Die Kultur des öffentlichen Raumes

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Die Kultur des öffentlichen Raumes
Die Kultur des öffentlichen Raumes
Öffentlicher Raum als Ort virtueller Emanzipation
Manfred Russo
Die bürgerliche Öffentlichkeit ist ein utopisches Konzept. Sie beruht auf dem
Versprechen einer Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft, die mit dem
Prinzip der Chancengleichheit und des allgemeinen freien Zugangs zu jeglichen Gesellschaftsbereichen für alle verbunden ist. Andererseits haben die ökonomischen und sozialen Bedingungen niemals jedermann die gleichen Chancen ermöglicht. Daher wird in den öffentlichen Raum nach wie vor die Hoffnung
projiziert, dass er als Raum der Inklusion gleiche Chancen am Markt bietet, Herrschaft durch demokratische Willensbildung auflöst und gesellschaftliche Teilhabe auf ökonomischer, sozialer und politischer Ebene zulässt. Daraus ergibt sich
eine normative Forderung, die allerdings auf einer utopischen Idee beruht und
für eine immanente Spannung zwischen Anpeilen und Nichterreichen sorgt.
Die Politik wäre in weiterer Folge auch der Weg, um die Versprechen, die
sich aus der gemeinsamen Debatte ergeben haben, in die Realität umzusetzen. Sie wäre das Instrument, um in öffentlicher Debatte – in der Polis – das
Ziel zu bestimmen und umzusetzen.
Nun kommt aber der Bruch, denn es existiert eine weit verbreitete und
schwer widerlegbare Einschätzung, dass der öffentliche Raum hinsichtlich
seiner Möglichkeit zur politischen Teilhabe und Mitbestimmung äußerst eingeschränkt, wenn nicht gar völlig wirkungslos ist. Diese These ist auf unterschiedliche Weise von Jürgen Habermas, Hannah Arendt und Richard Sennett
entwickelt worden und trotz der inhaltlichen Differenzen gut nachvollziehbar.
Für Arendt wird die Politik durch das Primat des Ökonomischen, das sich in der
Neuzeit durchgesetzt hat, preisgegeben, für Habermas kommt der öffentliche Raum durch die kapitalistische Entwicklung der Medien an sein Ende, für
Sennett wird der Mensch seit dem 19. Jahrhundert durch die Konstruktion der
Persönlichkeit und durch das Aufkommen des Narzissmus bedroht, bzw. zur
politischen Passivität verurteilt.
Aufgrund dieses Sachverhaltes ergibt sich jedoch die Frage, auf welche
Weise der öffentliche Raum dieser Macht des Versprechens gerecht werden
kann, wenn die eigentliche Methode zur Erreichung des Zieles, die Politik
nämlich, wirkungslos ist.
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Oder anders gefragt: In welcher Sphäre ist der öffentliche Raum eigentlich angesiedelt, wenn seine ursprüngliche Substanz, das Politische, gar nicht
mehr in ihm enthalten ist.
Kulturelle Politik des öffentlichen Raumes
Die These lautet: Es ist die Kultur als die Summe der Praktiken, die den öffentlichen Raum bestimmt. Insbesondere nach dem Ende der politischen Rolle
der Öffentlichkeit ist die Kultur die wesentliche Klammer, die eine Aufrechterhaltung dieser Sphäre ermöglicht, obwohl sie teilweise vom Ökonomischen
vereinnahmt wird. Im Grunde existiert die kulturelle Funktion schon von Anbeginn der Öffentlichkeit weg, war jedoch in der Rezeption immer vom Politischen überlagert. Es ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass die
Entwicklung der Öffentlichkeit in der Neuzeit immer mit dem Komplement
des Humanismus verbunden war (Taylor 2009; Russo 2010) und die Idee einer cultura überhaupt nicht ohne den Sinn der Pflege des Menschlichen hätte
aufkommen können. Öffentlichkeit ist gewissermaßen wesenhaft mit Kultur
verbunden. Der Grund dafür liegt in der gemeinsamen Genese des Humanismus und der Öffentlichkeit in der Neuzeit. Und Kultur ist natürlich auch ein
Medium, das die Pflege der menschlichen Produkte impliziert, insofern es
auch den Nährboden für Produktion und Konsumption abgibt.
Daher soll im Verlauf des vorliegenden Beitrages eine kurze historische
Darstellung des Zusammenhanges von Öffentlichkeit bzw. öffentlichem
Raum und Kultur erfolgen. Kultur selbst wird wiederum durch ihre Stellung
zur Natur bestimmt, durch den jeweiligen Grad der Naturüberwindung und
dabei vor allem dadurch, was überhaupt als Natur bezeichnet wird. Denn die
Begriffsgeschichte der Kultur ist, wie Raymond Williams nachdrücklich gezeigt hat, keineswegs einförmig, sondern unterliegt einem stetem Wandel,
der sich – so die Behauptung dieses Aufsatzes – auch auf die Interpretation
der Formen des öffentlichen Raumes, und hier insbesondere des urbanen
Raumes, auswirkt. Quelle der verschiedenen Erscheinungsformen des öffentlichen urbanen Raumes ist die Kultur des öffentlichen Raumes an sich, die sich
topologisch unterschiedlich manifestiert, so eben auch im urbanen Raum. Die
Praxis des öffentlichen urbanen Raumes bezieht sämtliche Impulse aus dem
übergeordneten Bereich der Kultur, der die Dimensionen des öffentlichen
Raumes weitgehend bestimmt.
Richtungweisend für diese Behauptung der kulturellen Fundierung der
Öffentlichkeit ist der Hinweis von Habermas, dass die Renaissance der öffentlichen Sphäre im 18. Jahrhundert durch eine Mischung von politischen und
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kulturellen Motiven im Sinne einer auf Recht und Vernunft basierenden, zivilisatorischen Verfeinerung der Menschen initiiert wurde. Der politische Anspruch auf eine Verbesserung der Lebensumstände war überhaupt erst durch
eine empathische, emotional verfeinerte Haltung des Publikums in der literarischen Öffentlichkeit möglich geworden, und aus einer in der kulturellen
Sphäre wie der literarischen Öffentlichkeit diskutierten Problematik war erst
in der weiteren Folge eine politische Frage geworden. Die politische Öffentlichkeit hat ihren Ursprung in einer spezifisch kulturellen Sphäre und in diese
wird der öffentliche Raum auch heute eingebettet.
