Splendid Isolation

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Splendid Isolation
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 1/2.2003
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Splendid Isolation
Robert Kaltenbrunner
Raum und Kunst, Platz und Gestaltung –
Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können
Offenkundig ist es heute in kritischen Kreisen opportun, bei jeder Gelegenheit den
Verlust an öffentlichem Raum zu beklagen.
Hannah Arendt hat für diesen Missstand
einmal ein schönes Wort geprägt: „Die Situation ähnelt in ihrer Unheimlichkeit einer
spiritistischen Séance, bei der eine um einen Tisch versammelte Anzahl von Menschen plötzlich durch irgendeinen magischen Trick den Tisch aus ihrer Mitte
verschwinden sieht, so daß nun zwei sich
gegenüber sitzende Personen durch nichts
mehr getrennt, aber auch durch nichts
Greifbares mehr verbunden sind.“ 1
Der Drang nach draußen
Schon der Begriff Öffentlichkeit ist schwer
fassbar, was es vielleicht (zu) einfach
macht, seinen vermeintlichen Schwund zu
thematisieren. Hans Paul Bahrdt zufolge
entsteht Öffentlichkeit dort, wo durch bestimmte Stilisierungen des Verhaltens dennoch Kommunikation und Arrangement
zustande kommen.2 In seinem grundlegenden Aufsatz „Öffentlichkeit und Privatheit“
beschreibt und fixiert er jenes spezifische
Spannungsverhältnis, aus dem sich erst
entwickeln kann, was gemeinhin Urbanität
genannt wird. Die Polarität als Bedingung:
Bahrdt versteht es, einerseits die positive
Bedeutung von sozialer Distanz geschichtlich aus den Konstitutionsprinzipien der
bürgerlichen Gesellschaft herauszuarbeiten, andererseits die aktuelle Chance zu
Distanzierungen als Voraussetzung für urbanes Leben zu thematisieren.3 Damit konstituiert er zentrale Aspekte der Res publica.
Wie eh und je ziehen Sonne, Luft, Wärme
und Grün die Menschen an, auch wenn
noch so viele Fernsehsender rund um die
Uhr bunte Lockungen ausstrahlen. Je umfangreicher die fiktionalen Angebote werden, umso mehr scheint das Bedürfnis nach
realem städtischen und landschaftlichen
Lebens-Raum zuzunehmen. Massen von
Fußgängern, Inline-Skatern, Fahrrad- und
Skateboardfahrern strömen jedenfalls nach
draußen auf die Straßen, Plätze und Grünflächen, sobald ihnen das Wetter nicht den
Spaß dazu verdirbt.
Indes, was der „öffentliche Raum“ nun genau ist, was er „zu leisten“ vermag und was
nicht, welchen Zwängen er unterliegt und
wodurch, welche Potenziale er birgt und
wie diese zur Geltung gebracht werden
können: Kaum je ist es gelungen, Fragen
wie diese erschöpfend zu beantworten.4
Dennoch, oder gerade deshalb, lohnt der
erneute – und gleichsam von der Soziologie
zur Architektur mäandernde – Blick auf den
unübersichtlichen Zusammenhang zwischen öffentlichem Raum und Gestaltung.
Vielfach ist prophezeit worden, dass die
Menschen in Zukunft vorwiegend vor Bildschirmen und unter Datenhelmen hocken,
um sich in einer bloß virtuellen Realität, auf
Daten-Autobahnen und im Cyberspace
nicht mehr körperlich, sondern nur noch
fiktiv zu tummeln. Die Nutzung der öffentlichen Räume lässt eher das Gegenteil erwarten – was vielleicht damit zusammenhängt, dass viele Berufe heute in Innenräumen und ohne ausgeprägt körperliche
Tätigkeiten ausgeübt werden.
Nicht die gestalterische
Ästhetisierung von
städtischen Plätzen
verschafft diesen
Öffentlichkeit, sondern
ihre Erlebnisqualität
nach heutigem Lebensgefühl – und das heißt
auch: Konsum im
attraktiven Ambiente,
Fun, Event. Danach
definieren sich weitestgehend auch ihre –
fragmentierten –
Raumqualitäten.
Städtischer Raum ist heute wie in der Vergangenheit Freizeit-Raum; und offensichtlich befriedigt man in ihm das Bedürfnis, zu
sehen und gesehen zu werden. Der Konsumgüterindustrie und Gastronomie ist’s
recht so.
Soziologen haben für zeitgenössische Gesellschaften Begriffe wie „Erlebnisgesellschaft“ oder „Multi-Optionsgesellschaft“
geprägt. Tatsächlich ist der freie städtische
Raum ein Multioptionsraum, und wie er genutzt wird, ist nicht mit wenigen Begriffen
zu klassifizieren. Er ist Erlebnis-Raum, der
vielerlei Formen des Freizeitverhaltens ermöglicht. Auch wenn der Ausdruck FunGesellschaft die Wirklichkeit nicht trifft –
viele öffentliche Räume werden als „funplaces“ genutzt, für „events“ aller Art.
Dr. Robert Kaltenbrunner
Bundesamt für Bauwesen und
Raumordnung
Deichmanns Aue 31-37
53179 Bonn
E-Mail:
robert.kaltenbrunner@
bbr.bund.de
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„Wir müssen Fehlentscheidungen der
Vergangenheit korrigieren. Parkanlagen und
Brunnen waren die
ersten Opfer der
Sparpolitik. In Zukunft
soll gelten: Öffentliches
Geld für öffentliches
Eigentum, privates Geld
für privates.“
Peter Strieder, Senator für
Stadtentwicklung Berlin, in
Tagesspiegel v. 30.8.2002
Robert Kaltenbrunner: Splendid Isolation. Raum und Kunst, Platz und Gestaltung –
Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können
Einkaufen und Spaßhaben sind gängige
Leitbilder urbaner Lebensweise, zugleich
Teil unserer Selbstinszenierung im öffentlichen Raum.5 Andererseits haben wir uns
daran gewöhnt, inmitten dichtesten Trubels die Möglichkeit zu Rückzug und
Kontemplation unter freien Himmel und
im Grünen zu besitzen.
Die historische Stadt europäischen Zuschnitts erfand dafür Parks, Grünanlagen
und Stadtplätze. Letztere werden hier und
da noch als Märkte und zur Schaustellerei
genutzt, doch die meisten von ihnen dienen nicht mehr den Zwecken, denen sie ihr
Entstehen verdanken. Namen wie „Holzmarkt“, „Gänsemarkt“ oder „Pferdemarkt“
bezeugen das. Was sich heute auf Plätzen
zuträgt, hat auch in anderer Hinsicht nicht
mehr viel mit dem zu tun, was sich dort
in der Vergangenheit abspielte. Denn Änderungen der menschlichen Lebens-, Arbeits-, Wohn-, Verkehrs- und Kommunikationsformen haben im Lauf der Zeit die
Nutzung des städtischen Raumes ganz allgemein verändert.
Aber obwohl öffentlich wichtige Dinge heute zumeist in Presse, Rundfunk und Fernsehen mitgeteilt und zur Kenntnis genommen werden, dienen Plätze noch als Foren
zur Bildung von Öffentlichkeit. Die Repräsentation verschiedener gesellschaftlicher
Gruppen vollzieht sich zwar weitgehend in
Innenräumen – man nutzt die modernen
Massenmedien, und in jüngster Zeit etabliert sich eine neue Öffentlichkeit im Netz
der elektronischen Medien. Doch nicht nur
Ansprachen, Konzerte, Feste usw. finden
– manchmal und mancherorts – noch
draußen statt. Auch bestimmte Ansprüche
auf öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung verlangen geradezu nach auffälliger Kundgabe im öffentlichen Raum, z. B.
durch Demonstrationen, Streikversammlungen, Umzüge, Lichterketten, Ausstellungen und dergleichen.6
Der öffentliche Raum ist nach wie vor eine
Bühne, auf der gesellschaftliche Konflikte
artikuliert und vorgetragen werden. Plätze,
Fußgängerzonen, Straßen und Parks sind
Orte, an denen soziale Probleme sichtbar
werden, aber auch Orte personaler Selbstdarstellung und Inszenierung.7 Zusammengefasst: Der Marktplatz ist der öffentliche
Raum sui generis. Mit der Erfindung des
Kaufhauses wurde er zwar erheblich entwertet, erlebt nun aber eine gewisse Renaissance. „Gegenwärtig wird der Vorhang
wieder geöffnet und der Blick fällt auf verloren geglaubte Schauplätze. Stadt und öffentlicher Raum kehren zurück – jedoch als
konsumierbare Fiktionen. Sie kommen
wieder als Bild und Images, die einer erbarmungslos rasenden Produktionsmaschinerie äußerlich übergestülpt werden.“ 8
Durchaus genußvoll, so scheint es, werden
diese Räume öffentlich konsumiert – und
damit offenkundig auch als etwas Eigenes
akzeptiert.
