Urogenital-Atrophie zu oft verkannt

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Urogenital-Atrophie zu oft verkannt
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Urogenital-Atrophie zu oft verkannt
Bei der Urogenital-Atrophie erfolgt nach Ansicht von Prof. J. Matthias Wenderlein, Ulm, zu selten
eine hormonelle Therapie, für die er an dieser Stelle ein engagiertes Plädoyer hält.
Pharmakodynamische Aspekte zum Östriol
Östriol geht mit dem Zellrezeptor eine nur kurzzeitige Bindung
ein. Damit kann dieser biologisch aktive Komplex keine Proliferations-Auffälligkeiten am Endometrium auslösen – trotz
proliferierender Effekte auf Vaginal-/Urethral- und BlasenEpithel. Neben der Bindungszeit ist auch die Rezeptor­art bedeutsam. Der Alpha-Typ findet sich in hoher Dichte im Endometrium, Brustdrüsengewebe und im Ovarial-Stroma. Zu
diesem Alpha-Rezeptor hat Östriol eine recht geringe Affinität,
verglichen mit 17-Beta-Östradiol. Das lässt sich quantitativ
ausdrücken: Östriol hat nur 14 Prozent der Bindungsaffinität
zu jener von 17-Beta-Östradiol an den Alpha-Rezeptor, hier
mit 100 Prozent bezeichnet, – also um den Faktor 7 weniger.
Zum Beta-Rezeptor hat Östriol eine um den Faktor 5 geringere Affinität als 17-Beta-Östradiol (21 % zu 100 %). Trotzdem
kann Östriol an östrogenabhängigen Epithelzellen des Urogenitalbereichs als schwaches Östrogen mit kurzer Kern-Bindungszeit (1 bis 4 Stunden) zwecks Proliferation und Reifung
von Zellen wirksam werden. Östradiol hat dagegen sechsmal
längere Bindungszeiten (6 bis 24 Stunden).
Durch Östriol werden atrophische Epithelien im Urethralund Blasenhals-Bereich wieder so gut durchblutet, dass
­eutrophe Epithelien mit früheren Funktionen wie vor der
­Menopause erreicht werden – soweit diese nicht zu viele
Jahre zurückliegt. Dass Östriol die Gefäßversorgung von
atrophischen Epithelien fördert, wird indirekt unter dem
­Mikroskop recht offensichtlich – bis hin zum typischen Zellbild von eugonadalen Frauen in Zyklusmitte.
Dazu muss Östriol für zwei bis drei Wochen mit Tagesdosierungen von 0,5 mg vaginal verabreicht werden. Das ist auch über
systemische Effekte der oralen Östriol-Therapie in zwei bis drei
Monaten erreichbar. Aber die lokale Östriol-Therapie ist wegen
der schneller eintretenden Effekte mit geringeren Dosen sinn10
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voller. Um unerwünschte Proliferationseffekte auf das
Endometrium­zu erzielen, müssten mehr als zehnfach höhere
­Östrioldosen oral gewählt werden als sie bei Vaginaltherapien­
üblich sind. Dies wäre mit nichts zu rechtfertigen, also eine
Überdosierung auf drei Tagesdosen verteilt, um eine acht- bis
zwölfstündige Verweildauer an Endome­triumzellen zu erreichen. So hohe Dosierungen würden über längere Zeit mit einer
Endometriumsproliferation einhergehen. Damit ist es berechtigt, eine lokal vaginale Östriol-­Therapie mit 0,5 mg täglich als
fast risikolos einzustufen. Das gilt auch für das Brustdrüsen­
gewebe. Unter oraler Östriol-Therapie von 2 mg täglich kommt
es bei wenigen Prozent der Frauen zur grenzwertigen Zunahme­
mammographischer Dichte – ohne dass davon ein Krebsrisiko
ableitbar wäre. Bei vaginaler Östriol-Applikation á 0,5 mg ist
keine Dichteänderung zu erwarten.