Habermas unterscheidet beim Strukturwandel der Öffentlichkeit zwischen
zwei Typen, nämlich zwischen der politischen und der literarischen Öffentlichkeit. Die Wurzel der politischen Öffentlichkeit liegt für ihn in der älteren literarischen Öffentlichkeit, weil sie schon mit „Einrichtungen des Publikums und
Plattformen der Diskussion“ (Habermas 1962: 69) ausgestattet ist und nun der
Erfahrungszusammenhang der publikumsbezogenen Privatheit auch in die politische Öffentlichkeit eingehen kann. Der genuine Boden der Humanität liegt
nach Habermas in der privatisierten Sphäre und kleinfamilialen Intimität. In der
familialen Sphäre treten die Menschen in „rein menschliche Beziehungen“ ein,
üben sich in Empfindungen, sind interesselos und entdecken Subjektivität und
Humanität. Aber – und es ist wichtig, darauf hinzuweisen – der Ursprung dieser
Öffentlichkeit liegt in den Erfahrungen einer intimisierten Privatsphäre, die sich
in der Kontroverse um das Prinzip absoluter Herrschaft entfaltet. Die kulturelle
Verfeinerung der Privatsphäre bildet den Nährboden für eine Diskussion durch
ein Publikum, das bald in die Öffentlichkeit hinaustreten wird. Hier wird diese
Doppelfunktion von Humanität und politischer Öffentlichkeit wirksam, die bis
heute die Diskussion des öffentlichen Raumes bestimmt.
Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts als zivilisierter
Raum
Raymond Williams unterscheidet in seinen Studien über die Semantik der
Kultur drei etymologische Bedeutungen (Williams 1976: 76 – 82). Zivilität oder
Höflichkeit (1), wird im 18. Jahrhundert zum Synonym für Zivilisation (2), dieser
Begriff der Zivilisation als Zeichen allgemeinen spirituellen und materiellen
Fortschritts und damit auch einer moralischen Haltung, wie sie etwa der Gentleman darstellt. Die Annahme lautete: Wer gesittet ist, handelt auch ethisch.
Auch Richard Sennett bezeichnet die Genese der öffentlichen Sphäre im
18. Jahrhundert als Ergebnis der kulturellen Entwicklung einer Zivilisierung,
die sich aus der wachsenden Differenz zwischen Natur und Kultur ergibt, wo-
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bei die Sphäre des Privaten der Natur und die der Öffentlichkeit der Kultur
zugeordnet wird. Dabei gilt für ihn der Begriff der Kultur als Zivilisation, der
im Gegensatz zum späteren Kulturbegriff als einem Ideal des Organischen
steht. Der zivilisierte Mensch legt Wert auf „Unpersönlichkeit“ und die Befreiung von der obsessiven Innerlichkeit.
Sennett führt in diesem Zusammenhang auch den Begriff des Kosmopoliten ein, der als der perfekte „Öffentlichkeitsmensch“ gelten konnte (Sennett
1986: 33). Interessant ist seine soziologische Bestimmung, wie sie von James
Howell in seinen „Letters“ beschrieben wurde.
„Ich stolperte in die Welt hinein, ein Nachgeborener, ein wahrer
Kosmopolit, nicht in Land, Pacht, noch Amt hineingeboren.“
Der Kosmopolit ist jemand, der ohne die Macht der Familie und des ererbten
Wohlstandes sowie ohne Feudalpflichten – aber zumindest noch aus einer
verarmten aristokratischen Familie stammend – sich auf die Komplexität des
öffentlichen Lebens einlassen muss. Aufgrund des Verlustes der familiären
Ressourcen ist er sozusagen seiner natürlichen Basis, seiner Naturstellung
überhaupt, beraubt und muss sich in das Feld der Kultur begeben. Der Verlust
der Familie entspricht einer Vertreibung aus dem Reich der Natur und macht
die Hinwendung zur öffentlichen Sphäre als einem Bereich der Kultur und Zivilisation notwendig.
Weil sich bereits im 18. Jahrhundert der Anbruch der neuen kapitalistischen Ordnung und der Niedergang des „ancièn régime“ abzeichnete, ergab
sich die Notwendigkeit, angesichts der chaotischen Gesellschaftszustände
eine neue soziale Ordnung zu schaffen. Dazu zählte auch der kulturelle Versuch der Bürger, eine Differenz zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten
zu bestimmen.
„Die Grenzlinie war vor allem dadurch bestimmt, daß sie mit Ihrer
Hilfe das Gleichgewicht zwischen den Ansprüchen der Zivilisation
– verkörpert im kosmopolitischen, öffentlichen Verhalten – und
den Ansprüchen der Natur – verkörpert in der Familie – hergestellt
wurde.“ (Sennett 1986: 34)
Der emotional befriedigende Umgang mit Fremden bei Einhaltung einer
Distanz galt als zivilisierte Handlung zur Zähmung des Menschentieres, die
Fähigkeiten zur Elternschaft oder Freundschaft schrieb man den natürlichen
Anlagen zu.
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„In der Öffentlichkeit schuf sich der Mensch; im Privaten, vor allem
innerhalb der Familie verwirklichte er sich.“ (Sennett 1986: 35)
Die Handlungen in der Öffentlichkeit, die den Menschen zum Kontakt mit
dem Fremden verpflichteten, wurden als Ergebnis menschlicher Tätigkeit betrachtet, als Kultur, weil sie zivilisierend und möglicherweise auch nur unter
Überwindung natürlicher, eher xenophober Impulse zustande kamen. Sennetts Modell des öffentlichen Raumes ist also primär kulturell definiert, indem
er Öffentlichkeit als zivile, kultivierte Sphäre betrachtet, die der wilden Sphäre
der Natur, der die Familie zu jeder Zeit zugerechnet wird, quasi abgerungen
wurde, die aber durch die gefährliche Renaissance der ebenfalls neuen kulturellen Idee des Organizismus, ihren Vorstellungen der Gemeinschaft und dem
damit einhergehenden Wunsch nach Verschmelzung in Sphären der Einheit
bedroht ist.
Sennett weist insbesondere auch auf die räumliche Einbettung dieser öffentlichen Sphäre hin, indem im Zuge dieser Entwicklung der Öffentlichkeit
auch entsprechende öffentliche Räume geschaffen wurden. Große städtische
Parks wurden eingerichtet, Cafés eröffnet, die Theater- und Opernhäuser für
das große bürgerliche Publikum erschlossen. Sie alle sind Stätten und Zeugnisse einer großen zivilisatorischen Leistung, mit der die Öffentlichkeit im urbanen Raum auch Gestalt annimmt.
Kulturbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Idee
des Organischen löst die der Zivilisation ab
An der Wende zum 19 Jahrhundert hatte sich die Bedeutung des Begriff Kultur
in drei Richtungen verändert (Williams 1976).