„Was unterscheidet den eigenen von
dem fremden Ort? Da ist zunächst
einmal die Vertrautheit, die den eigenen
Ort kennzeichnet. Die Menschen und
ihre Verhaltensweisen, die Sprache und
Kleidung, die Gerüche, die Klänge und
viele anderen Dinge kennzeichnen einen vertrauten Ort. Die Vertrautheit des
Ortes erzeugt Sicherheit. Man kann in
reziproker Weise Verhalten prognostizieren und hat in gewisser Hinsicht einen Anspruch darauf, dass sich der andere gemäß dieser Prognose verhält.
Der Unterschied zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten kann krass
oder fließend sein. In dem eigenen Ort
können und werden in der Regel auch
Verhaltensweisen oder Gegenstände
des fremden Ortes integriert. Musik
oder bestimmte Ernährungsweisen des
Fremden werden in den eigenen Ort
übertragen oder nisten sich unbewußt
ein. Sie werden dabei an die Eigenschaften und Eigenarten des eigenen Ortes
angeglichen.“9
Das „Stadtbild eines Bewohners ist eine
Vorstellung, ein durch Lernprozeß in einer
gesellschaftlichen Umwelt erzeugtes Wahrnehmungsbild“.10 Doch um sich im Raum
beheimatet, vertraut zu fühlen, braucht es
keineswegs die überlieferten Konventionen. Waren doch schon in den zwanziger
Jahren, wie Walter Benjamin 1931 notierte,
die tradierten Erfahrungen im Kurs gefallen
und hatten einer gewissen Bereitschaft
Platz gemacht, „mit Wenigem auszukommen, aus Wenigem herauszukonstruieren“.11 Und das galt nicht zuletzt für den
öffentlichen Raum. Gleichwohl muss
– zumindest im Rückblick – gesagt werden,
dass die funktionalistische Moderne hier
nicht eben glücklich agierte. Denn offenbar
konnte „die durchgrünte, durchlüftete,
neue Zeilenstadt mit ihrem fließenden
Raum voller fließenden oder neuerdings
auch stehenden Verkehrs nicht die Zuneigung des öffentlichen Lebens gewinnen“.12
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Gerade mit Blick auf die Konsequenzen fordistischer Modernisierung und auf jene Gebiete und Gegenden, die in den letzten
sechzig Jahren entstanden, besiedelt oder
infrastrukturell überbaut wurden, hat der
französische Ethnologe Marc Augé von einer Verwandlung von Orten in „Nicht-Orte“
gesprochen. Nicht-Orte sind Räume, die
den Verlust von Ortsqualitäten an und
durch sich selbst zum Ausdruck bringen. Es
sind Orte ohne Eigenschaften. Sie sind
überall gleich – bzw. ihre Verschiedenheit
ist nurmehr äußerlich, bloße Fassade, eben
theatralisch. Man findet diese Nicht-Orte
vorzugsweise in der Peripherie, an Autobahnabfahrten, Ausfallstraßen, Flughäfen,
Haltepunkten von Hochgeschwindigkeitsbahnen etc.13
Ort und Erscheinungsbild
Retrospektiv, auf das letzte Jahrhundert bezogen, konnten Planung und Städtebau
den öffentlichen Raum nicht eben fördern.
Lässt sich auch eine umgekehrte Beeinflussung denken? Aktuelle Leitbilder wie die
„Stadt der kurzen Wege“ oder die „soziale
Stadt“ sind zunächst einmal idealistischnormative Setzungen, die in der Regel aus
theoretischen Überlegungen der Profession
resultieren und nicht unbedingt mit dem
praktischen Alltagsverhalten der Menschen
übereinstimmen.14 Im Versuch, sich von allen scheinbar überflüssigen traditionellen
Elementen zu befreien, formulierte eine ihrem Selbstverständnis nach „funktionale“
Architektur und Planung eine auf die Optimierung der Nutzungen ausgerichtete
räumliche Organisation. Da diese Rationalität an den immer gleichen Kriterien gemessen wurde, nämlich Minimierung der
Kosten und Maximierung der Nutzbarkeit,
entstand überall Ähnliches, und das Spezifische von öffentlichen Orten im Sinne von
Identitätsbildung und –bindung ging entsprechend zurück. Was blieb, waren hingegen die überlieferten, längst etablierten „öffentlichen Räume“.
Diese Parks, Grünanlagen und Stadtplätze
sind noch immer Orte allgemeiner Akzeptanz in öffentlicher Obhut. Allerdings ist der
Blick auf deren reales Erscheinungsbild
eher ernüchternd.
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„Wer sich in der heutigen Stadt bewegen
muss, spürt, dass er es mit einem Raum
zu tun hat, in welchem er als ein Objekt
behandelt wird. Am Boden liest er gekrümmte oder gerade Pfeile, weiße, gelbe oder blaue, kontinuierliche oder gestrichelte Linien, während er ringsum in
einer ideellen Schicht, die sich parallel
zur Straßenfläche über seiner Kopfhöhe
ausdehnt, runde, viereckige und dreieckige, bunte, unbescheidene Schilder
bemerkt, die manchmal wie Ohren aus
der Mauer herausspringen, meistens am
oberen Ende einer Stange stehen,
schließlich farbige Lichter, die in ungleichem Rhythmus rasch an- und ausgehen. Besonders das Stadtzentrum ist
durch diese Schraffierung oder Tätowierung des öffentlichen Raumes gekennzeichnet.“15
Wer dem unbefriedigenden und zum Teil
chaotischen Eindruck vieler städtischer Situationen nachsinnt, wird sehr bald zu der
Erkenntnis gelangen, dass der ästhetische
Befund auch einen sozialen und politischen spiegelt. Das hängt mit einer tagtäglichen Erfahrung mangelnder Urbanität, ja
Öffentlichkeit schlechthin zusammen. Soziologisch gesehen ist Öffentlichkeit ein sozialer Aggregatzustand, für den der ungehinderte zwischenmenschliche Verkehr
von grundlegender Bedeutung ist. Er bedarf
bestimmter geistiger, natürlicher und/ oder
architektonischer (Frei)Räume. Wenngleich sich empirisch nicht nachweisen
lässt, welche Räume wie auf ihre Nutzer
wirken, so ist doch festzustellen, dass die
Ausgestaltung dieser (Frei)Räume keineswegs ohne Einfluss auf die Art und Weise
der in ihrem Rahmen stattfindenden Prozesse ist.16 Winston Churchill hat es einmal
so formuliert: „Wir gestalten unsere Bauwerke, danach gestalten unsere Bauwerke
uns.“17 Die Raumsituation muss in Einklang
mit den kulturspezifisch erlernten Orientierungsmustern kommunikations- bzw. öffentlichkeitsfreundlich sein, um Kommunikation und damit Öffentlichkeit überhaupt
möglich zu machen.
Wenn in Architekten- und Planerkreisen
von der europäischen Stadt gesprochen
wird, so ist in der Regel eines ihrer konstituierenden Merkmale gemeint: der öffentliche Raum – die Straße, der Platz oder der
Park – als der Ort, an dem sich bisher vielfältiges gesellschaftliches Leben abspielt.
