Splendid Isolation
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Splendid Isolation
Informationen zur Raumentwicklung Heft 1/2.2003 27 Splendid Isolation Robert Kaltenbrunner Raum und Kunst, Platz und Gestaltung – Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können Offenkundig ist es heute in kritischen Kreisen opportun, bei jeder Gelegenheit den Verlust an öffentlichem Raum zu beklagen. Hannah Arendt hat für diesen Missstand einmal ein schönes Wort geprägt: „Die Situation ähnelt in ihrer Unheimlichkeit einer spiritistischen Séance, bei der eine um einen Tisch versammelte Anzahl von Menschen plötzlich durch irgendeinen magischen Trick den Tisch aus ihrer Mitte verschwinden sieht, so daß nun zwei sich gegenüber sitzende Personen durch nichts mehr getrennt, aber auch durch nichts Greifbares mehr verbunden sind.“ 1 Der Drang nach draußen Schon der Begriff Öffentlichkeit ist schwer fassbar, was es vielleicht (zu) einfach macht, seinen vermeintlichen Schwund zu thematisieren. Hans Paul Bahrdt zufolge entsteht Öffentlichkeit dort, wo durch bestimmte Stilisierungen des Verhaltens dennoch Kommunikation und Arrangement zustande kommen.2 In seinem grundlegenden Aufsatz „Öffentlichkeit und Privatheit“ beschreibt und fixiert er jenes spezifische Spannungsverhältnis, aus dem sich erst entwickeln kann, was gemeinhin Urbanität genannt wird. Die Polarität als Bedingung: Bahrdt versteht es, einerseits die positive Bedeutung von sozialer Distanz geschichtlich aus den Konstitutionsprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft herauszuarbeiten, andererseits die aktuelle Chance zu Distanzierungen als Voraussetzung für urbanes Leben zu thematisieren.3 Damit konstituiert er zentrale Aspekte der Res publica. Wie eh und je ziehen Sonne, Luft, Wärme und Grün die Menschen an, auch wenn noch so viele Fernsehsender rund um die Uhr bunte Lockungen ausstrahlen. Je umfangreicher die fiktionalen Angebote werden, umso mehr scheint das Bedürfnis nach realem städtischen und landschaftlichen Lebens-Raum zuzunehmen. Massen von Fußgängern, Inline-Skatern, Fahrrad- und Skateboardfahrern strömen jedenfalls nach draußen auf die Straßen, Plätze und Grünflächen, sobald ihnen das Wetter nicht den Spaß dazu verdirbt. Indes, was der „öffentliche Raum“ nun genau ist, was er „zu leisten“ vermag und was nicht, welchen Zwängen er unterliegt und wodurch, welche Potenziale er birgt und wie diese zur Geltung gebracht werden können: Kaum je ist es gelungen, Fragen wie diese erschöpfend zu beantworten.4 Dennoch, oder gerade deshalb, lohnt der erneute – und gleichsam von der Soziologie zur Architektur mäandernde – Blick auf den unübersichtlichen Zusammenhang zwischen öffentlichem Raum und Gestaltung. Vielfach ist prophezeit worden, dass die Menschen in Zukunft vorwiegend vor Bildschirmen und unter Datenhelmen hocken, um sich in einer bloß virtuellen Realität, auf Daten-Autobahnen und im Cyberspace nicht mehr körperlich, sondern nur noch fiktiv zu tummeln. Die Nutzung der öffentlichen Räume lässt eher das Gegenteil erwarten – was vielleicht damit zusammenhängt, dass viele Berufe heute in Innenräumen und ohne ausgeprägt körperliche Tätigkeiten ausgeübt werden. Nicht die gestalterische Ästhetisierung von städtischen Plätzen verschafft diesen Öffentlichkeit, sondern ihre Erlebnisqualität nach heutigem Lebensgefühl – und das heißt auch: Konsum im attraktiven Ambiente, Fun, Event. Danach definieren sich weitestgehend auch ihre – fragmentierten – Raumqualitäten. Städtischer Raum ist heute wie in der Vergangenheit Freizeit-Raum; und offensichtlich befriedigt man in ihm das Bedürfnis, zu sehen und gesehen zu werden. Der Konsumgüterindustrie und Gastronomie ist’s recht so. Soziologen haben für zeitgenössische Gesellschaften Begriffe wie „Erlebnisgesellschaft“ oder „Multi-Optionsgesellschaft“ geprägt. Tatsächlich ist der freie städtische Raum ein Multioptionsraum, und wie er genutzt wird, ist nicht mit wenigen Begriffen zu klassifizieren. Er ist Erlebnis-Raum, der vielerlei Formen des Freizeitverhaltens ermöglicht. Auch wenn der Ausdruck FunGesellschaft die Wirklichkeit nicht trifft – viele öffentliche Räume werden als „funplaces“ genutzt, für „events“ aller Art. Dr. Robert Kaltenbrunner Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Deichmanns Aue 31-37 53179 Bonn E-Mail: robert.kaltenbrunner@ bbr.bund.de 28 „Wir müssen Fehlentscheidungen der Vergangenheit korrigieren. Parkanlagen und Brunnen waren die ersten Opfer der Sparpolitik. In Zukunft soll gelten: Öffentliches Geld für öffentliches Eigentum, privates Geld für privates.“ Peter Strieder, Senator für Stadtentwicklung Berlin, in Tagesspiegel v. 30.8.2002 Robert Kaltenbrunner: Splendid Isolation. Raum und Kunst, Platz und Gestaltung – Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können Einkaufen und Spaßhaben sind gängige Leitbilder urbaner Lebensweise, zugleich Teil unserer Selbstinszenierung im öffentlichen Raum.5 Andererseits haben wir uns daran gewöhnt, inmitten dichtesten Trubels die Möglichkeit zu Rückzug und Kontemplation unter freien Himmel und im Grünen zu besitzen. Die historische Stadt europäischen Zuschnitts erfand dafür Parks, Grünanlagen und Stadtplätze. Letztere werden hier und da noch als Märkte und zur Schaustellerei genutzt, doch die meisten von ihnen dienen nicht mehr den Zwecken, denen sie ihr Entstehen verdanken. Namen wie „Holzmarkt“, „Gänsemarkt“ oder „Pferdemarkt“ bezeugen das. Was sich heute auf Plätzen zuträgt, hat auch in anderer Hinsicht nicht mehr viel mit dem zu tun, was sich dort in der Vergangenheit abspielte. Denn Änderungen der menschlichen Lebens-, Arbeits-, Wohn-, Verkehrs- und Kommunikationsformen haben im Lauf der Zeit die Nutzung des städtischen Raumes ganz allgemein verändert. Aber obwohl öffentlich wichtige Dinge heute zumeist in Presse, Rundfunk und Fernsehen mitgeteilt und zur Kenntnis genommen werden, dienen Plätze noch als Foren zur Bildung von Öffentlichkeit. Die Repräsentation verschiedener gesellschaftlicher Gruppen vollzieht sich zwar weitgehend in Innenräumen – man nutzt die modernen Massenmedien, und in jüngster Zeit etabliert sich eine neue Öffentlichkeit im Netz der elektronischen Medien. Doch nicht nur Ansprachen, Konzerte, Feste usw. finden – manchmal und mancherorts – noch draußen statt. Auch bestimmte Ansprüche auf öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung verlangen geradezu nach auffälliger Kundgabe im öffentlichen Raum, z. B. durch Demonstrationen, Streikversammlungen, Umzüge, Lichterketten, Ausstellungen und dergleichen.6 Der öffentliche Raum ist nach wie vor eine Bühne, auf der gesellschaftliche Konflikte artikuliert und vorgetragen werden. Plätze, Fußgängerzonen, Straßen und Parks sind Orte, an denen soziale Probleme sichtbar werden, aber auch Orte personaler Selbstdarstellung und Inszenierung.7 Zusammengefasst: Der Marktplatz ist der öffentliche Raum sui generis. Mit der Erfindung des Kaufhauses wurde er zwar erheblich entwertet, erlebt nun aber eine gewisse Renaissance. „Gegenwärtig wird der Vorhang wieder geöffnet und der Blick fällt auf verloren geglaubte Schauplätze. Stadt und öffentlicher Raum kehren zurück – jedoch als konsumierbare Fiktionen. Sie kommen wieder als Bild und Images, die einer erbarmungslos rasenden Produktionsmaschinerie äußerlich übergestülpt werden.