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Autor: - unbekannt Datum: 30. November -1
INDUSTRIEBARONE UND BANKIERSKunst und Krempel im Deutschen
Historischen Museum
Konfuzius sprach: Ich habe es selbst noch erlebt, dass ein Geschichtsschreiber Lücken im
Text ließ, wenn er sich nicht sicher war. Das gibt es heute nicht mehr.
Wer in der Sommerglut Unter den Linden spazieren geht und gerade keine Lust
verspürt, bei Madame Tussaud den einen oder andern Kopf abzurupfen, dem
empfiehlt ein Berliner Radiosender aktuell den Museumsbesuch. Wegen der
Aircondition! Also rein ins Deutsche Historische Museum (DHM, vulgo
Zeughaus) und ab in die Katakomben des Anbaus. Hier läuft noch bis zum 31.
August die gut gekühlte Ausstellung ?Gründerzeit 1848 ? 1871: Industrie und
Lebensträume zwischen Vormärz und Kaiserreich?.
Der Titel wirkt etwas irreführend, denn die Gründerzeit ist philologisch ?die zeit
des z. th. in ungesunde formen übergehenden wirtschaftlichen aufschwungs in Deutschland
nach dem kriege von 1870/71?. Allerdings wurde der historisch nur bis 1873
reichende Zeitraum (die ?Gründerära?) schon bald kunstgeschichtlich bis zum
Jugendstil ausgedehnt und gleichgesetzt mit der Blütezeit des Historismus. Der
Begriff ?Gründerzeit? wird jedoch von den Herausgebern des Katalogs
metaphorisch so verstanden, wie ihn der auf Seite 18 zitierte Werner Sombart
im Jahr 1921 verwendet: Eine rechte ?Gründerzeit? sind also die 1850er Jahre.
Dagegen wird im Text die eigentliche Gründerzeit als ?Gründerboom?
bezeichnet, ein unglücklicher Neologismus.Der wunderliche Untertitel
?Industrie und Lebensträume?, er sollte wohl ursprünglich eher banal
?Industrialisierung des Lebensraums? lauten und wurde dann
verschlimmbessert.
Die Sonderausstellung behandelt die Industrialisierung Deutschlands zwischen
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Vormärz und Kaiserreich, ein Ereignis, das entfernt erinnert an die
gegenwärtigen Vorgänge in China. Die Produktion wird unter unerhörter
Ausbeutung der Arbeiter vervielfacht, die Massenprodukte sind großteils
minderwertig. Die Aussteller suggerieren ein wenig den falschen Eindruck,
durch Fleiß und Erfinderreichtum hätte Deutschland damals Weltgeltung
erlangt. Das sollte dem Kaiserreich vorbehalten bleiben. Der im Katalog nur en
passant erwähnte Franz Reuleaux, seit 1864 Lehrer an der Berliner
Gewerbeakademie, seit 1868 ihr Leiter, prägte 1876 in seiner Besprechung der
Weltausstellung von Philadelphia für die deutschen Erzeugnisse das Urteil
?billig und schlecht?. Ein 1887 verabschiedetes englisches Gesetz, nach dem alle
Waren mit ihrem Herkunftsland gekennzeichnet werden mussten, richtete sich
ursprünglich gegen diese deutsche Billigwarenkonkurrenz. Nach Reuleaux?
Kritik wurde die Qualität der Erzeugnisse im Deutschen Reich stetig verbessert
und ?made in Germany? bezeichnete bald kein Stigma mehr, sondern galt als
Bürgschaft für die Güte eines Produkts. Franz Reuleaux hätte sich eine
Kurzbiografie im Katalog wohlverdient.
In Wort und Bild, mit Wohnsitz und Hausrat werden die Dynastien der
Industriemagnaten und Bankiers vorgezeigt. Es wimmelt von Borsig, Krupp,
Thyssen, Siemens, Stumm, Rothschild, Oppenheim. Allein die ehrenwerte
Familie Villeroy & Boch okkupiert die Katalogseiten 228 ? 230. Wandrer, wenn
du heut nach Mettlach kommst und dir preiswert ein paar Stücke
Weihnachtsschmuck von Villeroy & Boch (2. Wahl) für deine Schwiegermutter
gönnst, dann haftet ihnen ein Aufkleber an: made in Thailand. So ist die
Globalisierung!Reichlich Raum erhalten auch die Erfinder und Entdecker mit
ihren Kladden und Sudelheften. Die Anilinfarbenkoffer und die erotischen
Stereodaguerreotypien begeistern ebenso, wie das Schnupftuch mit Kaiser
Wilhelms Konterfei.
Der heimliche Exhibition-Spanner, der intime Dinge entdecken will, etwa Kaiser
Wilhelms Korsett oder das Nachtgeschirr Bismarcks, er wird herb enttäuscht.
