Im Lesesaal - Elster Verlag
Transcription
Im Lesesaal - Elster Verlag
Im Lesesaal Nummer IX/12 | 17. September 2012 | Elster Verlagsbuchhandlung AG | Hofackerstrasse 13 | CH 8032 Zürich www.elsterverlag.ch – [email protected] | Telefon 0041 (0) 44 385 55 10 Auslieferungen — Deutschland: Brockhaus Kommission, Kornwestheim | Schweiz: AVA, Affoltern a. A. Geschnatter vom Piratendampfer! Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde des Verlags, Study hard – Work harder Da gehts lang in der Literatur: Her mit der realen Welt ! Neben den üblichen Themen (Vater, Mutter, Kindheit) hat die deutschsprachige Literatur die gesellschaftliche Krise entdeckt. Dr. Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg, ehemaliger Verlagsleiter des Verlages Hoffmann & Campe und vor kurzem Mitdiskutant beim Literaturclub des Schweizer Fernsehens, ist die Büchertische der Neuerscheinungen entlanggegangen. Als Martin Walser vor ein paar Jahren seinen Roman «Angstblüte» veröffentlichte und seinen nicht mehr ganz jungen Helden Karl von Kahn mit allerhand Aktien handeln ließ, beklagte er in Interviews, dass sich deutsche Schriftsteller viel zu wenig für das ökonomische Fundament unserer Gesellschaft interessierten. Und recht hatte Walser damit, denn addiert man jene Romane der letzten Jahre, in denen das kapitalistische Wirtschaften nicht nur in Bausch und Bogen à la Jelinek verdammt, sondern substanziell beschrieben wird, so ist die Ernte dürftig. Gewiss, da gibt es den Ex-Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler, der nicht nur Studienräte, Buchhändlerinnen oder Paartherapeuten zu seinen Akteuren macht. Da gab es Burkhard Spinnen, der in «Der schwarze Grat» ein schwäbisches Unternehmerleben nachzeichnete, und da lobte man Kristof Magnussons RoFortsetzung Seite 2 Schwere Häme muss sich dieser Tage das Vorstandsmitglied der deutschen Piratenpartei Julia Schramm gefallen lassen. Sie hat ein Buch geschrieben, das «Klick mich» heißt, und 100 000 Euro Vorschuss erhalten. Ein kleiner Blick hinein lässt erschauern: «Manchmal wird der Leser denken, dass ich mich widerspreche. Und genau das tue ich, denn Denken bedeutet widersprechen, sich nicht einig sein …» Auweia – bei der Bearbeitung haben die Lektoren hoffentlich Gefahrenzulage verlangt. Es ist ein echter Härtetest voller Unsinn. In einem «Spiegel»-Interview meinte Schramm noch, Privatsphäre sei «sowas von Eighties.» Urheberrecht und anderes kann – klar – nur die «Content-Mafia» verlangen. Hier kann man gut das Denken von Frau Schramm beobachten – ich denke, also widerspreche ich mir. Die rechte Hälfte des Gehirns (emotional, liebt Risiko) denkt sich: «Scheiße Urheberrecht, ich will Lady Gaga runterladen», während die linke Hälfte (fürs Rationale verantwortlich) sich gedacht hat: «Her mit der Knete; ich muss eh Katzenfutter kaufen. Das ist sowas von Twentysomething.» Kein Wunder, dass sich Frau Schramm mit sich nicht einig ist und das Video, in dem sie gegen das Urheberrecht wettert, vom Netz nimmt. Zwar stellt angeblich freies Kopieren «eine essentielle Grundvoraussetzung für die soziale, technische und wirtschaftliche Weiterentwicklung unserer Gesellschaft dar» (Piratenprogramm). Aber Herbert Wehner (1906–1990), der legendäre SPD-Führer, bekannt und berüchtigt für seine spitzen Bemerkungen, hätte wohl gedröhnt: «Das tönende Nichts!» Ganz herzlich Seite 2 Im Lesesaal Fortsetzung von Seite 1 Her mit der realen Welt man «Das war ich nicht», in dem ein Jungbanker per Knopfdruck ein paar Millionen in den Sand setzt. Erst in diesem Herbst jedoch scheint es so, als würde die Literatur auf die längst unübersichtlich gewordene Anhäufung von Finanz(markt-)krisen reagieren und Szenarien entwickeln, die uns die auf den ersten Blick so schöne Welt von Topmanagern und Vorstandsvorsitzenden nahebringt. Sibylle Berg zum Beispiel, die gemeinhin eher das anthropologisch grundsätzlich Verwerfliche im Blick hat, lässt in «Vielen Dank für das Leben» einen Wertpapierhändler namens Kasimir agieren, der es nicht verkraftet, dass sein alter Kinderheimgefährte Toto seine üblen Kreise stört und das ungetrübt Gute verkörpert. Über