(1) Aus dem Synonym für Zivilisation wurde nun ein Antonym, etwas Gegenteiliges. Der Begriff der Zivilisation hatte wie der der Kultur eine überwiegend normative Bedeutung, indem er eine Lebensform ihrer Humanität und
Aufgeklärtheit wegen empfahl: z. B. die Künste, das urbane Leben, bürgernahe
Politik, komplexe Technologien, alles, was als Fortschritt gegenüber früheren
Zeiten empfunden wurde. Solange die Inhalte der Kultur als Zivilisation positiv
bewertet wurden, war die Kultur glaubwürdig; wenn aber die Zivilisation Verfallserscheinungen wie etwa die Raubgier oder die moralische Verdorbenheit
aufwies, wurden die Verfechter einer Idee der Kultur zu einer kritischen Haltung gezwungen, die das neue Phänomen des Kulturpessimismus (Spengler)
hervorbrachte. Bei Williams stehen die Begriffe der Kultur und der Zivilisation
immer in einem dialektischen Zusammenhang zueinander. Während eine Zi-
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vilisation in Widerspruch zu gewissen gesellschaftlichen Dimensionen steht,
so setzt Kultur als Kritik an den bestehenden zivilisatorischen Verhältnissen
an und geht in Opposition zum bestehenden Zivilisationsbegriff. Denn wenn
es Anzeichen wie den Verlust der Unabhängigkeit, die Erzeugung künstlicher
Bedürfnisse, Monotonie, rein mechanische Vorstellungen, Ungleichheit und
hoffnungslose Armut gibt, wie sie von Mill angeführt werden (Williams 1976:
58), dann ließ der Anspruch einer kritischen Wirksamkeit der Kultur nun keinen Rückfall mehr in die individuelle Kultivierung zu, sondern musste den Bezug zur gesellschaftlichen Dimension herstellen, musste also politisch aktiv
werden.
Damit hatte sich die positive Konnotation des Begriffes der Zivilisation, der
der Aufklärung entstammt, ins Negative gewendet (Williams 1976; Eagleton
2001) und wurde kritisch als etwas Abstraktes, Entfremdetes, Mechanisches
und Utilitaristisches betrachtet, während die Kultur als ganzheitlich, organisch, sinnlich wahrgenommen wurde, was auch dem Gegensatz zwischen
Moderne und Tradition entsprach.
(2) Durch die Abwendung von der Zivilisation kommt es zur zweiten Veränderung des Begriffs Kultur und einer Hinwendung zum Völkischen.
Kultur ist nach Herder keine großartige lineare Fortschrittsgeschichte, sondern eine Vielfalt von spezifischen Lebensformen, die ihr eigenes Entwicklungsgesetz in sich selbst tragen. Er dachte vor allem an den Konflikt zwischen Europa und den Kolonien und den eurozentristischen Anspruch einer überlegenen
Kultur. Damit geriet diese Vorstellung nun in einen Gegensatz zur Aufklärung. Er
plädiert für die Verwendung des Plurals und des Begriffes der Kulturen.
Aus dieser Motivation entstammt die romantisch- antikolonialistische Attitüde einer Liebe zu den unterdrückten Völkern. War die Kultur als etwas Zivilisatorisches etwas Kosmologisches, ein Zeichen für besondere Verfeinerung
und Kultivierung, so wurde sie nun zu etwas Stammesmäßigen, das einer vitaleren Ebene des Bewusstseins und des Geistes als die angekränkelte Zivilisation entsprach. Der Zivilisierte stand plötzlich in Opposition zum Wilden, der
nun auf einer neuen Ebene als kultiviert galt. Bei dieser neuen Ebene handelte
es sich um das Phänomen des Organischen. Dieser neue Begriff der Kultur beruhte auf der Romantik der Entdeckung primitiver Naturvölker und Stämme,
die noch den Charakter des Organischen aufwiesen, und geriet in Opposition
zur Aufklärung, indem eine Idee des Organischen der Entfremdung der Zivilisation entgegengehalten wurde. Dieser Exotismus setzte sich übrigens im 20.
Jahrhundert in den primitivistischen Neigungen der frühen Moderne fort, um
auch in der Postmoderne in der Romantisierung der Volkskultur erneut eine
expressive und romantische Rolle bei der Erneuerung der Utopie zu spielen.
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(3) Die dritte Wendung des Kulturbegriffes bezieht sich auf die Spezialisierung der Künste. Dahinter steht der Verdacht, dass zahlreiche Disziplinen wie
Naturwissenschaften, Philosophie und Politik nicht mehr ausreichend kreativ
sind. Vor allem bedeutet es die Unterstellung, dass zivilisierte Werte nur mehr
von der Einbildungskraft hervorgebracht werden können und Kultur nur noch
in den Künsten als dem Ort der Imagination zu finden wäre. Diese ästhetische
Wende war schon früher von der Romantik ausgegangen und führte dazu,
dass dem Künstler nun auch transzendenter Status eingeräumt wurde, der ihn
auch zum Einnehmen einer politischen Rolle ermächtigte.
Alle drei Bedeutungssegmente spielen eine wichtige Rolle im öffentlichen
Raum bis in die Gegenwart, wodurch die Behauptung einer kulturellen Politik
bzw. einer kulturellen Prägung des öffentlichen Raumes nachhaltig an Gewicht gewinnt. Die wachsende Opposition zwischen dem alten Kulturbegriff
der Zivilisation und einem neueren, der auf Organisches, Ethnisches abzielt
und sich in der ideologischen Differenz zwischen Zivilität und Organizität ausdrückt, bestimmt vielleicht die gesamte Entwicklung des öffentlichen Raumes
am nachdrücklichsten und wird am besten durch Richard Sennett beschrieben, der angesichts der Tendenz zum Völkischen, zur Gemeinschaft und zur
Einheit stets auf das damit verbundene Risiko hinweist. Die ästhetische Wende
zur Kunst wurde zu einer weiteren bestimmenden Größe für den öffentlichen
Raum, die sich in unterschiedlichen Konzepten im 19. und 20. Jahrhundert
äußerte. Die künstlerische Gestaltung des öffentlichen Raumes wurde im 19.
Jahrhundert zu einer Verbindung von kollektivem Gedächtnis und der Idee
einer Einheit der Nation: Insofern traf sich hier die Kunst und die Idee des Organischen. Die Idee der Nation, die eng mit der des Völkischen verbunden ist
und sämtliche bürgerlichen politischen Emanzipationsbestrebungen des 19.
Jahrhunderts bestimmt, bedurfte eines Gedächtnisses, um die eigene Identität zu entwickeln. Die Ausschmückung des öffentlichen Raumes mit Symbolen des kollektiven Gedächtnisses und der entsprechenden Mythen ist daher
ein zentrales Thema des 19. Jahrhunderts. Gleichermaßen wird das Interesse
an den Kolonialvölkern geweckt und findet seinen kulturellen Eingang im öffentlichen Raum der großen Museen der Metropolen der Kolonialreiche, wo
deren Entdeckung als Leistung der eigenen Zivilisation gilt.