“ 8 Durchaus genußvoll, so scheint es, werden diese Räume öffentlich konsumiert – und damit offenkundig auch als etwas Eigenes akzeptiert. „Was unterscheidet den eigenen von dem fremden Ort? Da ist zunächst einmal die Vertrautheit, die den eigenen Ort kennzeichnet. Die Menschen und ihre Verhaltensweisen, die Sprache und Kleidung, die Gerüche, die Klänge und viele anderen Dinge kennzeichnen einen vertrauten Ort. Die Vertrautheit des Ortes erzeugt Sicherheit. Man kann in reziproker Weise Verhalten prognostizieren und hat in gewisser Hinsicht einen Anspruch darauf, dass sich der andere gemäß dieser Prognose verhält. Der Unterschied zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten kann krass oder fließend sein. In dem eigenen Ort können und werden in der Regel auch Verhaltensweisen oder Gegenstände des fremden Ortes integriert. Musik oder bestimmte Ernährungsweisen des Fremden werden in den eigenen Ort übertragen oder nisten sich unbewußt ein. Sie werden dabei an die Eigenschaften und Eigenarten des eigenen Ortes angeglichen.“9 Das „Stadtbild eines Bewohners ist eine Vorstellung, ein durch Lernprozeß in einer gesellschaftlichen Umwelt erzeugtes Wahrnehmungsbild“.10 Doch um sich im Raum beheimatet, vertraut zu fühlen, braucht es keineswegs die überlieferten Konventionen. Waren doch schon in den zwanziger Jahren, wie Walter Benjamin 1931 notierte, die tradierten Erfahrungen im Kurs gefallen und hatten einer gewissen Bereitschaft Platz gemacht, „mit Wenigem auszukommen, aus Wenigem herauszukonstruieren“.11 Und das galt nicht zuletzt für den öffentlichen Raum. Gleichwohl muss – zumindest im Rückblick – gesagt werden, dass die funktionalistische Moderne hier nicht eben glücklich agierte. Denn offenbar konnte „die durchgrünte, durchlüftete, neue Zeilenstadt mit ihrem fließenden Raum voller fließenden oder neuerdings auch stehenden Verkehrs nicht die Zuneigung des öffentlichen Lebens gewinnen“.12 Informationen zur Raumentwicklung Heft 1/2.2003 Gerade mit Blick auf die Konsequenzen fordistischer Modernisierung und auf jene Gebiete und Gegenden, die in den letzten sechzig Jahren entstanden, besiedelt oder infrastrukturell überbaut wurden, hat der französische Ethnologe Marc Augé von einer Verwandlung von Orten in „Nicht-Orte“ gesprochen. Nicht-Orte sind Räume, die den Verlust von Ortsqualitäten an und durch sich selbst zum Ausdruck bringen. Es sind Orte ohne Eigenschaften. Sie sind überall gleich – bzw. ihre Verschiedenheit ist nurmehr äußerlich, bloße Fassade, eben theatralisch. Man findet diese Nicht-Orte vorzugsweise in der Peripherie, an Autobahnabfahrten, Ausfallstraßen, Flughäfen, Haltepunkten von Hochgeschwindigkeitsbahnen etc.13 Ort und Erscheinungsbild Retrospektiv, auf das letzte Jahrhundert bezogen, konnten Planung und Städtebau den öffentlichen Raum nicht eben fördern. Lässt sich auch eine umgekehrte Beeinflussung denken? Aktuelle Leitbilder wie die „Stadt der kurzen Wege“ oder die „soziale Stadt“ sind zunächst einmal idealistischnormative Setzungen, die in der Regel aus theoretischen Überlegungen der Profession resultieren und nicht unbedingt mit dem praktischen Alltagsverhalten der Menschen übereinstimmen.14 Im Versuch, sich von allen scheinbar überflüssigen traditionellen Elementen zu befreien, formulierte eine ihrem Selbstverständnis nach „funktionale“ Architektur und Planung eine auf die Optimierung der Nutzungen ausgerichtete räumliche Organisation. Da diese Rationalität an den immer gleichen Kriterien gemessen wurde, nämlich Minimierung der Kosten und Maximierung der Nutzbarkeit, entstand überall Ähnliches, und das Spezifische von öffentlichen Orten im Sinne von Identitätsbildung und –bindung ging entsprechend zurück. Was blieb, waren hingegen die überlieferten, längst etablierten „öffentlichen Räume“. Diese Parks, Grünanlagen und Stadtplätze sind noch immer Orte allgemeiner Akzeptanz in öffentlicher Obhut. Allerdings ist der Blick auf deren reales Erscheinungsbild eher ernüchternd. 29 „Wer sich in der heutigen Stadt bewegen muss, spürt, dass er es mit einem Raum zu tun hat, in welchem er als ein Objekt behandelt wird. Am Boden liest er gekrümmte oder gerade Pfeile, weiße, gelbe oder blaue, kontinuierliche oder gestrichelte Linien, während er ringsum in einer ideellen Schicht, die sich parallel zur Straßenfläche über seiner Kopfhöhe ausdehnt, runde, viereckige und dreieckige, bunte, unbescheidene Schilder bemerkt, die manchmal wie Ohren aus der Mauer herausspringen, meistens am oberen Ende einer Stange stehen, schließlich farbige Lichter, die in ungleichem Rhythmus rasch an- und ausgehen. Besonders das Stadtzentrum ist durch diese Schraffierung oder Tätowierung des öffentlichen Raumes gekennzeichnet.“15 Wer dem unbefriedigenden und zum Teil chaotischen Eindruck vieler städtischer Situationen nachsinnt, wird sehr bald zu der Erkenntnis gelangen, dass der ästhetische Befund auch einen sozialen und politischen spiegelt. Das hängt mit einer tagtäglichen Erfahrung mangelnder Urbanität, ja Öffentlichkeit schlechthin zusammen. Soziologisch gesehen ist Öffentlichkeit ein sozialer Aggregatzustand, für den der ungehinderte zwischenmenschliche Verkehr von grundlegender Bedeutung ist. Er bedarf bestimmter geistiger, natürlicher und/ oder architektonischer (Frei)Räume. Wenngleich sich empirisch nicht nachweisen lässt, welche Räume wie auf ihre Nutzer wirken, so ist doch festzustellen, dass die Ausgestaltung dieser (Frei)Räume keineswegs ohne Einfluss auf die Art und Weise der in ihrem Rahmen stattfindenden Prozesse ist.16 Winston Churchill hat es einmal so formuliert: „Wir gestalten unsere Bauwerke, danach gestalten unsere Bauwerke uns.“17 Die Raumsituation muss in Einklang mit den kulturspezifisch erlernten Orientierungsmustern kommunikations- bzw. öffentlichkeitsfreundlich sein, um Kommunikation und damit Öffentlichkeit überhaupt möglich zu machen. Wenn in Architekten- und Planerkreisen von der europäischen Stadt gesprochen wird, so ist in der Regel eines ihrer konstituierenden Merkmale gemeint: der öffentliche Raum – die Straße, der Platz oder der Park – als der Ort, an dem sich bisher vielfältiges gesellschaftliches Leben abspielt. „Das Beste unseres städtischen Erbes – baumbestandene Boulevards, Plätze, Parks – ist Zeugnis der Interessen und Investitionen früherer Generationen. Wir laufen Gefahr, diese Tradition nicht fortzusetzen, was für die Menschen heute wie auch für zukünftige Generationen einen tragischen Verlust bedeuten würde.