Kindeswohl – Was heisst dies im Zusammenhang mit
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Kindeswohl – Was heisst dies im Zusammenhang mit
Deborah Riesen Kindeswohl – Was heisst dies im Zusammenhang mit weiblicher Genitalverstümmelung und männlicher Beschneidung? Bachelor-Thesis zum Erwerb des Bachelor-Diploms Berner Fachhochschule Fachbereich Soziale Arbeit 1 Abstract In der Schweiz sind über 10‘000 Mädchen und Frauen von einer Genitalverstümmelung betroffen oder davon bedroht, weltweit sind es bis zu 150 Millionen Mädchen und Frauen. Die weibliche Genitalverstümmelung ist ein äusserst schmerzhafter und traumatischer Eingriff, welcher in vielen Fällen lebenslange Folgen mit sich bringt. Von der Staatengemeinschaft Genitalverstümmelung als Menschenrechtsverletzung seit dem 1. Juli 2012 eingestuft, als expliziter ist die weibliche Straftatbestand im Schweizerischen Strafgesetzbuch verankert. Die männliche Beschneidung ist bis anhin in der Schweiz kaum thematisiert worden, auch wird über die Anzahl der vorgenommenen männlichen Beschneidungen keine Statistik geführt, wobei die Weltgesundheitsorganisation davon ausgeht, dass ungefähr 30% der männlichen Bevölkerung beschnitten ist. Obwohl die Folgen nicht mit denen der weiblichen Genitalverstümmelung vergleichbar sind, stellt die Knabenbeschneidung einen Eingriff in die körperliche und seelische Integrität eines Kindes dar. Es stellt sich die Frage, ob Eltern überhaupt anstelle ihres Sohnes in dessen Beschneidung einwilligen können. Denn seit Inkrafttreten der UNO Kinderrechtskonvention gilt das Kind als eigenständiges Rechtssubjekt, welches in für ihn wichtigen Belangen (mit)entscheiden darf. Auf der einen Seite stehen also die Eltern mit ihren Rechten und Pflichten im Rahmen der Erziehung und auf der anderen Seite das Kind als Rechtssubjekt sowie das Wohl des Kindes als oberste Maxime des gesamten Kindesrechts. Die Grenzen der elterlichen Entscheidungskompetenzen liegen in der Gefährdung des Kindeswohls. Bedeutend ist somit die Frage, ob die Knabenbeschneidung in dessen Wohl liegt. Bei der weiblichen Genitalverstümmelung ist eindeutig erkennbar, dass dies keineswegs mit dem Wohl eines Kindes zu vereinen ist. Bei der Knabenbeschneidung ist entscheidend, ob die körperliche Unversehrtheit oder die kulturelle sowie religiöse Zugehörigkeit höher bewertet und damit als vorrangig eingestuft wird. In der Diskussion über Elternrechte und -pflichten und Kinderrechte darf allerdings nicht vergessen werden, dass das Ziel aller Interventionen die Schaffung der bestmöglichen Voraussetzungen zum Wohlergehen des Kindes sein muss. Die Rolle der Sozialen Arbeit besteht in diesem Zusammenhang im Schutz der Kinder als Achtung ihrer besonderen Verletzlichkeit. 2 Kindeswohl – Was heisst dies im Zusammenhang mit weiblicher Genitalverstümmelung und männlicher Beschneidung? Bachelor-Thesis zum Erwerb des Bachelor-Diploms in Sozialer Arbeit Berner Fachhochschule Fachbereich Soziale Arbeit Vorgelegt von Deborah Riesen Bern, Dezember 2014 Gutachterin: Dr. iur. Marianne Schwander 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ......................................................................................................................... 6 2. Kind und Kindeswohl ...................................................................................................... 8 2.1 Begriffserklärung „Kind“ ............................................................................................................ 8 2.2 Begriffserklärung Kindeswohl ................................................................................................. 12 2.3 Gesetzliche Verankerungen ................................................................................................... 14 2.3.1 Internationale Ebene ........................................................................................................ 15 2.3.2 Nationale Ebene ............................................................................................................... 17 3. Rechte und Pflichten der Eltern ....................................................................................19 3.1 Rechte und Pflichten der Eltern auf internationaler Ebene ............................................... 19 3.2 Rechte und Pflichten der Eltern auf nationaler Ebene ....................................................... 21 3.3 Verhältnis Kindeswohl und Elternrechte............................................................................... 23 4. Weibliche Genitalverstümmelung .................................................................................25 4.1 Begriffserklärung ...................................................................................................................... 25 4.2 Verbreitung................................................................................................................................ 26 4.3 Formen ...................................................................................................................................... 27 4.4 Begründungen .......................................................................................................................... 28 4.5 Folgen ........................................................................................................................................ 29 4.5.1 Physische Folgen ............................................................................................................. 29 4.5.2 Psychische Folgen ........................................................................................................... 30 4.5.3 Sexuelle Folgen ................................................................................................................ 31 4.5.4 Soziale und gesellschaftliche Folgen ............................................................................ 31 4.6 Rechtliche Verankerungen ..................................................................................................... 32 4.6.1 Internationale Ebene ........................................................................................................ 32 4.6.2 Nationale Ebene ............................................................................................................... 34 4.7 Fazit............................................................................................................................................ 36 4 5. Männliche Beschneidung ..............................................................................................38 5.1 Begriffserklärung ...................................................................................................................... 38 5.2 Verbreitung................................................................................................................................ 39 5.3 Formen ...................................................................................................................................... 40 5.4 Begründungen .......................................................................................................................... 41 5.5 Folgen ........................................................................................................................................ 44 5.5.1 Physische Folgen ............................................................................................................. 44 5.5.2 Psychische Folgen ........................................................................................................... 46 5.5.3 Sexuelle Folgen ................................................................................................................ 46 5.5.4 Auswirkungen auf die Gesundheit der Frau ................................................................. 47 5.6 Rechtliche Verankerung .......................................................................................................... 48 5.6.1 Internationale Ebene ........................................................................................................ 48 5.6.2 Nationale Ebene ............................................................................................................... 51 5.7 Fazit............................................................................................................................................ 54 6. Rolle der Sozialen Arbeit ...............................................................................................57 7. Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................59 8. Literaturverzeichnis .......................................................................................................60 8.1 Bibliografie................................................................................................................................. 60 8.2. Internetquellen ......................................................................................................................... 62 8.3. Materialien ................................................................................................................................ 62 5 1. Einleitung Die vorliegende Diplomarbeit befasst sich mit dem Thema Kindeswohl im Zusammenhang mit weiblicher Genitalverstümmelung und männlicher Beschneidung. Um dieses komplexe Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu bearbeiten, sollen sowohl rechtliche, kulturelle, religiöse, psychologische sowie medizinische Aspekte einbezogen werden. Zwecks Einschränkung liegt der Schwerpunkt allerdings auf dem rechtlichen Gesichtspunkt. Auch bezieht sich die Fragestellung auf die Situation in der Schweiz. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht von 100 bis 150 Millionen von der weiblichen Genitalverstümmelung betroffenen Mädchen und Frauen. Somit wird alle zwölf Sekunden ein Mädchen beschnitten (Schnüll, 2003, S. 26). Aufgrund der weltweiten Migration leben auch in Europa betroffene Frauen und Mädchen. Das Schweizerische Komitee für UNICEF (United Nations Children’s Fund) geht davon aus, dass in der Schweiz über 10‘000 Mädchen und Frauen genital beschnitten oder davon bedroht sind (2013). Der Eingriff ist für die Betroffenen eine Tortur, mit welcher ein Leben lang schwerwiegende physische, psychische, sexuelle sowie gesellschaftliche Folgen verbunden sind. Als Ausdruck der tief verwurzelten Ungleichheit und Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, ist die weibliche Genitalverstümmelung als eine grobe Menschenrechtsverletzung einzustufen (Derungs et al., 2009, S. 9). Durch Menschenrechtsbewegungen und Erfahrungsberichte von Betroffenen wurde unsere Gesellschaft zunehmend auf die grausame Praktik der weiblichen Genitalverstümmelung aufmerksam gemacht. Bisher kaum diskutiert wurde dagegen die männliche Beschneidung. Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sind ungefähr 30% der männlichen Weltbevölkerung davon betroffen, was 665 Millionen beschnittenen Männern entspricht (World Health Organisation, 2007, S. 1). Zwar sind damit nicht dieselben gravierenden Auswirkungen wie mit der weiblichen Genitalverstümmelung verbunden, doch stellt die Knabenbeschneidung gleichwohl einen Eingriff in die Unversehrtheit eines Kindes dar. Zumal Kinder laut der UNO (United Nations Organization) Kinderrechtskonvention als eigenständige Rechtssubjekte gelten und bei sie betreffenden Entscheidungen mitbestimmen dürfen. Gleichzeitig sind Eltern berechtigt und verpflichtet, stellvertretend für ihr Kind wichtige Entscheidungen zu fällen. Dabei ist allerdings das Kindeswohl als Leitlinie des Erziehungsrechtes zu verstehen. Alle Interventionen der Erziehung müssen dadurch auf die bestmöglichen Voraussetzungen zum Wohlergehen des Kindes ausgerichtet werden (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern, 2012, S. 1). 6 In der vorliegenden Diplomarbeit soll die Fragestellungen „Kindeswohl – Was heisst dies im Zusammenhang mit weiblicher Genitalverstümmelung und männlicher Beschneidung?“ bearbeitet werden. Von Interesse ist hierbei das Spannungsverhältnis zwischen den Rechten und Pflichten der Eltern und den Kinderrechten. Wo liegen die Grenzen der Entscheidungskompetenzen der Eltern im Rahmen der Erziehung, wenn es um die körperliche und seelische Unversehrtheit eines Kindes geht? Um dieser Fragestellung nachzugehen, soll in einem ersten Teil eine Begriffserklärung von „Kind“ und „Kindeswohl“ dargelegt sowie die gesetzliche Verankerung der Kinderrechte vorgestellt werden. Anschliessend wird in Kapitel 3 auf die Rechte und Pflichten von Eltern eingegangen. Dabei wird auch das Verhältnis vom Kindeswohl und den Rechten von Kindern einerseits und den Elternrechten andererseits geklärt. In Kapitel 4 folgt eine Auseinandersetzung mit der weiblichen Genitalverstümmelung. Nach Klärung des Begriffs, der Verbreitung, Formen, Begründungen und Folgen soll die rechtliche Verankerung dargelegt werden. Am Ende des Kapitels wird ein Fazit in Bezug auf das Kindeswohl gezogen. Analog zum Aufbau der weiblichen Genitalverstümmelung in Kapitel 4 wird die männliche Beschneidung in Kapitel 5 thematisiert. Abgeschlossen wird die Diplomarbeit mit einem kurzen Blick auf die Rolle der Sozialen Arbeit im Zusammenhang mit der weiblichen Genitalverstümmelung und der männlichen Beschneidung. Dabei wird ausschliesslich die Bedeutung der Sozialen Arbeit in Hinsicht des Kindeswohls angeschaut. 7 2. Kind und Kindeswohl Das zweite Kapitel dieser Diplomarbeit befasst sich mit den Begriffen „Kind“ und „Kindeswohl“ sowie ihren gesetzlichen Regelungen. In einem ersten Teil wird untersucht, wie der Begriff „Kind“ im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) definiert und geregelt wird und welche Bestimmungen bei medizinischen Eingriffen in den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zu finden sind. In einem nächsten Teil soll auf den Begriff „Kindeswohl“ eingegangen werden. Dazu werden unterschiedliche Definitionen betrachtet. Abgeschlossen wird das Kapitel mit den Rechten von Kindern auf internationaler und nationaler Ebene. 2.1 Begriffserklärung „Kind“ In der Schweiz wird im Zivilgesetzbuch geregelt, bis wann eine Person rechtlich als Kind gilt und welche Auswirkungen damit auf die Rechtsfähigkeit, die Urteilsfähigkeit und die Handlungsfähigkeit verbunden sind. Das Zivilgesetzbuch bestimmt auch, in welchen Bereichen Eltern stellvertretend für ihr Kind Entscheidungen fällen dürfen. Gerade in Bezug auf medizinische Eingriffe sind zudem die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften relevant. Im ersten Teil des Zivilgesetzbuchs, dem Personenrecht, ist in Art. 11 Abs. 1 geregelt, dass jede Person rechtsfähig ist. Rechtsfähigkeit bedeutet, Trägerin oder Träger von Rechten und Pflichten sein zu können und steht einer Person laut Art. 11 Abs. 1 ZGB unabhängig von einem bestimmten Alter zu. Kinder können also, genau wie Erwachsene, als Trägerin oder Träger von Rechten und Pflichten angeschaut werden. Art. 12 bis Art. 19 ZGB beziehen sich auf die Handlungsfähigkeit einer Person. Handlungsfähig zu sein meint die Fähigkeit, durch Handlungen Rechte und Pflichten begründen zu können. Nach Art. 13 ZGB gilt eine Person als handlungsfähig, wenn sie volljährig und urteilsfähig ist. Handlungsfähigkeit ist somit an zwei Bedingungen geknüpft. Die Volljährigkeit wird mit Zurücklegung des 18. Lebensjahres definiert (Art. 14 ZGB). Urteilsfähigkeit wird in Art. 16 ZGB umschrieben: „Urteilsfähig im Sinne des Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt vernunftgemäss zu handeln.“ Um durch Handlungen Rechte und Pflichten begründen zu können, muss eine Person also einerseits volljährig und andererseits urteilsfähig sein. Für Kinder bedeuten Art. 11 bis Art. 19 ZGB, dass sie zwar vollumfänglich rechtsfähig sind, nicht aber in vollem Masse handlungsfähig sein können, da sie die Voraussetzung der Volljährigkeit nicht erfüllen. Die Urteilsfähigkeit muss je nach Situation und Alter bestimmt werden. Wenn Kinder aufgrund ihres Alters oder der Situation urteilsunfähig sind, gelten sie 8 nach dem Zivilgesetzbuch als nicht handlungsfähig. Sobald ein Kind aber urteilsfähig ist, wird es als beschränkt handlungsfähig betrachtet. Grundsätzlich wird von der Urteilsfähigkeit ausgegangen. Der Fall von beschränkter Handlungsfähigkeit wird in Art. 19 ff. ZGB geregelt (Schwander, 2014, S. 25 ff.). Art. 19 Abs. 1 ZGB bestimmt, dass urteilsfähige handlungsunfähige Personen, also urteilsfähige Kinder, nur mit der Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters Verpflichtungen eingehen und Rechte aufgeben können. In Art. 19 Abs. 2 ZGB ist festgehalten, dass urteilsfähige Kinder ohne die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters unentgeltliche Vorteile erlangen oder geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens besorgen können. Kinder können somit ohne Einwilligung der Eltern ein Geschenk bekommen oder kleine Dinge kaufen. Aus Art. 19 Abs. 3 ZGB ist zudem zu entnehmen, dass urteilsfähige Kinder bei unerlaubten Handlungen schadenersatzpflichtig sind. Urteilsfähige Kinder brauchen also grundsätzlich die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters, üblicherweise der Eltern, um Rechtsgeschäfte zu tätigen oder ihre Rechte aufzugeben. Art. 19a Abs. 1 ZGB legt die Art der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters fest. Demnach kann die Zustimmung entweder ausdrücklich, stillschweigend oder im Nachhinein erfolgen. In Art. 19b ZGB ist der Fall der fehlenden Zustimmung bestimmt. Art. 19b Abs. 1 ZGB hält fest, dass die involvierten Parteien die vollzogenen Leistungen zurückfordern können, wenn der gesetzliche Vertreter nicht in das Rechtsgeschäft eingewilligt hat. In Art. 19, Art. 19a und Art. 19b ZGB wird also geregelt, dass urteilsfähige Kinder für Rechtsgeschäfte grundsätzlich die Zustimmung der Eltern brauchen, wie diese Zustimmung erfolgen muss und was bei fehlender Zustimmung geschieht. Art. 19c ZGB bezieht sich dagegen auf die höchstpersönlichen Rechte von Minderjährigen. Art. 19c Abs. 1 ZGB ermächtigt urteilsfähige Kinder, Rechte, die ihnen um ihrer Persönlichkeit willen zustehen, selbständig auszuüben. Bei diesen sogenannten höchstpersönlichen Rechten brauchen die urteilsfähigen Kinder die Zustimmung der Eltern nicht. Beispiele für höchstpersönliche Rechte sind die Persönlichkeitsrechte aus Art. 27 ff. ZGB, wie das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, aber auch die persönlichkeitsnahen Grundrechte wie die persönliche Freiheit oder die Religionsfreiheit (Schwander, 2014, S. 26). Art. 19c Abs. 2 ZGB betreffen die höchstpersönlichen Rechte von urteilsunfähigen Personen. Demnach handelt der gesetzliche Vertreter für die urteilsunfähige Person. Ausgenommen sind Rechte, „die so eng mit der Persönlichkeit verbunden sind, dass jede Vertretung ausgeschlossen ist“ (Art. 19c Abs. 2 ZGB). Bei urteilsunfähigen Personen wird bei den höchstpersönlichen Rechten zwischen den absolut und den relativ höchstpersönlichen Rechten unterschieden (Schwander, 2014, S. 26). 