Frühere epidemiologische Studien zeigten bei hohen ÖstriolBlutspiegeln sogar ein geringeres Brustkrebsrisiko. Deren
Analyse vor 30 Jahren ergab dafür zwei Erklärungen: Östriol
kann Östradiol in einem Gewebe mit hoher Rezeptorausstattung kompetitiv verdrängen. Beim Östriolabbau werden
­weniger reaktive Zwischenstufen frei als beim Abbau von
Östradiol zu Östron. Letzteres hat an den Alpha-Rezeptoren
eine um den Faktor 4 höhere Bindungsaffinität als Östriol
und am Beta-Rezeptor ist die Bindung auch höher als für
Östriol. Diese kompetitive Verdrängung des Östradiols durch
Östriol am Rezeptor ist bei Tamoxifen noch ausgeprägter.
Hohe Prävalenz der Harninkontinenz spricht für mehr
­lokale Östriol-Therapie
Die drei häufigsten Formen des unfreiwilligen Urinverlustes
treffen jede vierte Frau ab 60 Jahren. Studien aus den USA und
Skandinavien ergaben Prävalenzen von etwa einem Drittel bei
Frauen ab 60 Jahren. Beim Anstieg der Prävalenz von Harninkontinenz mit dem Alter ist der rasante Anstieg perimenopausal beziehungsweise in den ersten zehn Jahren nach der Menopause auffallend. Daher ist die Querverbindung zur
erloschenen Ovarialfunktion als relevante Kausalität nahe­
liegend. Das ist durch andere Risikofaktoren zu ergänzen. Dazu
gehört zunehmende Adipositas bei Frauen in den Jahren nach
der Menopause. Ein ansteigender BMI – insbesondere über 30
– unter Östrogenmangel ist mit einem um ein Drittel reduzierten Grundumsatz assoziiert (bei gleichbleibendem Ess- und
Bewegungsverhalten).
Die Folge ist eine deutliche Zunahme der Diabetes-Prävalenz.
Die Möglichkeit der Prävention dieser häufigsten Stoff­
wechsel­krankheit durch die Hormonersatztherapie (Hormone
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Es ist ein Verdienst der Nordamerikanischen Menopause
­Gesellschaft NAMS, die hormonelle Therapie von UrogenitalAtrophie anhand neuer Studiendaten überprüft zu haben.
Das daraus resultierende überarbeitete Positionspapier1 löst
jenes von 2007 ab. Ein wesentliches NAMS-Fazit lässt sich
auf deutsche Verhältnisse übertragen: Eine urogenitale Atrophie wird zu selten diagnostiziert und damit werden ihre
Symptome zu wenig behandelt. Das schränkt die Lebensqualität der betroffenen Frauen in der Partnerbeziehung und –
wenn damit eine Östrogenmangel-Inkontinenz assoziiert ist
– den übrigen sozialen Beziehungen ein. Im Folgenden interessiert die lokale Therapie kausal mit Östriol.
Replacement Therapy, HRT) wurde durch ein Drittel weniger
Diabetes-Neuerkrankungen in WHI, HERS und E3N (als Megastudien) bestätigt. Zugleich korreliert Diabetes in hohem
Maße mit Harninkontinenz.
Aber auch die Uterusexstirpation hat nicht selten Inkontinenz zur Folge. Die Indikation zu dieser Operation wird meist
perimenopausal gestellt, seien es Blutungsstörungen oder
auffällige Histologien bei Abrasio, die auf einer gestörten Relation Östrogen zu Progesteron basieren. Der Mangel an letzterem Hormon wird schon lange als Indiz beginnender insuffizienter Ovarialfunktion gewertet.
Gynäkologische Untersuchung und Anamnese sind
informativ
Wie bereits angeführt, geht ein ab der Menopause entwickelter Diabetes mit steigender Prävalenz von Harninkontinenz
einher. Damit überrascht nicht, dass postmenopausale Frauen
ab einem BMI von 30 mehr als dreimal häufiger an Harn­
inkontinenz leiden als jene mit einem BMI zwischen 22 und
24. Dies nur mechanisch durch den erhöhten intraabdominellen Druck und damit auf den Beckenboden mit Verlegung
von Harnblase und Harnröhre (sowie deren verändertem
Winkel zueinander) zu erklären, wäre einseitig. Dazu Beobachtungen über drei Jahrzehnte aus zwei gynäkologischen
Hochschulambulanzen: Viele Frauen ab 60 Jahren mit der
Einweisungsdiagnose Harninkontinenz hatten bei der gynäkologischen Untersuchung keine/kaum anatomische Veränderungen, die Inkontinenz-Probleme durch Lageveränderungen im Uro­genitalbereich erklärten – ohne hier auf die
diagnostischen Grenzen von Pressaufforderungen bei der
gynäkologischen Untersuchung eingehen zu wollen.