“ Norman Foster, Architektur mit sozialem Gewissen, 1994 30 Die Mitte der Stadt als Bühne aller kann nicht gleichzeitig ihre Kinderstube sein. „Viele haben Liberalität mit Laissezfaire verwechselt. Das Zusammenleben in einer Stadt bedeutet, sich an Regeln zu halten und Rücksicht zu nehmen.“ Peter Strieder, a. a. O. Robert Kaltenbrunner: Splendid Isolation. Raum und Kunst, Platz und Gestaltung – Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können Diese öffentlichen Räume sind Orte des Austauschs, der zufälligen Begegnung, des Kennenlernens von Andersartigem. Sie üben damit eine wichtige soziale Funktion aus, wirken mitunter gesellschaftlich integrierend. Doch seit geraumer Zeit sind allerorten Entwicklungen zu beobachten, die einen Funktionsverlust des öffentlichen Raums mit sich bringen. Der innerstädtische Einzelhandel, der seine Standorte heute noch oft entlang der Straßen und an Plätzen hat, verlagert sich zunehmend in Passagen; offene Marktplätze werden überdacht und abgeschlossen. Erlebnisräume werden „künstlich“ geschaffen, Freizeitgestaltungen in abgekapselte Binnenwelten transponiert, Bahnhöfe mutieren zu ShoppingCentern. Es entstehen Bereiche in den Städten, aus denen alle negativen Erscheinungen des städtischen Lebens 18 ausgesperrt werden: die Witterung und der Straßenverkehr, aber auch bestimmte Bevölkerungsgruppen. Sie „gehören“ also nicht mehr allen, können nicht mehr von allen genutzt werden, weil es Zugangsbeschränkungen gibt, weil Hausregeln, Videokameras und private Sicherheitskräfte für den Schutz und die Sicherheit der Besucher sorgen. Zweckentfremdet hat Andreas Feldtkeller jene Stadt genannt, die nicht (mehr) gewährleistet, was zu offerieren ihrem historischen Auftrag entsprach: Der öffentliche Raum war traditionell ein Bereich, der einer konkreten, vorbestimmten Nutzung entzogen war. Genau dieser aber sei nun in unserer Stadt – wie der Gesellschaft insgesamt – verschwunden. Statt der früher vorhandenen Struktur eines urbanen Alltags würden in den Städten nur mehr drei kommunale Infrastrukturen übereinandergeschichtet: eine des Wohlstands zur Befriedigung der Konsumbedürfnisse, eine des Ersatzes zur Milderung der beklagten Unwirtlichkeitseffekte und eine simulative, die das Fortbestehen des Urbanen vortäuscht.19 Urbane Binnenwelten Die neuen Binnenwelten, wie John Portmans Atrien in Atlanta, sind seinerzeit enthusiastisch begrüßt worden. Ein anderes Beispiel stellt der Crystal Court des IDSCenters in Minneapolis dar. Dessen Architekten Philip Johnson zufolge lasse die zen- trale Lage den Innenhof zu einem Platz wie in der Alten Welt werden, auf dem die ganze Stadt zusammenkommen werde. Privatgebäude verleiben sich öffentlichen Raum ein und werden zu Miniaturstädten eigenen Rechts. Es entsteht eine Urbanität in neuer Form: Mikro-Urbanität. Paradoxerweise tragen diese Räume (in den USA) zur Wiederbelebung darniederliegender Stadtzentren bei und spielen zugleich eine aktive Rolle bei deren Zerstörung. Denn was nun in privater Bauherrenschaft erstellt wird, bemüht zwar gern das Bild des öffentlichen Raums – und wird von vielen auch unkritisch so erlebt –, gleichwohl aber dominieren bei Konzeption und Betrieb kommerzielle Interessen. Der Charakter öffentlicher Räume und die urbane Vielfalt werden durch die Wahrnehmung privaten Hausrechtes letztlich völlig in Frage gestellt. Das CentrO in Oberhausen, Europas größtes Einkaufs- und Freizeitzentrum, hat in den sechs Jahren seiner Existenz über 120 Millionen Besucher in der „Neuen Mitte“ Oberhausens empfangen. Wer es besucht, der kommt nicht nur, um einzukaufen, sondern um sein urbanes Flair zu erleben. Eine von der Betreibergesellschaft vertraglich fixierte und austarierte Mischung an Boutiquen, Filialketten und Restaurants, in denen man von mexikanisch bis orientalisch alles probieren kann, ein Multiplex-Kino sowie die einem Hafenkai nachempfundene Promenade: ein gelungener Ort von „öffentlicher“ Wirkung, weil punktgenau geplant und entsprechend inszeniert, zudem unauffällig überwacht und gesichert, aber kein wahrlich öffentlicher Raum, genauso wenig wie beim Sony-Center in Berlin. Hier entstehen Surrogate des öffentlichen Raums, die umso attraktiver sind, je besser es ihnen gelingt, ungeliebte Erscheinungen des städtischen Lebens auszusperren. Wenn man nun diese Privatisierung des öffentlichen Raums als eine gezielte Ausgrenzung interpretiert – wofür vieles spricht –, dann wird die gesellschaftliche Integrationsfunktion, die die öffentliche Räume bisher in den Städten ausgeübt haben, eingeschränkt. Zugleich verstärkt sie indirekt den Funktionsverlust des verbleibenden öffentlichen Raums. Denn dieser kann mit den privatisierten Bereichen nicht konkurrieren: Es sinkt das Interesse, sich in ihm aufzuhalten; er verliert als Kommunikationsraum an Bedeutung, wird schleichend Informationen zur Raumentwicklung Heft 1/2.2003 hässlich und unattraktiv, verkommt zum Rückzugsort für ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen. Diese Entwicklungen schaukeln sich gegenseitig auf. Je unattraktiver der klassische Stadtraum wird, desto eher wird er gemieden, desto größer wird die Nachfrage nach geschützten geschlossenen Räumen.20 Diesen fundamentalen, gesellschaftlichen Verlust scheint man nun mit einer obsessiven Gestaltung auffangen zu wollen. Um sich in der Konkurrenz mit den privatisierten Räumen zu behaupten, greift eine zunehmende „Verkunstung“ so manchen öffentlichen Raums Platz. Sollte sich darin eine Art Beschwörung der kommunalen Handlungsfähigkeit an zentralen Schauplätzen ausdrücken, die doch nur klingt wie das sprichwörtliche Pfeifen im Wald? Wer auf eine Revitalisierung öffentlicher Räume hoffte, der sieht sich – etwa am Potsdamer Platz in Berlin – mit anspruchsvollem Produktdesign konfrontiert. Kühl und gekonnt, bis ins Detail durchkomponiert, scheint das Konzept der Animateure aufzugehen. Die Besucher honorieren den Mix aus Unterhaltung, Shopping und Vergnügen – jedenfalls bis Ladenschluss. Dann kann es schon passieren, dass die Bürgersteige hochgeklappt werden. Die beliebte Klage um den Verlust des öffentlichen Raums will ins Bewusstsein rufen, was als unverzichtbarer Bestandteil der städtischen Kultur mal vernachlässigt, mal in hypertrophe Künstlichkeit gesteigert wird. Dass ihre Plätze die „lächelnden Augen“ einer Stadt darstellen, ist eine so eingängige wie zutreffende Metapher, die gleichwohl an der Wirklichkeit erheblich gelitten hat. Bleibt man im Bild, dann wird man