9 Bei absolut höchstpersönlichen Rechten kann bei urteilsunfähigen Personen weder die gesetzliche Vertretung noch die urteilsunfähige Person selbst das Recht ausüben. Bei relativ höchstpersönlichen Rechten kann jedoch die gesetzliche Vertretung an Stelle der nicht urteilsfähigen Person handeln (Schwander, 2014, S. 26). Es ist nicht immer eindeutig zu bestimmen, ob ein höchstpersönliches Recht als absolut oder relativ einzustufen ist (Schwander, 2014, S. 26 f.). Da medizinisch indizierte Behandlungen als relativ höchstpersönliche Rechte gelten, können Eltern oder der gesetzliche Vertreter stellvertretend für das urteilsunfähige Kind in eine medizinisch indizierte Behandlung einwilligen (Schwander, 2014, S. 27). Laut Genna fallen allerdings nicht alle medizinischen Eingriffe unter die relativ höchstpersönlichen Rechte. Sobald ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nämlich besonders schwerwiegend oder irreversible ist, gilt dieser nach Genna als absolut höchstpersönliches Recht (Schwander, 2014, S. 27). Öfters wird nun auch die Meinung vertreten, dass Eingriffe ohne zeitliche Dringlichkeit zu den absolut höchstpersönlichen Rechten gehören. In diesen Fällen der absolut höchstpersönlichen Rechte können weder die Eltern noch das urteilsunfähige Kind in den Eingriff einwilligen, sondern erst das urteilsfähige Kind nach Art. 19c Abs. 1 ZGB (Schwander, 2014, S. 27). Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften hält in ihren Richtlinien fest, dass bei einer nicht urteilsfähigen Patientin oder einem nicht urteilsfähigen Patienten der gesetzliche Vertreter die Einwilligung in die Behandlung und Betreuung gibt. Dabei muss der gesetzliche Vertreter die wohlverstandenen Interessen der betroffenen Person achten und darf einen Eingriff nicht verweigern, welcher aus medizinischer Sicht notwendig ist (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 2006, S. 3). Bei einem Kind müssen also die Eltern medizinisch notwendige Eingriffe durchführen lassen. Als wohlverstanden gelten Interessen dann, wenn sie „aufgrund allgemeiner, objektiver Wertungen, […] gegeben […]“ und „an das objektive Kriterium des Heilungs- und Linderungszweckes gebunden sind“ (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 2006, S. 19). Damit eine Behandlung das objektive Kriterium des Heilungsund Linderungszweckes erfüllt, muss sie medizinisch indiziert sein (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 2006, S. 19). Des Weiteren kann der gesetzliche Vertreter einer nicht urteilsfähigen Person nur in medizinisch indizierte Eingriffe einwilligen (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 2006, S. 8). Abschliessend sollen an dieser Stelle nochmals die wichtigsten Erkenntnisse in Bezug auf die rechtliche Regelung eines Kindes festgehalten werden. Laut dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch ist ein Kind, wie jeder Mensch, rechtsfähig (Art. 11 Abs. 1). 10 Im Gegensatz zur Rechtsfähigkeit ist die Handlungsfähigkeit an zwei Bedingungen geknüpft (Art. 13 ZGB); Volljährigkeit und Urteilsfähigkeit. Das Kriterium der Volljährigkeit erfüllen Kinder aufgrund ihres Alters nicht. Bei der Urteilsfähigkeit sieht es dagegen anders aus. Die Urteilsfähigkeit muss je nach Situation und im Zusammenhang mit dem Alter des Kindes beurteilt werden. Grundsätzlich geht man jedoch von der Urteilsfähigkeit aus. In diesem Fall ist ein Kind beschränkt handlungsfähig, da es zwar die Bedingung der Urteilsfähigkeit, nicht jedoch das Kriterium der Volljährigkeit erfüllt. Urteilsfähige Kinder müssen grundsätzlich die Zustimmung ihrer Eltern oder des gesetzlichen Vertreters einholen (Art. 19 Abs. 1 ZGB). Die Zustimmung ist für urteilsfähige Kinder jedoch nicht notwendig, sobald es sich um ein höchstpersönliches Recht handelt (Art. 19c Abs. 1 ZGB). Bei urteilsunfähigen Kindern ist dagegen entscheidend, ob das höchstpersönliche Recht ein relativ oder absolut höchstpersönliches Recht ist. Bei einem relativ höchstpersönlichen Recht können die Eltern oder der gesetzliche Vertreter für das Kind Entscheidungen fällen (Art. 19c Abs. 2 ZGB). Sobald es sich jedoch um ein absolut höchstpersönliches Recht handelt, kann weder der gesetzliche Vertreter noch das urteilsunfähige Kind eine Entscheidung treffen (Art. 19c Abs. 2 ZGB). Bei medizinisch indizierten Behandlungen können die Eltern für ihr urteilsunfähiges Kind einwilligen, da es sich hierbei um ein relativ höchstpersönliches Recht handelt. Sobald ein medizinischer Eingriff besonders schwerwiegend, irreversible oder zeitlich nicht dringend ist, gehört er zu den absolut höchstpersönlichen Rechten. Bei Eingriffen der absolut höchstpersönlichen Rechte kann erst das urteilsfähige Kind selbst in den Eingriff einwilligen. Weitere Grundsätze zu medizinischen Behandlungen bei urteilsunfähigen Kindern finden sich in den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Demnach müssen die Eltern bei der Einwilligung einer medizinischen Behandlung die wohlverstandenen Interessen ihres Kindes achten und können nur einem medizinisch notwendigen Eingriff zustimmen. Dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch und den Richtlinien der Akademie der Medizinischen Wissenschaften ist also zu entnehmen, dass in medizinisch nicht indizierte Eingriffe nur das urteilsfähige Kind selbst einwilligen kann. Diese Bestimmungen verdeutlichen, dass Eltern grundsätzlich in vielen Bereichen für ihr Kind Entscheidungen treffen sollen und dürfen. Doch gerade bei Rechten, welche die Persönlichkeit und körperliche Unversehrtheit betreffen, wird den Kindern selbst eine grosse Verantwortung und Kompetenz zugesprochen. 11 2.2 Begriffserklärung Kindeswohl Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Bern definiert das Kindeswohl als Leitmotiv bei allen wesentlichen Fragen zu Betreuung, Erziehung und Bildung des Kindes (2012, S. 1). Es sei der Inbegriff aller begünstigenden Lebensumstände, um dem Kind zu einer guten und gesunden Entwicklung zu verhelfen (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern, 2012, S. 1). Wichtige Elemente des Kindeswohls bestehen laut der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern aus einer ausreichenden Ernährung, wettergerechten Kleidung und einem Dach über dem Kopf. Genauso wichtig seien aber auch der Schutz vor körperlicher und seelischer Gewalt, liebevolle Zuwendung, Lob und Anerkennung, Respekt und Achtung, Verbindlichkeit in den Beziehungen und eine sichere Lebensorientierung (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern, 2012, S. 1). In der Begriffserklärung werden einerseits physische und andererseits psychische und soziale Bedürfnisse genannt. Laut der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern drücke sich das Kindeswohl darin aus, „dass in einem Familiensystem aufgrund der gegebenen Ressourcen jene Betreuungsentscheidungen getroffen werden, welche dem Kind die bestmöglichen Voraussetzungen zu seinem Wohlergehen bieten“ (2012, S. 1). Beim Kindeswohl geht es demnach darum, dem Kind die bestmöglichen Bedingungen zu gewähren. Das Ziel ist in diesem Zusammenhang das Wohlergehen des Kindes. Dabei werden die gegebenen Ressourcen einer Familie berücksichtigt. Laut dem Leitfaden Kindesschutz (Hauri & Zingaro, 2013, S. 9) setzt sich die Gewährleistung des Kindeswohls aus einem „günstigen Verhältnis zwischen den Rechten des Kindes, dem nach fachlicher Einschätzung wohlverstandenen Bedarf und den subjektiven Bedürfnissen des Kindes einerseits und seinen tatsächliche Lebensbedingungen andererseits“ zusammen. Zusätzlich zu den genannten Bedürfnissen der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern werden bei Hauri & Zingaro die Persönlichkeit und dem Entwicklungsstand des Kindes angemessenen Erfahrungen sowie Grenzen und Strukturen zu den Grundbedürfnissen des Kindes gezählt. Bei Dettenborn (2014, S. 52 ff.) werden diese Grundbedürfnisse durch die Möglichkeit der Umwelterkundung und das Gefühl der Zugehörigkeit, die Sicherstellung von Wissen und Bildung sowie die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung eines Kindes erweitert. Der Begriff „Kindeswohl“ ist sehr vielschichtig und muss auf die individuelle Situation eines Kindes abgestimmt werden. Diese Tatsache wird auch im Merkblatt der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern (2012, S. 1) betont. Darin wird nämlich darauf hingewiesen, dass beim Kindeswohl entscheidend sei, was für ein Kind aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften in der gegebenen Situation das Beste ist. 12 Hierbei müssen die für die gute und gesunde Entwicklung des Kindes dienlichsten Bedingungen beachtet werden (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern, 2012, S.1). Für die Praxis schlägt Maywald (2007, S. 26) folgende Definition vor: „Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln ist dasjenige, welches die an den Grundrechten und Grundbedürfnissen von Kindern orientierte, für das Kind jeweils günstigste Handlungsalternative wählt“. Zentral sind bei dieser Definition die Grundrechte und Grundbedürfnisse eines Kindes. Die Erziehung sollte sich nach diesen Prinzipien richten, um das Wohl des Kindes zu berücksichtigen. Sobald das Wohl eines Kindes nicht gewährleistet werden kann, besteht eine Kindeswohlgefährdung. Hauri & Zingaro definieren eine Kindeswohlgefährdung nach Hegnauer (1999) als ernstliche Möglichkeit einer Beeinträchtigung des körperlichen, sittlichen, geistigen oder psychischen Wohl des Kindes (2013, S. 9). Dabei sei es nicht erforderlich, dass sich diese Möglichkeit schon verwirklicht habe (Hauri & Zingaro, 2013, S. 9). Um von einer Kindeswohlgefährdung zu sprechen, reicht eine potenzielle Gefährdung aus. Vernachlässigung, körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt sowie die Gefährdung als Folge von Erwachsenenkonflikten sind mögliche Formen einer Kindeswohlgefährdung (Hauri & Zingaro, 2013, S. 10). Hauri & Zingaro betonen, dass die Einschätzung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, das Ergebnis einer Gesamteinschätzung und nicht mit einem abschliessenden Kriterienkatalog zu beantworten sei (2013, S. 10). Dieser Umstand wird auch von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern genannt. Deshalb sei jeder Einzelfall spezifisch zu prüfen und zu beurteilen (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern, 2012, S. 1). Rechtlich gesehen ist der Begriff „Kindeswohl“ eine zentrale Norm und die oberste Maxime des gesamten Kindesrechts sowie Leitlinie für die Ausübung der elterlichen Sorge (Maywald, 2007, S. 14). Trotzdem wird der Begriff an keiner Stelle irgendeines Gesetzes definiert. Es handelt sich deshalb um einen sogenannten unbestimmten Rechtsbegriff (Maywald, 2007, S. 14). Historisch ist eine interessante Entwicklung des Begriffs auszumachen: Mit dem Aufkommen von staatlichen Kindesschutzeinrichtungen wurde das Kindeswohl gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Begriff in den europäischen Gesetzestexten. Eine Kindeswohlverletzung wurde jedoch als Pflichtverletzung der Eltern und nicht als Verletzung der persönlichen Rechte eines Kindes betrachtet (Wyttenbach, 2003, S. 39). Das Kindesschutzinstrumentarium in der Schweiz nahm im europäischen Vergleich eine fortschrittliche Rolle ein. Trotzdem reichte die Macht der Eltern, über das Wohl ihres Kindes zu entscheiden, deutlich weiter als heute. Sie stiess erst dann an eine Grenze, wenn die 13 Misshandlungen oder Vernachlässigungen durch die Eltern nach damaliger Erziehungsauffassung nicht mehr zu tolerieren waren (Wyttenbach, 2003, S. 39). Im älteren traditionellen Kindesschutz wurde vor allem das Ziel der Verhinderung und Beseitigung eines Negativzustandes verfolgt. Die Meinung, die Eltern wüssten aufgrund ihrer Nähe zum Kind am besten, was für dieses gut sei, war weit verbreitet (Wyttenbach, 2003, S. 39). In der UNO-Kinderrechtskonvention von 1989 wurde nebst dem Grundsatz der Verhinderung und Beseitigung eines negativen Zustandes die Ermöglichung guter Entwicklungsbedingungen für ein Kind und somit die Herstellung eines positiven Zustandes als neues Ziel definiert (Wyttenbach, 2003, S. 39 f.). Dadurch wurde der Rechtsanspruch eines Kindes gegenüber dem Staat und sein Anrecht auf Schutz vor Misshandlung und sexueller Ausbeutung betont (Wyttenbach, 2003, S. 40). Heutzutage ist zudem, wie bereits bei der Bedürfnisdefinition von Dettenborn enthalten, die Selbstbestimmung des Kindes von zentraler Bedeutung. Mit der Selbstbestimmung hängt die Tatsache zusammen, dass Kinder und Jugendliche durch die zunehmende Urteilsfähigkeit und Reife in der Lage sind, ihr eigenes Wohl zu definieren. Umso persönlichkeitsnaher eine Lebensfrage ist, desto grösser sollte das Mitbestimmungsrecht der urteilsfähigen Kinder und Jugendlichen sein (Wyttenbach, 2003, S. 43). Der Begriff „Kindeswohl“ lässt sich nicht allgemeingültig festlegen. Bei der Bestimmung muss die individuelle Situation des Kindes einbezogen und die bestmöglichen Voraussetzungen für sein Wohlergehen angeschaut werden. In diesem Zusammenhang ist die Selbst- und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen zentral. Als Leitlinie für das Wohl des Kindes dienen sowohl die Kindesbedürfnisse als auch die Kinderrechte. Welche Rechte Kindern zustehen und wie das Kindeswohl rechtlich verankert ist, wird im nachfolgenden Unterkapitel (2.3) erläutert. 2.3 Gesetzliche Verankerungen Wie bereits bei der Begriffserklärung erwähnt, gilt der Begriff „Kindeswohl“ als oberste Maxime des gesamten Kindesrechts sowie als Leitlinie für die Ausübung der elterlichen Sorge. In diesem Kapitel soll die gesetzliche Verankerung des Kindeswohls und der Rechte von Kindern genauer untersucht werden. Unterschieden wird hierbei zwischen der internationalen und der nationalen Ebene. Entscheidend sind diverse internationale Rechtsquellen wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), die Kinderrechtskonvention (KRK), der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie auf nationaler Ebene die Bundesverfassung (BV) und das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB). 14 2.3.1 Internationale Ebene Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte trat 1948 in Kraft. Obwohl sie rechtlich nicht verbindlich ist und dadurch eigentlich nur Beispielcharakter hat, sollte sie grundsätzlich umgesetzt werden. Art. 3 AEMR hält das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit jeder Person fest. Somit wird jeder Person, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft und ihrem Alter, das Recht auf ein Leben in Freiheit und Sicherheit zugesichert. Art. 5 AEMR bestimmt, dass niemand gefoltert oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden darf. Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, der jeder Person und ihrer Familie Gesundheit und Wohlergehen gewährleistet, ist in Art. 25 Abs. 1 AEMR verankert. In Art. 25 Abs. 2 AEMR wird ausdrücklich erwähnt, dass Müttern und Kindern besondere Fürsorge und Unterstützung zusteht. Art. 26 AEMR regelt das Recht auf Bildung, Erziehungsziele und Elternrecht. Art. 26 Abs. 1 AEMR besagt, dass jeder Mensch ein Anrecht auf Bildung hat. In Art. 26 Abs. 2 AEMR wird zudem gefordert, dass „die Ausbildung die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben soll“. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sind Kinder nicht explizit erwähnt, da die Artikel für alle Menschen gültig sind, treffen sie jedoch auf Kinder genauso zu. Anders sieht es bei der Kinderrechtskonvention aus: Die Artikel der Kinderrechtskonvention sind explizit auf die Situation von Kindern abgestimmt. Die Kinderrechtskonvention wurde von der Schweiz 1997 ratifiziert und ist im Zusammenhang mit dem Kindeswohl eine bedeutende Gesetzesquelle. Art. 3 Abs. 1 KRK schreibt vor, dass „bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen […], das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen ist“. Dieser Artikel stellt das Kindeswohl also in den Mittelpunkt aller Massnahmen. Art. 6 Abs. 2 KRK führt fort und fordert von den Vertragsstaaten die Gewährleistung des Überlebens und der Entwicklung des Kindes in grösstmöglichen Umfang. In Art. 12 Abs. 1 KRK wird dem Kind zugesichert, seine Meinung frei bilden und diese „in allen das Kind berührenden Angelegenheiten“ äussern zu können. Ebenfalls sind die Vertragsstaaten verpflichtet, die Meinung des Kindes entsprechend seines Alters und seiner Reife zu berücksichtigen. Art. 14 Abs. 1 KRK sieht das Recht des Kindes auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit vor. Demnach müssen die Vertragsstaaten das Recht des Kindes auf seine Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit achten. Art. 18 Abs. 1 KRK bezieht sich auf die Erziehung und Entwicklung des Kindes und stellt sicher, dass dabei das Wohl des Kindes das Grundanliegen der Eltern oder gegebenenfalls des Vormundes sein muss. Art. 3, 6, 12, 14 und 18 der Kinderrechtskonvention betonen die Wichtigkeit des Kindeswohls und das 15 Recht des Kindes auf Mitsprache sowie die Berücksichtigung seiner eigenen Meinung und Religion. In Art. 19 KRK ist festgehalten, dass die Vertragsstaaten alle Massnahmen zu treffen haben, „um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschliesslich des sexuellen Missbrauchs zu schützen […]“. Das erreichbare Höchstmass an Gesundheit ist in Art. 24 Abs. 1 KRK verankert. Art. 24 Abs. 2 KRK führt dies weiter aus und verpflichtet die Vertragsstaaten zur Umsetzung von geeigneten Massnahmen, die die Säuglings- und Kindersterblichkeit verringern und sicherstellen, dass „allen Teilen der Gesellschaft, insbesondere Eltern und Kindern, Grundkenntnisse über die Gesundheit […] des Kindes, […] vermittelt werden“. In Art. 24 Abs. 3 KRK sind zudem Massnahmen zur Abschaffung von überlieferten Bräuchen festgehalten, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind. Wie bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beinhaltet die Kinderrechtskonvention ein Verbot von Folter sowie grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Dies ist in der KRK in Art. 37 verankert und dabei explizit auf Kinder bezogen. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) ist in der Schweiz 1992 in Kraft getreten und stützt sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Art. 24 Abs. 1 IPbpR beinhaltet das Recht jedes Kindes „auf diejenigen Schutzmassnahmen durch seine Familie, die Gesellschaft und den Staat, die seine Rechtsstellung als Minderjähriger erfordert“. Damit werden sowohl die Familie, die Gesellschaft und der Staat dazu verpflichtet, Kindern und Jugendlichen einen besonderen Schutz zukommen zu lassen. Die Europäische Menschenrechtskonvention trat in der Schweiz 1974 in Kraft. Sie ist als Ausbau der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu verstehen und enthält dadurch inhaltlich abgeleitete und sehr ähnliche Gesetzesartikel wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Im Gegensatz zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist die Europäische Menschenrechtskonvention rechtlich jedoch einforderbar. In Art. 3 EMRK ist, wie in Art. 5 AEMR, das Verbot von Folter festgehalten. Art. 5 EMRK impliziert, analog zu Art. 3 der AEMR, das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Damit kann das Verbot der Folter sowie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit rechtlich eingefordert werden. Auch hierbei gilt, dass diese Artikel zwar nicht explizit auf Kinder zugeschnitten sind, für diese jedoch, wie für alle Menschen, gelten. 