Denn die diversen Stiftungen, Sammlungen, Museen, Archive, Institute, Galerien
und privaten Leihgeber haben nur die alleredelsten Devotionalien gesandt,
keine Bruch-, Bart- und Damenbinden, wie sie typisch sind für die Zeit, sondern
mindere Prunkstücke: neusilberne Diademe, mahagonifurnierte Schränke aus
Kiefernholz mit der Anmutung griechischer Tempel, nussbaumfarbene
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Kredenzen in der Art gotischer Tabernakel, pompöse goldfarbene
Messingpokale. Dazu viel stahlstichige Aktienkunst. Apropos ? auch das DHM
muss sparen. Aber wenn man eine Ausstellung in einem Keller macht, sollte sie
gut ausgeleuchtet sein, egal wie finster die Zeiten sind ? es sei denn, der Absatz
des Katalogs muss befördert werden. Ein Pfadfinder schrieb ins Gästebuch:
Leider habe ich meine Taschenlampe vergessen. Über dem Gästebuch prangt der
Gedenkspruch.Stosst an: Ein Hoch dem deutschen Reich!An Kühnheit reich,
dem Adler gleichMög?s taeglich neu sich staerken.Doch Gott behüt?s vor
Klassenhass,Und Rassenhass und MassenhassUnd derlei
Teufelswerken!Karlsruhe 16. febr. 1881. Jos. Victor v. Scheffel
Nun ja. Aber der Katalog! Leute, welch ein Katalog! 509 Seiten Text und farbige
Abbildungen. Es folgen 20 Seiten Anmerkungen, darauf ein richtiges
Personenregister, ein ausführliches Literaturverzeichnis und Autorenregister.
Deutsche Wertarbeit ? für Katalogsammler ein Muss. Dieser Katalog enthält viel
mehr und doch weniger als die Ausstellung: Erläuternde Texte mit reichlich
historischen Illustrationen, größtenteils stibitzt aus der Leipziger Illustirten
Zeitung. Dafür sind die Exponate nur zur Hälfte abgebildet. Vortrefflich die
eingestreuten Kurzbiografien mit Porträts. Nach der kapitalistischen
Weihrauchspende im Keller versöhnt der Katalog durch etwas mehr
Ausgewogenheit.
Zurück zum Gästebuch, das uns bemerkenswerte Einsichten der Besucher
vermittelt. Ein Chinese pinselte enttäuscht hinein: Haben die Deutschen den
Namen Karl Marx vergessen? Kalle ist zwar im Katalog mit Foto und Lebenslauf
bedacht, in extenso durfte er den Museumsbesuchern jedoch nicht zugemutet
werden. Immerhin könnten Schulkinder aus Bayern darunter sein. Dafür ist
Ferdinand Lassalle mit einem Plakat vertreten, dass heute auf uns etwas
lächerlich wirkt. Lassalle der Machtmensch, der Begründer des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins, der Mann, der 1863/64 die Geheimgespräche mit
Bismarck führte! Man stelle sich einmal vor, Helmut Kohl hätte 1990 geheime
Unterredungen mit Gregor Gysi gehabt.
Blättern wir weiter im Gästebuch. Ein süddeutscher Lehrer konstatiert sehr
richtig: Die Unterschicht ist unterrepräsentiert. Und ein Ossi (gibt?s das noch?)
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spöttelt: Wie eine DDR-Ausstellung unter umgekehrtem Vorzeichen. Zweifellos
hätten die Macher dem Proletariat einen Raum widmen können, voller Lumpen,
Holzlöffel und angestoßener Emailtöpfe, mit einem stinkenden Strohsack,
richtiges Berliner Elend, wie es Karl Gutzkow in den ?Rittern vom Geiste? sehr
anschaulich beschreibt. Die Speicher des DHM dürften noch aus seiner Zeit als
?Museum für Deutsche Geschichte? einiges hergeben. Aber seien wir mal
ehrlich: Die Klunker der Reichen waren immer interessanter als der Plunder der
Armen! Jede Krähe kann das bestätigen.Übrigens kommt auch der Militarismus
der Zeit viel zu kurz. Immerhin gewann Preußen im fraglichen Zeitraum drei
richtige Kriege, gegen Dänemark, Österreich-Ungarn und Frankreich und feierte
sich selbst. Wenigstens eine Sammlung Pickelhauben hätte man erwartet.
So gehet denn hin und bewundert seltene und staunenswerte Schaustücke und
vergesst die Taschenlampe nicht. Die Expositionen im Zeughaus glänzten seit
Menschengedenken durch Unausgewogenheit. Das soll uns den Genuss nicht
verderben, denn in einem langen Leben bekommt man allerhand zu sehen. Und
wir dürfen gespannt sein, welche Sicht auf die Geschichte uns die nächste
deutsche Wende beschert.
Gründerzeit 1848 ? 1871 (Katalog des DHM)AutorenkollektivSandstein Verlag
Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 9, Sp. 796 Von Sombart, der als Marxist
begann und als Vordenker der Konservativen Revolution endete (vgl. DBE, Bd.9,
S. 367), stammt das ideale längere Einführungszitat, das alle Parteien glücklich
macht. Vgl. Heinrich Wolfgang Seidel, Erinnerungen an Heinrich Seidel, Cotta
1912, Seite 19 (Anm.) Aus der Autografensammlung der Deutschen Gesellschaft
zur Rettung Schiffbrüchiger (Katalog S. 473). Dieses Autograf wurde stark
vergrößert an zentraler Stelle der Ausstellung gleichsam als Motto platziert,
obwohl es mehr dem Zweiten Kaiserreich angehört. Ein Hinweis für Chinesen:
Nicht alle Deutschen haben Karl Marx vergessen, sondern nur die
Sozialdemokraten. Robert von Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Stuttgart
und Berlin 1901, S. 175 ff.
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