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Die Spannung zwischen Zivilität und Organizität als
Konflikt zwischen Differenz und Einheit im öffentlichen
Raum
Diese Problematik des Gegensatzes zwischen den kulturellen Paradigmen
der Zivilität und der Organizität hatte schon Richard Sennett für den öffentlichen Raum als eine Spannung zwischen den Ideen der Differenz und der
Ganzheit beschrieben (Sennett 1991: 108), wobei er die zivile Idee der Differenz einer organizistischen Idee der Ganzheit entgegensetzte.
„Die Spannung zwischen Ganzheit und Unterschied kam den Menschen des Aufklärungszeitalters schmerzlich zu Bewusstsein, als
in ihrem Sprachgebrauch das Wort Kultur in einen Gegensatz zu
dem Wort Zivilisation geriet. Kultur umfasste für sie die Kräfte der
Ganzheit innerhalb der Gesellschaft, während Zivilisation die Bereitschaft anzeigte, den Unterschied zu akzeptieren.“
Für die Stadtplaner der Moderne, die einem urbanen Organizismus verpflichtet waren, wurde nun die Herstellung von Ganzheit zur Überwindung der Diskontinuität ein zentrales Motiv für die Gestaltung von öffentlichen Räumen.
Aber genau gegen diese Tendenz zur Vereinheitlichung, die sich bis in die Moderne fortsetzt, kämpft Sennett an, weil sie die Wahrnehmung der Differenz
verhindert:
„Es gibt heute bedrückende Anzeichen dafür, daß die auf eine organische Einheit zielenden Einstellungen zur Welt, deren Ursprünge in der Aufklärung wir nachgezeichnet haben, nicht in der Wahrnehmung der Komplexität und in die Auseinandersetzung mit ihr
münden.“ (Sennett 1991: 118)
Sennett nennt Beispiele des Umgangs mit Komplexität und Diskontinuität für
den öffentlichen Raum des 18. Jahrhunderts, wo bereits Versuche zur Herstellung einer Einheit stattgefunden haben. Diese Versuche einer Unifizierung
sind als Versuche der Schließung zu sehen, die die Erfahrung der Differenz
als einer Lücke zum Sein hin abschotten sollten. Im ersten Falle der Place de
la Concorde wandte der Planer Jacques Ange Gabriel eine Technik des „haha“
an, die aus der Landschaftsarchitektur stammte, wo man mithilfe versenkter
Zäune den Eindruck eines grenzenlosen Landes erwecken konnte, in dem
Menschen und Tiere gemeinsam friedlich verweilen. Im Falle des Platzes wurden anstelle von Zäunen breite Grasstreifen zwischen Verkehr und Menschen
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gelegt, die ebenfalls den optischen Eindruck einer friedlichen Koexistenz vermitteln sollten. Man rechnete jedoch nicht mit den Huren aus den nahegelegenen Tuilerien, deren Auftritt am Platz aufgrund der nunmehr parkenden
und unerlaubt langsam fahrenden Kutschen ein Verkehrschaos verursachte.
Der Zerfall der Einheit zeigte den Einbruch der Differenz und „die eigentümliche Gewalt, mit der die Stadt das Programm der Einheit demontiert.“ (Sennett
1991: 125)
An anderer Stelle von „Aufstieg und Fall“ ist eine weitere Warnung Sennetts vor der unzivilisierten Gemeinschaft zu erwähnen, die sich genau dadurch auszeichnet, dass sie durch diese Rückwendung zur Gemeinschaft im
Sinne einer Familie
„das Zusammensein von Menschen innerhalb intimer Gemeinschaftsterritorien selbst destruktive Tendenzen birgt.“ (Sennett
1986: 373)
Die Ideologie der Brüderlichkeit inmitten einer feindlichen Welt führt zur Gemeinschaft und zur intimen Gesellschaft. Sennett ist ein strenger Kritiker aller
Tendenzen, die sich gegen die Zivilisiertheit im Namen einer organizistischen
Idee wenden, weil dadurch falsche Intimität und Identität erzeugt wird und
das Besondere in Gefahr gerät, in ein falsches Allgemeines einzutauchen. Im
Hintergrund steht bei dieser Befürchtung die Erfahrung des Totalitarismus im
20. Jahrhundert mit den totalitären Regimes des Faschismus und Kommunismus, aber auch schon wieder die Ahnung einer neuen, noch bedrohlicheren
Entwicklung durch die Totalität der Massenmedien und Massenkultur.
Strategien zur Herstellung von Einheit im öffentlichen
Raum. Das kollektive Gedächtnis der Stadt
Die kulturelle, romantische Idee der Einheit wurde im 19. Jahrhundert zur politischen und bewusstseinsmäßigen Basis für die Entwicklung des Nationalstaates. Daher wurde in Frankreich in Paris ein Konzept der kulturellen Politik zur
architektonischen Verschönerung des öffentlichen Raumes angewandt, um
durch entsprechende symbolische Darstellungen die kollektive Einheit der
Bürger darzustellen und zu stärken (Russo 2006). Im Wesentlichen handelte es
sich um eine Architektur des kollektiven Gedächtnisses im öffentlichen Raum,
dessen Decorum und Monumente von vorbildlichen Taten, nationaler Einheit
und industrieller Glorie handelten (Boyer 1996).
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Diese kulturelle Politik der Regierung hatte eine Repräsentation der effizienten und harmonischen Ordnung der Dinge und Leute in einer symbolischen
Darstellung durch entsprechende architektonische Kompositionen zum Ziel.
Die ikonographische Ornamentierung des öffentlichen Raumes durch Statuen und Denkmäler sollte den Geist der vernünftigen Führung demonstrieren.
Die Architekten wurden dazu angehalten, den öffentlichen Raum der Stadt
mit dem Decorum der zeremoniellen Strukturen zu schmücken, um Triumphakte und heroische Tode wiederaufleben zu lassen. Historische Monumente und bürgerliche Plätze galten als didaktische Artefakte und wurden
mit größter Sorgfalt szenographisch arrangiert und ikonisch komponiert, mit
dem Ziel der Verbesserung und Zivilisierung des Geschmacks und der Moral
der urbanen Elite.