„Das Beste unseres
städtischen Erbes
– baumbestandene
Boulevards, Plätze,
Parks – ist Zeugnis der
Interessen und Investitionen früherer Generationen. Wir laufen Gefahr, diese Tradition
nicht fortzusetzen, was
für die Menschen heute
wie auch für zukünftige
Generationen einen
tragischen Verlust bedeuten würde.“
Norman Foster, Architektur
mit sozialem Gewissen, 1994
30
Die Mitte der Stadt als
Bühne aller kann nicht
gleichzeitig ihre Kinderstube sein. „Viele haben
Liberalität mit Laissezfaire verwechselt. Das
Zusammenleben in
einer Stadt bedeutet,
sich an Regeln zu halten
und Rücksicht zu
nehmen.“
Peter Strieder, a. a. O.
Robert Kaltenbrunner: Splendid Isolation. Raum und Kunst, Platz und Gestaltung –
Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können
Diese öffentlichen Räume sind Orte des
Austauschs, der zufälligen Begegnung, des
Kennenlernens von Andersartigem. Sie
üben damit eine wichtige soziale Funktion
aus, wirken mitunter gesellschaftlich integrierend.
Doch seit geraumer Zeit sind allerorten
Entwicklungen zu beobachten, die einen
Funktionsverlust des öffentlichen Raums
mit sich bringen. Der innerstädtische Einzelhandel, der seine Standorte heute noch
oft entlang der Straßen und an Plätzen hat,
verlagert sich zunehmend in Passagen; offene Marktplätze werden überdacht und
abgeschlossen. Erlebnisräume werden
„künstlich“ geschaffen, Freizeitgestaltungen in abgekapselte Binnenwelten transponiert, Bahnhöfe mutieren zu ShoppingCentern. Es entstehen Bereiche in den
Städten, aus denen alle negativen Erscheinungen des städtischen Lebens 18 ausgesperrt werden: die Witterung und der Straßenverkehr, aber auch bestimmte Bevölkerungsgruppen. Sie „gehören“ also nicht
mehr allen, können nicht mehr von allen
genutzt werden, weil es Zugangsbeschränkungen gibt, weil Hausregeln, Videokameras und private Sicherheitskräfte für den
Schutz und die Sicherheit der Besucher sorgen.
Zweckentfremdet hat Andreas Feldtkeller
jene Stadt genannt, die nicht (mehr) gewährleistet, was zu offerieren ihrem historischen Auftrag entsprach: Der öffentliche
Raum war traditionell ein Bereich, der einer
konkreten, vorbestimmten Nutzung entzogen war. Genau dieser aber sei nun in unserer Stadt – wie der Gesellschaft insgesamt –
verschwunden. Statt der früher vorhandenen Struktur eines urbanen Alltags würden
in den Städten nur mehr drei kommunale
Infrastrukturen übereinandergeschichtet:
eine des Wohlstands zur Befriedigung der
Konsumbedürfnisse, eine des Ersatzes zur
Milderung der beklagten Unwirtlichkeitseffekte und eine simulative, die das Fortbestehen des Urbanen vortäuscht.19
Urbane Binnenwelten
Die neuen Binnenwelten, wie John Portmans Atrien in Atlanta, sind seinerzeit enthusiastisch begrüßt worden. Ein anderes
Beispiel stellt der Crystal Court des IDSCenters in Minneapolis dar. Dessen Architekten Philip Johnson zufolge lasse die zen-
trale Lage den Innenhof zu einem Platz wie
in der Alten Welt werden, auf dem die ganze
Stadt zusammenkommen werde. Privatgebäude verleiben sich öffentlichen Raum ein
und werden zu Miniaturstädten eigenen
Rechts. Es entsteht eine Urbanität in neuer
Form: Mikro-Urbanität. Paradoxerweise
tragen diese Räume (in den USA) zur Wiederbelebung darniederliegender Stadtzentren bei und spielen zugleich eine aktive
Rolle bei deren Zerstörung. Denn was nun
in privater Bauherrenschaft erstellt wird,
bemüht zwar gern das Bild des öffentlichen
Raums – und wird von vielen auch unkritisch so erlebt –, gleichwohl aber dominieren bei Konzeption und Betrieb kommerzielle Interessen. Der Charakter öffentlicher
Räume und die urbane Vielfalt werden
durch die Wahrnehmung privaten Hausrechtes letztlich völlig in Frage gestellt.
Das CentrO in Oberhausen, Europas größtes Einkaufs- und Freizeitzentrum, hat in
den sechs Jahren seiner Existenz über
120 Millionen Besucher in der „Neuen Mitte“ Oberhausens empfangen. Wer es besucht, der kommt nicht nur, um einzukaufen, sondern um sein urbanes Flair zu
erleben. Eine von der Betreibergesellschaft
vertraglich fixierte und austarierte Mischung an Boutiquen, Filialketten und Restaurants, in denen man von mexikanisch
bis orientalisch alles probieren kann, ein
Multiplex-Kino sowie die einem Hafenkai
nachempfundene Promenade: ein gelungener Ort von „öffentlicher“ Wirkung, weil
punktgenau geplant und entsprechend inszeniert, zudem unauffällig überwacht und
gesichert, aber kein wahrlich öffentlicher
Raum, genauso wenig wie beim Sony-Center in Berlin. Hier entstehen Surrogate des
öffentlichen Raums, die umso attraktiver
sind, je besser es ihnen gelingt, ungeliebte
Erscheinungen des städtischen Lebens auszusperren.
Wenn man nun diese Privatisierung des öffentlichen Raums als eine gezielte Ausgrenzung interpretiert – wofür vieles spricht –,
dann wird die gesellschaftliche Integrationsfunktion, die die öffentliche Räume
bisher in den Städten ausgeübt haben, eingeschränkt. Zugleich verstärkt sie indirekt
den Funktionsverlust des verbleibenden
öffentlichen Raums. Denn dieser kann mit
den privatisierten Bereichen nicht konkurrieren: Es sinkt das Interesse, sich in ihm
aufzuhalten; er verliert als Kommunikationsraum an Bedeutung, wird schleichend
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hässlich und unattraktiv, verkommt zum
Rückzugsort für ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen. Diese Entwicklungen
schaukeln sich gegenseitig auf. Je unattraktiver der klassische Stadtraum wird, desto
eher wird er gemieden, desto größer wird
die Nachfrage nach geschützten geschlossenen Räumen.20
Diesen fundamentalen, gesellschaftlichen
Verlust scheint man nun mit einer obsessiven Gestaltung auffangen zu wollen. Um
sich in der Konkurrenz mit den privatisierten Räumen zu behaupten, greift eine zunehmende „Verkunstung“ so manchen öffentlichen Raums Platz. Sollte sich darin
eine Art Beschwörung der kommunalen
Handlungsfähigkeit an zentralen Schauplätzen ausdrücken, die doch nur klingt wie
das sprichwörtliche Pfeifen im Wald? Wer
auf eine Revitalisierung öffentlicher Räume
hoffte, der sieht sich – etwa am Potsdamer
Platz in Berlin – mit anspruchsvollem Produktdesign konfrontiert. Kühl und gekonnt,
bis ins Detail durchkomponiert, scheint das
Konzept der Animateure aufzugehen. Die
Besucher honorieren den Mix aus Unterhaltung, Shopping und Vergnügen –
jedenfalls bis Ladenschluss. Dann kann es
schon passieren, dass die Bürgersteige
hochgeklappt werden.
Die beliebte Klage um den Verlust des öffentlichen Raums will ins Bewusstsein rufen, was als unverzichtbarer Bestandteil der
städtischen Kultur mal vernachlässigt, mal
in hypertrophe Künstlichkeit gesteigert
wird. Dass ihre Plätze die „lächelnden
Augen“ einer Stadt darstellen, ist eine so
eingängige wie zutreffende Metapher, die
gleichwohl an der Wirklichkeit erheblich
gelitten hat. Bleibt man im Bild, dann wird
man nämlich konstatieren müssen, dass
viele dieser „Augen“ leider blind geworden
sind: ohne klare räumlich Fassung, gefräst
durch überbreite Straßen, von Autos entweder durchbraust oder zugeparkt, ungastlich und bar jeglicher Aufenthaltsqualität.