16 Diese internationalen Gesetzesquellen betonen das Kind als Rechtssubjekt, dessen Wohlergehen von grösster Bedeutung ist. Um dieses Wohlergehen zu gewährleisten, steht dem Kind ein besonderer Schutz zu. 2.3.2 Nationale Ebene Das Kindeswohl ist in der Schweiz in der Bundesverfassung und im Zivilgesetzbuch geregelt. In der Schweizerischen Bundesverfassung sind Art. 10 Abs. 2 sowie Art. 11 für das Kindeswohl von Bedeutung. Art. 10 BV bezieht sich auf das Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit. Art. 10 Abs. 2 BV lautet: „Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.“ Art. 10 Abs. 2 BV sichert somit allen Menschen in der Schweiz, also auch Kindern, das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit zu. Art. 11 BV bezieht sich explizit auf die Situation von Kindern und Jugendlichen. Art. 11 Abs. 1 BV fordert den Anspruch von Kindern und Jugendlichen auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. In der Schweizerischen Bundesverfassung ist somit ausdrücklich erwähnt, dass Kindern und Jugendlichen einen besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit zusteht. Art. 11 Abs. 2 BV besagt, dass Kinder und Jugendliche ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit ausüben. Die Urteilsfähigkeit spielt somit bei der Ausübung von eigenen Rechten von Kindern und Jugendlichen eine wesentliche Rolle. Diese Tatsache wurde bereits im Kapitel 2.1 im Zusammenhang mit den Artikeln rund um die Handlungsfähigkeit im Schweizerischen Zivilgesetzbuch betont. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch verpflichtet Eltern und Kinder in Art. 272 zu gegenseitigem Beistand, Rücksicht und Achtung. Dabei steht das Kindeswohl aber an oberster Stelle (Schwander, 2014, S. 30). Art. 301 Abs. 1 ZGB schreibt zudem vor, dass „die Eltern im Blick auf das Wohl des Kindes seine Pflege und Erziehung leiten […]“. Die Erziehung ist also nach dem Wohl des Kindes auszurichten. Art. 302 Abs. 1 ZGB fordert, dass „die Eltern das Kind ihren Verhältnissen entsprechend zu erziehen und seine körperliche, geistliche und sittliche Entfaltung zu fördern und zu schützen“ haben. Bei der Erziehung müssen die Eltern somit auf die Individualität ihres Kindes eingehen und dieses dementsprechend fördern und schützen. Laut Art. 302 Abs. 2 ZGB müssen die Eltern die Ausbildung des Kindes seinen Fähigkeiten und Neigungen anpassen. Dabei soll insbesondere auf körperlich oder geistig schwächere Kinder eingegangen werden. Ebenso sind Eltern nach Art. 302 Abs. 2 verpflichtet, dem Kind eine allgemeine und berufliche Ausbildung zu ermöglichen. Die Zusammenarbeit der Eltern mit der Schule und involvierten Behörden wird in Art. 302 Abs. 3 ZGB festgesetzt. 17 Bestimmungen zum Kindesschutz sind in Art. 307 ZGB vorgeschrieben. Art. 307 Abs. 1 ZGB regelt den Fall einer Kindeswohlgefährdung. Bei einer Gefährdung müssen die Eltern von sich aus für Abhilfe sorgen. Ist dies nicht möglich, trifft die Vormundschaftsbehörde Massnahmen zum Schutz des Kindes. Auch in den unterschiedlichen schweizerischen Gesetzesartikeln wird das Kind als ein Rechtssubjekt mit einem besonderen Anspruch auf Schutz beschrieben. Dem Kind steht Unversehrtheit sowie eine individuelle Entfaltung und Entwicklung zu. Das Wohlergehen des Kindes gilt als Maxime der gesamten Erziehung. Besteht die Möglichkeit einer Gefährdung des Kindeswohls, sind konkrete Massnahmen zu deren Beseitigung bestimmt. 18 3. Rechte und Pflichten der Eltern Im Zusammenhang mit der Erziehung ihres Kindes üben Eltern im Rahmen des Gesetzes sowohl Rechte als auch Pflichten aus. Diese sollen in diesem Kapitel vorgestellt werden. In einem ersten Teil folgt eine Auseinandersetzung mit Rechten und Pflichten der Eltern auf internationaler Ebene. Relevant sind hierbei die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Kinderrechtskonvention, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie die Europäische Menschenrechtskonvention. Auf nationaler Ebene ist kein explizites Erziehungsrecht der Eltern verankert, es lässt sich jedoch aus diversen Artikeln der Schweizerischen Bundesverfassung und des Schweizerischen Zivilgesetzbuches ableiten (Schwander, 2014, S. 28). Ebenfalls Regelungen zu den Rechten und Pflichten von Eltern finden sich auf nationaler Ebene im Strafgesetzbuch. Nach der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Gesetzen in Bezug auf Rechte und Pflichten der Eltern, soll im letzten Teil dieses Kapitels angeschaut werden, in welchem Verhältnis die Rechte der Eltern zu denjenigen des Kindes stehen. 3.1 Rechte und Pflichten der Eltern auf internationaler Ebene In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bestimmt Art. 12 den Schutz vor willkürlichen Eingriffen in das Privatleben und die Familie. Art. 16 AEMR garantiert zudem die Ehefreiheit und den Schutz der Familie. Art. 16 Abs. 3 AEMR sieht die Familie als grundlegende Einheit der Gesellschaft. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte würdigt somit die Familie als schützenswerte Einheit. Art. 18 AEMR bezieht sich auf die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst „die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden“. Dieser Artikel beinhaltet grundsätzlich das Recht einer Person, die Religion selbst zu bestimmen und zu praktizieren. Genaueres im Zusammenhang mit dem Erziehungsrecht findet sich in der Bundesverfassung und wird bei der nationalen Ebene der elterlichen Rechte und Pflichten aufgeführt. Abschliessend ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Art. 26 relevant. Dieser Artikel beinhaltet das Recht auf Bildung, Erziehungsziele und Elternrecht. Art. 26 Abs. 3 AEMR sieht das Recht der Eltern zur Bestimmung der Bildung ihrer Kinder vor. Eltern haben dadurch das Recht, Entscheidungen im Zusammenhang mit der Bildung ihres Kindes zu treffen. In der Kinderrechtskonvention sind im Zusammenhang mit den Rechten und Pflichten von Eltern Art. 5, Art. 14, Art. 18 sowie Art. 27 KRK relevant. Art. 5 KRK verlangt, dass „die Vertragsstaaten die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Eltern oder gegebenenfalls, […] 19 anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen, achten, das Kind bei der Ausübung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen“. Dieser Artikel enthält für die Eltern sowohl eine Verpflichtung als auch ein Recht. Einerseits fordert Art. 5 KRK von den Eltern, dass sie ihr Kind bei der Ausübung seiner Rechte leiten und führen. Diese Unterstützung muss zudem der Entwicklung des Kindes angemessen werden. Andererseits müssen die Vertragsstaaten die in diesem Zusammenhang entstehenden Aufgaben, Rechte und Pflichten der Eltern achten. In Art. 14 Abs. 2 KRK wird die Achtung der elterlichen Rechte und Pflichten bei der Leitung der Ausübung, der in Art. 14 Abs. 1 KRK festgehaltenen Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Kindes, zugesichert. Die Eltern haben somit nach der Kinderrechtskonvention ein Anrecht auf Achtung ihrer Rechte und Pflichten im Rahmen der Erziehung. Voraussetzung dafür ist, dass die Rechte des Kindes sowie sein Wohl im Zentrum stehen. In Art. 18 Abs. 1 KRK ist die Zuständigkeit der Erziehung geregelt. Daraus ist zu entnehmen, dass in erster Linie beide Elternteile gemeinsam für die Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwortlich sind. Das Grundanliegen der Eltern muss sich aus dem Wohl des Kindes ergeben. Soweit möglich sind beide Eltern in der Erziehung und bei der Entwicklung des Kindes beteiligt. Das Kindeswohl wird hierbei als massgebliche Maxime angeschaut. Art. 27 Abs. 2 KRK bezieht sich auf die Lebensbedingungen des Kindes innerhalb der Erziehung. Demnach sind die Eltern verpflichtet, „im Rahmen ihrer Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten die für die Entwicklung des Kindes notwendigen Lebensbedingungen sicherzustellen“. Nach Art. 27 Abs. 3 KRK müssen die Vertragsstaaten nach Möglichkeit geeignete Massnahmen zur Verfügung stellen, um die Eltern bei der Umsetzung der in Art. 27 Abs. 2 KRK festgehaltenen Pflicht zu unterstützen. Die Eltern werden durch die Kinderrechtskonvention dazu verpflichtet, die für die Entwicklung ihres Kindes bestmöglichen Lebensbedingungen zu schaffen. Dies geschieht unter Berücksichtigung der Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten der Eltern. Dabei sollen die Eltern durch den Staat mit geeigneten Massnahmen unterstützt werden. Im Internationalen Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte wird in Art. 23 Abs. 1 nochmals den Wert der Familie in der Gesellschaft betont. Die Familie ist als die natürliche Kernzelle der Gesellschaft zu betrachten. Dadurch steht ihr einen besonderen Schutz durch die Gesellschaft und den Staat zu. Wie bereits bei den Rechten der Kinder (Kapitel 2.3.1) erwähnt, sind die Gesetzesartikel der Europäischen Menschenrechtskonvention teilweise fast identisch mit denjenigen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Ähnlich wie Art. 12 (Schutz der Freiheitssphäre 20 des Einzelnen) und Art. 16 (Ehefreiheit und Schutz der Familie) AEMR ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention Art. 8 geregelt. Art. 8 EMRK sieht nämlich das Recht jeder Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens vor. Dadurch steht der Familie erneut einen expliziten Schutz zu. Art. 9 EMRK beinhaltet, analog zu Art. 18 AEMR, das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Art. 9 Abs. 2 EMRK führt weiter aus: „Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“. Daraus lässt sich erkennen, dass die Religion einer Person als schützenswert erachtet wird, unter gewissen Umständen aber eingeschränkt werden kann. Die internationalen Gesetzesquellen sehen die Familie als besondere Einheit der Gesellschaft. Die Familie ist deshalb durch die Gesellschaft und den Staat zu schützen. Eltern werden in der Erziehung ihrer Kinder in vielen Bereichen Entscheidungs- und Bestimmungskompetenzen zugesprochen. Sie sollen ihre Kinder führen und leiten. Dabei müssen jedoch das Wohl und die bestmögliche Entwicklung des Kindes im Zentrum stehen. 3.2 Rechte und Pflichten der Eltern auf nationaler Ebene In der Schweiz sind die Rechte und Pflichten von Eltern sowohl in der Bundesverfassung als auch im Zivilgesetzbuch und im Strafgesetzbuch verankert. In der Bundesverfassung lässt sich das Erziehungsrecht von unterschiedlichen Artikeln ableiten, es ist jedoch in keinem Artikel explizit ausgemacht. Art. 13 BV sieht das Anrecht auf Achtung auf das Privat- und Familienleben jeder Person vor. Ebenfalls ein Schutz des Familienlebens enthält Art. 14 BV. Dieser Artikel sichert die Gewährleistung des Rechtes auf Ehe und Familie. Wie bereits in der AEMR und der EMRK betont die Bundesverfassung also das Anrecht der Familie auf Schutz durch den Staat und misst ihr hierbei eine besondere Bedeutung zu. Art. 15 BV bezieht sich dagegen auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Diese wird in Art. 15 Abs. 1 BV gewährleistet. Art. 15 Abs. 2 BV betont das Recht jeder Person der freien Wahl ihrer Religion und weltanschaulichen Überzeugung. In Art. 15 Abs. 3 BV ist festgehalten, dass jede Person einer Religionsgemeinschaft beitreten und angehören darf. Eine konkretere Regelung der Religionsfreiheit im Zusammenhang mit dem Erziehungsrecht findet sich in Art. 303 ZGB und wird nachfolgend erläutert. Im Zivilgesetzbuch lässt sich Art. 272 nicht nur unter dem Aspekt des Kindeswohls betrachten, sondern bezieht sich inhaltlich auch auf die Rechte und Pflichten von Eltern. 21 Diese schulden ihrem Kind nach Art. 272 ZGB Beistand, Rücksicht und Achtung. Da Art. 272 ZGB dies jedoch von den Eltern und Kindern gegenseitig verlangt, ergibt sich daraus auch ein Recht der Eltern auf Beistand, Rücksicht und Achtung ihrer Kinder. Dadurch wird erneut der Wert und die Besonderheit der Familie betont. In Art. 296 ff. ZGB wird die elterliche Sorge geregelt. Art. 296 Abs. 1 ZGB setzt voraus, dass Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit unter elterlicher Sorge stehen. Die Auswirkungen der elterlichen Sorge werden in Art. 301 ff. ZGB geregelt. Art. 301 Abs. 1 ZGB sichert den Eltern das Recht zu, für ihr Kind notwendige Entscheidungen zu treffen. Dazu sei die Handlungsfähigkeit des Kindes zu berücksichtigen. Eltern können demnach stellvertretend für ihr Kind Entscheidungen treffen, sollen hierbei allerdings, sofern möglich, das Kind mitbestimmen lassen (vgl. Kapitel 2.1). In Art. 301 Abs. 2 ZGB wird ausserdem bestimmt, dass das Kind den Eltern Gehorsam schuldet. Art. 301 Abs. 2 ZGB enthält aber auch eine Pflicht für die Eltern. Diese sollen dem Kind nämlich „die seiner Reife entsprechende Freiheit der Lebensgestaltung gewähren und in wichtigen Angelegenheiten, […], auf seine Meinung Rücksicht nehmen“. Kinder müssen somit grundsätzlich Entscheidungen und Bestimmungen ihrer Eltern akzeptieren, dabei sollen die Eltern jedoch angemessene Freiheiten und die Meinung des Kindes berücksichtigen. Erziehung ist demnach als Spannungsfeld zwischen den Entscheidungen der Eltern und den Freiheiten des Kindes zu verstehen. Dadurch geht es in vielen Situationen um ein Abwägen dieser beiden Interessenslagen. Art. 301 Abs. 3 ZGB beinhaltet die gesetzliche Regelung, dass das Kind ohne die Einwilligung der Eltern die Hausgemeinschaft nicht verlassen darf. In Art. 302 ZGB sind vor allem Bestimmungen zum Kindeswohl zu finden. Eltern müssen ihr Kind nach Art. 302 Abs. 1 ZGB seinen Verhältnissen entsprechend erziehen und seine körperliche, geistige und sittliche Entfaltung fördern und schützen. Zudem sieht Art. 302 Abs. 2 ZGB vor, dass die Eltern dem Kind eine angemessene und auf das Kind abgestimmte allgemeine und berufliche Ausbildung verschaffen. Bei der Erziehung sollen Eltern auf die Individualität des Kindes eingehen und das Kind bei seiner einzigartigen Entwicklung unterstützen sowie eine passende Ausbildung ermöglichen. Damit wiederspiegelt Art. 302 ZGB inhaltlich den Kern des Kindeswohls (vgl. Kapitel 2.2). Art. 303 ZGB regelt die religiöse Erziehung. In Art. 303 Abs. 1 ZGB ist festgehalten, dass die Eltern über die religiöse Erziehung des Kindes verfügen. Art. 303 Abs. 3 ZGB stellt allerdings sicher, dass ein Kind nach dem Zurücklegen des 16. Lebensjahres selbständig über seine religiöse Zugehörigkeit entscheiden darf. Solange ein Kind unter 16 Jahre alt ist, liegt die Entscheidung über die religiöse Zugehörigkeit also bei den Eltern. Die allgemeinen Grundsätze über die Erziehung in Art. 301 Abs.1 und 2 ZGB und Art. 302 Abs. 1 ZGB gelten jedoch auch für die religiöse Erziehung. Somit liegt die Grenze der religiösen Erziehung bei der Gefährdung des Kindeswohls (Schwenzer, 2010, S. 1603). 22 Im Strafgesetzbuch ist in Art. 219 die Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht geregelt. So hält Art. 219 Abs. 1 StGB fest: „Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer minderjährigen Person verletzt oder vernachlässigt und sie dadurch in ihrer körperlichen oder seelischen Entwicklung gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft“. Hiermit werden die Folgen bestimmt, wenn Eltern der Fürsorge- und Erziehungspflicht nicht nachkommen. Der schweizerische Gesetzgeber gesteht der Familie ebenfalls einen besonderen Wert zu und enthält deshalb den Schutz des Familienlebens. Die Eltern werden berechtigt, notwendige Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen. Dabei soll die Handlungsfähigkeit des Kindes einbezogen und die eigene Meinung berücksichtigt werden. Die Eltern werden verpflichtet, das Kind bei seiner individuellen Entwicklung und Entfaltung zu unterstützen. 3.3 Verhältnis Kindeswohl und Elternrechte Bisher wurden sowohl das Kindeswohl sowie die Rechte der Kinder als auch die Rechte und Pflichten der Eltern angeschaut. Von Interesse ist nun das Verhältnis dieser beiden Seiten. Wie stehen die Elternrechte zu denjenigen des Kindes? Diese Frage stellt sich besonders in Situationen, in welchen sich diese Ebenen möglicherweise widersprechen. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass das Kindeswohl und die eigene Handlungsfähigkeit des Kindes das elterliche Entscheidungsrecht eingrenzen. Der Persönlichkeitsschutz ist auf beiden Seiten zu wahren (Baviera, 2003, S. 143). Sobald sich diese beiden Bereiche berühren, eröffnet sich ein Spannungsfeld, in welchem die Erziehung und Entwicklung stattfindet (Baviera, 2003, S. 143). Kinder werden zunehmend mehr Selbstentfaltung und eine eigene Rechtspersönlichkeit zugesprochen und als Rechtssubjekte wahrgenommen, welche in wichtigen Belangen mitentscheiden dürfen (Baviera, 2003, S. 143). Der Wandel des Begriffs der elterlichen Gewalt zur elterlichen Sorge löst in einem gewissen Masse die Hierarchie der Beziehung der Eltern und Kinder auf. Dadurch wird verdeutlicht, dass Kinder nicht mehr einfach untergeordnet sind, sondern mitentscheiden dürfen oder zumindest ein Anrecht auf die Berücksichtigung ihrer Meinung haben (Baviera, 2003, S. 143). Wenn es jedoch zu keiner Übereinstimmung zwischen den Eltern und dem Kind kommt, entscheiden grundsätzlich die Eltern. Durch den Schutz der Familie wird dieser nämlich ein grosser privater Gestaltungsraum eingeräumt (Baviera, 2003, S. 144). Eine Grenze für dieses Prinzip bildet jedoch die Gefährdung des Kindeswohls. Sobald das elterliche Verhalten dem Kind nämlich schadet, geht das Kindeswohl der elterlichen Selbstbestimmung vor (Baviera, 2003, S. 145). In diesem Fall überwiegt das Interesse, das Kind zu schützen. Dieses Recht wird demjenigen der Familie auf Schutz vor staatlichen Interventionen übergeordnet (Baviera, 23 2003, S. 144). Wenn sich jedoch gleichwertige Interessen ohne Gefährdung des Kindes gegenüberstehen, ist eine Interessensabwägung vorzunehmen (Baviera, 2003, S. 145). Solange es um die Wahrung der wirklichen Interessen des Kindes geht, zeigt sich die Tendenz zum Vorrang der Kinderrechte vor den Elternrechten (Baviera, 2003, S. 146). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Familie bei der Erziehung vor staatlichen Eingriffen geschützt wird und grundsätzlich die Eltern Entscheidungen treffen dürfen. Das Kind wird den Eltern allerdings nicht untergeordnet und soll bei wichtigen Entscheidungen mitberücksichtig werden. Sobald es zu einer Gefährdung des Kindeswohls kommt, überwiegen die Rechte des Kindes gegenüber denjenigen der Eltern und der Staat darf eingreifen. 