Sind Frauen für lokale Östriol-Therapie offen?
Die meist adipösen Frauen sind nach Erfahrungen aus den
Hochschulambulanzen auf eine Operation programmiert und
gegen eine HRT eingestellt („Hormone machen noch
dicker“), sodass Therapieversuche mit risikolosem Östriol nur bei ­
wenigen
umsetzbar waren. Differenzierte Frauen mit biologischen Basiskenntnissen, die selbstkritisch eine deutliche G
­ ewichtszunahme
in den Jahren nach der Menopause zugaben, waren für eine
dreimonatige Östriol-Therapie offen. Die mehrheitlichen Östriol-Erfolge galten natürlich nicht für jene mit Inkontinenz-Problemen bereits vor der Menopause oder eindeutigem anatomischen Substrat für Inkontinenz.
Vor 2002 (WHI-Erstpublikation) hatte Östriol keine so große
Therapiebedeutung, da von der systemischen HRT auch der Urogenitalbereich profitierte. Seit 2009 werden HRT-Indikationen
durch S3-Leitlinien – wegen mehr Brustkrebsdiagnosen im Promillebereich – erschwert (wobei die Prognose bei unter HRT
entdeckten Mammakarzinomen eher besser ist).
Östriol ist in dieser Situation, bezogen auf die urogenitale Atrophie ab der Menopause mit Inkontinenzfolge, eine Alternative
zu oralem Östradiol. Damit stellt sich die Frage, für welche der
drei häufigsten Formen der Inkontinenz eine ­Östriol-Indikation
besteht. Bei der Belastungsinkontinenz – also Urinverlust unter
körperlicher Belastung, ohne dass zuvor Harndrang registriert
wird –, steht ein insuffizienter Urethralverschluss im Vordergrund. Dafür sind atrophische Veränderungen unter Östrogenmangel über einige Jahre verantwortlich, insbesondere wenn
schon vor der Menopause latent Schädigungen vorlagen (z. B.
durch vaginale Geburten von Kindern mit großem Kopfumfang
und langer Belastung des Beckenbodens unter der Geburt).
Bei erstmals perimenopausal auftretender Dranginkontinenz
– also unkontrolliertem Urinabgang durch imperativen Harndrang – ist an ein Progesteron-Defizit zu denken. Wird dieses
Hormon substituiert, so profitiert davon die überaktive
­Detrusor-Muskulatur. Ein Gestagen-Benefit ist bei länger
­zurückliegender Menopause kaum mehr erreichbar.
Leidensdruck durch Dranginkontinenz motiviert zur
Östriol-Therapie
Harninkontinenz beeinträchtigt die Lebensqualität so vielfältig, dass nur einige Aspekte angeführt werden. Soziale Kon-
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Warum Östriol favorisieren?
Placebo-Therapien sind nur über wenige Wochen
wirksam – und dann nur halb so oft wie hormonelle Therapien, deren Benefit längerfristig zunimmt. Übende Verfahren unter professioneller
Anleitung sind nur für wenige Frauen wohnortnah umsetzbar und selten längerfristig finanzierbar. Arzneimittel mit zentralnervösem Ansatz
sind oft kontraindiziert und haben die Lebensqualität beeinträchtigende Nebenwirkungen. Das wird von pharmaunterstützten Studien teils ­unterbewertet.
Beispielsweise lassen Anticholinergika
ältere Frauen kognitiv um bis zu zehn
Jahre voraltern. Das belegt auch die
­Erfahrung eines leitenden Oberarztes an
einem Universitätsklinikum mit dem
Schwerpunkt Urodynamik.
Dem gegenüber sind von Östriol bei lokalvaginaler Applikation von 0,5 mg täglich
keine Risiken und nur marginale Nebenwirkungen zu erwarten. Östriol stellt
einen natürlichen Metaboliten des Östra­
diols dar und kann im intermediären
Stoffwechsel nicht mehr in dieses
­zurückgeführt werden. Die rasche Ausscheidung von Östriol in konjugierter
Form geschieht über Niere und Galle.
