie der Menschheit dienen. Die
Coda bestätigt den Sieg des moralisch Guten über die Mächte des Bösen.
Olivier Messiaen
Chant des déportés
Olivier Messiaens Vokalmusik macht nur einen sehr geringen Teil seines Werkes
aus, ist jedoch gleich aus zwei Gründen wichtig. Erstens bezeichnete der Komponist
selbst den Gesang stets als „die fundamentale Ausdrucksform der Musik selbst“ und
zweitens stammen die von ihm vertonten Gedichte bis auf wenige Ausnahmen aus
seiner eigenen Feder.
Henry Barraud, ein „Komponist in den Diensten des Radios“ berichtete in seinen
Erinnerungen über den Auftrag an Messiaen zur Komposition des Chant des
déportés: „Ich kannte Messiaen schon zu lange, um nicht zu wissen, dass man sich
stets auf eine Überraschung gefasst machen musste, wenn man ihm einen Auftrag
erteilte. Kurz zuvor hatte ich bei ihm anlässlich einer großen Gedenkfeier im ChaillotPalast für die Opfer der Nazi-Lager eine Komposition bestellt. Das Staatsorchester
und unser Chor sollten beteiligt sein, und ich hatte Messiaen vorgeschlagen, zu
diesem Anlass einen Gesang der Gefangenen und Deportierten zu schreiben. Er
machte sich an die Arbeit und besuchte mich zu gegebener Zeit am Square Moncey,
um seine Partitur zu zeigen. Bei seiner Ankunft teilte er mir mit, dass ihm das Gedicht
wichtiger sei als die Musik. […] Er setzte sich ans Klavier und begann zu spielen.
Schon beim fünften Takt rief ich: ‚Aber das ist der Chant du départ! ‘ Ach, sagte er
etwas enttäuscht, Sie haben ihn wiedererkannt? Er mochte den Chant du départ
sehr, wie er mir anvertraute. Er hatte ihm dem Thema zugeeignet und auf seine Art
überarbeitet. Das heißt, er hatte die Intervalle erweitert oder verengt, Quarten und
Quinten in große Quarten oder kleine Quinten verwandelt. Seine Melodie wurde von
Dreiklängen dominiert, ohne dass dabei die Konturen verwischt wurden, und die
Akzente waren durch einen Klangnebel aus komplexen harmonischen Anordnungen
in den extrem hohen Tönen weiter deutlich herauszuhören.“
Im Sommer 1945 komponierte Messiaen den Chant des déportés für Chor und
Orchester, zur gleichen Zeit entstand auch der Liederzyklus Harawi. Die Komposition
wurde am 2. November desselben Jahres von Manuel Rosenthal im Chaillot-Palast
uraufgeführt. Jean Wiener äußerte sich folgendermaßen: „Eine Art heroische und
zärtliche Deformierung des Chant du départ, ein Hauch von beschwörender und
ruhmvoller Musik, die zugleich elend und von einer unwiderstehlichen fröhlichen Kraft
ist, ist der Chant des déportés all das zugleich und trieft vor Genie, wie alles, was
Messiaen produziert.“ Das Werk geriet dann in Vergessenheit und wurde 1991 in der
Bibliothek von Radio-France wiederentdeckt.
Bibliografische Empfehlung
Es sei auf folgendes Werk verwiesen:
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Geneviève Honegger, Sur la trace des musiciens célèbres à Strasbourg, Straßburg
(La Nuée bleue) 1988
Dank an Geneviève Honegger, Anne Claire Pfeiffer und Catherine Bolzinger für ihren Rat.
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