24 4. Weibliche Genitalverstümmelung Nachdem bisher grundlegende gesetzliche Bestimmungen zu Kindern- und Elternrechte angeschaut wurden, widmet sich das folgende Kapitel der weiblichen Genitalverstümmelung. In einem ersten Schritt wird der Begriff der weiblichen Genitalverstümmelung genauer betrachtet. Dazu wird der Begriff definiert und erläutert. Die Verwendung der unterschiedlichen Begriffsbezeichnungen sollen diskutiert und einander gegenübergestellt werden. Anschliessend wird die Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung thematisiert und die verschiedenen Formen aufgeführt. In einem nächsten Teil wird auf die Begründung sowie die verschiedenen Folgen der weiblichen Genitalbeschneidung eingegangen. Abschliessend wird die rechtliche Situation, sowohl national als auch international, vorgestellt und ein Fazit in Bezug auf das Kindeswohl gezogen. 4.1 Begriffserklärung Die Weltgesundheitsorganisation definiert die weibliche Genitalverstümmelung als „alle Verfahren, welche die partielle oder totale Entfernung oder sonstige Verletzung der äusseren weiblichen Genitalien aus kulturellen, religiösen oder anderen nicht therapeutischen Gründen beinhalten“ (Cottier, 2008, S. 9). Zunächst wurde dafür der Begriff „ weibliche Beschneidung“ oder „Female Circumcision, FC“ verwendet. Dieser Ausdruck wurde jedoch seit den 80er Jahren zunehmend verdrängt, da man darin eine Verniedlichung und Verharmlosung des Eingriffes enthalten sah (Trechsel & Schlauri, 2004, S. 4). Afrikanische Aktivistinnen wollten mit einem neuen Begriff zum Ausdruck bringen, dass die weibliche Genitalbeschneidung nicht vergleichbar mit der Beschneidung eines Mannes sei (Richter & Schnüll, 2003, S. 16). Es wurde argumentiert, dass bei einer medizinisch nicht notwendigen Amputation von beispielsweise einem Ohr oder der Nase automatisch von einer Verstümmelung die Rede wäre (Richter & Schnüll, 2003, S. 16). So wurde 1990 bei einer Konferenz der WHO der Begriff Female Genital Mutilation (FGM), also weibliche Genitalverstümmelung, eingeführt, welcher seither international verwendet wird (Trechsel & Schlauri, 2004, S. 4). Die UN-Organisationen (United Nations) WHO, UNICEF und UNFPA (United Nations Development Fund) haben sich gemeinsam zu diesem Begriff geäussert und ihn anschliessend so angewendet (Cottier, 2008, S. 9). Heutzutage wird der Begriff FGM jedoch in Frage gestellt. Viele Betroffene fühlen sich beleidigt, da sie nicht als verstümmelt bezeichnet werden möchten (Rust, 2007, S. 21). Auch birgt der Begriff „Verstümmelung“ die Gefahr einer Reduzierung der Frauen auf ihr Genital (Rust, 2007, S. 21 f.). Mögliche andere Begriffe sind „Female Genital Surgery, FGS“ 25 („weibliche Genitaloperation“) oder „Female Genital Cutting, („weibliches FGC“ Genitalschneiden“). Diese Begriffe lassen sich jedoch schwer übersetzen (Trechsel & Schlauri, 2004, S. 4). Eine weitere Alternativbezeichnung wäre „weibliche Genitalverschneidung“. Hierbei ist allerdings die englische Übersetzung eher umständlich (Trechsel & Schlauri, 2004, S. 4). In der vorliegenden Diplomarbeit werden die Begriffe „weibliche Genitalverstümmelung“ sowie „weibliche Genitalbeschneidung“ synonym verwendet. Gerade im Umgang mit Betroffenen ist es jedoch besonders bedeutsam, rücksichtsvolle und schonende Umschreibungen zu gebrauchen und die beschnittenen Mädchen und Frauen nicht als „verstümmelt“ zu bezeichnen, da dieser Ausdruck verletzend und entwürdigend sein kann. 4.2 Verbreitung Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sind heute weltweit zwischen 100 und 150 Millionen Mädchen und Frauen von der weiblichen Genitalverstümmelung betroffen. Täglich werden weitere 8‘000 Mädchen genital beschnitten, jede Stunde über 300 und alle zwölf Sekunden ein Mädchen (Schnüll, 2003, S. 26). Weibliche Genitalverstümmelung ist in 28 afrikanischen Ländern, im Süden der Arabischen Halbinsel und in einigen asiatischen Ländern verbreitet (Schnüll, 2003, S. 26). In Afrika kommt die weibliche Genitalbeschneidung überwiegend in den Ländern rund um den Äquator vor. In Ägypten, Somalia, Djibouti und Guinea ist über 95% der weiblichen Bevölkerung an ihren Genitalien beschnitten. Auf der Arabischen Halbinsel und in Asien wird die weibliche Genitalverstümmelung bei einigen ethnischen Gruppen im Jemen, Irak und Iran sowie in Indien und Pakistan praktiziert (Schnüll, 2003, S. 26). Auch existieren Berichte über die Durchführung von weiblicher Genitalverstümmelung in Bahrain, Israel, Oman, Vereinigten Arabischen Emiraten, Malaysia und Indonesien (Schnüll, 2003, S. 26). In Gesellschaften, in denen weibliche Genitalbeschneidungen praktiziert werden, sind grundsätzlich alle Mädchen davon betroffen (Schnüll, 2003, S. 26). Dies erklärt auch, weshalb der Brauch normalerweise von niemandem hinterfragt wird, da keine Vergleiche zu unversehrten Frauen vorliegen und die Beschneidung als vollkommen üblich betrachtet wird (Schnüll, 2003, S. 26). Die weibliche Genitalverstümmelung beschränkt sich nicht auf die Anhängerinnen einer bestimmten Religion, somit sind sowohl Christinnen, Musliminnen, Jüdinnen und Angehörige anderer Religionen betroffen (Schnüll, 2003, S. 26). Auch in Europa und Nordamerika wurden seit dem Mittelalter immer wieder Operationen an den äusseren weiblichen Genitalien als vermeintliches Mittel gegen nervöse Erkrankungen, Hysterie und 26 Selbstbefriedigung durchgeführt. Der letzte bekannt gewordene Eingriff wurde 1953 in den Vereinigten Staaten von Amerika bei einem zwölfjährigen Mädchen praktiziert (Schnüll, 2003, S. 26). Durch die Zuwanderung sind zunehmend auch Europa, Nordamerika und Australien von der weiblichen Genitalverstümmelung direkt betroffen. In der Schweiz sind schätzungsweise 10‘700 Mädchen und Frauen genital beschnitten oder davon bedroht (Schweizerisches Komitee für UNICEF, 2013). 4.3 Formen Die WHO unterscheidet bei der weiblichen Genitalverstümmelung zwischen vier Typen. In der Praxis kommen jedoch auch Zwischenformen und Variationen vor (Cottier, 2008, S. 9). - Typ I (Inzision) meint die Einschneidung oder Entfernung der Klitorisvorhaut. Die Inzision gilt als die mildeste Form der weiblichen Genitalbeschneidung (Cottier, 2008, S. 9). - Beim Typ II (Exzision) werden die Klitoris und die kleinen Schamlippen teilweise oder vollständig entfernt (Cottier, 2008, S. 9). - Typ III (Infibulation) stellt die gravierendste Form der weiblichen Genitalbeschneidung dar und macht ungefähr 15% aller Beschneidungen aus (Cottier, 2008, S. 9). Die Infibulation bedeutet die Entfernung der Klitoris sowie der kleinen und grossen Schamlippen. Anschliessend wird die Wunde zugenäht und lediglich eine winzige Öffnung gelassen, damit Urin und das Menstruationsblut herausfliessen können (Cottier, 2008, S. 9). - Typ IV beinhaltet diverse, nicht klassifizierbare Praktiken. Unter Typ IV fallen alle Formen der weiblichen Genitalbeschneidungen, die nicht einem der vorangehenden Typen zugeordnet werden können (Cottier, 2008, S. 9). Vor allem bezieht sich der Typ IV auf Punktionen, Piercings, Einschneiden und Einreissen der Klitoris, aber auch auf die Ausziehung und die Verlängerung der Klitoris und der Schamlippen. Ebenfalls dazu gehören das Einreissen des Umgebungsgewebes, Schnitte in die Vagina sowie die Einführung ätzender Substanzen oder Kräuter, um die Vagina zu verengen (Cottier, 2008, S. 9). Bei einer Frau, bei welcher eine Infibulation durchgeführt wurde, muss die verschlossene und vernarbte Vagina für den Geschlechtsverkehr wieder geöffnet werden. Dieser Vorgang wird Defibulation genannt (Schnüll, 2003, S. 28 f.). Vom Mann wird zwar erwartet, dass ihm dies durch Penetration der kleinen Öffnung gelingt, was jedoch fast unmöglich ist. In vielen Fällen benutzt der Mann deshalb ein Messer oder ein ähnlich scharfes Werkzeug um die kleine Öffnung zu erweitern. Dadurch erleidet die Frau zusätzliche Verletzungen im Genitalbereich und Schmerzen. Manchmal wird auch eine Beschneiderin, eine Ärztin oder ein Arzt konsultiert oder ein Krankenhaus aufgesucht (Schnüll, 2003, S. 28 f.) Bei einer Geburt ist eine Defibulation für den Geburtsvorgang erneut notwendig. Nach der Geburt wird die Vagina in den meisten Fällen wieder bis auf eine winzige Öffnung verschlossen (Schnüll, 2003, S. 28 f.). Dazu wird eine Reinfibulation vorgenommen und die Narbenränder 27 abgeschält und von neuem zugenäht. Manchmal lassen sich auch Witwen oder geschiedene Frauen reinfibulieren, da sie dadurch wieder als Jungfrauen angesehen und somit ihre Heiratschancen erhöht werden (Schnüll, 2003, S. 28 f.). 4.4 Begründungen Die Begründungen für die Ausübung der weiblichen Genitalverstümmelung sind sehr unterschiedlich und vielseitig. Eltern lassen ihre Töchter oftmals in guter Absicht beschneiden, da eine unbeschnittene Frau als heiratsunfähig gilt und von der Gemeinschaft diskriminiert und ausgestossen wird (Derungs et al., 2009, S. 9). Entgegen der verbreiteten Annahme, die weibliche Genitalverstümmelung sei religiös verankert, ist diese nicht an eine bestimmte Religion gebunden. Denn sowohl bei ägyptischen Christen, als auch beim äthiopischen Volksstamm der Falaschas, welcher nach jüdischen Traditionen lebt, werden Mädchen genital beschnitten (Hermann, 2000, S. 16). Und obwohl die weibliche Genitalverstümmelung im islamischen Bereich weit verbreitet ist, hat sie in ihren Ursprüngen nichts mit dem Islam zu tun (Hermann, 2000, S. 16). Weder im Koran noch in der Tora oder der Bibel ist die weibliche Genitalverstümmelung festgehalten. Zudem wurden bereits zu Pharaonenzeiten in Ägypten sowie im alten Israel Mädchen genital beschnitten (Hermann, 2000, S.16). Eine der Hauptbegründungen für die Genitalbeschneidung bei Mädchen und Frauen wird der Tradition zugeschrieben. In manchen Gesellschaften gilt die Genitalverstümmelung als Initiationsritus, durch welchen das Geschlecht endgültig festgelegt wird (Schnüll, 2003, S. 26). Einige Völker gehen nämlich von einer Doppelgeschlechtlichkeit der äusseren Genitalien aus und sind davon überzeugt, dass sich der männliche Anteil der Seele bei einer Frau in der Klitoris und der weibliche Teil der Seele bei einem Mann in der Vorhaut befinden. Die Entfernung der Klitoris symbolisiert demnach die Festlegung des Geschlechtes, die soziale Rollenfindung sowie die Heiratsfähigkeit der jungen Frauen (Schnüll, 2003, S. 26). Die Beschneidung gilt nicht zur als Zeichen der Heiratsfähigkeit, sondern ist oftmals auch eine Voraussetzung für die Ehe. Die Frauen sollen ihre Rolle als zukünftige Ehefrau und Mutter gut wahrnehmen (Derungs et al., 2009, S. 9). Ein kontrolliertes Sexualverhalten ist in vielen Bevölkerungsgruppen ein unabdingbarer Teil davon. Die Beschneidung der weiblichen Genitalien wird als Garantie dafür gesehen, dass die Frau jungfräulich in die Ehe geht und in der Ehe treu bleibt (Derungs et al., 2009, S. 9). In manchen Bevölkerungsgruppen ist zudem die Ansicht verbreitet, dass durch die Beschneidung die Fruchtbarkeit einer Frau erhöht werde (Derungs et. al., 2009, S. 9). Da jedoch genau das Gegenteil der Fall sein kann, beruht dieses Argument auf medizinischer 28 Unkenntnis. In vielen afrikanischen Gesellschaften herrscht die Meinung, dass die weiblichen Genitalien ein männliches Element seien und nicht dem Schönheitsideal entsprechen. Sie gelten als hässlich und unrein (Derungs et al., 2009, S. 9). Terre des Femmes hält in ihrer Begleitbroschüre „Schnitt ins Leben“ (Derungs et al., 2009, S. 9) fest, dass die wichtigsten Gründe für die weibliche Genitalbeschneidung in Unwissenheit und dem tieferen Status von Frauen liegen. Es herrsche Unkenntnis über die gesundheitlichen Folgen, die Menschenrechte sowie die gesetzlichen Regelungen (Derungs et al., 2009, S. 9). Die Kontrolle der weiblichen Sexualität drücke die tief verwurzelte Ungleichheit und Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern aus (Derungs et al., 2009, S. 9). 4.5 Folgen Die weibliche Genitalverstümmelung ist für die betroffenen Mädchen und Frauen mit einer Vielzahl von physischen, psychischen, sexuellen und sozialen Folgen verbunden (Peller, 2002, S. 117 f.). Bei den aufgeführten Folgen handelt es sich lediglich um mögliche und vorstellbare Folgen einer Beschneidung. Welche Folgen aber tatsächlich auftreten, können von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang jedoch die Tatsache, dass, unabhängig von der Schwere des Eingriffes, ein Teil eines gesunden Organes weggeschnitten wird und dies nicht wieder rückgängig zu machen ist. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass jedes vierte Mädchen oder jede vierte Frau an den direkten oder langfristigen Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung stirbt (Derungs et al., 2009, S. 5). 4.5.1 Physische Folgen Unmittelbar mit einer Beschneidung sind ein extrem starker Schmerz, Blutungen und ein Schock verbunden (Derungs et al., 2009, S. 5). Da die Eingriffe meistens unter sehr unhygienischen Bedingungen durchgeführt werden, leiden die Betroffenen nach der Beschneidung häufig an Fieber, Entzündungen, Infektionen, Blutvergiftungen und Wundstarrkrampf (Derungs et al, 2009, S. 5). Wenn die Werkzeuge für die Beschneidung bei mehreren Mädchen verwendet werden, besteht die Gefahr einer Übertragung von HIV (Humane Immundefizienz-Virus) oder Hepatitis (Derungs et al., 2009, S. 5). Oftmals wird zudem das angrenzende Gewebe, wie Harnröhre, Damm, Scheide und Anus verletzt. In vielen Fällen leiden die Betroffenen an Harnverhalten und Inkontinenz (Peller, 2002, S. 117). Später und chronisch führt eine Beschneidung oftmals zu Fieber, Schmerzen, Infektionen, Sekundärblutungen sowie Blutarmut. Auch Verwachsungen, Abszesse und Zysten sind häufige Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung (Peller, 2002, S. 117). 29 Bei der Infibulation dauert das Urinieren aufgrund der kleinen verbleibenden Öffnung meistens zehn Minuten oder länger (Derungs et al., 2009, S. 5). Durch Angst vor Schmerzen versuchen viele Betroffene den Urin zurückzubehalten und wenig zu trinken. Zusammen mit den Verletzungen der Harnröhre führt dies in vielen Fällen zu dauerhaften Infektionen im Harnbereich und Unterleib, welche sich zu bleibenden Nierenschäden entwickeln können (Derungs et al., 2009, S. 5). Besonders die Menstruation ist für die infibulierten Frauen zudem sehr unangenehm. Diese dauert oftmals bis zu 15 Tagen und ist mit vielen Schmerzen verbunden. Da das Menstruationsblut nur langsam austreten kann und somit länger im Körper bleibt, entsteht ein unangenehmer Geruch. Viele Frauen meiden in dieser Zeit aus Scham die Öffentlichkeit (Derungs et al., 2009, S. 5). Auch birgt die Anstauung der Menstruationsblutung die Gefahr von Unfruchtbarkeit (Derungs et al., 2009, S. 5). Durch die Defibulation ist der Geschlechtsverkehr besonders für Frauen, welche infibuliert wurden, mit starken Schmerzen verbunden. Aber auch bei den anderen möglichen Formen der Beschneidung ist der Geschlechtsverkehr vielfach schmerzhaft (Derungs et al., 2009, S. 5). Die Geburt bedeutet für die Betroffenen ebenfalls Komplikationen und Qualen (Derungs et al., 2009, S. 5). Der Austreibungsvorgang dauert aufgrund der Vernarbung nämlich länger und das Risiko eines Dammrisses ist erhöht. Durch die verminderte Elastizität des vernarbten Gewebes kann es zu einem Geburtsstillstand kommen, welcher eine ausreichende Sauerstoffversorgung verunmöglicht und zum Tod des Säuglings führen kann (Derungs et al., 2009, S. 5). Nach der Geburt wird zudem oft eine Reinfibulation durchgeführt (Trechsel & Schlauri, 2004, S. 5). Die Wunde wird erneut bis auf eine minime Öffnung zugenäht und die betroffenen Frauen müssen den Leidensvorgang nochmals über sich ergehen lassen (Trechsel & Schlauri, 2004, S. 5 f.). Gerade durch die hohe Geburtenrate in vielen afrikanischen Gebieten, erleidet eine grosse Anzahl der Betroffenen den qualvollen Kreislauf von „zunähen, erweitern und öffnen“ immer und immer wieder (Trechsel & Schlauri, 2004, S. 5 f.). 4.5.2 Psychische Folgen Durch die weibliche Genitalverstümmelung werden nebst dem Körper auch die Persönlichkeit und das Selbstwertgefühl der betroffenen Mädchen und Frauen verletzt (Derungs et al., 2009, S. 6). Die WHO nimmt an, dass eine weibliche Genitalverstümmelung ähnliche psychische Auswirkungen wie eine Vergewaltigung oder Folter hat (Derungs et al., 2009, S. 6). Dazu gehören Angstreaktionen, Konzentrationsschwäche, gestörtes Essverhalten oder Depressionen (Derungs et al., 2009, S. 6). Auch kann die Mutter-Kind-Bindung durch eine frühe Genitalbeschneidung stark beeinträchtigt werden. Denn durch die erlebte psychische Verletzung wird der erste 30 Entwicklungsschritt der Vertrauensbildung gegenüber der Mutter verhindert (Hammond & Kimmel, 1999, S. 249). Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass der Still-Rhythmus bei beschnittenen weiblichen Säuglingen negativ beeinflusst wird. So haben Mädchen, die nach der Beschneidung von ihren Müttern gestillt wurden, sogar den Augenkontakt vermieden (Hammond & Kimmel, 1999, S. 249). Viele Mädchen erleben in Zusammenhang mit ihrer genitalen Beschneidung ein Trauma. Der Umgang damit kann sehr unterschiedlich sein. Nach Toubia wird das Trauma jedoch oftmals, gleich wie die anderen psychischen Folgen, eher unterschwellig gespürt (Hammond, 2003, S. 281). Gründe dafür sind Verleugnung, Resignation und Akzeptanz gesellschaftlicher Normen (Hammond, 2003, S. 281). Miller vertritt die These, dass beschnittene Mädchen ihre Gefühle unterdrücken, weil sie keine Chance haben, sich zu wehren. Dadurch wird ihr Bewusstsein ausgeschaltet und sie idealisieren die Beschneidung, um den Eingriff als harmlos und notwendig rechtfertigen zu können (Hammond, 2003, S. 281). Weitere mögliche Folgen der Genitalbeschneidung sind Vertrauensverlust, Aggressionen, Persönlichkeitsveränderungen oder Phobien. Um all dies zu bewältigen greifen manche der Frauen auf Alkohol und Drogen zurück (Peller, 2002, S. 118). In einzelnen Fällen kann eine Beschneidung sogar einen Suizid oder zumindest Suizidgedanken auslösen (Peller, 2002, S. 118). 4.5.3 Sexuelle Folgen Durch die Entfernung der Klitoris wird die sexuelle Empfindungsfähigkeit stark eingeschränkt. Für die betroffenen Frauen kann eine Beschneidung zu sexueller Unlust und Frustration führen (Peller, 2002, S. 117). Zudem ist die Penetration in vielen Fällen undurchführbar. Dadurch wird, wie bereits bei den physischen Folgen erwähnt, die Öffnung oft schmerzvoll erweitert. Durch den Geschlechtsverkehr kommt es zudem zu Verletzungen der Vulva und des umliegenden Gewebes (Peller, 2002, S: 117). Bei beschnittenen Frauen ist bei Partnerwechseln und Prostitution das Übertragungsrisiko von Geschlechtskrankheiten wie HIV und Hepatitis B erhöht (Peller, 2002, S. 117 f.). 4.5.4 Soziale und gesellschaftliche Folgen Aufgrund der Konzentrationsstörungen und der starken psychischen Belastung einer weiblichen Genitalverstümmelung fallen manche Betroffenen in der Schule negativ auf oder brechen diese frühzeitig ab (Derungs et al., 2009, S. 6). Dies hat natürlich weitreichende Konsequenzen für ihre berufliche Zukunft. Durch die mögliche Unfruchtbarkeit erlebt eine grosse Anzahl der betroffenen Frauen gesellschaftliche Missachtung. Für viele Männer in afrikanischen Ländern ist dies ein Scheidungsgrund, da Kinderreichtum als wichtiges Ideal angesehen wird (Derungs et al., 2009, S. 9). 