nämlich konstatieren müssen, dass viele dieser „Augen“ leider blind geworden sind: ohne klare räumlich Fassung, gefräst durch überbreite Straßen, von Autos entweder durchbraust oder zugeparkt, ungastlich und bar jeglicher Aufenthaltsqualität. Doch gibt es auch das andere Extrem: jene überinstrumentierten, mit Straßenmobiliar vollgestopften oder kunstvoll inszenierten öffentlichen Räume, die wie einst die „gute Stube“ allenfalls zum Staunen und begucken, nicht aber zu handfester Nutzung einladen. Kosmetik statt Therapie? Vieles, was man heute in Städten als Platz bezeichnet, ist überfüllt mit Telefonzellen, Wartehäuschen, Kiosken, Masten, Schildern, Sammelcontainern, Abfallkörben, 31 Blumenkübeln, Pollern, Bänken, Schaukästen, Litfaßsäulen usw. Anstatt Plätze frei zu lassen und deutlich sichtbar mit Kanten, Mauern, Fassaden oder anderen begrenzenden Elementen einzufassen, bleiben sie häufig undefiniert oder man zerstört durch Möblierungen ihre anschauliche Form.21 Offenkundig setzt man nicht auf Zweckmäßigkeit, sondern auf Atmosphäre oder sogar Emotion. Andererseits führt die kategorische Empfehlung „Leerräumen“ nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen, sondern gegebenenfalls zu Verschlimmbesserungen und Monotonie. An dieser Stelle ist ein Blick auf die „Produktion“ des Raums vonnöten. Architekten können sich bei ihren Gestaltungen an Zwecken orientieren, die sich selbst setzen oder sich vorgeben lassen. Doch wie Architektur genutzt wird, ist Sache der Nutzer. Die tatsächlichen Nutzungen von Architektur sind unter Umständen ganz andere als die, denen sie nach Absicht der Architekten dienen soll. Trotzdem bleibt den Architekten nur, sich Zwecke vorzustellen. Fraglich ist indes – paradox gesagt –, welchen Zweck der Zweckbegriff für die Architektur des öffentlichen Raums eigentlich hat. Im Titel des berühmten Buches „Kunst als Erfahrung“ von John Dewey wird auf eine mögliche Antwort hingewiesen. Dewey schreibt, solches Produzieren sei „von der Absicht bestimmt, etwas herzustellen, das durch unmittelbare, sinnliche Erfahrung erfreuen soll“.22 Damit ist der allgemeinste Zweck der Kunst benannt, durch den sich ihre Produkte von anderen menschlichen Artefakten unterscheiden lassen, nämlich, durch die Erfahrung sinnlich wahrnehmbarer Gestaltungen zu erfreuen. Produktion von Raum Nach dieser Definition ist evident, dass auch architektonische Gestaltung – als Kunst – hergestellt werden kann, um wahrgenommen zu werden. Die Baukunst unterscheidet sich darin vom rein gebrauchszwecklichen und konstruktiven Bauen und gleicht anderer Kunst. Wenn Architektur dem praktischen Handeln dienlich ist und Gebrauchszwecke erfüllt, ist sie praktisch zweckmäßig. Ist sie sinnlicher Erfahrung und kontemplativer Betrachtung förderlich, so ist sie ästhetisch zweckmäßig. Doch das eine schließt das andere nicht aus. Und: „Verlust der Mitte“ bezeichnet nicht nur im konservativen Sinne die Aufgabe der Idee der Ganzheit – und auch die eigentümliche Unbestimmtheit unserer öffentlichen Räume. Wo eine geistig-gesellschaftliche Mitte nicht mehr allgegenwärtig ist, kann sie sich auch nicht in einem öffentlichen Raum oder räumlichen Ensemble spiegeln – oder gar aus ihm heraus entfalten. 32 Eine zunehmende Ausrichtung auf Galerien, Passagen und Malls hat die Auszehrung der Städte nicht nur im kommerziellen Sinne beschleunigt, sondern zu einer Umpolung städtischer Verhaltensformen geführt. Robert Kaltenbrunner: Splendid Isolation. Raum und Kunst, Platz und Gestaltung – Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können Gerade im öffentlichen Raum muss sie beides gleichermaßen erfüllen. Wolfgang Döring hat einmal festgehalten, dass „Bauen zum Zwecke rein quantitativer Bedarfserfüllung noch lange keine Baukunst (ergibt). Die Bauwerke können im Laufe ihres Bestehens ihren Zweck ändern, ohne damit ihre Eigenschaft als Werke der Kunst zu verlieren. Es muss ihnen also ein geistiger Zweck innewohnen, welcher sie unabhängig macht vom bloßen Gebrauch. Eine Reduktion der Planung auf das reine Funktionieren, die bloße Programmerfüllung, auf die notwendige Technologie führen ab vom Weg zur Architektur“.23 Der österreichische Kunsthistoriker Alois Riegl fasste Architektur als Resultat eines Wollens, nicht aber von Sachzwängen auf. „Architektur ist doch eine gebrauchszweckliche Kunst, und ihr Gebrauchszweck lautete in der Tat allezeit auf Bildung begrenzter Räume, innerhalb deren dem Menschen die Möglichkeit freier Bewegung offen stehen sollte. Wie aber schon diese Definition lehrt, zerfällt die Aufgabe der Baukunst in zwei Teile, die einander notwendigerweise ergänzen und bedingen, aber gerade darum in einem bestimmten Gegensatz zueinander stehen: die Schaffung des (geschlossenen) Raumes als solchen und die Schaffung der Raumgrenzen. Damit war dem menschlichen Kunstwollen seit Anbeginn die Möglichkeit geöffnet, den einen Teil der Aufgabe einseitig auf Kosten des anderen zu betreiben. Man konnte die Raumgrenzen derart überwuchern lassen, dass das Bauwerk in ein plastisches Bildwerk überging; man konnte andererseits die Raumgrenzen in solche Ferne hinausschieben, dass im Beschauer dadurch der Gedanke an die Unendlichkeit und Unmessbarkeit des freien Raumes erweckt wurde.“24 Obwohl das Besondere der Kunst wesentlich formal ist, folgt daraus nicht, dass sie bloß formal und insofern abgetrennt von allem anderen ist. Die Verwandtschaft zwischen den Formen der künstlerischen Gestaltung und den Formen des Sozialen kommt auch zum Ausdruck in Sigfried Giedions Worten: „Stadtbau wie Demokratie, die diesen Namen wirklich verdienen, liegt dieselbe Einstellung zugrunde: die Herstellung des Gleichgewichts zwischen individueller Freiheit und kollektiver Bindung. Mit anderen Worten: Der Stand einer Kultur hängt davon ab, bis zu welchem Grad eine chaotische Masse in eine integrierte, lebendige Gemeinschaft verwandelt werden kann.“25 Um eine Balance im Sinne beider, Riegl und Giedion, geht es hier und heute. Wenn man von ästhetischer Zweckmäßigkeit spricht, wird man schnell dem Vorwurf begegnen, man rede der Ästhetisierung der Architektur oder der Alltagswelt das Wort. Es lenke ab von sozialen, ökonomischen, politischen, ökologischen und anderen Problemen und verschleiere und verstärke kritikwürdige Strukturen. Hartmut Häußermann und Walter Siebel formulieren solche Einwände: „Ästhetisierung der Stadt schafft das Elend nicht ab, sondern nur beiseite (...) Die stillste und zugleich effektivste Weise, Herrschaft zu sichern, besteht darin, unliebsame Themen aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit auszuschließen. Eben das ist eine latente politische Funktion der Ästhetisierung der Stadt. Sie betreibt die Dethematisierung gesellschaftspolitischer Probleme, indem sie eine Stadtstruktur fördert, die jenen auf der Sonnenseite der Stadt es leicht macht, die Schattenseiten nicht zur Kenntnis zu nehmen.