Museum zur Darstellung der Erfolge der Zivilisierung
Eine zunächst mehr der Aufklärung verbundene Form kultureller Öffentlichkeit im urbanen Raum ist mit der Entstehungsgeschichte des Museums und
Kunstraums im 19. Jahrhundert verbunden. Mit der Ablösung vom Feudalsystem und der Etablierung unterschiedlicher bürgerlicher Institutionen und
Disziplinen entstanden historische und naturwissenschaftliche Museen, Dioramen und Panoramen, große nationale und internationale Ausstellungen,
Arkaden, Passagen und Warenhäuser, die als Orte neuer Wissensdisziplinen
(Geschichte, Biologie, Kunstgeschichte, Anthropologie, Ethnographie, politische Ökonomie und ihrer Kategorien wie Vergangenheit, Evolution, Humanismus, Ästhetik etc.) wirksam wurden. Neben der Beteiligung am europäischen Projekt der Aufklärung leisteten sie einen Beitrag zur Konstitution der
bürgerlichen Gesellschaft. Die Subjektfunktion wurde im Sinne einer kulturellen Technik der Selbstbildung geformt. Dieser Komplex des Ausstellens
diente der Zurschaustellung des Wissens vor einer großen Menschenmenge
auf neuartige Weise, weil spezifische Örtlichkeiten geschaffen und neue Technologien des Zeigens mit Vitrinen, Hängetechniken und Inszenierungen (wie
die Aufstellung ganzer Dörfer afrikanischer und asiatischer Völker) entwickelt
wurden (Bennett 1995). In London dienten diese Ausstellungen einer Präsentation der Erfolge des Kolonialismus, wobei durch diese Ausstellungen eine
Opposition zwischen der zivilisierten und primitiven Welt konstruiert wurde.
Dieser Umstand ist insofern bedeutend, als die Kultur nun Ausdruck jener
Form von Zivilisation ist, die problematisch geworden ist, weil sie andere Kulturen unterdrückte. Wenn eine Zivilisation die Erfolge des Kolonialismus öffentlich feiert, so kann sich der Wind bei einer kulturellen Neubewertung der
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kolonialen Völker schnell drehen und eine Leistung der Zivilisation plötzlich
als eine der Unterdrückung von Kultur erscheinen lassen. Beides manifestiert
sich im öffentlichen Raum.
Moderne. Kultur als Kritik
Der Kulturbegriff entwickelt sich in diesem Sinne, weil die Zivilisation ständig
einen Punkt erreicht, wo sie durch Beeinträchtigung bestimmter menschlicher
Ansprüche gekennzeichnet wird. Denn es scheint eine Art von Grunderfahrung zu sein, dass Zivilisation gerade dadurch, dass sie bestimmte menschliche Potentiale hervorbringt, wiederum andere unterdrückt und zerstört. Hier
setzt das dialektische Denken ein, indem es aus diesen Spannungen zwischen
den Widersprüchen eine neue Sicht entwickelt. Manchmal kann man dann so
weit gehen, Kultur gar als eine neue Zivilisation zu betrachten, die der gegenwärtigen entgegensteht (Eagleton 2001: 36). Diese dialektische Sicht der Geschichte verknüpft die positiven mit den negativen Elementen, die wie Hefe
wirksam sind, indem sie stets wieder neue Kulturen hervorbringen.
Der marxistisch inspirierte Ansatz von Raymond Williams besteht in der
Beschreibung von Kultur als Zivilität und der daraus resultierenden Aufgabe
der Politik als einer Verwirklichung dieser Kultur im Sinne eines sozialen Lebens. Die Logik des marxistischen Denkens bestand darin, dass man dem jungen Industriekapitalismus die Möglichkeit zur Zivilisation aufgrund der Ausbeutungsverhältnisse gänzlich absprach und deren Realisierung zunächst nur
als Utopie denken konnte. Die Aufgabe der ‚modernen‘ Kunst bestand nun in
der Kritik an den bestehenden Verhältnissen und auch aus einer Ausmalung
der Utopie. Andere Positionen der Kunst wurden als nicht fortschrittlich, reaktionär, elitär oder bourgeois bezeichnet. Daraus folgte für die Kultur der Moderne eine enge Verbindung mit dem Marxismus, der eine neue und höhere
Zivilisation hervorbringen sollte, wenngleich dessen gesellschaftliche Realität
selten mit dem utopischen Kulturbegriff übereinstimmte.
Der kulturelle Modernismus hatte ein Faible für den „Geist der Wilden“
im Sinne eines romantischen Organizismus, der dem dekadenten Bourgeois
entgegengehalten werden konnte. War nicht die Arbeiterschaft eine Gemeinschaft mit einer eigenen Kultur, die von dieser schöpferischen Energie beseelt wurde? Marx und andere Theoretiker glaubten an die Freisetzung dieser
schöpferischen Kräfte in der Arbeiterkultur, die sich durch neue Praktiken, wie
besondere Pflege der Kinderaufzucht, der Erziehung, der Wohlfahrt, des Gesundheitswesens, der gegenseitigen Unterstützung und gemeinsame Zeitungen, äußern sollten.
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Wenn Kultur als Kritik mehr als ein müßiges Spiel der Phantasie sein sollte, musste sie auf bestimmte Praktiken der Gegenwart verweisen können, die
etwas jener Fülle vorwegnehmen, die sie ersehnt. Daher wurde nun die Arbeiterkultur der Hochkultur des Bourgeois entgegengesetzt, und die Praxis des
Neuen Bauens wird als Prototyp einer neuen Rationalität und Ästhetik des
Urbanismus bestimmend, der die Grundlage einer neuen Zivilisation bilden
soll. Später wird auch dieser Urbanismus der vernichtenden Kritik der neuen
Generation der Zivilisationskritiker anheim fallen, die die Kälte und Nüchternheit der modernen Siedlungen als inhuman und als Grund für soziale Verwerfungen bezeichnen.
In diesem Zusammenhang ist auch auf die Neuformatierung der kulturellen Bedeutung der Massen hinzuweisen: Weil der Sozialismus die negativen
Aspekte des Mobs als revolutionäre Kraft sich einverleibt, Individualisierung
ablehnt und sich ausschließlich auf den positiven sozialen Gehalt der Massen
bezieht, werden Massenveranstaltungen nun als soziale Ereignisse betrachtet (Williams 1983: 185) und Massenprodukte nach ihren besonderen seriellen Qualitäten beurteilt. Der öffentliche Raum hat damit nur eine Funktion,
indem er nämlich die Massen entsprechend zum Ausdruck bringt, wobei hier
ein Rückgriff auf den Fundus der Französischen Revolution mit ihren phantastisch anmutenden Inszenierungen unternommen wird. In der Dramaturgie
der Massenaufmärsche unterscheiden sich sozialistische und nationalsozialistische Veranstaltungen wenig, da beide auf dieselben Quellen zurückgreifen.