Doch gibt es auch das andere Extrem: jene
überinstrumentierten, mit Straßenmobiliar
vollgestopften oder kunstvoll inszenierten
öffentlichen Räume, die wie einst die „gute
Stube“ allenfalls zum Staunen und begucken, nicht aber zu handfester Nutzung
einladen. Kosmetik statt Therapie?
Vieles, was man heute in Städten als Platz
bezeichnet, ist überfüllt mit Telefonzellen,
Wartehäuschen, Kiosken, Masten, Schildern, Sammelcontainern, Abfallkörben,
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Blumenkübeln, Pollern, Bänken, Schaukästen, Litfaßsäulen usw. Anstatt Plätze frei zu
lassen und deutlich sichtbar mit Kanten,
Mauern, Fassaden oder anderen begrenzenden Elementen einzufassen, bleiben sie
häufig undefiniert oder man zerstört durch
Möblierungen ihre anschauliche Form.21
Offenkundig setzt man nicht auf Zweckmäßigkeit, sondern auf Atmosphäre oder sogar
Emotion. Andererseits führt die kategorische Empfehlung „Leerräumen“ nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen, sondern
gegebenenfalls zu Verschlimmbesserungen
und Monotonie.
An dieser Stelle ist ein Blick auf die „Produktion“ des Raums vonnöten. Architekten
können sich bei ihren Gestaltungen an
Zwecken orientieren, die sich selbst setzen
oder sich vorgeben lassen. Doch wie Architektur genutzt wird, ist Sache der Nutzer.
Die tatsächlichen Nutzungen von Architektur sind unter Umständen ganz andere als
die, denen sie nach Absicht der Architekten
dienen soll. Trotzdem bleibt den Architekten nur, sich Zwecke vorzustellen. Fraglich
ist indes – paradox gesagt –, welchen Zweck
der Zweckbegriff für die Architektur des
öffentlichen Raums eigentlich hat. Im Titel
des berühmten Buches „Kunst als Erfahrung“ von John Dewey wird auf eine mögliche Antwort hingewiesen. Dewey schreibt,
solches Produzieren sei „von der Absicht
bestimmt, etwas herzustellen, das durch
unmittelbare, sinnliche Erfahrung erfreuen
soll“.22 Damit ist der allgemeinste Zweck
der Kunst benannt, durch den sich ihre Produkte von anderen menschlichen Artefakten unterscheiden lassen, nämlich, durch
die Erfahrung sinnlich wahrnehmbarer Gestaltungen zu erfreuen.
Produktion von Raum
Nach dieser Definition ist evident, dass
auch architektonische Gestaltung – als
Kunst – hergestellt werden kann, um wahrgenommen zu werden. Die Baukunst unterscheidet sich darin vom rein gebrauchszwecklichen und konstruktiven Bauen und
gleicht anderer Kunst. Wenn Architektur
dem praktischen Handeln dienlich ist und
Gebrauchszwecke erfüllt, ist sie praktisch
zweckmäßig. Ist sie sinnlicher Erfahrung
und kontemplativer Betrachtung förderlich, so ist sie ästhetisch zweckmäßig. Doch
das eine schließt das andere nicht aus. Und:
„Verlust der Mitte“
bezeichnet nicht nur im
konservativen Sinne die
Aufgabe der Idee der
Ganzheit – und auch die
eigentümliche Unbestimmtheit unserer
öffentlichen Räume.
Wo eine geistig-gesellschaftliche Mitte nicht
mehr allgegenwärtig ist,
kann sie sich auch nicht
in einem öffentlichen
Raum oder räumlichen
Ensemble spiegeln –
oder gar aus ihm heraus
entfalten.
32
Eine zunehmende
Ausrichtung auf Galerien, Passagen und
Malls hat die Auszehrung der Städte nicht
nur im kommerziellen
Sinne beschleunigt,
sondern zu einer
Umpolung städtischer
Verhaltensformen
geführt.
Robert Kaltenbrunner: Splendid Isolation. Raum und Kunst, Platz und Gestaltung –
Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können
Gerade im öffentlichen Raum muss sie beides gleichermaßen erfüllen. Wolfgang Döring hat einmal festgehalten, dass „Bauen
zum Zwecke rein quantitativer Bedarfserfüllung noch lange keine Baukunst (ergibt).
Die Bauwerke können im Laufe ihres Bestehens ihren Zweck ändern, ohne damit ihre
Eigenschaft als Werke der Kunst zu verlieren. Es muss ihnen also ein geistiger Zweck
innewohnen, welcher sie unabhängig
macht vom bloßen Gebrauch. Eine Reduktion der Planung auf das reine Funktionieren, die bloße Programmerfüllung, auf die
notwendige Technologie führen ab vom
Weg zur Architektur“.23
Der österreichische Kunsthistoriker Alois
Riegl fasste Architektur als Resultat eines
Wollens, nicht aber von Sachzwängen auf.
„Architektur ist doch eine gebrauchszweckliche Kunst, und ihr Gebrauchszweck lautete in der Tat allezeit auf Bildung begrenzter Räume, innerhalb
deren dem Menschen die Möglichkeit
freier Bewegung offen stehen sollte. Wie
aber schon diese Definition lehrt, zerfällt die Aufgabe der Baukunst in zwei
Teile, die einander notwendigerweise
ergänzen und bedingen, aber gerade darum in einem bestimmten Gegensatz
zueinander stehen: die Schaffung des
(geschlossenen) Raumes als solchen
und die Schaffung der Raumgrenzen.
Damit war dem menschlichen Kunstwollen seit Anbeginn die Möglichkeit
geöffnet, den einen Teil der Aufgabe
einseitig auf Kosten des anderen zu betreiben. Man konnte die Raumgrenzen
derart überwuchern lassen, dass das
Bauwerk in ein plastisches Bildwerk
überging; man konnte andererseits die
Raumgrenzen in solche Ferne hinausschieben, dass im Beschauer dadurch
der Gedanke an die Unendlichkeit und
Unmessbarkeit des freien Raumes erweckt wurde.“24
Obwohl das Besondere der Kunst wesentlich formal ist, folgt daraus nicht, dass sie
bloß formal und insofern abgetrennt von
allem anderen ist. Die Verwandtschaft zwischen den Formen der künstlerischen Gestaltung und den Formen des Sozialen
kommt auch zum Ausdruck in Sigfried Giedions Worten:
„Stadtbau wie Demokratie, die diesen
Namen wirklich verdienen, liegt dieselbe Einstellung zugrunde: die Herstellung des Gleichgewichts zwischen
individueller Freiheit und kollektiver
Bindung. Mit anderen Worten: Der
Stand einer Kultur hängt davon ab, bis
zu welchem Grad eine chaotische Masse
in eine integrierte, lebendige Gemeinschaft verwandelt werden kann.“25
Um eine Balance im Sinne beider, Riegl und
Giedion, geht es hier und heute.
Wenn man von ästhetischer Zweckmäßigkeit spricht, wird man schnell dem Vorwurf
begegnen, man rede der Ästhetisierung der
Architektur oder der Alltagswelt das Wort.
Es lenke ab von sozialen, ökonomischen,
politischen, ökologischen und anderen
Problemen und verschleiere und verstärke
kritikwürdige Strukturen. Hartmut Häußermann und Walter Siebel formulieren solche
Einwände:
„Ästhetisierung der Stadt schafft das
Elend nicht ab, sondern nur beiseite (...)
Die stillste und zugleich effektivste Weise, Herrschaft zu sichern, besteht darin,
unliebsame Themen aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit auszuschließen.
Eben das ist eine latente politische
Funktion der Ästhetisierung der Stadt.