31 Die weibliche Genitalverstümmelung beinhaltet auch für die Gesellschaft negative Folgen. Denn erhöhte Mütter- und Kindersterblichkeit, Unfruchtbarkeit, Arbeitsunfähigkeit und Krankheit hemmen die Entwicklung der gesamten Gesellschaft (Derungs et al., 2009, S. 6). An dieser Stelle soll nochmals betont werden, dass Mädchen und Frauen durch die Genitalverstümmelung eine Vielzahl sowohl körperlicher als auch seelischer Schmerzen erleiden und die weibliche Genitalverstümmelung eine unwahrscheinlich grausame und lebensgefährliche Praktik darstellt. 4.6 Rechtliche Verankerungen Sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene findet sich diverse Gesetzesartikeln, welche sich direkt oder indirekt gegen die weibliche Genitalverstümmelung aussprechen. Im Folgenden sollen die internationalen und anschliessend die nationalen Rechtsquellen vorgestellt werden. 4.6.1 Internationale Ebene Die weibliche Genitalverstümmelung stellt eindeutig eine Verletzung grundlegender Menschenrechte dar und missachtet eine Vielzahl bedeutender Menschenrechtsinstrumente. Relevant sind bei der weiblichen Genitalbeschneidung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Kinderrechtskonvention, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), die Europäische Menschenrechtskonvention sowie verschiedene länderspezifische Verbote. In Bezug auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verstösst die weibliche Genitalverstümmelung gegen das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit (Art. 3) und das Recht, frei von Folter zu leben und keiner grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlungen oder Strafen unterworfen zu werden (Art. 5). Weibliche Genitalverstümmelung gefährdet das Leben, die Freiheit und Sicherheit von Mädchen und Frauen und stellt Folter sowie grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Ebenso verletzt die weibliche Genitalverstümmelung Art. 25 Abs. 1 AEMR, wonach jeder Person ein angemessener Lebensstandard zur Gewährung von Gesundheit und Wohlergehen zusteht. Es ist offensichtlich, dass die weibliche Genitalverstümmelung sowohl die Gesundheit als auch das Wohlergehen der Betroffenen missachtet. Die besondere Fürsorge und Unterstützung von Müttern und Kindern (Art. 25 Abs. 2 AEMR) kann durch die Praktik der weiblichen Genitalverstümmelung nicht erfüllt werden. 32 Die weibliche Genitalverstümmelung verletzt zudem viele Bestimmungen der Kinderrechtskonvention. Sie verstösst gegen Art. 3 Abs. 1 KRK, wonach das Kindeswohl bei allen Massnahmen vorrangig zu berücksichtigen ist. Ebenso verletzt die weibliche Genitalbeschneidung Art. 6 Abs. 2 KRK, welcher von den Vertragsstaaten die Gewährleistung des Überlebens und der Entwicklung des Kindes in grösstmöglichem Umfang fordert. Durch die Beschneidung von Mädchen werden diese zudem in ihrem Recht verletzt, ihre Meinung frei bilden und diese in persönlichen Angelegenheiten äussern zu können (Art. 12 Abs. 1 KRK). Die weibliche Genitalverstümmelung verstösst ebenso gegen Art. 18 Abs. 1 KRK, wonach bei der Erziehung und Entwicklung des Kindes das Kindeswohl das Grundanliegen sein muss. Wenn Staaten die weibliche Genitalverstümmelung nicht bekämpfen, missachten sie Art. 19 KRK, da sie somit nicht alle Massnahmen treffen, um das Kind vor körperlicher und geistiger Gewaltanwendung oder Schadenszufügung zu schützen. Genauso verletzt wird Art. 24 Abs. 2 und Abs. 3 KRK, worin enthalten ist, dass die Vertragsstaaten geeignete Massnahmen zur Verringerung von Säuglings- und Kindersterblichkeit umsetzen und sicherstellen, dass der Gesellschaft Grundkenntnisse über die Gesundheit des Kindes vermittelt (Art. 24 Abs. 2 KRK) sowie für die Gesundheit des Kindes überlieferte Bräuche abgeschafft werden (Art. 24 Abs. 3 KRK). Ein Staat hätte also die Aufgaben, sich gegen die weibliche Genitalverstümmelung einzusetzen, um dadurch die Säuglings- und Kindersterblichkeit zu verringern und die Gesellschaft über die Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung aufzuklären (Art. 24 Abs. 2 KRK) sowie den Brauch abzuschaffen, da er die Gesundheit von Mädchen schädigt (Art. 24 Abs. 3 KRK). Und auch Art. 37 KRK, das Verbot der Folter und grausamer und unmenschlicher Behandlung bei Kindern, wird durch die weibliche Genitalverstümmelung missachtet. In Bezug auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte wird durch die weibliche Genitalverstümmelung Art. 24 Abs. 1 verletzt. Denn durch die Beschneidung ihrer Genitalien können den Mädchen nicht die nötigen Schutzmassnahmen gewährt werden, welche sie aufgrund ihrer Verletzlichkeit benötigen würden. Des Weiteren verletzt weibliche Genitalverstümmelung die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von 1979. Darin ist die Bekämpfung von Bräuchen und Praktiken festgehalten, die eine Diskriminierung der Frau darstellen und für die Gesundheit der Kinder schädlich sind. Die weibliche Genitalverstümmelung ist eindeutig als Diskriminierung an Frauen und als Schädigung der Gesundheit von Kindern zu verstehen. Im Zusammenhang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention werden durch die weibliche Genitalverstümmelung das Verbot der Folter und grausamer und unmenschlicher Behandlung (Art. 3) sowie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit (Art. 5) verletzt. 33 In etwa der Hälfte der 28 FGM-praktizierenden afrikanischen Staaten ist die weibliche Genitalverstümmelung eigentlich gesetzlich verboten. So besteht beispielsweise ein Verbot in Ägypten (2007), Benin (2005), Äthiopien und Burkina Faso (1997), Djibouti (1995), Elfenbeinküste (1998), Eritrea (2007), Guinea (1989), Senegal (1999), Tansania und Togo. Gerade in ländlichen Regionen wird der Brauch der weiblichen Genitalverstümmelung jedoch weiterhin praktiziert. Problematisch ist auch, dass die gesetzlichen Verbote keine landesweiten Aufklärungskampagnen zur Folge hatten (Derungs et al., 2009, S. 13). In einigen europäischen Ländern, wie auch in der Schweiz, gibt es Strafgesetze, die weibliche Genitalverstümmelung ausdrücklich unter Strafe stellen (Derungs et al., 2009, S. 13). Auf internationaler Ebene sprechen sich diverse Gesetzesartikel ganz klar gegen die weibliche Genitalverstümmelung aus. Es ist eindeutig, dass durch die Praxis der Genitalbeschneidung an Mädchen und Frauen grundlegende Menschenrechte grob verletzt werden. Auch in vielen betroffenen Ländern sind Gesetze vorhanden, welche die weibliche Genitalverstümmelung verbieten. Dass ein gesetzlich verankertes Verbot zwar ein wichtiger Schritt, nicht jedoch eine Garantie für das Ende der Praxis bedeutet, verdeutlicht die Tatsache, dass trotz all dieser Gesetzesartikel so viele Mädchen und Frauen weiterhin von der Genitalbeschneidung betroffen und bedroht sind. Die Gesetze müssen deshalb unbedingt mit landesweiten Aufklärungskampagnen verbunden werden. 4.6.2 Nationale Ebene Auf nationaler Ebene sind die Bundesverfassung, das Zivilgesetzbucht und das Strafgesetzbuch im Zusammenhang mit der weiblichen Genitalbeschneidung von Bedeutung. Im Rahmen der weiblichen Genitalverstümmelung sind in der Bundesverfassung sowohl Art. 10 Abs. 2, Art. 11 Abs. 1 und Abs. 2 betroffen. Art. 10 Abs. 2 BV bestimmt das Recht auf persönliche Freiheit, körperliche und geistige Unversehrtheit. Die Genitalbeschneidung verletzt eindeutig sowohl die körperliche als auch die geistige Unversehrtheit der betroffenen Mädchen und Frauen. In Art. 11 Abs. 1 BV wird der besondere Schutzanspruch der Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen betont, welcher durch die weibliche Genitalverstümmelung ebenfalls klar verletzt wird. Durch Art. 11 Abs. 2 BV werden Kinder und Jugendliche berechtigt, im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit eigene Rechte auszuüben, was durch die Genitalbeschneidung bei Mädchen missachtet wird. Im Zivilgesetzbuch können bei der weiblichen Genitalverstümmelung Art. 301 Abs. 1 und Art. 302 Abs. 1 angewendet werden. Nach Art. 301 Abs. 1 ZGB muss sich die Pflege und Erziehung eines Kindes nach dessen Wohl ausrichten. Die Genitalverstümmelung an Mädchen widersetzt sich dieser Bestimmung unausweichlich. Durch die weibliche 34 Genitalverstümmelung wird die körperliche und geistliche Entfaltung des Kindes verletzt, welche in Art. 302 Abs. 1 ZGB vorgeschrieben wird. Diese Artikel der Bundesverfassung und des Zivilgesetzbuches zeigen deutlich, dass die weibliche Genitalverstümmelung in den Gesetzestexten der Schweiz in keiner Weise geduldet wird und eindeutig verboten ist. Dieser Tatsache kommt das Strafgesetzbuch (StGB) nach. Am 1. Juli 2012 trat mit Art. 124 ein Gesetz in Kraft, welches sich explizit auf die weibliche Genitalverstümmelung bezieht. Anhin galt bei der weiblichen Genitalverstümmelung der Tatbestand einer einfachen oder schweren Körperverletzung, welcher in Art. 123 StGB, beziehungsweise 122 StGB, geregelt ist. Weibliche Genitalverstümmelung wurde also, je nach Schweregrad des Eingriffes, unterschiedlich beurteilt (Murer Mikolásek & Jositsch, 2011, S. 1284). Entweder nach Art. 123 StGB als Vergehen oder nach Art. 122 StGB als Verbrechen. Dies hatte sowohl einen Einfluss auf die Dauer der Maximalstrafe, die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen, auf die Einwilligung in den Eingriff und die Verjährung. Auch wird eine einfache Körperverletzung nur auf Antrag hin verfolgt, wobei es sich bei einer schweren Körperverletzung um ein Offizialdelikt handelt (Murer Mikolásek & Jositsch, 2011, S. 1284). Diese Rechtslage war einerseits problematisch, da dadurch für die Klärung des Sachverhalts detaillierte und zugleich unwürdige Untersuchungen im Intimbereich notwendig waren, andererseits borg sie die Gefahr, mildere Formen durch den Tatbestand einer einfachen Körperverletzung zu verharmlosen und konnte dem Umstand nicht gerecht werden, dass jede Art der weiblichen Genitalbeschneidung eine grobe Verletzung der Menschenrechte darstellt. Umso notwendiger wurde eine klare Gesetzgebung, welche unabhängig von den Umständen des Einzelfalles sämtliche weibliche Genitalverstümmelungen als Verbrechen einstuft (Murer Mikolásek & Jositsch, 2011, S. 1284). Art. 124 StGB bezieht sich deshalb explizit auf die „Verstümmelung weiblicher Genitalien“. Art. 124 Abs. 1 StGB lautet folgendermassen: „Wer die Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, in ihrer natürlichen Funktion erheblich und dauerhaft beeinträchtigt oder sie in anderer Weise schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe nicht unter 180 Tagessätzen bestraft“. Art. 124 Abs. 2 StGB nimmt sich der Problematik an, dass viele Beschneidungen im Ausland durchgeführt werden. Laut Art. 124 Abs. 2 StGB werden nämlich auch Personen bestraft, die die „Tat im Ausland begehen, sich in der Schweiz befinden und nicht ausgeliefert werden“. Durch Art. 124 StGB fallen sämtliche Formen der weiblichen Genitalverstümmelung unter denselben Tatbestand, werden als Verbrechen angesehen und gelten als Offizialdelikte. Die Verjährung beträgt in Art. 124 StGB, wie bei einer schweren Körperverletzung nach Art. 122 StGB, 15 Jahre. Wenn ein Mädchen unter 15 Jahren beschnitten wird, kommt ein besonderer Schutz zur Anwendung und die Verjährung dauert mindestens bis zum 25. Lebensjahr der Betroffenen (Murer Mikolásek & Jositsch, 35 2011, S. 1284). Art. 124 StGB ermöglicht eine konsequente Bekämpfung der weiblichen Genitalverstümmelung und betont das schreckliche Ausmass dieser Praxis, indem alle Beschädigungen an den weiblichen Genitalien unter denselben Tatbestand fallen. Besonders wichtig ist, dass durch Art. 124 Abs. 2 StGB auch Beschneidungen, die im Ausland praktiziert werden, einbezogen werden. 4.7 Fazit An dieser Stelle sollen nochmals die wichtigsten Fakten zur weiblichen Genitalverstümmelung zusammengefasst und abschliessend ein Fazit in Bezug auf das Kindeswohl gezogen werden. Unabhängig von einer bestimmten Religionszugehörigkeit sind auf der ganzen Welt zwischen 100 und 150 Millionen Mädchen und Frauen beschnitten. Zwar ist die weibliche Genitalverstümmelung vor allem in afrikanischen und einigen asiatischen Ländern verbreitet, doch durch die Zuwanderung sind zunehmend Europa, Nordamerika und Australien direkt betroffen. In der Schweiz sind schätzungsweise 10‘700 Mädchen und Frauen genital beschnitten oder davon bedroht. Die WHO nennt vier Typen der Genitalverstümmelung. Diese gehen vom Einschneiden der Klitoris als mildeste Form bis zur Infibulation, bei welcher die Klitoris sowie die kleinen und grossen Schamlippen entfernt werden. Tradition gilt als eine der Begründungen der weiblichen Genitalverstümmelung. Weitere Begründungen liegen in der angeblichen Steigerung der Fruchtbarkeit und der Heiratsfähigkeit. Durch die weibliche Genitalverstümmelung sollen die Frauen jungfräulich in die Ehe gehen und in der Ehe treu bleiben. Bei manchen Völkern gelten die weiblichen Genitalien als hässlich und unrein. Festzuhalten ist, dass die weibliche Genitalverstümmelung als Ausdruck für die Ungleichheit und Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern steht. Die Genitalbeschneidung bedeutet für die betroffenen Mädchen und Frauen starke Schmerzen, Infektionen, Verletzungen des angrenzenden Gewebes, eine qualvolle Menstruation sowie Gefahr für Mutter und Kind bei der Geburt. Durch die Genitalverstümmelung wird die Persönlichkeit der Mädchen und Frauen verletzt, ähnlich wie eine Vergewaltigung oder Folter löst sie in vielen Fällen Angstreaktionen, Depressionen, Vertrauensverlust und ein Trauma aus. Ebenso wird oftmals die sexuelle Empfindungsfähigkeit eingeschränkt, der Geschlechtsverkehr kann schmerzhaft sein und zu Verletzungen der Vulva und des umliegenden Gewebes führen. Zudem wird die Entwicklung 36 der gesamten Gesellschaft durch eine erhöhte Mütter- und Kindersterblichkeit, Unfruchtbarkeit, Krankheit und Arbeitsunfähigkeit eingeschränkt. Die Auseinandersetzung mit Rechtsquellen auf internationaler Ebene verdeutlicht, dass die weibliche Genitalverstümmelung eindeutig eine Menschenrechtsverletzung ist. Sie verstösst gegen diverse Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Kinderrechtskonvention, des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die weibliche Genitalverstümmelung gefährdet das Leben, Sicherheit, die Gesundheit und das Wohlergehen von Mädchen und Frauen und ist als grausame und unmenschliche Behandlung einzustufen. Durch die weibliche Genitalbeschneidung wird die Entwicklung von Mädchen behindert sowie ihr Recht auf Meinungsbildung und Schutz vor Gewaltanwendung missachtet. Dieser Tatsache wird Art. 124 StGB gerecht, wodurch der weiblichen Genitalverstümmelung im Schweizerischen Gesetz ein expliziter Artikel zukommt. Dadurch wird weibliche Genitalverstümmelung in jedem Fall als Verbrechen bestimmt und mit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder einer hohen Geldstrafe belangt. Der Artikel kann auch dann angewendet werden, wenn der Eingriff im Ausland von in der Schweiz wohnhaften Personen begangen wird. Abschliessend soll ein Blick auf die Definitionen des Begriffs „Kindeswohl“ (vgl. Kapitel 2.2) geworfen werden. Demnach wird das Kindeswohl als Inbegriff aller begünstigenden Lebensumstände verstanden, welche auf eine gute und gesunde Entwicklung des Kindes ausgerichtet sind. Dabei muss das Handeln am Wohl des Kindes sowie seinen Grundrechten und Grundbedürfnissen orientieren. Die weibliche Genitalverstümmelung behindert in jeglicher Hinsicht eine gute und gesunde Entwicklung eines Mädchens, missachtet seine Grundrechte sowie Grundbedürfnisse und ist in keinster Weise mit dessen Wohl zu vereinbaren. Mädchen auf der ganzen Welt müssen vor dieser grausamen und brutalen Praxis geschützt werden. Notwendig sind deshalb einerseits eine eindeutige und konsequente Gesetzeslage und andererseits weit verbreitete Aufklärungskampagnen und die Stärkung der Frauen, um dieses auf Ungleichheit und Machtverhältnissen beruhende Verbrechen zu bekämpfen. 37 5. Männliche Beschneidung Im Gegensatz zur weiblichen Genitalverstümmelung ist die Diskussion über die Knabenbeschneidung relativ neu. Eine mögliche Begründung dafür ist sicherlich die weitverbreitete Annahme, dass die meisten Beschneidung bei Jungen in Form eines medizinischen Eingriffes und unter klinisch sicheren und hygienischen Bedingungen praktiziert werden. Eine weitere Erklärung ist, dass die männliche Beschneidung eng mit der islamischen und jüdischen Religion verknüpft ist. Eine Kritik an der Praxis der Knabenbeschneidung wird deshalb wohl häufig als Eingriff in die Religionsfreiheit von Menschen wahrgenommen und man übt sich eher in Zurückhaltung. In der vorliegenden Diplomarbeit wird jedoch genau diese Art von Beschneidung thematisiert. Wenn von Knabenbeschneidung die Rede ist, sind Eingriffe aus medizinischen Gründen ausgeschlossen. Es geht im Folgenden nur um nicht medizinisch indizierte Beschneidungen. Der Aufbau des Kapitels ist identisch zu demjenigen der weiblichen Genitalverstümmelung: In einem ersten Teil werden verschiedene Begriffserklärungen vorgestellt. Anschliessend wird die Verbreitung der männlichen Beschneidung erläutert. Daraufhin werden unterschiedliche Formen und danach die Begründungen vorgestellt. In einem nächsten Teil sollen die Folgen der männlichen Beschneidung sowie die rechtliche Verankerung auf internationaler und nationaler Ebene thematisiert werden. Abgeschlossen wird das Kapitel mit einem Fazit in Bezug auf das Kindeswohl. 5.1 Begriffserklärung Die männliche Beschneidung gilt als eine der ältesten und am häufigsten praktizierten chirurgischen Eingriffe weltweit (Schwander, 2014, S. 6) und meint die totale oder teilweise Entfernung der Vorhaut des Gliedes (Moll, 2014, S. 52). Dabei werden die Begriffe „männliche Beschneidung“, „Knabenbeschneidung“ und „Zirkumzision“ synonym verwendet (Godenzi & Wohlers, 2014, S. 1). Abgeleitet wird „Zirkumzision“ vom lateinischen Begriff „circumcisio“, was so viel wie „Rundumschnitt“ meint (Schlauri & Trechsel, 2004, S. 4). Im Judentum spricht man im Rahmen der Knabenbeschneidung von der „Brit Mila“. Übersetzt bedeutet dies der Bund der Beschneidung (Brämer, 2010, S. 100). Die Juden sprechen absichtlich nicht nur von „Brit“ (Beschneidung) um den dadurch eingegangen Bund zu Gott zu betonen (Brämer, 2010, S. 100). Im Islam wird die Tradition der Beschneidung „chitan“, „khitan“ oder „sünnet“ genannt, was auf Arabisch „Reinheit“ bedeutet (Spielberg, 2012, S. 18). 38 Bei der männlichen Beschneidung kann zwischen der medizinisch indizierten und der rituellen Beschneidung unterschieden werden. Medizinisch notwendig wird eine Beschneidung dann, wenn ein Junge an einer Vorhautverengung (Phimose) leidet (Moll, 2014, S. 52). 