Die Moderne besaß auch keine darüber hinausgehenden Präferenzen für
den öffentlichen Raum, weil sie auf die Macht der Zivilisation im Sinne eines
historischen Fortschrittglaubens setzte, der durch die Unvernunft der öffentlichen Meinung allenfalls gefährdet wäre. Öffentlich zustande kommender Dezisionismus, eben weil er gerade auf den Identitätskulturen des Nationalismus
fußte, wurde als bloße ‚doxa‘ betrachtet, als öffentliche Meinung, die in ihrer
negativen Ausformung auf reinen Vorurteilen beruhte und nur zu Fehlentscheidungen führen konnte.
Die sich in der Moderne ankündigende Spaltung zwischen technisch rationaler Zivilisation und Kultur als dem Ausdruck einer entfremdeten Lebenswelt
war zu diesem Zeitpunkt noch kaum zu erkennen. Zivilisation war noch von
der Aura rationaler Planung umgeben, die für den Bereich des öffentlichen
Raumes zuständige Stadtplanung hatte andere Ziele. Stadtplanung, sowohl
im Fordismus wie auch in der sozialistischen Wirtschaftspolitik, hatte den
Charakter eines Großprojektes, dessen Ziel darin bestand, der Natur (den
unverbauten Räumen der Peripherie) Terrain abzugewinnen und sie in eine
kultivierte Stadtlandschaft zu verwandeln. Stadtplaner galten als Pioniere der
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Zivilisation, die Natur in Stadt (Kultur) verwandelten. Die Korrumpiertheit des
Zivilisationsbegriffes wurde ihr erst von der nächsten Generation entgegengehalten.
Postmoderne: Noble Neutralität – die „Zwecklosigkeit“
der Kultur und die Multifunktionalität des öffentlichen
Raumes
Aus politischer Perspektive ist die Kultur in der Postmoderne eine Idee geworden, die sich der Parteinahme entzieht, wie Eagleton als einer der Herausgeber der „New Left Review“ resignativ vermerkt. Im Sinne ihrer Bejahung, Symmetrie und ganzheitlichen Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten wird
sie zu einer Art von Gegenposition zur Politik, weil sie den eingeschränkten
Blick des politischen Fanatismus im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung
der Welt ablehnen muss. Ihr Ideal ist das der Harmonie, der Geist darf bei seiner Entfaltung nicht durch tendenziöses und unausgewogenes politisches
Sektierertum gestört werden.
Kultur in der Postmoderne impliziert zwar Kritik am Kapitalismus, zugleich
aber auch eine Kritik an verschiedenen Formen des antikapitalistischen Engagements. Die Erreichung der vielfältigen Ideale der Kultur würde einer entschlossenen einseitigen Politik bedürfen; das Prinzip der Gerechtigkeit verlangt aber über die eigenen parteilichen Interessen hinaus einen Blick auf das
Ganze, und damit auch – aus politischer Sicht – auf die Interessen der Herrschenden, die möglicherweise den eigenen widersprechen (Eagleton 2001:
28). Insofern ist Kultur derzeit eher als Bremse politischen Handelns, eher als
kontemplative, denn als engagierte Tätigkeit zu bezeichnen.
Dies entspricht auch Schillers Begriff des Ästhetischen als eines „negativen
Zustandes der bloßen Bestimmungslosigkeit“. Im ästhetischen Zustand ist der
Mensch in einer Art von Schwebezustand des ewig Möglichen, einer Negation
aller Bestimmtheit. Die Kultur hat keine besondere Intention für ein spezifisches gesellschaftliches Interesse, ist aber nach Schiller dennoch auch eine
Inspirationsquelle des Handelns, weil uns sämtliche Handlungsoptionen vor
Augen geführt werden (Eagleton 2001: 30). Aus dieser merkwürdigen Bestimmungslosigkeit bezieht die Kultur wohl auch ihre aktuelle Faszination und Eignung für eine Bespielung des öffentlichen Raumes.
Ein aktueller Versuch zur Bestimmung der Eigenschaften des öffentlichen Raumes ergab das folgende Ergebnis: In einer informativen Studie der
Wiener Stadtentwicklung (Stadt Wien, MA 18 2007), die eine Thematisierung
der Ansprüche an den öffentlichen Raum versuchte, indem sie ihn als Dreh-
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scheibe sich überlagernder Nutzungsformen beschrieb und insgesamt 18
unterschiedliche Themenbereiche zählte, kommt dieser vielfältige und widersprüchliche Charakter der Unbestimmtheit des öffentlichen Raumes gut
zum Ausdruck. Der öffentliche Raum wurde darin bezeichnet als Ort des Spektakels, als barrierefreier Raum, als Gestaltungsraum zur Mitbestimmung, als
Verkehrsweg, als Ort der Mehrfachnutzung, als Raum des Gender Mainstreaming, als Ort des Spiels, als Ort des Sports, als Integrationsraum, als Durchgangsraum, als Wirtschaftsraum, als Projektionsfläche der Gesellschaft, als
Grün- und Naturraum, als Ort der Begegnung, als Ruheort, als Ort der Kunst,
als kollektiver Gedächtnisort und als überwachter Raum.
Man kann aber auch in diesem Zusammenhang der kulturellen Politik der
Öffentlichkeit Urbanität als Moment der Synthese nicht gänzlich absprechen,
weil durch die gemeinsame Nutzung und durch das gelegentliche Aufeinandertreffen von Unerwartetem und Fremdem urbanes Leben entstehen kann.
Urbaner Lebensstil bedeutet auch Teilnahme am öffentlichen Leben und eine
Toleranz für abweichende Lebensformen, die aber im Zuge der wachsenden
Kommodifizierung abnimmt.
Kulturindustrie. Kommodifizierung des öffentlichen
Raumes
In der Postmoderne ist die Kultur die beherrschende Ebene des gesellschaftlichen sozialen Lebens. So wie in den traditionellen Gesellschaften Kultur als
ein durchgängiges Medium existierte, in dem andere Arten des Handelns vor
sich gehen (wie Politik, Sexualität und wirtschaftliche Produktion), die aber in
einer symbolischen Ordnung der Kultur eingefasst sind, weil in Stammeskulturen Ökonomie, Politik und Ritual noch nicht als getrennte Systeme ausdifferenziert sind, so sind merkwürdigerweise auch in der Postmoderne Kultur
und soziales Leben wieder eng verbunden, nun aber in Gestalt der Warenästhetik, der Spektakulisierung der Politik, des Konsumdenkens, des Lifestyles,
des Images und der völligen Integration der Kultur in die Warenproduktion
(Eagleton 2001: 45). Daraus ergibt sich eine neue Verbindung von Kultur und
öffentlichem Raum, indem die kulturellen Inhalte zunehmend kommodifiziert
werden. Während in der historischen bürgerlichen Öffentlichkeit Fragmentierung und unterschiedliche Erfahrungsräume noch die Gefahr einer Dekonstruktion mit sich brachten, kann die Kulturindustrie durch derlei heute nicht
mehr verunsichert werden. Fragmentierung und Differenz werden in die Dimensionen der Konsumentengruppen transformiert und nun zu Marktsegmenten mit besonderen Wünschen und Bedürfnissen umgewandelt, die es
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durch Warenangebote zu erfüllen gilt. Fragmentierung stellt bereits so etwas
wie eine Bedingung der neoliberalen Markthegemonie dar.