Sie betreibt die Dethematisierung gesellschaftspolitischer Probleme, indem
sie eine Stadtstruktur fördert, die jenen
auf der Sonnenseite der Stadt es leicht
macht, die Schattenseiten nicht zur
Kenntnis zu nehmen.“ Doch die beiden
Stadtsoziologen stellen auch fest: „Dass
Architektur Herrschaft ästhetisiert, ist
eine Plattheit, und würde man daraus
die Konsequenz ziehen, es dürfe solange
nur hässlich gebaut werden, wie das
Elend und die Ungerechtigkeit dieser
Welt nicht beseitigt sind, so wäre es
obendrein Barbarei (...) Stadtgestaltung
ist mehr und grundsätzlich anderes als
das Spielen mit Räumen, Licht und Farbe. Sie ist immer auch konkreter Eingriff
in Lebensweisen von Menschen.“26
Man kann nicht nicht gestalten, wohl aber
ignorieren, welche Auswirkungen Gestaltung auf die Lebensweisen von Menschen
haben kann. Das heißt nicht, die Notwendigkeit politischer Diskussion über die vielfältigen Probleme der Stadt und des öffentlichen Raums in Frage zu stellen.
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„Entscheidend ist, wie ein Raum genutzt
und empfunden wird. Auch wenn er de
jure öffentlich sein mag, kann die gefühlte Öffentlichkeit doch schwach entwickelt sein, auf Parkplätzen etwa oder
in zugigen Trabantenstädten. Umgekehrt kann ein de jure privater Raum
höchst urbane Gefühle erzeugen. Der
Alltag ist eben weniger von Idealen geprägt als von Konflikten um Sauberkeit
und Sicherheit. Der Streit zwischen
Hundehaltern und Familien mit Kleinkindern um die Hoheit über Spielplätze
oder Ballwiesen kann prägender für das
Verhältnis eines Städters zu einer Stadt
sein als alle Glanz- und Glasprojekte der
Innenstadt.“27
Gestaltung ist ein eigenständiger Bereich,
der weder ausschließlich auf nichtästhetische Bereiche zurückgeführt werden kann,
noch ausschließlich solchen Bereichen
dient. Besonders wenn Architektur mehr
und mehr die Sache von Investoren, von
ihren Spekulationen und Gewinnabsichten
ist, stellt sich die Frage, wie sie die Lebensbedingungen derer prägt, die nicht von ihr
profitieren. Gestaltung von Plätzen zumindest kann mehr sein, als ein bloß verhübschendes Spiel mit Räumen, Licht, Farbe
und Material, zumal ernsthafte künstlerische Gestaltung nicht mit Effekthaschereien, Sinnesreizen, Gags und Drolligkeiten
zu verwechseln ist – auch wenn all dies
manchmal mit dem Prädikat „ästhetisch“
belegt wird. Indem jedoch die öffentliche
Hand immer stärker in eine Rolle gleitet,
die sie einem privaten Investor oder Developer ähneln lässt, verschieben sich die Gewichte.
Image, Event, Marketing
Vielleicht hilft ein Blick auf den größeren
Zusammenhang: Einer Stadt, die noch keine Marke ist, die noch kein „Branding“ hat,
fällt es schwer, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Aufmerksamkeit auf
sich zu lenken. Image und Ruf bekommen
so einen bedeutenden Anteil an ihrer strategischen Konkurrenzfähigkeit. Dass die
Attraktivität einer Stadt, mithin ihr öffentlicher Raum dabei eine wichtige Rolle
spielt, leuchtet ein. So weit, so gut. Fatal jedoch ist eines: Im Bestreben, ihr MarkenImage zu verbessern, konzentrieren sich
33
viele Städte mehr auf die Werte und Emotionen, die die Kunden und Bürger mit dem
„Produkt“ verbinden, als auf deren Qualität
selbst.
Da alle Orte mit ununterscheidbaren Massenprodukten überschwemmt werden, versuchen Städte, gleichsam sich selbst zu individualisieren – aber eben alle auf die (fast)
gleiche Weise, in bewährten Schablonen.
Hauptsache, damit wird ein bestimmter
Lifestyle befördert oder ein – wahlweise
cooles, vorzugsweise behagliches – Image
propagiert. Wohlfeile Sitzgelegenheiten,
stählerne Kioske, ausgreifende Wasserspiele und opulente Plastiken reüssieren. Abgezielt wird auf ein Prestige, das durch Exklusivität entsteht; erreicht wird hingegen das
rechte Gegenteil.
Das Stadtmarketing geht immer häufiger
den Weg zur „Ereigniskultur“. In der breiten Palette dieser temporären Ereignisse
hat die Inszenierung der öffentlichen Räume inzwischen einen festen Platz. Besonders eindrucksvoll sind dabei Lichtinszenierungen. Zunehmend mehr Metropolen
halten sie in ihrer gesamtstädtischen Topographie inzwischen für ein spektakuläres
Aufgabenfeld, das Profil im internationalen
Standortwettbewerb abwirft. Ist es diese Art
von öffentlichem Raum, die wir tatsächlich
brauchen, ein öffentlicher Raum, auf den
man den Mythos-Begriff von Roland
Barthes anwenden könnte: Er „organisiert
eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne
Tiefe, eine in der Evidenz ausgebreitete
Welt, er begründet eine glückliche Klarheit.
Die Dinge machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein“.28
Das Typische der Stadt sind Wechsel und
Vielfalt, Andersartigkeiten bis hin zu Unvereinbarkeiten von Lebensweisen und ihren
Ausdrucksformen – gleichzeitig und nebeneinander. Es ist nach wie vor ein Merkmal
des Städtischen, nicht immerfort gleich zu
sein, begrenzt, gewohnt – also das, was sich
auf vorgezeichneten Wegen abspielt und
provinziell genannt wird. Tatsächlich lebt
der öffentliche Raum von und in dem Paradox gleichzeitiger Differenzierung und Integration; es lässt sich erkennen am „Spannungsfeld zwischen Liberalität und autoritärem Law and Order, an den fließenden
Grenzen zwischen Toleranz und Anomie,
an den durch den Stadtraum wandernden
Zonen von Angst und den Bereichen öffentlicher Festivitäten“.29
Clevere Projektentwickler haben im
Gegensatz zu manchen
Architekten schneller
begriffen, dass sich
Öffentlichkeit anscheinend durch attraktives
Ambiente und reichhaltiges Warenangebot
definiert, dass Standortfragen und Raumqualitäten erst bei
Umsatzeinbrüchen auf
ihre ästhetischen
Qualitäten überprüft
werden.
34
„Die soziale und
sozialpsychologische
Beziehung zu einem Ort
ist nicht nur für viele
Menschen von Bedeutung, sondern auch für
die Entwicklung der
Orte selbst.“
Detlev Ipsen, Die Kultur
der Orte, 2002
Robert Kaltenbrunner: Splendid Isolation. Raum und Kunst, Platz und Gestaltung –
Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können
Langlebigkeit, Sicherheit und Stabilität mögen als Werte gelten, an denen sich Stadtplanung und Architektur auch weiterhin
orientieren. Aber sie sind es nicht allein,
und sie können zu verlogenen Mythen werden, zu einer kitschigen Illusion von Identität und Gemeinschaft. Wenn es um Öffentlichkeit geht, dann geht es auch um die
Zwanglosigkeit des Rahmens, innerhalb
dessen sich Kontakte ergeben (können).