die reale Finanzwelt erfährt man bei Frau Berg indes herzlich wenig, über den nahenden Untergang des Kapitalismus eher Allgemeines, und dass es mit Toto nicht gut endet, versteht sich von selbst. Genauer hat sich da Rainald Goetz in die Materie eingearbeitet, genauer: in den Kosmos der unter anderem in Ostthüringen agierenden Firmengruppe Assperg. Deren Vorstandsvorsitzender Johann Holtrop gibt Goetz’ Roman seinen Titel und ist ein Musterexemplar jener «Gier», die Kapitalismuskritiker Goetz schon auf der ersten Seite als prägendes Element unserer Niedergangsgesellschaft ausmacht. Was auf den Seiten danach kommt, ist nicht viel, allenfalls eine Ansammlung charakterlich defekter Wirtschaftsführer – Freunde des Schlüsselromans und Feinde Thomas Middelhoffs kommen auf ihre Kosten – und Banker, die kein gutes Ende nehmen … wer hätte es gedacht? Immerhin bereichert der Autor den deutschen Adjektivfundus, etwa mit seiner Wendung «vom drüberen Tisch». Wer sich durch Goetz’ Sprachwust durchgearbeitet hat, freut sich fast schon, John Lanchesters Roman «Kapital» zu lesen, der zwar auch Gut und Böse treffsicher zu unterscheiden weiß und Banker Roger Yount vergebens auf dicke Boni hoffen lässt, aber in seiner Dickens’schen Breite, die von einer einzigen Londoner Straße ausgeht, strahlt dieser Roman eine gewisse Gemütlichkeit aus. Das alles ist nur der Anfang. Die nächsten Eurokrisendramen kommen bestimmt, und vielleicht findet sich ja bald ein Journalist oder Verlagsleiter, der unter Pseudonym dar über schreibt, wie Buchhandelsketten die Luft ausgeht und deren Manager von Bergen unverkäuflicher Finanzmarktkrisenepen erschlagen werden. Wer diesen Stapeln wohl einen Schubs gegeben hat? Eigentlich ein schönes Krimimotiv. Noch einmal Hiaasen Schmöker hoch vier Wie man abstürzt … Für die Herbstferien … In Carl Hiaasens Romanen findet sich meist ein Personal, welches sich mit einer gewissen Unerbittlichkeit darum bemüht, den amerikanischen Traum, the pursuit of happyness, auf die eigenen Bedürfnisse zurechtzustutzen. Hier ist es die 20-jährige Popsirene Cherry Pye, die nach einem drogenbedingten Absturz an ihrem Comeback arbeitet. Aber es sieht schlecht aus. Wieder hat sie sich mit allem, was high macht, vollgestopft, diesmal auch mit Vogelfutter, denn sollte sie einmal wiedergeboren werden, möchte sie ein Kakadu sein. Damit die Abstürze und ihr Verschwinden in Entzugkliniken nicht zu offensichtlich werden, gibt es ein Körperdouble, das Cherry bei «Unpässlichkeit» ersetzt. Allerdings wird die von einem Paparazzo gekidnappt. Hiaasen jagt sein geldgieriges Personal mitleidslos durch die Handlung. Dabei hat er, sozusagen als Hilfestellung, zwei Pro tagonisten aus früheren Romanen zu Hilfe geholt, den ehemaligen Gouverneur, der jetzt einsam in den Krokodilsümpfen lebt, und dem Mörder Chemo, der in «Unter die Haut» seine rechte Hand an einen Barrakuda verloren hatte und an ihrer Stelle einen Rasentrimmer trägt. Hiaasen ist ein in den USA außerordentlich bekannter Autor, der mit seinen Romanen in ihrer merkwürdigen Mischung von kriminellem Tun und Humor ein ganzes Genre initiiert hat. Hier ist ihm wieder ein frischer und gleichzeitig recht schwarzer Roman gelungen, der gut zu seinen besseren seiner inzwischen langen Reihe von Thrillern passt. Bernd Zocher Carl Hiaasen Sternchenhimmel Broschiert, 396 Seiten Fr. 22.00 / Euro 15.00 Goldmann – Manhattan, München 2012. Leichtfüßig und tiefgründig entführt uns Annika Reich nach Berlin, 34 Meter über dem Meer. Das ist Horowitz, der Meeresforscher, der nie am Meer war, gescheitert als Wissenschaftler und in der Liebe. Seine prächtige Wohnung erzählt Geschichten über das Meer; die Einrichtung ist der Jules Verne‘schen «Nautilus» nachempfunden. Sie ist für ihn aber zum Gefängnis voller Erinnerungen geworden, und so schreibt er sie zum Tausch aus. Für die Abenteuererin und ewige Träumerin Ella ist das Angebot ein Geschenk, das sie sofort annimmt. Ella hat eine lebenshungrige, blonde, pralle, immer abwesende Mutter und eine pragmatische Schwester, die immer wieder versucht, Ella auf den Boden der Realität zu bringen. Ausgerechnet