Die Kulturindustrie verschmilzt den Begriff der Öffentlichkeit mit dem des
Marktes, der Modus des Zuganges und der Artikulation wird durch Konsum
und Warentausch bestimmt. Wenn es eine Vorstellung der Aufklärung, die auf
der Idee rational-kritischer Subjekte und einer vernünftigen, auch disziplinären Ordnung der Gesellschaft beruhte, gegeben hat, so wird sie nun durch
eine neue Vorstellung von Kommunikation als Unterhaltung und Produzentin der Subjektivität ersetzt. Klassische bürgerliche Orte der Repräsentation
werden durch Märkte ersetzt, etwa in der Weise, wie die „Shopping Mall“ den
öffentlichen Raum ersetzt.
Es ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, dass die Konsum- und Ereignisgesellschaft im Treibhaus, der Vorläuferin der „Shopping
Mall“, erfunden wurde (Sloterdijk 2004: 180). Das „Air Design“ modifiziert die
Stimmung der Luftraumbenutzer und erhöht die Bindung an den Ort, ebenso wie sie die Kaufbereitschaft vergrößert. Eine kulturelle Neuerung, die ursprünglich der Überwinterung exotischer Pflanzen in Europa diente, wurde
zur Gestaltung von Marktplätzen eingesetzt, Atmosphärenmanagement geriet zum Marketinginstrument des „Point of Sale“. Der Eingriff ins Mikroklima
als kulturelle Großleistung wird zum Stimmungsmanagement, Atmotechnik
verhindert politisch motivierte Konsumaskese. Die Berauschung durch die
Waren-Innenwelt, die schon Walter Benjamin im Phänomen der Passage erkannt hatte, in der sich Ware und Treibhaus kreuzten, beruht auf „Air Design“.
Während auf der einen Seite der öffentliche Raum durch neue Kulturtechniken wie „Air Design“ zum reinen Marktplatz degradiert wird, kommt es auf
der anderen Seite zur Ausbildung neuer Gegenöffentlichkeiten. Daher kommt
es durch eine dialektische Beziehung jetzt wieder zu einer Renaissance des öffentlichen Raumes, zumindest in der Ausprägung von Formen fragmentierter
öffentlicher Räume oder unterschiedlichster Ideen der Öffentlichkeit von der
Utopie bis zur Heterotopie.
Gegenöffentlichkeiten. Der Kampf der Identitäten
In der Tradition hatte Kultur (als Zivilisation) die Möglichkeit geboten, den eigenen kleinen Partikularismus in einem größeren, umfassenderen Medium
zu versenken. Der Universalismus der kulturellen Werte konnte aufgrund der
gemeinsamen Vorstellung von Humanität geteilt werden. Die Kunst war insofern wichtig, als sie diese Werte vermittelte.
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Manfred Russo
„Lesend oder sehend oder hörend setzten wir uns zeitweise unser
empirisches Selbst mit allen seinen sozialen, sexuellen und ethischen Kontingenzen aus und wurden damit selbst allgemeines
Subjekt.“ (Eagleton 2001: 56)
Man konnte die eigene Identität transzendieren, die Beschränktheit der eigenen Besonderheit aufgeben und in der Teilhabe am Allgemeinen aufgehen.
In der Postmoderne werden aus kultureller Perspektive vor allem die Lebensformen des Nonkonformismus und der Minderheiten überhöht. Kultur
hat heute eine oppositionelle Bedeutung, und zwar die Bejahung einer spezifischen – nationalen, sexuellen, ethnischen, regionalen – Identität, nicht
jedoch deren Überschreitung oder Transzendierung im Allgemeinen. Kultur,
einst als ein großer Bereich der Übereinstimmung gedacht, unterlag einem
Wandel in eine Kampfzone der Identitäten, von denen sich jede als unterdrückt empfindet. Kultur ist nicht mehr identitätsstiftend, sondern selbst Teil
der politischen Auseinandersetzung. Anstelle der Existenz einer Sphäre der
Begegnung der Menschen in einer höheren Dimension hat sich die Verwandlung der Kultur in ein Schlachtfeld vollzogen.
„Im Feld der Kultur werden politische und soziale Identitäten produziert und reproduziert.“ (Marchart 2008: 12)
Eagleton zählt drei Formen radikaler Politik der vergangenen Jahrzehnte auf:
Der revolutionäre Nationalismus, der Feminismus und der ethnische Kampf
treten als Kultur an, als Zeichen, Bild, Bedeutung, Wert, Identität, Solidarität,
Selbstartikulation und nehmen den Kampf auf. Wenn die Errichtung der Kultur ursprünglich auf einem Gegenbild zur Politik beruhte und man der Apolitik als Voraussetzung für Kultur, Poesie als das Gegenteil von Zweckmäßigkeit
und Öffentlichkeit bedurfte, wie ja am Beispiel der Kommodifizierung nachzuweisen ist, so hat in diesem Falle Kultur wieder in Politik umgeschlagen (Eagleton 2001: 58).
In der Postmoderne ist der Universalismus der Kultur zu seinem Ende gekommen. Eine Fülle von Subkulturen kann ihre enorme Mannigfaltigkeit beweisen, oft indem sie sich nur durch Feindschaft anderen gegenüber differenziert.
„Kulturstudien lassen heute keinen Raum für Politik jenseits kultureller Praxis oder für politische Solidarität über die Grenzen der jeweiligen kulturellen Differenz hinaus.“ (Mulhern 1997: 50)
Die Kultur des öffentlichen Raumes
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Wenn Kultur heute zumeist als Identität oder Solidarität zu sehen ist, kann damit auf eine gewisse Affinität zur anthropologischen Bedeutung des Begriffs
hingewiesen werden, ohne aber dessen normative Tendenz oder Idee der Organizität in gleichem Maße zu transportieren. Denn Kultur ist jetzt Kritik an
einer dominierenden oder mehrheitlichen Lebensform durch eine periphere,
außenseiterische.