5.2 Verbreitung Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass ungefähr 30% der männlichen Weltbevölkerung genital beschnitten sei (World Health Organisation, 2007, S. 1). Dies entspricht schätzungsweise 665 Millionen beschnittene Männer (World Health Organisation, 2007, S. 1). In afrikanischen Ländern, besonders in Nord- und Westafrika, ist die männliche Beschneidung sehr weit verbreitet. In Mosambik sind beispielsweise 60%, in Äthiopien über 70% und in Angola sowie Madagaskar über 80% der Männer beschnitten (World Health Organisation, 2007, S. 1). Laut Drain et al. sowie Hull et al. wird die Beschneidung im Mittleren Osten, in Zentralasien, Bangladesch, Indonesien und Pakistan bei der grossen Mehrheit der männlichen Bevölkerung praktiziert (World Health Organisation, 2007, S. 1). Nach Schätzungen des US Departments of State sind in Indien 120 Millionen Männer beschnitten (World Health Organisation, 2007, S. 1). In den USA werden schätzungsweise 60% der neugeborenen Jungen beschnitten (Hammond, 2003, S. 270). In der Regel wird dieser Eingriff auf Wunsch der Eltern durchgeführt (Hammond, 2003, S. 270). In nahezu keinem Fall wird die Beschneidung hierbei aus medizinischen Gründen praktiziert. Jährlich werden so über 1,5 Millionen männliche Säuglinge in den Vereinigten Staaten von Amerika an der Vorhaut beschnitten (Hammond, 2003, S. 270). Pro Tag bedeutet dies über 3‘300 Beschneidungen bei einem Knaben oder alle 26 Sekunden ein Knabe alleine in den Vereinigten Staaten von Amerika (Hammond, 2003, S. 270). In der Schweiz gibt es zu der Zahl der Beschneidungen derzeit keine offiziellen Angaben. Die bestehende Statistik zur Knabenbeschneidung erfasst nur diejenigen Beschneidungen, welche stationär durchgeführt wurden. Die meisten Beschneidungen werden jedoch ambulant praktiziert (Interpellation Fehr 12.3920, 2012). Der Chefarzt der Kinderchirurgie am Luzerner Kantonsspital spricht im Zusammenhang mit der Vorhautbeschneidung vom am häufigsten durchgeführten Eingriff in der Kinderchirurgie (Neue Zürcher Zeitung, 2012). Am Luzerner Kinderspital seien 2011 275 Jungen beschnitten worden. Bei 28 dieser Jungen wurde der Eingriff aus kulturellen Gründen praktiziert, die restlichen Beschneidungen waren medizinisch indiziert (Neue Zürcher Zeitung, 2012). Im 39 Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen sowie im Zürcher Kinderspital kommt es schätzungsweise auf eine bis zwei kulturelle Beschneidungen monatlich (Tagblatt Online, 2012). In Lausanne werden ungefähr 500-530 Beschneidungen jährlich durchgeführt, wovon etwa 50-100 kulturell bedingt sind (Tribune de Genève, 2012). Diese Zahlen deuten darauf hin, dass vergleichsweise ein kleiner Teil der neugeborenen Jungen in der Schweiz aus medizinisch nicht indizierten Gründen beschnitten wird. Allerdings ist weitgehend unbekannt, wann im Zusammenhang mit der Knabenbeschneidung von einer medizinischen Indikation gesprochen wird (Hiltbrunner & Egbuna-Joss, 2013, S. 2). In manchen Fällen werden auch sogenannte präventive Eingriffe zu den medizinisch indizierten Beschneidungen gezählt (Hiltbrunner & Egbuna-Joss, 2013, S. 2). 5.3 Formen Historisch und bis heute gibt es verschiedene Formen der Genitalbeschneidung oder Genitalverstümmelung bei Männern. So meint die Inzision den Einschnitt der Vorhaut (Hammond, 2003, S. 269). Daneben existiert die Infibulation, bei welcher die Vorhaut zur Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit zugenäht wird (Hammond, 2003, S. 269). Bei der Hemizison handelt es sich um eine Entfernung der Rückseite der Vorhaut und bei der Subinzision um einen Einschnitt der Harnröhre an der Unterseite des Penis (Hammond, 2003, S. 269). Die Superinzision bezieht sich auf das Aufschneiden der Vorhaut, wodurch die Eichel zwar entblösst, die Vorhaut jedoch nicht entfernt wird (Hammond, 2003, S. 269). Wo und in welchem Umfang diese Formen stattfinden, erläutert Hammond jedoch nicht weiter. Genauere Informationen hierzu sind in „Heilige Körperverletzungen“ von Tutsch (2014, S. 20 ff.) zu finden. Demnach wurde den jungen Männern auf manchen pazifischen Inseln und bei den Ureinwohnern Australiens die Harnröhre gespalten und in einigen indonesischen Stämmen wurden Metall- oder Bambusstücke in den Penis eingesetzt (Tutsch, 2014, S. 20)). In vielen Gegenden in Ost- und Südafrika, in Teilen Australiens und Ozeaniens wurde sogar die Entfernung des Hodens praktiziert (Tutsch, 2014, S. 20). Die meisten dieser Rituale sind mittlerweile jedoch, im Gegensatz zur männlichen Beschneidung im Sinne der Vorhautbeschneidung, ausgestorben (Tutsch, 2014, S. 21). In der vorliegenden Arbeit wird lediglich die Zirkumzision thematisiert, welche die komplette oder partielle Entfernung der Penisvorhaut meint. Zwar gibt es weltweit eine Vielzahl von Verfahren, um eine Beschneidung durchzuführen, technisch können jedoch zwei verschiedene Verfahren unterschieden werden: Die chirurgische Zirkumzision und die Zirkumzision mit einem speziell dafür konstruierten Hilfsmittel (Schäfer & Stehr, 2014, S. 113 f.). Bei der chirurgischen Beschneidung werden eventuell vorhandene Verklebungen gelöst und die Vorhaut abgeklemmt. Anschliessend wird mit einem Skalpell oder einer Schere das äussere sowie das innere Blatt der Vorhaut entfernt (Schäfer & Stehr, 2014, S. 113 f.). 40 Zudem wird das Vorhautbändchen durchtrennt. Die dadurch entstandene Blutung wird durch elektrische Verödung gestoppt. Die weitere Blutung der Wundfläche wird üblicherweise mittels Verödung durch Strom vorgenommen (Schäfer & Stehr, 2014, S. 114). Abschliessend werden die Vorhautblätter vernäht und ein Verband angebracht. Die chirurgische Methode kann in jedem Alter angewendet werden (Schäfer & Stehr, 2014, S. 114). Ein Beispiel für eine Beschneidung mit einem speziell dafür angefertigtem Hilfsmittel ist die PlastibellMethode. Dabei wird ein Plastikring unter die Vorhaut geschoben und ein eng anliegender Faden über der Vorhaut verknotet. Dadurch wird die Blutzufuhr gestoppt und die Vorhaut stirbt ab (Schäfer & Stehr, 2014, S. 114). Diese Methode wird vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika im Säuglings- und Neugeborenenalter durchgeführt und findet ohne Narkose statt (Schäfer & Stehr, 2014, S. 115). 5.4 Begründungen Im Gegensatz zur weiblichen Genitalverstümmelung ist die männliche Beschneidung in vielen Fällen religiös bedingt. Vor allem im Judentum sowie im Islam wird die Knabenbeschneidung sehr häufig praktiziert. Im Judentum findet zur Feier der Geburt eines Kindes üblicherweise ein Weihe- oder Dankgottesdienst in einer Synagoge statt (Spielberg, 2012, S. 46). Bei diesem Gottesdient wird der männliche Säugling beschnitten. Normalerweise erfolgt dieses Ritual am achten Tag nach der Geburt des Jungen (Paffenholz, 2011, S. 146). Die Beschneidung muss nicht zwangsläufig in einer Synagoge vollzogen werden und findet heutzutage auch oft in einem Krankenhaus oder bei der Familie zu Hause statt (Paffenholz, 2011, S. 146). Praktiziert wird die Beschneidung von einer männlichen jüdischen Person, welche im Hebräischen „Mohel“ genannt wird (Bräucher, 2003, S. 100). Der Beschneider hat in der Regel medizinische Kenntnisse vorzuweisen. Als Hauptgrund für die Wahl des „Mohels“ gilt jedoch dessen, aufgrund seiner Frömmigkeit, in der Gemeinschaft gewonnenes Vertrauen (Bräucher, 2003, S. 100 f.). Der Eingriff selbst wird relativ schnell ausgeführt, um dem Jungen Schmerzen zu ersparen (Brämer, 2010, S. 101). Dazu hält der Pate den Jungen auf seinem Schoss und der „Mohel“ trennt mit dem Beschneidungsmesser den oberen Teil der Vorhaut ab. Danach legt er die Eichel frei und versorgt die Wunde (Brämer, 2010, S. 101). Anschliessend findet ein festliches Mahl statt, um den freudigen Anlass des Tages zu betonen (Brämer, 2010, S. 101). Die Beschneidung des männlichen Gliedes gilt im Judentum als ältestes Ritual (Brämer, 2010, S. 100). Kollektiv steht sie als Symbol der besonderen Gemeinschaft Israels mit Gott und für das männliche Individuum als Ausdruck der religiösen Zugehörigkeit (Brämer, 2010, S. 100). Im Judentum wird die Zugehörigkeit zu Gott nämlich nicht nur durch die Seele, sondern auch den Körper definiert. Die Beschneidung kann somit als äusseres Merkmal für die Verbindung zu Gott betrachtet werden (Spielberg, 2012, S. 46). Abgeleitet 41 wird die Pflicht der Beschneidung aus dem Genesis 17, 10-14 (Brämer, 2010, S. 100). Darin steht: „Das ist mein Bund, den ihr bewahren sollt, zwischen mir und dir und deinem Samen nach dir: Beschnitten werde bei euch jegliches Männliche. Und ihr sollt beschnitten werden an eurem Gliede der Vorhaut, und das sei zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. […] Und ein vorhäutiger Mann, der sich nicht beschneiden lässt am Gliede seiner Vorhaut, diese Seele werde ausgerottet aus ihrem Volke, meinen Bund hat er gebrochen“ (Brämer, 2010, S. 100). Deshalb spricht man im Judentum, wie bereits erwähnt, nicht nur von „Mila“, der Beschneidung, sondern von „Brit Mila“, dem Bund der Beschneidung (Brämer, 2010, S. 100). Hygienische oder medizinische Erklärungen für die Knabenbeschneidung werden im Judentum nicht angeführt (Paffenholz, 2011, S. 148). Die Tatsache, dass jüdische Familien in Zeiten religiöser Verfolgung grosse Gefahren auf sich genommen haben, um ihre männlichen Nachkommen beschneiden zu lassen, zeigt den Stellenwert der Knabenbeschneidung im Judentum (Brämer, 2010, S. 101). Und trotz radikaler Religionsreformer, welche im 19. Jahrhundert die Beschneidung als unzeitgemässes Ritual bezeichneten, wurde sie bis heute bewahrt (Brämer, 2010, S. 101). Selbst moderne Juden sprechen sich für die Beschneidung aus. Für sie hat die Beschneidung zwar keine religiöse Bedeutung mehr, dient jedoch weiterhin als äusseres Merkmal der männlich-jüdischen Identität (Brämer, 2010, S. 101). Im Gegensatz zur jüdischen Tora wird die Knabenbeschneidung im Koran nicht explizit erwähnt. Sie wurde bereits vor dem Islam praktiziert und von den Muslimen übernommen. Allerdings wurde die Beschneidung im Rahmen der Sunna überliefert (Weiss, 2003, S. 56). Als mündliche Überlieferung vom Leben, Wirken und den Aussprüchen des Propheten Mohammed ist die Sunna für viele Muslime die zweite Glaubensquelle nach dem Koran (Weiss, 2003, S. 175). Dadurch hat die Beschneidung im Islam einen sehr hohen Stellenwart und kann sogar als bedeutsamste Zeremonie im Laufe der Kindheit betrachtet werden (Weiss, 2003, S. 56). In der Praxis wird sie von den Muslimen als unverzichtbares Ritual der Reinigung und Initiation angesehen. Zudem steht sie, analog zur Beschneidung im Judentum, als unauslöschliches Symbol der Religionszugehörigkeit (Weiss, 2003, S. 56). Anders als im Judentum ist der Zeitpunkt der Knabenbeschneidung im Islam allerdings sehr schwankend (Weiss, 2003, S. 56). In vielen Fällen findet sie zwischen dem siebten und dem vierzigsten Tag nach der Geburt eines Jungen statt, oft aber auch im siebten Lebensjahr. Manchmal findet die Beschneidung erst zu Beginn der Geschlechtsreife statt (Weiss, 2003, S. 56). Die dazugehörige Zeremonie wird je nach Land sehr unterschiedlich gehandhabt. Weit verbreitet ist allerdings der Brauch, den Jungen am Vorabend der Beschneidung in ein prachtvolles Gewand zu kleiden und ihn feierlich durch die Strassen des Dorfes zu führen (Weiss, 2003, S. 56). Zudem wird der Knabe üblicherweise reichlich beschenkt und zu 42 seinen Ehren ein Festessen veranstaltet, um ihn für das Erdulden der schmerzhaften Prozedur zu belohnen (Weiss, 2003, S. 56). Neben religiösen Motiven wird die Knabenbeschneidung häufig mit hygienischen Vorteilen begründet. Eine effektive Genitalhygiene ist heutzutage jedoch auch ohne eine Entfernung der Vorhaut problemlos möglich (Franz, 2014, S. 155). Oft genannt werden zudem gesundheitliche Vorteile der männlichen Bescheidung. Diese werden besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika bis heute angeführt. Zwischen 1900 und 1935 veröffentlichten Ärzte immer wieder Berichte, wonach die Beschneidung eines Mannes seine sexuelle Leistungsfähigkeit und Kontrolle steigern und Syphilis eindämmen würde (Denniston et al., 2009, S. 6 f.). Der Arzt John Harvey Kellogg setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Verbreitung der Knabenbeschneidung in den Vereinigten Staaten von Amerika ein. Begründet wurde diese Massnahme mit sexualhygienischen Argumenten (Franz, 2014, S. 155). Für Kellogg diente die Beschneidung jedoch auch als effektives Mittel zur Verhinderung der Masturbation. Denn Kellogg vertrat die Meinung, dass Masturbation als Ursache für zahlreiche Krankheiten verantwortlich wäre. Somit empfahl er die Beschneidung von Knaben ohne Schmerzbetäubung (Franz, 2014, S. 155). Auch heutzutage werden immer wieder Studien zu den gesundheitlichen Folgen der Beschneidung veröffentlicht. Die Zahlen und Ergebnisse diesbezüglich sind jedoch sehr unterschiedlich und widersprüchlich. Laut einer Studie der American Academy of Pediatrics (AAP) sollen beschnittene Jungen drei- bis zehnmal weniger an Harnwegsinfekten leiden als unbeschnittene Jungen (Kupferschmied, 2014, S. 96). Wenn man jedoch die Zahlen der möglichen Komplikationen Harnwegsinfekten einer vergleicht, Beschneidung lässt sich mit festhalten, denjenigen der verhinderten dass eine verhinderte auf Harnwegsinfektion 2,2 Komplikationen im Zusammenhang mit einer Beschneidung kommen (Kupferschmied, 2014, S. 96). Auch wird in der Studie nicht zwischen dem Nutzen der Beschneidung in Bezug auf die Prävention von Harnwegsinfektionen gegenüber der Möglichkeit abgewogen, die Harnwegsinfektionen mit Antibiotika zu behandeln (Kupferschmied, 2014, S. 97). Weitere Studien gehen davon aus, dass durch die Genitalbeschneidung bei Männern das Risiko für Chlamydieninfektionen, Gonorrhoe (Tripper), Infektionen mit Herpes-Simplex-Viren (HSV) und Humanen Papillomviren (HPV) verringert werden kann. HPV verursachen neben Feig- und Genitalwarzen vor allem den Gebärmutterhalskrebs bei Frauen (Schäfer & Stehr, 2014, S. 119). Für die Übertragung von Syphilis im Zusammenhang mit der männlichen Beschneidung existieren widersprüchliche Daten. Zwar haben unbeschnittene Männer womöglich ein erhöhtes Risiko, an Syphilis zu erkranken, doch auch in diesem 43 Zusammenhang ist die Studienlage nicht eindeutig (Schäfer & Stehr, 2014, S. 119). Bei Gonorrhoe und Chlamydieninfektionen scheint die Ansteckungsgefahr bei unbeschnittenen Männern allerdings sogar niedriger zu sein (Schäfer & Stehr, 2014, S. 119). Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation spricht von einer Reduktion der HIV-Ansteckungsgefahr bei beschnittenen Männern von ungefähr 60% und empfiehlt in Gebieten mit hohen HIVAnsteckungen die Genitalbeschneidung von Männern als HIV-Prävention (World Health Organisation, 2012). Diese Empfehlung der WHO bezieht sich allerdings nur auf erwachsene Männer im Zusammenspiel mit anderen präventiven Massnahmen, insbesondere der Verwendung von Kondomen (Schäfer & Stehr, 2014, S. 119). Somit gibt es keinerlei Hinweise auf einen Nutzen präventiver Beschneidungen im Zusammenhang mit HIV in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Australien oder in Europa, wo das Infektionsrisiko wesentlich geringer ist (Schäfer & Stehr, 2014, S. 119 f.). Grundsätzlich ist zu betonen, dass eine präventive Massnahme eine schwere Erkrankung sicher verhindern und ihr Nutzen in einem positiven Verhältnis zu ihren Nebenwirkungen stehen muss. Sie ist zudem nur dann sinnvoll, wenn es keine milderen Methoden gibt, um dasselbe Ziel zu erreichen (Schäfer & Stehr, 2014, S. 118 f.). 5.5 Folgen Im vorherigen Kapitel (5.4) wurden die unterschiedlichen Begründungen zur männlichen Beschneidung thematisiert. Dabei wurden religiöse sowie hygienische und gesundheitliche Begründungen genannt. Abschliessend wurde erwähnt, dass bei präventiven Massnahmen der Nutzen in einem positiven Verhältnis zu den Nebenwirkungen stehen muss. Im folgenden Kapitel sollen nun sowohl der Nutzen als auch die negativen Folgen der Beschneidungen dargestellt werden. Dabei wird zwischen den physischen, psychischen und sexuellen Folgen sowie den Auswirkungen auf die Gesundheit der Frau unterschieden. Gerade bei den physischen Folgen werden gewisse Aspekte, welche bereits bei den Begründungen erwähnt wurden, erneut kurz angeschnitten. 5.5.1 Physische Folgen Grundlegend ist zu betonen, dass die männlichen und weiblichen Genitalien aus demselben embryonalen Gewebe entstehen und einige anatomische Gemeinsamkeiten haben. Diese Tatsache wird oftmals in der Beschneidungsdebatte nicht in Betracht gezogen (Hammond, 2003, S. 276). Somit dient die Vorhaut als Schutz der Eichel in Form eines inneren Organes. Die Vorhaut ist also in keiner Weise eine verkümmerte oder überflüssige Haut (Hammond, 2003, S. 276). Im August 2013 wurde eine dänische Studie veröffentlicht, welche im Zusammenhang mit der Zirkumzision von einer Komplikationsrate von 5.1% spricht (Von Loewenich, 2014, S. 76 44 f.). Die Komplikationen können von ästhetisch unbefriedigenden Ergebnissen bis hin zu einem Penisverlust gehen oder sogar zum Tod des Jungen führen (Hammond, 2003, S. 270). In einer Studie der NOHARMM (National Organization to Halt the Abuse and Routine Mutilation of Males) im Jahr 2001 wurden beschnittene Männer zu den Folgen ihrer Beschneidung befragt. Dabei waren bei 33 Prozent sichtbare Narben vorhanden und 27 Prozent litten an Erektionsproblemen, da sie durch die fehlende Vorhaut nicht über ausreichend Haut für eine problemlose Erektion verfügen (Hammond, 2003, S. 277). 16 Prozent der befragten Männer gaben eine Biegung des Gliedes an, da die Haut ungleichmässig weggeschnitten wurde. Weitere 17 Prozent hatten Schmerzen und Blutungen bei einer Erektion oder Berührung (Hammond, 2003, S. 277). 20 Prozent klagten über sonstige Probleme wie Deformation der Eichel oder wiederkehrende unspezifische Harnröhrenentzündungen (Hammond, 2003, S. 277). Eine Beschneidung verursacht erhebliche Schmerzen. Heutzutage gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass auch Neugeborene und kleine Säuglinge Schmerzen empfinden (Kupferschmied, 2014, S.98). Dennoch wurden und werden zahllose Neugeborene, vor allem in Religionsgemeinschaften, ohne Betäubung beschnitten (Von Loewenich, 2014, S. 99). Nach neuster Anschauung ist eine Vollnarkose die beste Art der Schmerzbekämpfung, dies bedeutet allerdings, dass man mit dem Eingriff warten sollte, bis ein Kind älter ist (Von Loewenich, 2014, S. 101). Nicht nur der Eingriff selbst, sondern auch die Tage nach der Prozedur, vor allem der dritte postoperative Tag, sind schmerzhaft (Von Loewenich, S. 77). Unschlüssig ist man sich darüber, welche Funktion die männliche Beschneidung bei der Prävention in Bezug auf sexuell übertragbare Krankheiten hat (vgl. Kapitel 5.4). Aus medizinischer Sicht kann einer Routinebeschneidung jedoch kein präventiver Charakter zugesprochen werden (Schäfer & Stehr, 2014, S. 120). Für alle sexuell übertragbaren Krankheiten gibt es präventive Massnahmen, die deutlich einfacher und sicherer sind. Dazu gehören die Benutzung von Kondomen und die Impfung zur Vermeidung der HPV-Infektion (Schäfer & Stehr, 2014, S. 120 f.). Vor allem aber ist es nicht notwendig, die Beschneidung zur Vorbeugung von sexuell übertragbaren Krankheiten in einem Alter durchzuführen, in dem der Junge noch nicht sexuell aktiv ist und noch nicht selbst über die von ihm bevorzugte Art der Prävention bestimmen kann (Schäfer & Stehr, 2014, S. 121). Zu den Todesfällen im Zusammenhang mit einer Beschneidung gibt es keine verlässlichen Zahlen (Schäfer & Stehr, 2014, S. 117). Gerade in Ländern mit mangelhafter medizinischer Versorgung und Beschneidungen unter schlechten hygienischen Bedingungen häufen sich Berichte über Todesfälle (Schäfer & Stehr, 2014, S. 117 f.). Aus Europa oder den 45 Vereinigten Staaten von Amerika liegen allerdings keine Daten vor. Es bleibt festzustellen, dass in Bezug auf die Todesfälle durch Beschneidungen eine grosse Unsicherheit besteht. Dennoch kann es auch unter optimalen medizinischen Bedingungen zu Todesfällen kommen (Schäfer & Stehr, 2014, S. 118). 