“ Doch die beiden Stadtsoziologen stellen auch fest: „Dass Architektur Herrschaft ästhetisiert, ist eine Plattheit, und würde man daraus die Konsequenz ziehen, es dürfe solange nur hässlich gebaut werden, wie das Elend und die Ungerechtigkeit dieser Welt nicht beseitigt sind, so wäre es obendrein Barbarei (...) Stadtgestaltung ist mehr und grundsätzlich anderes als das Spielen mit Räumen, Licht und Farbe. Sie ist immer auch konkreter Eingriff in Lebensweisen von Menschen.“26 Man kann nicht nicht gestalten, wohl aber ignorieren, welche Auswirkungen Gestaltung auf die Lebensweisen von Menschen haben kann. Das heißt nicht, die Notwendigkeit politischer Diskussion über die vielfältigen Probleme der Stadt und des öffentlichen Raums in Frage zu stellen. Informationen zur Raumentwicklung Heft 1/2.2003 „Entscheidend ist, wie ein Raum genutzt und empfunden wird. Auch wenn er de jure öffentlich sein mag, kann die gefühlte Öffentlichkeit doch schwach entwickelt sein, auf Parkplätzen etwa oder in zugigen Trabantenstädten. Umgekehrt kann ein de jure privater Raum höchst urbane Gefühle erzeugen. Der Alltag ist eben weniger von Idealen geprägt als von Konflikten um Sauberkeit und Sicherheit. Der Streit zwischen Hundehaltern und Familien mit Kleinkindern um die Hoheit über Spielplätze oder Ballwiesen kann prägender für das Verhältnis eines Städters zu einer Stadt sein als alle Glanz- und Glasprojekte der Innenstadt.“27 Gestaltung ist ein eigenständiger Bereich, der weder ausschließlich auf nichtästhetische Bereiche zurückgeführt werden kann, noch ausschließlich solchen Bereichen dient. Besonders wenn Architektur mehr und mehr die Sache von Investoren, von ihren Spekulationen und Gewinnabsichten ist, stellt sich die Frage, wie sie die Lebensbedingungen derer prägt, die nicht von ihr profitieren. Gestaltung von Plätzen zumindest kann mehr sein, als ein bloß verhübschendes Spiel mit Räumen, Licht, Farbe und Material, zumal ernsthafte künstlerische Gestaltung nicht mit Effekthaschereien, Sinnesreizen, Gags und Drolligkeiten zu verwechseln ist – auch wenn all dies manchmal mit dem Prädikat „ästhetisch“ belegt wird. Indem jedoch die öffentliche Hand immer stärker in eine Rolle gleitet, die sie einem privaten Investor oder Developer ähneln lässt, verschieben sich die Gewichte. Image, Event, Marketing Vielleicht hilft ein Blick auf den größeren Zusammenhang: Einer Stadt, die noch keine Marke ist, die noch kein „Branding“ hat, fällt es schwer, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Image und Ruf bekommen so einen bedeutenden Anteil an ihrer strategischen Konkurrenzfähigkeit. Dass die Attraktivität einer Stadt, mithin ihr öffentlicher Raum dabei eine wichtige Rolle spielt, leuchtet ein. So weit, so gut. Fatal jedoch ist eines: Im Bestreben, ihr MarkenImage zu verbessern, konzentrieren sich 33 viele Städte mehr auf die Werte und Emotionen, die die Kunden und Bürger mit dem „Produkt“ verbinden, als auf deren Qualität selbst. Da alle Orte mit ununterscheidbaren Massenprodukten überschwemmt werden, versuchen Städte, gleichsam sich selbst zu individualisieren – aber eben alle auf die (fast) gleiche Weise, in bewährten Schablonen. Hauptsache, damit wird ein bestimmter Lifestyle befördert oder ein – wahlweise cooles, vorzugsweise behagliches – Image propagiert. Wohlfeile Sitzgelegenheiten, stählerne Kioske, ausgreifende Wasserspiele und opulente Plastiken reüssieren. Abgezielt wird auf ein Prestige, das durch Exklusivität entsteht; erreicht wird hingegen das rechte Gegenteil. Das Stadtmarketing geht immer häufiger den Weg zur „Ereigniskultur“. In der breiten Palette dieser temporären Ereignisse hat die Inszenierung der öffentlichen Räume inzwischen einen festen Platz. Besonders eindrucksvoll sind dabei Lichtinszenierungen. Zunehmend mehr Metropolen halten sie in ihrer gesamtstädtischen Topographie inzwischen für ein spektakuläres Aufgabenfeld, das Profil im internationalen Standortwettbewerb abwirft. Ist es diese Art von öffentlichem Raum, die wir tatsächlich brauchen, ein öffentlicher Raum, auf den man den Mythos-Begriff von Roland Barthes anwenden könnte: Er „organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, eine in der Evidenz ausgebreitete Welt, er begründet eine glückliche Klarheit. Die Dinge machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein“.28 Das Typische der Stadt sind Wechsel und Vielfalt, Andersartigkeiten bis hin zu Unvereinbarkeiten von Lebensweisen und ihren Ausdrucksformen – gleichzeitig und nebeneinander. Es ist nach wie vor ein Merkmal des Städtischen, nicht immerfort gleich zu sein, begrenzt, gewohnt – also das, was sich auf vorgezeichneten Wegen abspielt und provinziell genannt wird. Tatsächlich lebt der öffentliche Raum von und in dem Paradox gleichzeitiger Differenzierung und Integration; es lässt sich erkennen am „Spannungsfeld zwischen Liberalität und autoritärem Law and Order, an den fließenden Grenzen zwischen Toleranz und Anomie, an den durch den Stadtraum wandernden Zonen von Angst und den Bereichen öffentlicher Festivitäten“.29 Clevere Projektentwickler haben im Gegensatz zu manchen Architekten schneller begriffen, dass sich Öffentlichkeit anscheinend durch attraktives Ambiente und reichhaltiges Warenangebot definiert, dass Standortfragen und Raumqualitäten erst bei Umsatzeinbrüchen auf ihre ästhetischen Qualitäten überprüft werden. 34 „Die soziale und sozialpsychologische Beziehung zu einem Ort ist nicht nur für viele Menschen von Bedeutung, sondern auch für die Entwicklung der Orte selbst.“ Detlev Ipsen, Die Kultur der Orte, 2002 Robert Kaltenbrunner: Splendid Isolation. Raum und Kunst, Platz und Gestaltung – Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können Langlebigkeit, Sicherheit und Stabilität mögen als Werte gelten, an denen sich Stadtplanung und Architektur auch weiterhin orientieren. Aber sie sind es nicht allein, und sie können zu verlogenen Mythen werden, zu einer kitschigen Illusion von Identität und Gemeinschaft. Wenn es um Öffentlichkeit geht, dann geht es auch um die Zwanglosigkeit des Rahmens, innerhalb dessen sich Kontakte ergeben (können). Gerade die Bandbreite des Möglichen ist das eigentlich Spannende an der „urbanen“ Situation. „Trotz aller Kasuistik erlaubter Themen kann sich aus der Frage nach dem Weg ein Flirt entwickeln.