Zu wenig bekannt ist, dass Östriol bei
Schwangeren in großen Mengen in der Plazenta produziert wird. Die Serumspiegel erreichen bis 200 ng/ml und liegen bei Frauen
ab der Menopause marginal bei 20 pg/ml, in
freier und damit biologisch verfügbarer Form
vor (konjugiert bei 120 pg/ml).
Östriol ist sowohl oral als auch lokal – vaginal
verabreicht – pharmakologisch wirksam. Seit
15 Jahren wird die lokale Applikation in Form
von Suppositorien und Ovula favorisiert.
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Östriol versus Östradiol in der gynäkologischen Praxis
Frauen konsultieren in der Regel perimenopausal ihren Frauenarzt wegen klimakterischer Beschwerden – initial meist
vasomotorischer Art. Östriol kann diese Beschwerden nicht
beseitigen. Deshalb wurde bisher das um zirka den Faktor 10
wirksamere Östradiol favorisiert. Das galt auch bei gleichzeitig auftretenden atrophischen Vaginalveränderungen mit
Beschwerden wie Dyspareunie. Damit ließ sich wieder eine
Dicke beziehungsweise Trophik in den Vaginalwänden wie
vor der Menopause erreichen.
Die Furcht vor Hormonen ist derzeit so ausgeprägt, dass Östriol nun einen neuen Stellenwert bekommt. Das gilt vor
allem für Frauen mit vier Jahren und länger zurückliegender
Menopause, bei denen eine vermindert durchblutete und
damit schlechter versorgte Vaginalregion zu Beschwerden
führt. Das trifft für zwei von drei Frauen zu, wenn explizit
danach gefragt wird.
Es ist biologisch plausibel, dass mit ähnlicher Häufigkeit
auch Urethra und Blasenhals betroffen sind, mit Funktionsbeeinträchtigungen und dem Leitsymptom erstmaliger
Harninkontinenz. Das ist oft assoziiert mit atrophischer Urethrozystitis. Das gilt vor allem bei – aufgrund von Inkontinenz – reduzierten Trinkmengen.
Von Östriol ist kein KHK- und Osteoporose-Schutz zu erwarten, aber auch keine Neuroprotektion bezogen auf Demenz
und Parkinson.
Bewusst wird hier nicht auf die einzelnen Inkontinenz-Formen
eingegangen, da es sich oft um Mischformen handelt. Gerade
bei diesen ist lokale Östriol-Therapie Erfolg versprechend.
Zusammenfassung
Dranginkontinenz in Kombination mit Urogenital-Atrophie
ist bei Frauen ab der Menopause ein recht häufiges Problem.
Eine hormonelle Therapie in lokaler Form mit Östriol ist oft
erfolgreich. Bei Östriol handelt sich um einen Metaboliten
von Östradiol. Dieses schwache Östrogen mit wesentlich
­geringerer Affinität zu Östrogen-Rezeptoren und recht kurzen Bindungszeiten birgt nicht die Risiken von Östradiol und
ist im Urogenitalbereich hochwirksam. Das gilt nicht nur bei
atrophischer Kolpitis, sondern auch bei erstmalig postmenopausal auftretender Harninkontinenz, wenn kein beeindruckendes anatomisches Substrat vorliegt.
Östriol ist dem Körper bekannt und wird in der Schwangerschaft physiologisch in hohen Dosen in der Plazenta produziert.
1. Menopause 2013;20(9):888-902. dx.doi.org/10.1097/
GME.0b013e3182a122c2
Prof. Dr. J. M. Wenderlein
Universität Ulm
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takte werden eingeschränkt wegen Furcht vor Mobilität
(ausreichend WCs auf der Wegstrecke?). Das führt zur sozialen Isolation und in der Folge unter Umständen dann auch zu
einer Depression. Das ohnehin im Alter problematische Trinkverhalten wird durch eine noch weiter eingeschränkte Flüssigkeitszufuhr verstärkt – nicht selten mit rezidivierenden
Harnwegsinfekten als daraus folgende Konsequenz.
Auch finanzielle Aspekte werden bei immer knapperen finanziellen Ressourcen im Gesundheitswesen relevanter. Spezielle­
Einlagen und Unterwäsche werden als Eigenleistung bei
niedriger Rente (Frauen häufiger verwitwet als Männer) zum
finanziellen Problem – auch bei Übernahme eines Teils der
Hilfsmittel durch die GKV.

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