Gerade die Bandbreite des Möglichen ist
das eigentlich Spannende an der „urbanen“
Situation. „Trotz aller Kasuistik erlaubter
Themen kann sich aus der Frage nach dem
Weg ein Flirt entwickeln.“ 30 Anregend wird
die Stadt durch Verrücktheiten, Überraschungen und Unordnungen, so der amerikanische Soziologe Richard Sennett.31
Just das aber lässt sich nicht planen. Und
dennoch – oder gerade deshalb – wird der
öffentliche Raum geplant, ja auf Feinste gestaltet: Baumreihen und Blumenrabatten,
Verkehrsschilder, Sitzbänke und, scheinbar
unvermeidlich, Brunnen und Wasserspiele
unterschiedlichster Provenienz. Als modische Apercus: Aufkantungen und Reliefverschiebungen, Spiel mit Ebenen und Schrägen, mit Niveauunterschieden, Materialien,
Pflastertexturen. Indes, gut gemeint ist das
Gegenteil von gut gemacht. Und man steht
vor eben jenem Dilemma, das André Corboz dem Städtebau in toto zuschreibt:
„Es ist die Idee der Rationalisierung, im
Sinne einer absoluten Kontrolle, der
Ausschaltung des Unvorhersehbaren
und der gleichzeitigen Errichtung einer
ebenso perfekten wie definitiven Ordnung. (...) Der Städtebau ist aber der
Spieltheorie zugehörig, der zufolge die
Spieler sich entscheiden, ohne die einzelnen Gegebenheiten des Problems zu
kennen, von denen einige bekannt sind,
andere zufallsbedingt, wieder andere
unbestimmbar.“32
Freilich lässt sich auf diese komplexe Herausforderung keine einfache und überall
gültige Antwort formulieren. Klar sein aber
sollte immerhin, dass der öffentliche Raum
in „splendid isolation“ nicht der probate
Weg ist. Aufwendige Platzgestaltung führt
mitnichten zum sicheren Erfolg. Dabei
droht der urbane Raum vielmehr in einem
System von Zeichen und flüchtigen Bildern
zu verschwinden. Wird der Planer künftig
zum (bloßen) Szenographen, der mit Emotionen jongliert?
„Inzwischen gibt es eine verbreitete
Tendenz, die Piazza als eigenständiges
Element zu behandeln, das nicht wie der
öffentliche Raum der historischen Städte Europas ein integraler, also nicht herauslösbarer Teil eines Stadtquartiers ist,
sondern etwas, was in die moderne
Stadt hineingestellt wird. Ihre Funktion
– als Erfindung der Moderne hat die
Piazza selbstverständlich eine Funktion – ist nichts anderes als das Zurschaustellen der Architektur, die die
Piazza umrahmt. Die Nutzungen, falls
solche als Teil der Piazza überhaupt vorgesehen sind, dienen der Unterhaltung
derjenigen, die hierher kommen, um
das Raumerlebnis der Piazza zu genießen und die Erfindungskraft der Architektur zu bewundern – Öffentlichkeit
wird damit bestenfalls simuliert.“33
Kunst und Gestaltung darf im Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum nicht vordergründig in die Rolle gedrängt werden,
das „Zeichensichtbare noch zu überhöhen“
(Karl Ganser), also dem Spektakel zu dienen. Wenn Architektur Hintergrund ist, wie
mitunter postuliert wird, dann kommt es
darauf an, welche Rolle die Hintergründe
spielen. Die meiste Architektur steht für die
meisten Menschen meistens nicht im Vordergrund, ist nicht Objekt ihrer praktischen
Tätigkeiten, ist nicht Mittel zur Erfüllung
eines Zweckes. Sie ist aber da, sticht ins
Auge, ist unübersehbar, drängt sich auf, ist
unumgänglich. Die Landschaft aus natürlichen und künstlich hergestellten Dingen
im Hintergrund, die Wände und Dinge, die
in Wohnräumen Hintergründe bilden, formen doch das Leben, die Handlungen und
Gefühle an Ort und Stelle mit. Die Alsterarkaden am Jungfernstieg in der Nähe des
Rathausmarktes in Hamburg etwa bilden
solch einen Hintergrund. Sie wirken durch
ihre Farbe, ihr Maß, ihre Proportion und ihren Rhythmus. Sie nobilitieren den Ort, an
dem sie stehen, anstatt ihn öde zu machen.
Sie machen offensichtlich, dass öffentlicher
Raum in der Vergangenheit mit relativ einfachen Mitteln oft sehr viel subtiler gefasst
wurde, als es heute mit großem Aufwand
gelingt.
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 1/2.2003
Atmosphären
35
Zur Diskussion stehen Qualität und Nutzung des öffentlichen Raums in Zeiten der
Event-Kultur, in denen die Grenzen zwischen „öffentlich“ und „privat“ immer stärker verschwimmen. „Öffentliche Räume
lassen sich nicht mehr als bloßen Gegensatz zum Privaten begreifen. Sie folgen keinen festgelegten Funktionen. Öffentliche
Räume können heute eher als wechselhaft
besetzte Orte beschrieben werden, die ihre
Bedeutung ständig ändern.“ 34
Das Bekenntnis der Architekten zum öffentlichen Raum ist dabei so erfreulich, wie
ihre häufig wohlfeilen Rezepte zum Kopfschütteln einladen: „Nur eine ästhetische
Gestaltung von Rang macht urbane Orte
wirklich zu Orten der Identifikation. Ästhetik fördert Kommunikation.“ 37 Den kausalen Konnex zwischen Öffentlichkeit und
Gestaltung, es gibt ihn nicht. Im Begriff der
Offenheit und Transparenz, wie ihn moderne Architekten verstanden, steckt ein Widerstreit zwischen Architektur als Realität
und Architektur als Symbol.
Die Omnipräsenz des Mobiltelefons hat
beispielsweise das Telefonieren annähernd
zu einer Sache der Res publica gemacht, indem Ehezwistigkeiten oder Intimitäten freiwillig ins Publikum posaunt werden. Das
Private, so scheint es auch in vielen modernen Gebäuden auf, ist längst nicht mehr das
Refugium, wie es so oft seit der Romantik
beschworen wurde. So wie der öffentliche
Raum unserer Städte immer mehr in halb
öffentlichen Sphären der Einkaufszentren,
Amüsierbetriebe und Fernsehstudios verschwindet, so verwandelt sich auch der private Raum in einen Zwitter. Als wäre die
manchmal schon gnadenlose Offenheit der
Talkshows nun auch in die Architektur eingedrungen.35
Offene Grundrisse und Raumgrenzen sind
eine Sache – doch die Offenheit sozialer
Strukturen ist etwas völlig anderes. Ein Parlament, eine Versicherung mag in Gebäuden mit offenen Grundrissen und Raumgrenzen untergebracht sein – aber das
macht die dort verhandelten Dinge und die
dort herrschenden Strukturen keineswegs
transparenter und flexibler.38 Architektur
wäre ähnlich heuchlerisch wie die Stil-Revivals des 19. Jahrhunderts, würde sie die
Rede von der Offenheit allzu wörtlich nehmen und die Formen der Raumgestaltung
mit den kategorial verschiedenen Formen
politischer und ökonomischer Wirklichkeit
identifizieren, verwechseln und durcheinanderbringen.
Wenn der öffentliche Raum bedroht ist,
dann liegt die Bedrohung nicht allein in
Privatisierungstendenzen und im allgegenwärtigen Vandalismus, sondern auch in
seiner ästhetischen Funktionalisierung und
Überinstrumentierung. „Was als ‘Verschwinden der Orte’ diagnostiziert wird, ist
in Wahrheit eine Form der Neuerfindung
des Raums. Wir haben es mit zwei gegenläufigen Prozessen zu tun: Die Orte verschwinden – und sie kommen wieder! Sie
kehren zurück in veränderter Form und
Funktion. Offenbar wird der Verlust an
sinnlich-ästhetischen Raumqualitäten als
Mangel empfunden. Dieser läßt eine Nachfrage und damit einen entsprechenden
Markt entstehen. Beliefert wird er von einer
neuartigen Orte-Industrie, die von dem Bedürfnis nach urbanen (und ruralen) Atmosphären profitiert, einer Industrie für Städteund Landschaftsfiktionen.“ 36 Es ist dies das
paradoxe Faktum der Enteignung des öffentlichen Raums in Gestalt seiner Reinszenierung.
Aus solchen Einsichten sind für den Umgang mit dem öffentlichen Raum, auch den
gestalterischen, Lehren zu ziehen. Doch sei
daran erinnert, was Le Camus de Mézières
schon 1780 festgehalten hat: Es reicht nicht
aus, das Auge zu erfreuen, der Architekt
muss unsere Seele berühren. Dass das geht,
hat etwa Oriol Bohigas mehrfach bewiesen.