“ 30 Anregend wird die Stadt durch Verrücktheiten, Überraschungen und Unordnungen, so der amerikanische Soziologe Richard Sennett.31 Just das aber lässt sich nicht planen. Und dennoch – oder gerade deshalb – wird der öffentliche Raum geplant, ja auf Feinste gestaltet: Baumreihen und Blumenrabatten, Verkehrsschilder, Sitzbänke und, scheinbar unvermeidlich, Brunnen und Wasserspiele unterschiedlichster Provenienz. Als modische Apercus: Aufkantungen und Reliefverschiebungen, Spiel mit Ebenen und Schrägen, mit Niveauunterschieden, Materialien, Pflastertexturen. Indes, gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht. Und man steht vor eben jenem Dilemma, das André Corboz dem Städtebau in toto zuschreibt: „Es ist die Idee der Rationalisierung, im Sinne einer absoluten Kontrolle, der Ausschaltung des Unvorhersehbaren und der gleichzeitigen Errichtung einer ebenso perfekten wie definitiven Ordnung. (...) Der Städtebau ist aber der Spieltheorie zugehörig, der zufolge die Spieler sich entscheiden, ohne die einzelnen Gegebenheiten des Problems zu kennen, von denen einige bekannt sind, andere zufallsbedingt, wieder andere unbestimmbar.“32 Freilich lässt sich auf diese komplexe Herausforderung keine einfache und überall gültige Antwort formulieren. Klar sein aber sollte immerhin, dass der öffentliche Raum in „splendid isolation“ nicht der probate Weg ist. Aufwendige Platzgestaltung führt mitnichten zum sicheren Erfolg. Dabei droht der urbane Raum vielmehr in einem System von Zeichen und flüchtigen Bildern zu verschwinden. Wird der Planer künftig zum (bloßen) Szenographen, der mit Emotionen jongliert? „Inzwischen gibt es eine verbreitete Tendenz, die Piazza als eigenständiges Element zu behandeln, das nicht wie der öffentliche Raum der historischen Städte Europas ein integraler, also nicht herauslösbarer Teil eines Stadtquartiers ist, sondern etwas, was in die moderne Stadt hineingestellt wird. Ihre Funktion – als Erfindung der Moderne hat die Piazza selbstverständlich eine Funktion – ist nichts anderes als das Zurschaustellen der Architektur, die die Piazza umrahmt. Die Nutzungen, falls solche als Teil der Piazza überhaupt vorgesehen sind, dienen der Unterhaltung derjenigen, die hierher kommen, um das Raumerlebnis der Piazza zu genießen und die Erfindungskraft der Architektur zu bewundern – Öffentlichkeit wird damit bestenfalls simuliert.“33 Kunst und Gestaltung darf im Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum nicht vordergründig in die Rolle gedrängt werden, das „Zeichensichtbare noch zu überhöhen“ (Karl Ganser), also dem Spektakel zu dienen. Wenn Architektur Hintergrund ist, wie mitunter postuliert wird, dann kommt es darauf an, welche Rolle die Hintergründe spielen. Die meiste Architektur steht für die meisten Menschen meistens nicht im Vordergrund, ist nicht Objekt ihrer praktischen Tätigkeiten, ist nicht Mittel zur Erfüllung eines Zweckes. Sie ist aber da, sticht ins Auge, ist unübersehbar, drängt sich auf, ist unumgänglich. Die Landschaft aus natürlichen und künstlich hergestellten Dingen im Hintergrund, die Wände und Dinge, die in Wohnräumen Hintergründe bilden, formen doch das Leben, die Handlungen und Gefühle an Ort und Stelle mit. Die Alsterarkaden am Jungfernstieg in der Nähe des Rathausmarktes in Hamburg etwa bilden solch einen Hintergrund. Sie wirken durch ihre Farbe, ihr Maß, ihre Proportion und ihren Rhythmus. Sie nobilitieren den Ort, an dem sie stehen, anstatt ihn öde zu machen. Sie machen offensichtlich, dass öffentlicher Raum in der Vergangenheit mit relativ einfachen Mitteln oft sehr viel subtiler gefasst wurde, als es heute mit großem Aufwand gelingt. Informationen zur Raumentwicklung Heft 1/2.2003 Atmosphären 35 Zur Diskussion stehen Qualität und Nutzung des öffentlichen Raums in Zeiten der Event-Kultur, in denen die Grenzen zwischen „öffentlich“ und „privat“ immer stärker verschwimmen. „Öffentliche Räume lassen sich nicht mehr als bloßen Gegensatz zum Privaten begreifen. Sie folgen keinen festgelegten Funktionen. Öffentliche Räume können heute eher als wechselhaft besetzte Orte beschrieben werden, die ihre Bedeutung ständig ändern.“ 34 Das Bekenntnis der Architekten zum öffentlichen Raum ist dabei so erfreulich, wie ihre häufig wohlfeilen Rezepte zum Kopfschütteln einladen: „Nur eine ästhetische Gestaltung von Rang macht urbane Orte wirklich zu Orten der Identifikation. Ästhetik fördert Kommunikation.“ 37 Den kausalen Konnex zwischen Öffentlichkeit und Gestaltung, es gibt ihn nicht. Im Begriff der Offenheit und Transparenz, wie ihn moderne Architekten verstanden, steckt ein Widerstreit zwischen Architektur als Realität und Architektur als Symbol. Die Omnipräsenz des Mobiltelefons hat beispielsweise das Telefonieren annähernd zu einer Sache der Res publica gemacht, indem Ehezwistigkeiten oder Intimitäten freiwillig ins Publikum posaunt werden. Das Private, so scheint es auch in vielen modernen Gebäuden auf, ist längst nicht mehr das Refugium, wie es so oft seit der Romantik beschworen wurde. So wie der öffentliche Raum unserer Städte immer mehr in halb öffentlichen Sphären der Einkaufszentren, Amüsierbetriebe und Fernsehstudios verschwindet, so verwandelt sich auch der private Raum in einen Zwitter. Als wäre die manchmal schon gnadenlose Offenheit der Talkshows nun auch in die Architektur eingedrungen.35 Offene Grundrisse und Raumgrenzen sind eine Sache – doch die Offenheit sozialer Strukturen ist etwas völlig anderes. Ein Parlament, eine Versicherung mag in Gebäuden mit offenen Grundrissen und Raumgrenzen untergebracht sein – aber das macht die dort verhandelten Dinge und die dort herrschenden Strukturen keineswegs transparenter und flexibler.38 Architektur wäre ähnlich heuchlerisch wie die Stil-Revivals des 19. Jahrhunderts, würde sie die Rede von der Offenheit allzu wörtlich nehmen und die Formen der Raumgestaltung mit den kategorial verschiedenen Formen politischer und ökonomischer Wirklichkeit identifizieren, verwechseln und durcheinanderbringen. Wenn der öffentliche Raum bedroht ist, dann liegt die Bedrohung nicht allein in Privatisierungstendenzen und im allgegenwärtigen Vandalismus, sondern auch in seiner ästhetischen Funktionalisierung und Überinstrumentierung. „Was als ‘Verschwinden der Orte’ diagnostiziert wird, ist in Wahrheit eine Form der Neuerfindung des Raums. Wir haben es mit zwei gegenläufigen Prozessen zu tun: Die Orte verschwinden – und sie kommen wieder! Sie kehren zurück in veränderter Form und Funktion. Offenbar wird der Verlust an sinnlich-ästhetischen Raumqualitäten als Mangel empfunden. Dieser läßt eine Nachfrage und damit einen entsprechenden Markt entstehen. Beliefert wird er von einer neuartigen Orte-Industrie, die von dem Bedürfnis nach urbanen (und ruralen) Atmosphären profitiert, einer Industrie für Städteund Landschaftsfiktionen.