5.5.2 Psychische Folgen Im Kindesalter beschnittene Männer sind oftmals nicht über die Funktionen der Vorhaut oder die Folgen der Beschneidung informiert (Hammond, 2003, S. 280). Problematisch ist einerseits, dass diese Männer häufig gar nicht wissen, wie ein unbeschnittener Penis aussieht und sich andererseits nicht erkundigen, da der Ausdruck von Gefühlen ein kulturelles Tabu ist. Dadurch sind viele Betroffene gehemmt, Fragen zum Thema Penis zu stellen oder intime Details preiszugeben, die ihre Männlichkeit anzweifeln könnten (Hammond, 2003, S. 280). Sobald beschnittene Jungen oder Männer jedoch realisieren, dass ihnen ein Teil ihres Körpers entfernt wurde, kann dies Trauer über den Verlust des Körperbildes und/oder die Funktion auslösen (Hammond, 2003, S. 280). Manche Betroffene leiden auch an Angststörungen, Depressionen und sexuellen Problemen (Hammond, 2003, S. 280). Entwicklungs- und Neuropsychologen sind überzeugt davon, dass eine aussergewöhnliche Belastung durch Stresshormone psychobiologische Folgen hat und zu einer Veränderung der Entwicklung und Funktion des Gehirns führen kann. Eine Säuglingsbeschneidung ist durchaus als eine solche aussergewöhnliche Belastung einzustufen (Hammond, 2003, S. 279). Ähnlich wie beschnittene Mädchen können nämlich auch beschnittene Jungen an einer Art Trauma leiden. In vielen Fällen wird demzufolge die Tatsache, dass eine Beschneidung schädlich ist, geleugnet (Hammond, 2003, S. 282). Einige beschnittene Männer reagieren skeptisch auf die Aussagen anderer beschnittener Männer, welche im Zusammenhang mit ihrer Beschneidung von schädlichen Auswirkungen sprechen. Ein Grossteil der Betroffenen weist Gespräche über die Beschneidung grundsätzlich zurück, andere reden nur scherzhaft darüber. Manche Männer spielen den Eingriff herunter und einige werden wütend, wenn jemand die männliche Beschneidung kritisiert (Hammond, 2003, S. 282). 5.5.3 Sexuelle Folgen Die Aufgabe der Vorhaut besteht in der Erhaltung der sexuellen Sensibilität der Eichel sowie der Lieferung der nötigen Haut für eine vollständige und angenehme Erektion (Hammond, 2003, S. 276). Zudem fängt die Vorhaut die natürliche Gleitflüssigkeit des männlichen Gliedes auf und verteilt diese beim Zurückziehen über die Eichel. Dadurch wird die Reibung während des Geschlechtsverkehrs verringert. Bei einem beschnittenen Penis können diese Funktionen nicht mehr erfüllt werden (Hammond, 2003, S. 276). Zudem hat die Vorhaut eine 46 entscheidende Bedeutung für die Empfindsamkeit eines Penis, da wichtige Nerven in der Vorhaut eines Mannes verlaufen (Hammond, 2003, S. 277). Bei einer korrekt durchgeführten Beschneidung werden bis zu 50 Prozent der sich am Penis befindlichen Haut weggeschnitten. Die Entfernung der Vorhaut hat einen spürbaren Sensibilitätsverlust zur Folge (Schäfer & Stehr, 2014, S. 116) In der Studie von NOHARMM aus dem Jahre 2001 fand das erste Mal eine Befragung von Männern über die Folgen ihrer Beschneidung auf ihr Lustempfinden und ihr sexuelles Wohlbefinden statt. Beschnittene Männer gaben im Vergleich zu unbeschnittenen Männern eine grössere Unzufriedenheit ihres Orgasmus an (Hammond, 2003, S. 278). Als Auswirkungen wurden bei 61 Prozent der Männer fortschreitende sensorische Defizite in der verbleibenden Vorhaut und der Eichel, eine sexuelle Dysfunktion im Sinne von Ejakulationsschwierigkeiten und Erektionsproblemen sowie Orgasmusprobleme genannt. 40 Prozent gaben diesbezüglich zur Kenntnis, dass ein Orgasmus nur mit einer „über das Mass hinausgehenden Stimulation“ möglich wäre (Hammond, 2003, S. 278). Ein Grossteil der Befragten empfand die Stimulation durch den vaginalen Verkehr als unzureichend. Das Fehlen von hochsensiblen Rezeptoren und der Verlust der erogenen Beweglichkeit der Vorhaut erfordern oft eine übermässig intensive Stimulation der verbleibenden Penisnervenenden um Lust und einen Orgasmus zu erreichen (Hammond, 2003, S. 278). Denn dadurch, dass die Vorhaut die Eichel nicht mehr schützt, ist diese ständig freigelegt. Dies führt oftmals zu einer Verhornung der Eichel, was wiederum eine Densibilisierung zur Folge hat (Hammond, 2003, S. 278). 5.5.4 Auswirkungen auf die Gesundheit der Frau Bei einem unbeschnittenen Penis wird die Reibung durch die Produktion der eigenen Gleitflüssigkeit reduziert. Durch einen trockenen, beschnittenen Penis kann es beim Geschlechtsverkehr zu Hautschürfungen, Schmerzen und Blutungen in der Vagina kommen (Hammond, 2003, S. 282). Wenn eine Frau älter wird, stellt sie weniger Vaginalflüssigkeit her, somit wird der Nutzen der Vorhaut gerade mit zunehmendem Alter wichtiger (Hammond, 2003, S. 282). Beim Geschlechtsverkehr gleitet der Schaft eines unbeschnittenen Penis in seiner beweglichen Hautummantelung, diese wird durch die Muskeln der Vagina fixiert. Die Frau wird beim Geschlechtsverkehr nicht nur durch Reibung stimuliert, sondern auch durch Bewegungsdruck. Wenn die Vorhaut eines Mannes fehlt, kommt es beim Geschlechtsverkehr jedoch oft nur zu einer Reibung (Hammond, 2003, S. 282). Viele beschnittene Männer neigen zu schnellen und übertriebenen Stossbewegungen beim Geschlechtsakt um die Desensibilisierung ihrer Eichel zu kompensieren. Durch die 47 Trockenheit der Genitalien der Männer oder ihrer Partnerin kann dies zu abgeriebener Haut, Schmerzen oder Blutungen führen. Aufgrund dieser Faktoren kann die sexuelle Befriedigung beider Partner vermindert werden (Hammond, 2003, S. 279). Die möglichen psychischen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit einer Beschneidung können zudem die Intimität in der Partnerschaft vermindern (Hammond, 2003, S. 283). All diese Folgen auf unterschiedlichen Ebenen zeigen, dass die männliche Beschneidung keineswegs ein kleiner und harmloser Eingriff ist. Zwar kann die Beschneidung in vielen Fällen unkompliziert durchgeführt werden und allenfalls kaum negative Auswirkungen mit sich ziehen, doch sollte man sich der Vielzahl dieser potentiellen Risiken bei der Diskussion um die männliche Beschneidung bewusst sein. 5.6 Rechtliche Verankerung Im Zusammenhang mit der männlichen Beschneidung spielen sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene diverse Gesetzesartikel eine zentrale Rolle. Auf internationaler Ebene sind einerseits die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Kinderrechtskonvention, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie die Europäische Menschenrechtskonvention von Interesse und andererseits das Kölner Urteil vom Mai 2012, welches eine grosse Debatte und kurzzeitig einen Einfluss auf die Beschneidungssituation in der Schweiz auslöste. Auf nationaler Rechtsebene finden sich bedeutende Artikel in der Bundesverfassung, im Zivilgesetzbuch und im Strafgesetzbuch. All diese Rechtsquellen sollen nun vorgestellt und diskutiert werden. 5.6.1 Internationale Ebene Laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist das Privatleben und die Familie vor willkürlichen Eingriffen zu schützen (Art. 12), die Familie als grundlegende Einheit der Gesellschaft mit einem Schutzanspruch zu sehen (Art. 16 Abs. 3) und die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und damit die Ausübung einer Religion zu achten (Art. 18). Mit den Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kann eher dafür plädiert werden, die Entscheidung über die Knabenbeschneidung den Eltern zu überlassen und sie somit als Familie vor staatlichen Eingriffen zu schützen und bei religiösen Beschneidungen die Ausübung ihrer Religion zu gewähren. Nochmals zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte rechtlich nicht verbindlich ist. Die Kinderrechtskonvention bestimmt, dass bei allen Massnahmen, die ein Kind betreffen, das Kindeswohl vorrangig zu behandeln sei (Art. 3 Abs. 1). Entscheidend ist bei Art. 3 Abs. 1 KRK, welche Aspekte des Kindeswohls prioritär betrachtet werden. Ein entscheidender 48 Unterschied ergibt sich hier beispielsweise je nachdem, ob die kulturelle und religiöse Zugehörigkeit oder die körperliche Unversehrtheit eines Kindes höher gewichtet werden. Die Eltern sind verpflichtet, das Kind bei der Ausübung seiner Rechte zu leiten und zu führen (Art. 5). Der Artikel kann jedoch ebenfalls unterschiedlich ausgelegt werden, abhängig davon, auf welches Recht des Kindes er bezogen wird. Wenn damit die freie Meinungsbildung und Äusserung des Kindes in allen Angelegenheit, in welchen das Kind berührt wird (Art. 12 Abs. 1 KRK), gemeint ist, würde dies eher gegen die Entscheidung der Eltern betreffend der Knabenbeschneidung sprechen. Wenn es sich damit allerdings auf das Recht der Religionsfreiheit des Kindes (Art. 14 Abs. 1) bezieht, könnte argumentiert werden, dass die Eltern anstelle des Jungen in die Beschneidung einwilligen können. Art. 6 Abs. 2 KRK fordert von den Vertragsstaaten Gewährleistung des Überlebens in grösstmöglichen Umfang. Dies würde eher gegen die Knabenbeschneidung sprechen, da diese, wenn auch in sehr seltenen Fällen, das Überleben eines Jungen gefährden können. Gerade in Ländern, in denen die Beschneidungen jedoch unter unhygienischen Bedingungen durchgeführt werden, kann Art. 6 Abs. 2 KRK im Zusammenhang mit der Knabenbeschneidung aufgeführt werden. Das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 14 Abs. 1) und die Achtung der damit verbundenen elterlichen Leitung bei der Ausübung (Art. 14 Abs. 2) würde wieder eher dafür sprechen, dass die Knabenbeschneidung aus religiösen Gründen praktiziert werden darf. Das Wohl des Kindes als Grundanliegen der Eltern (Art. 18 Abs. 1) kann, wie bei Art. 3 Abs. 1 KRK, je nach vorrangigen Aspekten des Kindeswohls, unterschiedlich ausgelegt werden. In Art. 19 KRK wird allerdings festgelegt, dass die Vertragsstaaten alle Massnahmen zu treffen haben, um das Kind vor jeder Form von körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung und Schadenszufügung zu schützen. Wie den Kapiteln 5.5.1 und 5.5.2 über die physischen und psychischen Folgen zu entnehmen ist, kann es bei der Knabenbeschneidung zumindest zu einer Schadenszufügung kommen. Art. 24 Abs. 1 KRK fordert das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmass an Gesundheit. Die Knabenbeschneidung aus medizinisch nicht indizierten Gründen kann jedoch die Gesundheit eines Jungen schädigen und, wenn auch in wenigen Fällen, zu dessen Tode führen. Dies wiederum würde gegen Art. 24 Abs. 2 KRK verstossen, wonach die Vertragsstaaten geeignete Massnahmen treffen müssen, um die Säuglings- und Kindersterblichkeit zu verringern. Relevant ist möglicherweise auch Art. 24 Abs. 3 KRK, wonach die Vertragsstaaten alle wirksamen und geeigneten Massnahmen treffen müssen, um überlieferte und für die Gesundheit des Kindes schädliche Bräuche abzuschaffen. Denn je nach Folgen des Eingriffes handelt es sich bei der Knabenbeschneidung um einen Brauch, der für die Gesundheit des Kindes schädlich sein kann. 49 Die Artikel der Kinderrechtskonvention stellen die Gesundheit und Mitbestimmung des Jungen in den Mittelpunkt und können damit eher als Argumente gegen ein Recht der Eltern über die Beschneidung ihres Sohnes gesehen werden. Einzig das Recht auf Religionsfreiheit und die Gewichtung des Kindeswohls können, je nach Auslegung, als Argumente für Einwilligung der Eltern in die Knabenbeschneidung ihres Sohnes herangezogen werden. Im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte wird die Familie als natürliche Kernzelle der Gesellschaft beschrieben und ihr besonderer Schutz durch die Gesellschaft und den Staat festgehalten (Art. 23 Abs. 1). Dieser Artikel spricht sich dafür aus, dass die Eltern wichtige Entscheidungen für ihr Kind übernehmen können und sich der Staat mit Eingriffen zurückhält. Dem gegenübergestellt werden kann Art. 24 Abs. 1 IPbpR, wonach ein Kind das Recht auf Schutzmassnahmen durch Familie, Gesellschaft und Staat hat. Hiermit könnte argumentiert werden, dass der Staat einen Jungen vor der Beschneidung zu schützen hat und dieser Aspekt gegenüber dem Schutz der Familie vor staatlichen Eingriffen überwiegt. Die Europäische Menschenrechtskonvention achtet sowohl das Recht auf Privat- und Familienleben (Art. 8) sowie auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9). Beide Artikel tendieren zu der Entscheidungskompetenz der Eltern in Bezug auf die Knabenbeschneidung. Allerdings hält Art. 9 Abs. 2 EMRK fest, dass die Religionsfreiheit eingeschränkt werden kann, wenn sie zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Bei der Knabenbeschneidung könnte die Religionsfreiheit der Eltern also zum Schutz der Unversehrtheit ihres Sohnes eingeschränkt werden. Diese verschiedenen Rechtsquellen zeigen auf, wie komplex und vielschichtige die Diskussion um die Knabenbeschneidung ist. Manche Artikel sprechen sich für den Schutz der Familie vor staatlichen Eingriffen aus oder betonen das Recht auf Religionsfreiheit, andere sprechen sich für den grösstmöglichen gesundheitlichen Schutz eines Kindes sowie dessen Mitbestimmung bei Angelegenheiten, die das Kind betreffen, aus. Je nach Auslegung und Priorisierung der Artikel können sehr unterschiedliche Schlüsse in Bezug auf die Knabenbeschneidung getroffen werden. Im Urteil des Landesgerichts Köln vom Mai 2012 und der nachfolgenden gesetzlichen Regelung wird diese Problematik wiederspiegelt. In diesem Urteil vom 7. Mai 2012 wurde nämlich beschlossen, dass die religiös motivierte Beschneidung eines vierjährigen Jungen, welche im Krankenhaus durchgeführt und von den sorgeberechtigten Eltern zugestimmt wurde, nach deutschem Strafgesetzbuch als eine rechtswidrige Körperverletzung 50 einzustufen sei (Schwander, 2014, S. 10). Die Einwilligung der Eltern wurde als nicht beachtenswert angeschaut mit der Begründung, dass die Beschneidung laut Kinderrecht nicht dem Kindeswohl diene. Diese Entscheidung hat für besonderes Aufsehen gesorgt und eine grosse Rechtsunsicherheit ausgelöst (Schwander, 2014, S. 10). Um der verursachten Rechtsunsicherheit entgegenzuhalten, hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung dazu aufgefordert, einen Gesetzesentwurf zu verfassen, welcher die medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässt (Schwander, 2014, S. 10). Im Dezember 2012 ist § 1631d des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) in Kraft getreten. § 1631d Abs. 1 BGB bestimmt: „Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird.“ Dieser Paragraph erlaubt die medizinisch nicht indizierte Beschneidung bei urteilsunfähigen Knaben im Rahmen eines Eingriffes, welcher der ärztlichen Kunst entspricht. Eine Ausnahme bildet der Fall, dass das Kindeswohl, trotz dem Zwecke der Beschneidung, gefährdet ist. § 1631d Abs. 2 BGB lockert den ersten Absatz und regelt: „In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäss Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.“ Demnach muss eine Beschneidung, sofern sie innerhalb von den ersten sechs Monaten praktiziert wird, nicht zwangsläufig von einem Arzt vorgenommen werden. Auch eine Person aus der Religionsgesellschaft darf einen Jungen beschneiden, sofern sie dafür ausgebildet wurde. Der Ausdruck der „vergleichbaren Befähigung“ wird allerdings nicht weiter erläutert und ist somit ebenfalls unklar. Die durch das Urteil vom Landesgericht Köln vorgenommene Priorisierung der Rechte des Kindes gegenüber denjenigen der Eltern wurde durch das Gesetz über den Umfang der Personensorge (§ 1631 d BGB) eliminiert. Die Auseinandersetzung mit den internationalen Rechtsquellen hat gezeigt, dass die Knabenbeschneidung sehr unterschiedlich auszulegen und zu bewerten ist. Mit der gesetzlichen Regelung in § 1631d BGB nimmt der Deutsche Bundestag in der Diskussion um die religiös motivierte Knabenbeschneidung allerdings eine klare Stellung, im Sinne einer Zentrierung des Elternrechts, ein. 5.6.2 Nationale Ebene Das Kölner Urteil vom Mai 2012 ging auch an der Schweiz nicht spurlos vorbei. Im Zürcher Kinderspital wurden für den Zeitraum von drei Wochen keine Knabenbeschneidungen aus religiösen Gründen mehr durchgeführt. Dieser Beschneidungs-Stopp wurde anschliessend jedoch wieder aufgelöst. Im Gegensatz zur weiblichen Genitalbeschneidung ist die 51 Knabenbeschneidung in der Schweiz nicht in einem expliziten Gesetzesartikel geregelt. Es finden sich aber sowohl in der Schweizerischen Bundesverfassung, im Schweizerischen Zivilgesetzbuch als auch im Schweizerischen Strafgesetzbuch Artikel, welche im Zusammenhang mit der Knabenbeschneidung von Bedeutung sind. In der Bundesverfassung ist festgehalten, dass jeder Mensch das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit hat (Art. 10 Abs. 2). Kindern und Jugendlichen wird ein besonderer Schutz zugesprochen (Art. 11 Abs. 1). Es ist also in der Bundesverfassung verankert, dass die Unversehrtheit von Kindern besonders zu schützen ist. Die Knabenbeschneidung stellt einen Eingriff in die körperliche und geistige Unversehrtheit dar. Somit kann mit Art. 11 Abs. 1 BV argumentiert werden, dass Knaben davor zu schützen seien. In der Bundesverfassung ist zudem vorgeschrieben, dass Kinder im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit Rechte ausüben (Art. 11 Abs. 2). Daraus lässt sich ableiten, dass bei einer Beschneidung auf die Urteilsfähigkeit eines Jungen Rücksicht zu nehmen ist. Zugleich schützt die Bundesverfassung aber auch das Familienleben (Art. 13 & 14) sowie die Glaubens- und Gewissenfreiheit (Art. 15 Abs. 1), namentlich die freie Wahl (Art. 15 Abs. 2) und Zugehörigkeit (Art. 15 Abs. 3) einer Religion. Die Bundesverfassung sieht zwar einerseits den expliziten Schutz von Kindern in Bezug auf ihre körperliche und geistige Unversehrtheit vor und betont, dass ihr Urteil, wenn möglich, einzubeziehen sei, gleichzeitig wird die Familie und Religion geschützt. Hier treffen im Zusammenhang mit der Knabenbeschneidung erneut konkurrierende Gesichtspunkte aufeinander. Bei einer Abwägung dieser verschiedenen Gesichtspunkte sprechen allerdings die Betonung der Unversehrtheit und der besondere Schutz von Kindern dafür, dass Eltern nicht in die Beschneidung ihres Sohnes einwilligen können. Gestützt wird dies durch die Achtung der Urteilsfähigkeit eines Kindes. Mehr zur Urteilsfähigkeit von Kindern findet sich im Zivilgesetzbuch. Da es sich bei der Knabenbeschneidung um ein höchstpersönliches Recht handelt, ist Art. 19c ZGB heranzuziehen. Für die Knabenbeschneidung bedeutet