Dem renommierten katalanischen Architekten und Urbanisten sind bei der Modernisierung Barcelonas wie auch beim Umbau Salernos fraglos Definitionen von Ort
und Platz geglückt, die dem öffentlichen
Raum insgesamt eine Renaissance bescherten – vielleicht, weil er die Res publica stets
zur Maxime seines Handelns macht, indem
er das Wesen einer Stadt an der Gestaltung
ihres öffentlichen Raums abliest und
daraus Rückschlüsse auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bewohner
zieht.39 Und mit solch einem Beispiel vor
Augen mag sich auch jener rätselhafte Satz
erklären, den Hans-Georg Gadamer einmal
notierte: „Erst seit wir keinen Platz für Bilder mehr haben, wissen wir wieder, dass
Bilder nicht nur Bilder sind, sondern Platz
heischen.“ 40
Der Städtebau hat die
gesellschaftliche
Verantwortung, öffentliche Räume, Freiflächen
und Anlagen zu schaffen, in denen sich die
Menschen gerne
aufhalten: „Architektur
(...) hat mit Optimismus,
Freude und einem
Gefühl der Sicherheit zu
tun, der Sicherheit, dass
in einer ungeordneten
Welt Ordnung herrscht.
(...) dass an einem
trüben Tag Licht da ist.“
Norman Foster, Architektur
mit sozialem Gewissen, 1994
36
Robert Kaltenbrunner: Splendid Isolation. Raum und Kunst, Platz und Gestaltung –
Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können
Anmerkungen
(1)
Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. –
München 1967, S. 52
(2)
Vgl. Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. – Hamburg
1961, S. 70
(3)
Vgl. Bahrdt, Hans Paul: Himmlische Planungsfehler.
Essays zu Kultur und Gesellschaft. Hrsg.: Ulfert Herlyn. – München 1996, S. 195 ff. Als Charakteristikum
der künftigen „urbanen“ Stadt sieht Walter Siebel
ebenfalls eine Polarität: Sie werde geprägt sein müssen von dem prinzipiellen Widerspruch zwischen
Dienstleistungsmaschine und Heimat, also zwischen
Entlastung von sozialer Kontrolle einerseits und Vertrautheit andererseits. Vgl. Siebel, Walter: Was macht
eine Stadt urban? Definitionen, Einwände und Widersprüche. In: Einblicke, Nr. 16. – Oldenburg 1992, S. 21
(4)
Beispielsweise meint Öffentlichkeit als Begriff der Planung in erster Linie die Möglichkeit dazu, d. h. den
Raum, der mehreren oder (theoretisch) allen Menschen zur Verfügung steht. Er misst sich nicht nur an
topographischen Parametern, sondern auch an gesellschaftlichen. Entscheidend sind die Grenzen, die
räumlichen wie die immateriellen. Jene bestehen
zumeist aus festen Körpern: tektonischen Elementen,
bei Plätzen auch aus ganzen Gebäudegruppen. Diese
definieren sich nach einem anderen Reglement – und
mancherlei Missverständnissen.
(5)
Dass das Zurschaustellen von Luxus ein integraler Bestandteil von Stadtkultur sei, ja von vielen als gleichbedeutend mit ihr gesehen werde, hat Werner Sombart
schon 1913 in seinem Essay „Luxus und Kapitalismus“
brillant geschildert.
(6)
„Es gibt mehr Straßencafés und mehr Straßenkunst
denn je; die Zahl der Designerbänke, -mülleimer und laternen ist unermesslich; und nie zuvor wurden die
Städte intensiver als Spiel- und Sportstätten für Skateboarder oder Jogger genutzt. Und nicht nur die konsumierende, die flanierende und die sich körperlich erhitzende Öffentlichkeit erweist sich als lebendig. Auch
der politische Mensch nimmt sich seinen Raum: Keine
Demonstration, die wegen der neuen Einkaufszentren
nicht hätte organisiert werden können.“ Rauterberg,
Hanno: Wohnzimmer ist überall. Die Zeit, 03/2002
(7)
Ganz neu ist diese Entwicklung indes nicht; bereits vor
fünfzehn Jahren stellte Karl-Dieter Keim fest: „Persönlichkeitsentfaltung und individuelle Selbstdarstellung
gelten heute als Norm auch im öffentlichen Bereich.“
Keim, Karl-Dieter: Stadtkultur heute. Vom gesellschaftlichen Wandel des Urbanitätsverständnisses. Neue
Rundschau, 99 (1988) Nr. 4, S. 155
(8)
Hassenpflug, Dieter: Citytainment oder die Zukunft
des öffentlichen Raums. In: Metropolen. Laboratorien
der Moderne. Hrsg.: Dirk Matejovski. – Frankfurt/M.,
New York 2000, S. 308
(9)
Ipsen, Detlev: Die Kultur der Orte. Ein Beitrag zur sozialen Strukturierung des städtischen Raums. In: Differenzierungen des Städtischen. Hrsg.: Martina Löw. –
Opladen 2002, S. 236
(10)
Burckhardt, Lucius: Die Stadtgestalt und ihre Bedeutung für die Bewohner. In: Labyrinth Stadt. Hrsg.: M.
Andritzky, P. Becker, G. Selle. – Köln 1975, S. 126
(11)
Benjamin fährt fort: „Erfahrungsarmut: das muß man
nicht so verstehen, als ob die Menschen sich nach
neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen sich von
Erfahrungen freizukommen, sie sehnen sich nach einer Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und
schließlich auch die innere, so rein und deutlich zur
Geltung bringen können, daß etwas Anständiges
dabei herauskommt.“ Benjamin, Walter: Erfahrung
und Armut (1931). In: Walter Benjamin: Angelus Novus. – Frankfurt/M. 1966, S. 317
(12)
Altenstadt, Ulrich von: Der öffentliche Raum: Geschichte, Renaissance und Bedrohung. Der Architekt
(1990) Nr. 11, S. 497
(13)
Vgl. Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. – Frankfurt/M.
1994
(14)
Deren Medium ist der Plan – oder die Karte –, womit
das Problem bereits Kontur gewinnt: „Ähnlich wie die
Sprache, abstrahiert damit auch die Karte vom realen
Stadtraum, und zwar, indem sie ihn von dem darin befindlichen Leben bereinigt: Straßen ohne Autos, Plätze
ohne Menschen und Fußgängerzonen ohne Fußgänger. Stadtraum ohne Geräusche, Gerüche, Anmutungsqualitäten, Stadtraum objektiv und abstrakt, generalisierbar und allgemein verbindlich, kanonisiert.“
Lang, Barbara: Zur Ethnographie der Stadtplanung.
Die planerische Perspektive auf die Stadt. In: Kulturwissenschaftliche Stadtforschung. Hrsg.: W. Kokot, T.
Hengartner, K. Wildner. – Berlin 2000, S. 59
(15)
Corboz, André: Die Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zu bringen. – Basel, Berlin, Boston 2001. = Bauwelt Fundamente 123, S. 55
(16)
Zwar gibt es in den raumwissenschaftlichen Disziplinen eine berechtigte Skepsis gegenüber der These einer bewussten, „Öffentlichkeit fördernden“ Gestaltbarkeit des öffentlichen Raums, wohl aber wird weithin
akzeptiert, dass dieser von jener nicht unabhängig ist.