“ 36 Es ist dies das paradoxe Faktum der Enteignung des öffentlichen Raums in Gestalt seiner Reinszenierung. Aus solchen Einsichten sind für den Umgang mit dem öffentlichen Raum, auch den gestalterischen, Lehren zu ziehen. Doch sei daran erinnert, was Le Camus de Mézières schon 1780 festgehalten hat: Es reicht nicht aus, das Auge zu erfreuen, der Architekt muss unsere Seele berühren. Dass das geht, hat etwa Oriol Bohigas mehrfach bewiesen. Dem renommierten katalanischen Architekten und Urbanisten sind bei der Modernisierung Barcelonas wie auch beim Umbau Salernos fraglos Definitionen von Ort und Platz geglückt, die dem öffentlichen Raum insgesamt eine Renaissance bescherten – vielleicht, weil er die Res publica stets zur Maxime seines Handelns macht, indem er das Wesen einer Stadt an der Gestaltung ihres öffentlichen Raums abliest und daraus Rückschlüsse auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bewohner zieht.39 Und mit solch einem Beispiel vor Augen mag sich auch jener rätselhafte Satz erklären, den Hans-Georg Gadamer einmal notierte: „Erst seit wir keinen Platz für Bilder mehr haben, wissen wir wieder, dass Bilder nicht nur Bilder sind, sondern Platz heischen.“ 40 Der Städtebau hat die gesellschaftliche Verantwortung, öffentliche Räume, Freiflächen und Anlagen zu schaffen, in denen sich die Menschen gerne aufhalten: „Architektur (...) hat mit Optimismus, Freude und einem Gefühl der Sicherheit zu tun, der Sicherheit, dass in einer ungeordneten Welt Ordnung herrscht. (...) dass an einem trüben Tag Licht da ist.“ Norman Foster, Architektur mit sozialem Gewissen, 1994 36 Robert Kaltenbrunner: Splendid Isolation. Raum und Kunst, Platz und Gestaltung – Oder: Wie man glaubt, Öffentlichkeit herstellen zu können Anmerkungen (1) Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. – München 1967, S. 52 (2) Vgl. Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. – Hamburg 1961, S. 70 (3) Vgl. Bahrdt, Hans Paul: Himmlische Planungsfehler. Essays zu Kultur und Gesellschaft. Hrsg.: Ulfert Herlyn. – München 1996, S. 195 ff. Als Charakteristikum der künftigen „urbanen“ Stadt sieht Walter Siebel ebenfalls eine Polarität: Sie werde geprägt sein müssen von dem prinzipiellen Widerspruch zwischen Dienstleistungsmaschine und Heimat, also zwischen Entlastung von sozialer Kontrolle einerseits und Vertrautheit andererseits. Vgl. Siebel, Walter: Was macht eine Stadt urban? Definitionen, Einwände und Widersprüche. In: Einblicke, Nr. 16. – Oldenburg 1992, S. 21 (4) Beispielsweise meint Öffentlichkeit als Begriff der Planung in erster Linie die Möglichkeit dazu, d. h. den Raum, der mehreren oder (theoretisch) allen Menschen zur Verfügung steht. Er misst sich nicht nur an topographischen Parametern, sondern auch an gesellschaftlichen. Entscheidend sind die Grenzen, die räumlichen wie die immateriellen. Jene bestehen zumeist aus festen Körpern: tektonischen Elementen, bei Plätzen auch aus ganzen Gebäudegruppen. Diese definieren sich nach einem anderen Reglement – und mancherlei Missverständnissen. (5) Dass das Zurschaustellen von Luxus ein integraler Bestandteil von Stadtkultur sei, ja von vielen als gleichbedeutend mit ihr gesehen werde, hat Werner Sombart schon 1913 in seinem Essay „Luxus und Kapitalismus“ brillant geschildert. (6) „Es gibt mehr Straßencafés und mehr Straßenkunst denn je; die Zahl der Designerbänke, -mülleimer und laternen ist unermesslich; und nie zuvor wurden die Städte intensiver als Spiel- und Sportstätten für Skateboarder oder Jogger genutzt. Und nicht nur die konsumierende, die flanierende und die sich körperlich erhitzende Öffentlichkeit erweist sich als lebendig. Auch der politische Mensch nimmt sich seinen Raum: Keine Demonstration, die wegen der neuen Einkaufszentren nicht hätte organisiert werden können.“ Rauterberg, Hanno: Wohnzimmer ist überall. Die Zeit, 03/2002 (7) Ganz neu ist diese Entwicklung indes nicht; bereits vor fünfzehn Jahren stellte Karl-Dieter Keim fest: „Persönlichkeitsentfaltung und individuelle Selbstdarstellung gelten heute als Norm auch im öffentlichen Bereich.“ Keim, Karl-Dieter: Stadtkultur heute. Vom gesellschaftlichen Wandel des Urbanitätsverständnisses. Neue Rundschau, 99 (1988) Nr. 4, S. 155 (8) Hassenpflug, Dieter: Citytainment oder die Zukunft des öffentlichen Raums. In: Metropolen. Laboratorien der Moderne. Hrsg.: Dirk Matejovski. – Frankfurt/M., New York 2000, S. 308 (9) Ipsen, Detlev: Die Kultur der Orte. Ein Beitrag zur sozialen Strukturierung des städtischen Raums. In: Differenzierungen des Städtischen. Hrsg.: Martina Löw. – Opladen 2002, S. 236 (10) Burckhardt, Lucius: Die Stadtgestalt und ihre Bedeutung für die Bewohner. In: Labyrinth Stadt. Hrsg.: M. Andritzky, P. Becker, G. Selle. – Köln 1975, S. 126 (11) Benjamin fährt fort: „Erfahrungsarmut: das muß man nicht so verstehen, als ob die Menschen sich nach neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen sich von Erfahrungen freizukommen, sie sehnen sich nach einer Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und schließlich auch die innere, so rein und deutlich zur Geltung bringen können, daß etwas Anständiges dabei herauskommt.“ Benjamin, Walter: Erfahrung und Armut (1931). In: Walter Benjamin: Angelus Novus. – Frankfurt/M. 1966, S. 317 (12) Altenstadt, Ulrich von: Der öffentliche Raum: Geschichte, Renaissance und Bedrohung. Der Architekt (1990) Nr. 11, S. 497 (13) Vgl. Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. – Frankfurt/M. 1994 (14) Deren Medium ist der Plan – oder die Karte –, womit das Problem bereits Kontur gewinnt: „Ähnlich wie die Sprache, abstrahiert damit auch die Karte vom realen Stadtraum, und zwar, indem sie ihn von dem darin befindlichen Leben bereinigt: Straßen ohne Autos, Plätze ohne Menschen und Fußgängerzonen ohne Fußgänger. Stadtraum ohne Geräusche, Gerüche, Anmutungsqualitäten, Stadtraum objektiv und abstrakt, generalisierbar und allgemein verbindlich, kanonisiert.“ Lang, Barbara: Zur Ethnographie der Stadtplanung. Die planerische Perspektive auf die Stadt. In: Kulturwissenschaftliche Stadtforschung. Hrsg.: W. Kokot, T. Hengartner, K. Wildner. – Berlin 2000, S. 59 (15) Corboz, André: Die Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zu bringen. – Basel, Berlin, Boston 2001. = Bauwelt Fundamente 123, S. 55 (16) Zwar gibt es in den raumwissenschaftlichen Disziplinen eine berechtigte Skepsis gegenüber der These einer bewussten, „Öffentlichkeit fördernden“ Gestaltbarkeit des öffentlichen Raums, wohl aber wird weithin akzeptiert, dass dieser von jener nicht unabhängig ist. Um nur eine Meinung zu zitieren: „Raumstrukturen, in denen sich sozialer Raum und symbolischer Raum überschneiden, sind nur zum Teil der direkten Gestaltung durch Architektur und Städtebau zugänglich. Die Bedeutung ist zwar an Gebäude und Ausstattungen gebunden, aber nicht durch sie bestimmt. Trotzdem: (...) Auch wenn ‘Raumprogramme’ für sich genommen außerstande sind, Defizite und Beschädigungen im städtischen Leben zu beseitigen, so können sie doch strategisch eingesetzt werden. Der Stadtraum läßt sich ‘inszenieren’. Das Medium der Stadtgestalt und des Bildes ermöglicht es, nach den Interessen der Akteure Bedeutungen zu schaffen.