„Während hohe Kultur das wirkungslose Gegenteil von Politik darstellt, ist Kultur als Identität die Fortsetzung der Politik mit anderen
Mitteln.“ (Eagleton 2001: 64)
Nun werden die Inhalte der älteren Kulturbegriffe der Zivilisation und auch
bestimmter Formen des Organischen auf die tatsächlichen emanzipatorischen Leistungen hin überprüft.
Daher wird der öffentliche Raum des 19. Jahrhunderts rückblickend wieder
neu interpretiert und kritisiert, um eine neue Basis der Gegenöffentlichkeit zu
finden. Nun sieht man im Ausstellungsraum, dem Museum und der Galerie
nicht nur die Bildung neuer Bauformen der Öffentlichkeit, sondern entdeckt
darin auch neue Formen der In- und Exklusion. Diese neue Öffentlichkeit des
bürgerlichen Publikums, die aus dem Komplex des Ausstellens hervorging,
förderte nach dieser Logik auch die Herausbildung von Gegenöffentlichkeiten, weil diese Form des öffentlichen Zeigens eine Tendenz unterstützte, die
etwa Frauen und Nichteuropäerinnen nur als Repräsentierte und nicht als Repräsentierende oder Wissenssubjekte zeigte. Auch wurden Proletarier ausgeschlossen, weil sie sich diese neue Form des Erwerbs von Wissenskompetenz
durch Ausstellungsbesuch nicht aneignen konnten. Insofern war die Gegenöffentlichkeit in der Öffentlichkeit ontologisch quasi schon eingeschrieben,
weil die Exkludierten der Öffentlichkeit das Potential der Gegenöffentlichkeit
bildeten. Öffentlichkeiten entstehen in einer Praxis und einem Kontext – so
der Queertheoretiker Michael Warner (Warner 2002) – und beruhen auf spezifischen Subjektkonstellationen, die keinen universellen, sondern identifikatorischen Ansprüchen genügen müssen. Schwulen- oder Lesbenöffentlichkeiten verweigern sich, einer Identität als Lesbe und Schwuler zugeschrieben zu
werden, und erwarten durch die Perspektive der Gegenöffentlichkeiten die
Eröffnung einer neuen Subjektposition ( von Osten 2006:, 131).
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Manfred Russo
Gegenöffentlichkeiten durch Konvertierung des
öffentlichen Raumes
Die öffentliche Sphäre der Postmoderne ist fragmentiert und besteht aus einer Vielzahl von Räumen, die sich teilweise verbinden, teilweise auch voneinander abschotten und in komplexen Beziehungsgefügen zueinander stehen.
Schon Oskar Negt und Alexander Kluge hatten die kulturelle Dimension des
persönlichen Erfahrungszusammenhanges, mit dem wir an die Öffentlichkeit
treten, betont. Daher gibt es nicht nur die Ideale der Öffentlichkeit und deren
normative Praxis, sondern auch Gegenöffentlichkeiten, die aus dem differenten Erfahrungshintergrund erwachsen. Öffentliche Räume sind jene, an denen die kollektive Erfahrung organisiert wird, und daher andere Räume als der
Arbeitsplatz und das eigene Haus. Der normativen bürgerlichen Öffentlichkeit wird eine proletarische entgegengesetzt, die aber durchaus pluralen Charakter hat (Negt/Kluge 1972). Man könnte auch sagen, dass hier in gewisser
Weise der Strukturwandel der Öffentlichkeit nach Habermas wiederholt wird,
wo sich ebenfalls in privaten und literarischen Zirkeln die Öffentlichkeit herausbildete. Weil aber in der Postmoderne die Öffentlichkeit längst existiert,
werden diese nun als Gegenöffentlichkeit bezeichnet, um ihre gegenseitige
Bestimmung zu beschreiben.
In Gegenöffentlichkeiten wird ein komplementärer Diskurs über eine oppositionelle Praxis geführt, werden ähnliche Themen kontrovers diskutiert.
Wichtig ist auch, dass die Ideologie der Universalität aufgegeben wird, ebenso
wie neue Dimensionen der Vernunft erprobt werden. Die Gegenöffentlichkeit
beabsichtigt eine Umkehr existierender Räume, um alte Identitäten aufzuheben. Der öffentliche Park, der einer der großen neuen öffentlichen Räume des
Bürgertums im 18. Jahrhundert war, wird in der modernen Schwulenkultur zu
einer „Cruising Area“ umfunktioniert, auch wenn diese Handlungen unter Sennetts Verdikt der Ausübung privater Handlungen in der Öffentlichkeit fallen.
Es ist das Kennzeichen der Gegenöffentlichkeit nach Michael Warner, dass
ihnen viele Eigenschaften mit den normativen Öffentlichkeiten gemeinsam
sind, im Sinne einer imaginären Adressierung, eines Diskurses oder Ortes, und
dass sie ebenso relational wie oppositionell sind. Öffentlichkeiten konstituieren sich durch Selbstorganisation und spezifische Adressierung. Die bewusste
Spiegelung der Institution der normativen Öffentlichkeit erzeugt einen Rahmen, innerhalb dessen eine Zirkulation von Fremden unter den Aspekten der
Geselligkeit und Reflexivität („stranger sociability“) zu beobachten ist: „My
world must be that of strangers.“ (Warner 2002: 121) Wichtig ist vor allem,
dass sie sich zwar innerhalb ihrer Community bewegen, sich aber zugleich
auch immer als Gegenöffentlichkeit an eine Öffentlichkeit von unbestimmten
Die Kultur des öffentlichen Raumes
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Fremden richten (Darin besteht auch der Unterschied zwischen „counterpublic“ und „community“.) (Warner 2002: 120).
Es liegt daher nahe, die Kunstwelt als eine ähnlich funktionierende partikulare Öffentlichkeit einzuführen, die ein weiteres Beispiel für die kulturelle
Praxis des öffentlichen Raumes abgibt und als eine agonistische Sphäre unterschiedlichster Subjektivitäten zu bezeichnen, in welcher differente ideologische Positionen nach Macht, Anerkennung und Souveränität streben (Sheik
2005: 84).
Die Präsentation der Werke entspricht nicht der Vorstellung der bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern richtet sich an verschiedene Lager- und Gegenöffentlichkeiten, eventuell auch nur an die Idee einer solchen Öffentlichkeit in
Form einer Utopie oder Heterotopie.
Literatur
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Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Marchart, Oliver (2008): Cultural Studies. Konstanz: UTB
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Sloterdijk, Peter (2004): Sphären III. Frankfurt am Main: Suhrkamp
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Taylor (2009): Ein sekuläres Zeitalter. Frankfurt: Suhrkamp
Warner, Michael (2002): Publics and Counterpublics. New York: Zone Books
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Williams, Raymond (1983): Culture & Society. London, New York: Columbia University Press
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