Art. 19c ZGB, dass die Eltern für ihren urteilsfähigen Jungen nicht in die Beschneidung einwilligen können und nur der Junge selbst über den Eingriff bestimmen darf (Art. 19c Abs. 1). Bei einem urteilsunfähigen Jungen ist entscheidend, ob die Knabenbeschneidung als relativ oder absolut höchstpersönliches Recht eingestuft wird. Wenn die Beschneidung als relativ höchstpersönliches Recht betrachtet wird, dürfen die Eltern für ihren urteilsunfähigen Sohn in die Beschneidung einwilligen. Wenn die Beschneidung jedoch zu den absolut höchstpersönlichen Rechten gezählt wird, dürfen weder die Eltern noch der urteilsunfähige Junge in den Eingriff einwilligen (Art. 19c Abs. 2). In diesem Fall kann der Junge erst beschnitten werden, wenn er in Bezug auf die Beschneidung urteilsfähig ist und seine Einwilligung gibt. Dass diese 52 Unterscheidung in relativ und absolut höchstpersönliche Rechte nicht ganz eindeutig ist, wurde bereits in Kapitel 2.1 thematisiert. Trotzdem sprechen Gründe, wie Irreversibilität und keine zeitliche Dringlichkeit dafür, die Knabenbeschneidung als absolut höchstpersönliches Recht einzustufen. Durch die im Zivilrecht festgelegte elterliche Sorge (Art. 269 Abs. 1) dürfen Eltern für ihren Sohn notwendige Entscheidungen treffen, bei welchen die Handlungsfähigkeit des Kindes allerdings berücksichtigt werden muss (Art. 301 Abs. 1). Der Sohn schuldet den Eltern zwar Gehorsam, dabei müssen die Eltern jedoch die Meinung des Sohnes einbeziehen (Art. 301 Abs. 2). Daraus lässt sich schliessen, dass bei der Knabenbeschneidung die Meinung des Sohnes einzuholen und zu berücksichtigen ist. Die bisher genannten Artikel des Zivilgesetzbuches legen nahe, dass die Eltern nicht an Stelle ihres Sohnes und ohne dessen Einwilligung der Knabenbeschneidung zustimmen können. Die Bestimmungen zum Kindeswohl (Art. 302 Abs. 1) können dagegen wieder sehr unterschiedlich ausgelegt werden. Darin ist festgehalten, dass die Eltern die körperliche, geistige und sittliche Entfaltung fördern und schützen müssen. Es kann argumentiert werden, dass der Schutz der körperlichen und geistigen Entfaltung sich auf die Unversehrtheit des Jungen bezieht, welche durch die Beschneidung gefährdet werden kann und die Eltern somit nicht in den Eingriff einwilligen dürfen. Der Artikel kann auch nach der sittlichen Entfaltung ausgelegt werden, wonach beispielsweise ein jüdischer Junge, mit dem Ziel der Förderung seiner sittlichen Entfaltung, beschnitten werden dürfte. In Art. 303 Abs. 1 ZGB ist zudem festgelegt, dass die Eltern über die religiöse Erziehung des Kindes verfügen. Wenn diese unterschiedlichen Artikel einander gegenübergestellt werden, überwiegt jedoch der Gesichtspunkt der absolut höchstpersönlichen Rechte, wonach niemand, ausser der betroffenen Person selbst, in einen Eingriff wie die Knabenbeschneidung einwilligen kann. Dafür spricht auch, dass die Handlungsfähigkeit und die Meinung des Kindes bei der elterlichen Sorge einzubeziehen sind. Demnach dürften die Eltern über die religiöse Erziehung verfügen, bis die körperliche Unversehrtheit des Kindes betroffen ist. Die Grenze der religiösen Erziehung wird durch das Kindeswohl bestimmt (vgl. Kapitel 3.2). Laut dem Schweizerischen Strafgesetzbuch kann die Beschneidung eines Jungen und somit der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nach Art. 123 Ziffer 1 als einfache Körperverletzung eingeordnet werden. Eine einfache Körperverletzung ist grundsätzlich ein Antragsdelikt und wird erst auf eine Anzeige hin verfolgt (Schwander, 2014, S. 32). Art. 123 Ziffer 2 StGB benennt jedoch Ausnahmen, in welchen der Tatbestand einer einfachen Körperverletzung als Offizialdelikt verfolgt wird. Anwendbar ist bei der Knabenbeschneidung unter Umständen Art. 123 Ziffer 2 Abs. 3 StGB, wonach eine einfache Körperverletzung als 53 Offizialdelikt gilt, wenn der Täter die Tat an einer Person begeht, die unter seiner Obhut steht oder für die er zu sorgen hat (Schwander, 2014, S. 32). Die Beschneidung eines Jungen wird somit zwar als einfache Körperverletzung eingestuft, kann jedoch trotzdem von Amtes wegen verfolgt werden, wenn die Eltern ihren Sohn beschneiden lassen. Sobald durch die Beschneidung allerdings lebensgefährliche Komplikationen auftreten, gilt der Eingriff nach Art. 122 Abs. 1 StGB als schwere Körperverletzung (Schwander, 2014, S. 32). Wenn ein Tatbestand des Schweizerischen Strafgesetzbuches erfüllt ist, besteht die Möglichkeit einer Rechtfertigung durch Einwilligung (Schwander, 2014, S. 33). Für die Einwilligung in eine einfache Körperverletzung sind die Gründe nicht relevant, in eine schwere Körperverletzung kann dagegen nur eingewilligt werden, wenn der Eingriff medizinisch indiziert ist oder einen sittlichen Wert, wie beispielsweise bei einer Organspende, hat. Zudem muss die betroffene Person die Bedeutung und Tragweite des Eingriffes verstehen und abschätzen können (Schwander, 2014, S. 33). In eine Knabenbeschneidung im Rahmen einer einfachen Körperverletzung kann somit unabhängig des Zweckes eingewilligt werden. Wenn es dabei jedoch um eine schwere Körperverletzung handelt, kann nur eingewilligt werden, wenn die Beschneidung medizinisch indiziert ist (Schwander, 2014, S. 33). Das Strafrecht knüpft an die Vorgaben von Bundesverfassung und Zivilgesetzbuch an (Wohlers & Godenzi, 2014, S. 46). Deshalb gelten dieselben Einwilligungsvoraussetzungen wie durch Art. 19c des Zivilgesetzbuches dargestellt und nur der Junge selbst darf in seine Beschneidung einwilligen. Auf nationaler Ebene lässt sich in Bezug auf die Knabenbeschneidung festhalten, dass der Familie ein Schutz zusteht und die Eltern im Rahmen der elterlichen Sorge Entscheidungen für ihren Sohn treffen dürfen. Gleichzeitig wird die Selbstbestimmung und Rücksicht auf die Meinung des Jungen betont. Alleine der urteilsfähige Junge kann in seine Beschneidung einwilligen. Bei einem urteilsunfähigen Jungen spricht vieles dafür, die Beschneidung als absolut höchstpersönliches Recht einzustufen, wodurch erst in die Beschneidung eingewilligt werden kann, wenn der Junge in Bezug auf den Eingriff urteilsfähig ist. Trotzdem soll an dieser Stelle betont werden, dass auch auf nationaler Ebene die Auslegung und Gewichtung der Artikel zu einem unterschiedlichen Ergebnis führen können. 5.7 Fazit Mit einer Zusammenfassung sowie einem Fazit in Bezug auf das Kindeswohl soll das Kapitel zur männlichen Beschneidung abgeschlossen werden. Laut der Weltgesundheitsorganisation ist fast jeder dritte Mann der Welt beschnitten. Somit sind schätzungsweise 665 Millionen Männer von der männlichen Beschneidung betroffen. Weit verbreitet ist die männliche Beschneidung besonders in Nord- und Westafrika, in einigen asiatischen Ländern sowie in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo etwa 60% 54 der männlichen Neugeborenen beschnitten werden. In der Schweiz gibt es keine offizielle Statistik zu der Zahl der vorgenommenen Beschneidungen. Die männliche Beschneidung wird religiös sowie gesundheitlich oder hygienisch begründet. Im Judentum steht die Beschneidung als Symbol der besonderen Gemeinschaft Israels mit Gott und als Ausdruck der religiösen Zugehörigkeit. Die Knabenbeschneidung ist in der Tora verankert und gilt für die männlichen Juden als Pflicht. Im Islam ist die Knabenbeschneidung zwar nicht im Koran festgehalten, wurde jedoch im Rahmen der Sunna überliefert. Ihr wird somit ein hoher Stellenwert zugesprochen und sie gilt bei den Muslimen als unverzichtbares Ritual der Reinigung Religionszugehörigkeit. und Initiation Gesundheitliche sowie und als unauslöschliches präventive Begründungen Symbol werden der im Zusammenhang mit einer Verminderung von Harnwegsinfekten, Chlamydieninfektionen, Gonorrhoe, Infektionen mit Herpes-Simplex-Viren, Syphilis und Humanen Papillomviren genannt. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation kann durch die Zirkumzision das HIV-Ansteckungsrisiko um 60% gesenkt werden, weshalb die Weltgesundheitsorganisation die Beschneidung von Männern in Gebieten mit einem hohen Risiko von HIV-Ansteckungen empfiehlt. Aus medizinischer Sicht können diese Ergebnisse jedoch nicht als Argument für eine präventive Routinebeschneidungen von Knaben angebracht werden, da es für alle sexuell übertragbaren Krankheiten mildere präventive Massnahmen gibt. Zudem ergibt sich daraus keine Notwendigkeit, die Beschneidung in einem Alter durchzuführen, in dem der Junge noch nicht sexuell aktiv ist. Entgegen der weitverbreiteten Annahme, die männliche Beschneidung sei ein kurzer und harmloser Eingriff, sind auch damit diverse Folgen, wenn auch nicht vergleichbar mit denjenigen der weiblichen Genitalverstümmelung, verbunden. Etwa bei jeder 20. Beschneidung kommt es zu Komplikationen, diese reichen von ästhetisch unbefriedigenden Ergebnissen bis hin zum Tod des Jungen. Laut einer Studie der NOHARMM können beschnittene Männer an sichtbaren Narben, Erektionsproblemen, Schmerzen und Blutungen leiden. Bei manchen beschnittenen Jungen und Männern löst das Bewusstsein über den Eingriff Trauer, Angststörungen, Depressionen und sexuelle Probleme aus. Obwohl die Knabenbeschneidung in vielen Fällen unkompliziert durchgeführt werden kann, verdeutlicht die Vielzahl dieser potenziellen Risiken, dass von keinem harmlosen Eingriff die Rede sein kann. Die Rechtslage auf internationalen Ebene ist bei der männlichen Beschneidung, im Gegensatz zur weiblichen Genitalverstümmelung, nicht eindeutig. Es finden sich diverse Gesetzesartikel, welche den Schutz der Familie oder die Religionsfreiheit festhalten. 55 Gleichzeitig gilt das Kind als Rechtssubjekt, dessen Meinung zu berücksichtigen ist und ein Anrecht auf Gewährleistung des Überlebens in grösstmöglichem Umfang sowie Schutz vor Schadenszufügung hat. Das Urteil des Landesgerichts Köln von 2012 verdeutlicht die Schwierigkeit des Abwägens der unterschiedlichen Gesetzesartikel in Bezug auf die Knabenbeschneidung. In der Schweizerischen Bundesverfassung ist explizit ein besonderer Schutz der körperlichen und geistigen Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen verankert. Zwar wird auch hier der Schutz der Familie und Religion erwähnt, doch ist die Unversehrtheit der Kinder demgegenüber höher zu gewichten. Laut dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch darf nur ein urteilsunfähiger Junge selbst über einen Eingriff im Rahmen einer Beschneidung bestimmen. Wenn die Knabenbeschneidung zu den absolut höchstpersönlichen Rechten gezählt wird, wofür die Irreversibilität und die fehlende zeitliche Dringlichkeit sprechen, darf bei einem urteilsunfähigen Jungen nur der Betroffene selbst zu gegebener Urteilsfähigkeit zustimmen. Die Eltern werden im Rahmen des Kindeswohls dazu verpflichtet, die körperliche, geistige und sittliche Entfaltung zu fördern und zu schützen. Diese Bestimmung kann unterschiedlich ausgelegt werden. Die verankerte religiöse Erziehung der Eltern wird durch das Wohl des Kindes eingeschränkt. Grundsätzlich erfüllt die Knabenbeschneidung, laut dem Strafgesetzbuch, den Tatbestand einer einfachen Körperverletzung, in welche jedoch eingewilligt werden kann. Die Einwilligungsvoraussetzungen sind hierbei allerdings analog zu denjenigen des Zivilgesetzbuches. Zwar lässt sich abschliessend nicht eindeutig eine handfeste Antwort auf die Knabenbeschneidung im Zusammenhang mit dem Kindeswohl geben. Die Summe der potenziellen Risiken und des nicht klar nachweisbaren und notwendigen präventiven Charakters der Beschneidung sowie die Stellung des Kindes als Rechtssubjekt mit einer zu berücksichtigenden Meinung, sprechen allerdings dafür, dass in einen den eigenen Körper und die Psyche betreffenden Eingriff niemand, ausser der urteilsfähige Junge selbst, einwilligen kann. Die körperliche und psychische Unversehrtheit eines Kindes ist meiner Meinung nach im Rahmen des Kindeswohls als absolut grundlegend und vorrangig zu behandeln. Als Ausdruck der Respektierung des Kindes als eigenständige und ernstzunehmende Persönlichkeit, sollte einem Jungen deshalb vermittelt werden, dass nur er selbst darüber bestimmten darf, was mit seinem Körper geschieht. Die Konsequenz dieser Schlussfolgerung liegt meines Erachtens nicht darin, die Beschneidung von urteilsunfähigen Jungen gesetzlich zu verbieten. Es geht jedoch darum, die Rechtmässigkeit von Eingriffen in die Unversehrtheit eines Kindes ohne dessen Einwilligung in der Gesellschaft zu diskutieren und zu hinterfragen. 56 6. Rolle der Sozialen Arbeit Abschliessend soll ein kurzer Blick auf die Rolle der Sozialen Arbeit in Bezug auf die weibliche und männliche Beschneidung, jedoch lediglich im Zusammenhang mit dem Kindeswohl, geworfen werden. Dabei werden Professionelle der Sozialen Arbeit vor allem dann mit der der weiblichen Genitalverstümmelung und der männlichen Beschneidung von Kindern konfrontiert, wenn es um eine Gefährdung des Kindeswohls geht. In einem solchen Fall kann es sinnvoll sein, die Unterstützung von interkulturell ausgebildeten Fachpersonen aufzusuchen (Cottier, 2008, S. 34). Es kann jedoch auch das übliche Vorgehen bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung eingeschlagen werden und insbesondere bei Vorliegen eines konkreten Gefährdungsverdachts eine Meldung an die Kindesschutzbehörde gemacht werden (Cottier, 2008, S. 34). In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung des Amts- und Berufsgeheimnisses relevant. Eine Geheimnisverletzung ist dann nicht strafbar, wenn ein Rechtfertigungsgrund im Sinne einer Entbindung des Amts- oder Berufsgeheimnis durch die vorgesetzte Behörde vorliegt oder die betroffene Person ihre Einwilligung erteilt. Nicht erforderlich ist eine Entbindung dann, wenn eine gesetzliche Meldepflicht oder zumindest ein Melderecht bestimmt ist (Cottier, 2008, S. 34). Die Meldepflicht richtet sich an Personen, die in einer amtlichen Tätigkeit von einer Kindeswohlgefährdung erfahren (Hauri & Zingaro, 2013, S. 25). Professionelle der Sozialen Arbeit sind also bei einem Verdacht auf eine Gefährdung des Kindeswohls dazu verpflichtet, eine Meldung an die Kindesschutzbehörde zu machen. Dabei gilt der Grundsatz, dass in erster Linie die Eltern für das Wohlergehen ihres Kindes und die Rahmenbedingungen für seine optimale körperliche, geistige, psychische oder soziale Entwicklung verantwortlich sind (Hauri & Zingaro, 2013, S. 19). Die Kindesschutzbehörde darf jedoch bereits aktiv werden, wenn die Beeinträchtigung wahrscheinlich und nicht erst verwirklicht ist (Hauri & Zingaro, 2013, S. 19). Der Grundsatz der Subsidiarität hält fest, dass Kindesschutzmassnahmen nur dann ergriffen werden, wenn die Eltern bei einer Kindeswohlgefährdung nicht selbst für Abhilfe sorgen oder dazu nicht in der Lage sind. Gleichzeitig ist auch das Prinzip der Verhältnismässigkeit zu beachten: Demnach muss jeder Eingriff in die elterlichen Kompetenzen zur Abwendung oder Milderung der Gefährdung notwendig und geeignet sein (Hauri & Zingaro, 2013, S. 19 f.). Im Bereich des Kindesschutzes können geeignete Massnahmen nach Art. 307 Abs. 3 ZGB ausgeübt werden. Die Ermahnung dient als Erinnerung der Eltern an ihre jeweiligen Pflichten. Eine Weisung enthält dagegen bereits eine verbindliche Anordnung. Eine weitere Möglichkeit ist die Bezeichnung einer geeigneten Person oder Stelle als Erziehungsaufsicht (Hauri & Zingaro, 2013, S. 20 f.). Ebenfalls möglich ist die Errichtung einer Beistandschaft 57 nach Art. 308 ZGB. Dabei kann die Beiständin oder der Beistand den Eltern mit Rat und Tat zur Seite stehen (Art. 308 Abs. 1 ZGB), es kann aber auch zu einer Übertragung von zusätzlichen spezifischen Befugnissen (Art. 308 Abs. 2 ZGB) oder Beschränkung der elterlichen Sorge (Art. 308 Abs. 3 ZGB) kommen. In besonders schwerwiegenden Fällen kann die elterliche Obhut nach Art. 310 ZGB aufgehoben oder nach Art. 311 ZGB und Art. 312 ZGB entzogen werden (Hauri & Zingaro, 2013, S. 21 ff.). Gesetzliche Bestimmungen alleine reichen jedoch nicht aus, um den Schutz von Kindern zu gewährleisten. Wichtige Schritte zu einem wirksamen Kindesschutz konnten durch die interdisziplinäre Zusammensetzung und eine Professionalisierung der Kindesschutzbehörde vorgenommen werden (Häfeli, 2003, S. 140). Besonders bedeutend sind jedoch auch Prävention und Öffentlichkeitsarbeit. Dabei geht es einerseits darum, Kinder und Eltern über ihre Rechte und die gesetzlichen Bestimmungen zu informieren. Genauso müssen Fachpersonen und Betroffene über die Risiken und die Folgen der Genitalbeschneidung bei Kindern aufgeklärt werden. Andererseits muss die Gefährdung von Kindern im familiären Umfeld durch Öffentlichkeitsarbeit enttabuisiert werden (Häfeli, 2003, S. 140). Bei allen Massnahmen sollten sich die Beteiligten darüber bewusst sein, dass es immer darum gehen muss, das Wohl des Kindes ins Zentrum zu stellen, damit der ihm zustehende Schutz gewährt werden kann. 58 7. Abkürzungsverzeichnis AAP American Academy of Pediatrics Abs. Absatz AEMR Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (vom 10. Dezember 1948) Art. Artikel BGB Bürgerliches Gesetzbuch (vom 18. August 1896) BV Schweizerische Bundesverfassung (vom 18. April 1999, SR; 101) Bzw. Beziehungsweise CEDAW Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women (Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau) (vom 1. März 1980) EMRK Europäische Menschenrechtskonvention (vom 4. November 1950) FC Female Circumcision (Weibliche Beschneidung) FGM Female Genital Mutilation (Weibliche Genitalverstümmelung) FGM/C Female Genital Mutilation/ Cutting (Weibliche Genitalverstümmelung/ Beschneidung) FGS Female Genital Surgery (Weibliche Genitaloperation) HIV Human Immunodeficiency Virus/ Humane Immundefizienz-Virus HPV Humanen Papillomviren HSV Herpes-Simplex-Viren IPbpR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (vom 16. Dezember 1966) KRK Kinderrechtskonvention (vom 20. November 1989) NOHARMM National Organization to Halt the Abuse and Routine Mutilation of Males SAMW Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften StGB Schweizerisches Strafgesetzbuch (vom 21. Dezember 1937; SR 311.0) UN United Nations UNFPA United Nation Development Fund UNICEF United Nation Children’s Fund UNO United Nations Organization (Organisation der Vereinten Nationen) WHO World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation) ZGB Schweizerisches Zivilgesetzbuch (vom 10. Dezember 1907, SR; 210) 59 8. Literaturverzeichnis 8.1 Bibliografie - Baviera, V. (2003). Elternrechte und Kindeswohl. In: Kindeswohl. Eine interdisziplinäre Sicht. Le bien de l’enfant. Une approche interdisciplinaire. Hrsg.: Kaufmann, C. & Ziegler, F. Zürich/ Chur: Verlag Rüegger - Brämer, A. (2010). Judentum. Die 101 wichtigsten Fragen. München: Verlag C. H. Beck - Cottier, M. (2008). Zivilrechtlicher Kindsschutz und Prävention von genitaler Mädchenbeschneidung in der Schweiz. Hrsg.: Schweizerisches Komitee für UNICEF. Zürich: Selbstverlag - Denniston, G. et al. (2009). Circumcision and Human Right. USA: Springer - Derungs, F. et al. (2011). Schnitt ins Leben. 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