“ Keim, Karl-Dieter, Stadtkultur heute, a. a. O., S. 148 (17) Zitiert nach Foster, Norman: Architektur mit sozialem Gewissen. Du, Zürich (1994) H. 11, S. 21 (18) Nur am Rande kann hier auf ein Phänomen hingewiesen werden, dass dieser Entwicklung massiv Vorschub leistet: der zunehmende Vandalismus. Am sichtbarsten auftretend im scheinbar anonymen, verantwortungsleeren „öffentlichen Raum“ – als Zertrümmerung der Glaswand einer Bushaltestelle, als Graffiti an einem Brunnen, als Zerstörung einer Telefonzelle – mag er zwar als provokatives Indiz für soziale und psychische Hilflosigkeit interpretiert werden, bleibt aber ein so gravierendes wie ungelöstes gesellschaftliches Problem. „Wo soziale und ökonomische Unterschiede zu groß, die Kluft zu spürbar werden, wo blanke Gewinnsucht natürliche Lebensbedürfnisse zubetoniert und soziale Ungerechtigkeit die humane Vision einer solidarischen Gemeinschaft zur Farce macht, da sind Informationen zur Raumentwicklung Heft 1/2.2003 die Folgen nicht selten als ‘vandalistische Spuren’ im öffentlichen Raum ablesbar. (...) Überdruß-Vandalismus: Die Welt in ihrer Singularität, die Welt auch singulärer Objekte scheint seit etwa hundert Jahren haptisch wie optisch zum raschen Verbrauch verurteilt. Die Grenzen verschwimmen, das ‘déja vu’ nimmt zu und mithin die Ununterscheidbarkeit im öffentlichen Raum. Wobei denn auch Unterschiede kaum mehr gemacht werden – ‘konsumierbar’ wird alles, optisch, haptisch, zum raschen, zum ‘alsbaldigen’ Verbrauch bestimmt, in einer Welt von lauter Konsumenten, Voyeuren, Gaffern, Produzenten, Reproduzenten.“ Strodthoff, Werner: Vandalismus und öffentlicher Raum. Der Architekt (1990) Nr. 11, S. 508 (19) Vgl. Feldtkeller, Andreas: Die zweckentfremdete Stadt. Wider die Zerstörung des öffentlichen Raums. – Frankfurt/M. 1994, S. 18 (20) Dass diese Tendenz nach dem schrecklichen Attentat in New York vom 11. September noch zunehmen wird, darauf hat Richard Sennett jüngst hingewiesen: „Physisch wird es eine schärfere Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum geben. Der private Raum wird mehr und mehr überwacht werden ... Die Gesellschaft versucht auf eine irrationale Bedrohung mit ‘panoptischer’ Macht zu reagieren, also mit totaler visueller Überwachung. Man bringt dabei ein Kontrollmodell aus dem Strafvollzug in den öffentlichen Raum.“ Der Tagesspiegel, Berlin v. 23.9.2001, S. 25 (21) „Plätze in Platznot gibt es in den innerstädtischen Wohnquartieren jeder deutschen Großstadt. Es herrscht Platzangst vor der gebauten Leere, vor dem offenen Raum, vor dem freien Blick. Deshalb wird parzelliert, modelliert und reglementiert. Doch jeder Blumenkübel wird früher oder später zum Ersatzmülleimer und jeder Granitblock zur Graffiti-Fläche, durch jedes Beet führt eine potentielle Abkürzung. Liegengelassene Hundegeschäfte fallen hierzulande unter Kavaliersdelikte. Um den programmierten Verfall aufzuhalten, braucht es Pflege, die sich keine Kommune mehr leisten kann.“ Alexander, Matthias: Fehlender Mut zur schönen Leere. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 10.2.2002, S. 53 (22) Dewey, John: Kunst als Erfahrung. – Frankfurt/M. 1980, S. 62 (23) Döring, Wolfgang: Konstruktion und Form. – Stuttgart, Berlin, Köln 1995, S. 13 (24) Riegl, Alois: Spätrömische Kunstindustrie. – Wien 1927, 5. Aufl. Darmstadt 1987, S. 26 (25) Giedion, Sigfried: Architektur und Gemeinschaft – Tagebuch einer Entwicklung. – Hamburg 1956, S. 96 (26) Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter: Neue Urbanität. – Frankfurt/M. 1987, S. 209 f. 37 (30) Bahrdt, Hans Paul: Großstadt, a. a. O., S. 47 (31) Sennett, Richard: Etwas ist faul in der Stadt. Die Zeit, Nr. 5 v. 26. Januar 1996, S. 48 (32) Corboz, André: Die Kunst, a. a. O., S. 73 (33) Feldtkeller, Andreas: Die zweckentfremdete Stadt, a. a. O., S. 55 f. (34) Hubeli, Ernst: Zur Bedeutung der Geschichte in Städtebau und Architektur. Die alte Stadt (2002) Nr. 1, S. 54 (35) Auch nach außen proben viele aktuelle Bauten eine Offenheit, in der die Bewohner ihr Leben fast schon demonstrativ zur Schau stellen. Wie auf einem Schiffsdeck fühlt man sich in dem dreigeschossigen Eckhaus, das der Architekt Shigeru Ban jüngst in einem dicht bebauten Viertel Tokyos errichtet hat. Zur Straße steht der Bau ohne Wände da, und Küche, Schlaf- und Arbeitszimmer werden zur Bühne. Allerdings nur, wenn die dort wohnende Familie es so will. Bei Wind und Kälte kann sie aus den Ecken die Schiebefenster hervorziehen, die vom Boden bis zur Decke reichen. Und für den Schutz vor unerwünschten Einblicken gibt es einen Vorhang, der vor den Fenstern hängt und so lang ist, dass er beide oberen Geschosse überspannt. Wenn man ihn schließt, sieht das Haus aus wie ein strenger Würfel, verhüllt von einer knittrigen Membran – von einer Vorhangfassade im wahrsten Sinne. (36) Hassenpflug, Dieter: Citytainment, a. a. O., S. 313 (37) So etwa Johannes Ringel von RKW Rhode Kellermann Wawrowsky (Düsseldorf) unlängst im Deutschen Architektenblatt (Nr. 9, 2001, S. 7). Auch Richard Rogers bleibt oberflächlich, wenn er darauf hinweist, welche Rolle die Offenheit der Architektur für die Gestaltung des öffentlichen Raumes spielt: „Ich glaube leidenschaftlich daran, dass wir den öffentlichen Bereich stärken müssen, sowohl in philosophischer wie auch in physischer Hinsicht, da der öffentliche Bereich die Feuerprobe einer fürsorgenden und kreativen Gesellschaft ist. Die philosophische Manifestation des öffentlichen Bereiches besteht in der Existenz fundamentaler Menschenrechte und seine physische Manifestation in der Artikulation dieser Rechte in dreidimensionalem Raum. Städtische Bauten und – noch wichtiger – der Raum um sie herum, zwischen ihnen und sogar der durch sie hindurchgehende Raum, müssen für alle Bürger offen und so einladend wie möglich sein.“ Zit. n. Glancey, Jonathan: Alienation is off his menu. The Independent v. 13. Juni 1996, S. 16 (27) Rauterberg, Hanno: Wohnzimmer ist überall, a. a. O. (38) So sitzt man auch im Begriff der öffentlichen Gebäude und Einrichtungen häufig einem Missverständnis auf, indem sie zwar allgemein zugänglich, aber eben nicht in dem Sinne öffentlich sind, dass sie jedermann beliebig offen stehen. (28) Barthes, Roland: Mythen des Alltags. – Frankfurt/M. 1964, S. 132 (39) Vgl. Gabriella Vitiello: Die Seele zurückgeben. Frankfurter Rundschau v. 18.10.2002 (29) Ipsen, Detlev: Die Kultur der Orte, a. a. O., S. 233 (40) Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode – Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. – 4. Aufl., Tübingen 1975, S. 130