Um nur eine Meinung zu zitieren: „Raumstrukturen, in
denen sich sozialer Raum und symbolischer Raum
überschneiden, sind nur zum Teil der direkten Gestaltung durch Architektur und Städtebau zugänglich. Die
Bedeutung ist zwar an Gebäude und Ausstattungen
gebunden, aber nicht durch sie bestimmt. Trotzdem:
(...) Auch wenn ‘Raumprogramme’ für sich genommen
außerstande sind, Defizite und Beschädigungen im
städtischen Leben zu beseitigen, so können sie doch
strategisch eingesetzt werden. Der Stadtraum läßt sich
‘inszenieren’. Das Medium der Stadtgestalt und des
Bildes ermöglicht es, nach den Interessen der Akteure
Bedeutungen zu schaffen.“ Keim, Karl-Dieter, Stadtkultur heute, a. a. O., S. 148
(17)
Zitiert nach Foster, Norman: Architektur mit sozialem
Gewissen. Du, Zürich (1994) H. 11, S. 21
(18)
Nur am Rande kann hier auf ein Phänomen hingewiesen werden, dass dieser Entwicklung massiv Vorschub leistet: der zunehmende Vandalismus. Am
sichtbarsten auftretend im scheinbar anonymen, verantwortungsleeren „öffentlichen Raum“ – als Zertrümmerung der Glaswand einer Bushaltestelle, als Graffiti
an einem Brunnen, als Zerstörung einer Telefonzelle –
mag er zwar als provokatives Indiz für soziale und psychische Hilflosigkeit interpretiert werden, bleibt aber
ein so gravierendes wie ungelöstes gesellschaftliches
Problem. „Wo soziale und ökonomische Unterschiede
zu groß, die Kluft zu spürbar werden, wo blanke Gewinnsucht natürliche Lebensbedürfnisse zubetoniert
und soziale Ungerechtigkeit die humane Vision einer
solidarischen Gemeinschaft zur Farce macht, da sind
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 1/2.2003
die Folgen nicht selten als ‘vandalistische Spuren’ im
öffentlichen Raum ablesbar. (...) Überdruß-Vandalismus: Die Welt in ihrer Singularität, die Welt auch singulärer Objekte scheint seit etwa hundert Jahren haptisch wie optisch zum raschen Verbrauch verurteilt. Die
Grenzen verschwimmen, das ‘déja vu’ nimmt zu und
mithin die Ununterscheidbarkeit im öffentlichen Raum.
Wobei denn auch Unterschiede kaum mehr gemacht
werden – ‘konsumierbar’ wird alles, optisch, haptisch,
zum raschen, zum ‘alsbaldigen’ Verbrauch bestimmt,
in einer Welt von lauter Konsumenten, Voyeuren, Gaffern, Produzenten, Reproduzenten.“ Strodthoff, Werner: Vandalismus und öffentlicher Raum. Der Architekt
(1990) Nr. 11, S. 508
(19)
Vgl. Feldtkeller, Andreas: Die zweckentfremdete Stadt.
Wider die Zerstörung des öffentlichen Raums. – Frankfurt/M. 1994, S. 18
(20)
Dass diese Tendenz nach dem schrecklichen Attentat
in New York vom 11. September noch zunehmen wird,
darauf hat Richard Sennett jüngst hingewiesen: „Physisch wird es eine schärfere Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum geben. Der private Raum
wird mehr und mehr überwacht werden ... Die Gesellschaft versucht auf eine irrationale Bedrohung mit
‘panoptischer’ Macht zu reagieren, also mit totaler visueller Überwachung. Man bringt dabei ein Kontrollmodell aus dem Strafvollzug in den öffentlichen
Raum.“ Der Tagesspiegel, Berlin v. 23.9.2001, S. 25
(21)
„Plätze in Platznot gibt es in den innerstädtischen
Wohnquartieren jeder deutschen Großstadt. Es
herrscht Platzangst vor der gebauten Leere, vor dem
offenen Raum, vor dem freien Blick. Deshalb wird parzelliert, modelliert und reglementiert. Doch jeder Blumenkübel wird früher oder später zum Ersatzmülleimer und jeder Granitblock zur Graffiti-Fläche, durch
jedes Beet führt eine potentielle Abkürzung. Liegengelassene Hundegeschäfte fallen hierzulande unter Kavaliersdelikte. Um den programmierten Verfall aufzuhalten, braucht es Pflege, die sich keine Kommune
mehr leisten kann.“ Alexander, Matthias: Fehlender
Mut zur schönen Leere. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 10.2.2002, S. 53
(22)
Dewey, John: Kunst als Erfahrung. – Frankfurt/M.
1980, S. 62
(23)
Döring, Wolfgang: Konstruktion und Form. – Stuttgart,
Berlin, Köln 1995, S. 13
(24)
Riegl, Alois: Spätrömische Kunstindustrie. – Wien
1927, 5. Aufl. Darmstadt 1987, S. 26
(25)
Giedion, Sigfried: Architektur und Gemeinschaft – Tagebuch einer Entwicklung. – Hamburg 1956, S. 96
(26)
Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter: Neue Urbanität.
– Frankfurt/M. 1987, S. 209 f.
37
(30)
Bahrdt, Hans Paul: Großstadt, a. a. O., S. 47
(31)
Sennett, Richard: Etwas ist faul in der Stadt. Die Zeit,
Nr. 5 v. 26. Januar 1996, S. 48
(32)
Corboz, André: Die Kunst, a. a. O., S. 73
(33)
Feldtkeller, Andreas: Die zweckentfremdete Stadt,
a. a. O., S. 55 f.
(34)
Hubeli, Ernst: Zur Bedeutung der Geschichte in
Städtebau und Architektur. Die alte Stadt (2002)
Nr. 1, S. 54
(35)
Auch nach außen proben viele aktuelle Bauten eine
Offenheit, in der die Bewohner ihr Leben fast schon
demonstrativ zur Schau stellen. Wie auf einem
Schiffsdeck fühlt man sich in dem dreigeschossigen
Eckhaus, das der Architekt Shigeru Ban jüngst in einem dicht bebauten Viertel Tokyos errichtet hat. Zur
Straße steht der Bau ohne Wände da, und Küche,
Schlaf- und Arbeitszimmer werden zur Bühne.
Allerdings nur, wenn die dort wohnende Familie es
so will. Bei Wind und Kälte kann sie aus den Ecken
die Schiebefenster hervorziehen, die vom Boden bis
zur Decke reichen. Und für den Schutz vor unerwünschten Einblicken gibt es einen Vorhang, der vor
den Fenstern hängt und so lang ist, dass er beide
oberen Geschosse überspannt. Wenn man ihn
schließt, sieht das Haus aus wie ein strenger Würfel,
verhüllt von einer knittrigen Membran – von einer
Vorhangfassade im wahrsten Sinne.
(36)
Hassenpflug, Dieter: Citytainment, a. a. O., S. 313
(37)
So etwa Johannes Ringel von RKW Rhode Kellermann Wawrowsky (Düsseldorf) unlängst im Deutschen Architektenblatt (Nr. 9, 2001, S. 7). Auch
Richard Rogers bleibt oberflächlich, wenn er darauf
hinweist, welche Rolle die Offenheit der Architektur
für die Gestaltung des öffentlichen Raumes spielt:
„Ich glaube leidenschaftlich daran, dass wir den öffentlichen Bereich stärken müssen, sowohl in philosophischer wie auch in physischer Hinsicht, da der
öffentliche Bereich die Feuerprobe einer fürsorgenden und kreativen Gesellschaft ist. Die philosophische Manifestation des öffentlichen Bereiches besteht in der Existenz fundamentaler Menschenrechte
und seine physische Manifestation in der Artikulation
dieser Rechte in dreidimensionalem Raum. Städtische Bauten und – noch wichtiger – der Raum um sie
herum, zwischen ihnen und sogar der durch sie hindurchgehende Raum, müssen für alle Bürger offen
und so einladend wie möglich sein.“ Zit. n. Glancey,
Jonathan: Alienation is off his menu. The Independent v. 13. Juni 1996, S. 16
(27)
Rauterberg, Hanno: Wohnzimmer ist überall, a. a. O.
(38)
So sitzt man auch im Begriff der öffentlichen Gebäude und Einrichtungen häufig einem Missverständnis
auf, indem sie zwar allgemein zugänglich, aber eben
nicht in dem Sinne öffentlich sind, dass sie jedermann beliebig offen stehen.
(28)
Barthes, Roland: Mythen des Alltags. – Frankfurt/M.
1964, S. 132
(39)
Vgl. Gabriella Vitiello: Die Seele zurückgeben. Frankfurter Rundschau v. 18.10.2002
(29)
Ipsen, Detlev: Die Kultur der Orte, a. a. O., S. 233
(40)
Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode –
Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. – 4.
Aufl., Tübingen 1975, S. 130