in die Mutter der beiden Schwestern verliebt sich der melancholische Horowitz. Sie tröstet ihn mit dem klugen Satz: «Scheitern ist auch nur eine Interpretation einer Geschichte, die man auch anders hätte erzählen können» und reißt ihn buchstäblich mit in ein anderes Leben. Sanft und ideenreich spinnt die Erzählerin die Fäden ihrer Geschichte und man lässt sich freudig einwickeln, bis man, fröhlich gefangen im Kokon der Ereignisse, beschliesst, noch ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen und eine weitere Sommernacht mit den witzigen, mutigen und schrägen Figuren aus Berlin zu verbringen. Ulla Schiesser Annika Reich 34 Meter über dem Meer Gebunden, 272 Seiten Fr. 26.90 / Euro 18.90 Hanser Verlag, München 2012. Im Lesesaal Seite 3 Die nächsten Ereignisse : 19. Oktober 2012 , 18:30 Uhr Universitätsbibliothek Bern, Münstergasse 61/63, Vortragssaal Buchvernissage mit Esther Wyler zu ihrem Buch «Wistleblowing» Peter Gut Alles wird Gut Elster Verlag • Zürich 27. Oktober 2012: «Zürich liest», 11:00 Uhr: Buchhandlung im Schwert, Obertor 2, 8400 Winterthu Signierstunde mit Peter Gut: «Alles wird Gut». Friedrich Glauser SCHAUMKRONEN Gedichte und Aphorismen Herausgegeben von Hans Baumgartner Elster ZEN TEEHAUS TEAHOUSE Werner Blaser Elster Verlag 27. Oktober 2012: «Zürich liest», 13:00 Uhr: Bellevue, beim «Odeon». Literarischer Spaziergang mit Martin Dreyfus durch Zürichs Altstadt, anlässlich des Erscheinens des Glauser-Bandes «Schaumkronen». 27. Oktober 2012: «Zürich liest», 17:00 Uhr: Rietberg-Museum, Gablerstrasse 15, 8002 Zürich Buchvernissage zu Werner Blasers Buch «ZEN – Teehaus». Werner Blaser im Gespräch mit Martin Albers, ehem. 1. Vorsitzender des SWB. Das aktuelle Angebot : Friedrich Glauser SCHAUMKRONEN Gedichte und Aphorismen Herausgegeben von Hans Baumgartner Elster Friedrich Glauser Schaumkronen Gedichte und Aphorismen Gebunden, 80 Seiten Seiten, Fr. 19.80 / Euro 18.00 Elster Verlag hier bestellen: http://www.elsterverlag.ch/html/index.php?id=28 Hilary Mantel Brüder Gebunden, 1102 Seiten, Fr. 32.00 / Euro 26.00 Dumont Buchverlag, Köln 2012. hier bestellen: http://www.elsterverlag.ch/html/index.php?id=27 Annika Reich 34 Meter über dem Meer Gebunden, 272 Seiten, Fr. 24.00 / Euro 18.90 Hanser Verlag, München 2012. hier bestellen: http://www.elsterverlag.ch/html/index.php?id=28 Carl Hiaasen Sternchenhimmel Broschiert, 396 Seiten, Fr. 22.00 / Euro 15.00 Goldmann – Manhattan, München 2012. hier bestellen: http://www.elsterverlag.ch/html/index.php?id=27 Seite 4 Im Lesesaal Pech für Monsieur Marat; Charlotte Corday hat kurzen Prozess gemacht, und Jacques-Louis David hat es mit seinem i-Phone aufgenommen (1793). «Brüder» von Hilary Mantel Von der Pike auf die Laterne! Die Französische Revolution dürfte auch weiterhin neben der amerikanischen Unabhängigkeit eines der einschneidendsten Ereignisse der Weltgeschichte bleiben, hat sie doch neben dem großen Terror die erste Erklärung allgemeiner Menschenrechte gebracht und bildet bis heute aus ihren Errungenschaften eine wichtige Grundlage für moderne, verfasste Gesellscften. Die Engländerin Hilary Mantel hat bereits vor 17 Jahren einen Roman über sie geschrieben, der jetzt auf deutsch erschienen ist – und er ist großartig. A Place of Greater Safety heißt Mantels Roman auf englisch – «Brüder» hat ihn der deutsche Verlag genannt. Das ist insofern treffend, als die Entwicklung zur Französischen Revolution aus dem Blickwinkel dreier Protagonisten geschildert wird, die tatsächlich eine tragende Rolle innehatten. Zu Beginn der Revolution kämpfen sie gemeinsam, erst der Verlauf der Ereignisse treibt sie auseinander. Hilary Mantel gelingt es hervorragend, deren Wesen aus ihren Handlungen heraus zu skizzieren. Da ist zum einen Camille Desmoulins, (1760–1794) ein junger Anwalt, der neben seinem Schreibtalent ein rhetorisches Genie ist und durch seine öffentlichen Reden die revolutionären Ereignisse vorantreibt. Da ist weiterhin Georges Danton (1759– 1794), ebenfalls ein Anwalt und königlicher Rat, der sich durch die Ereignisse radikalisiert. Und schließlich Maximilien de Robespierre (1758–1794), auch Anwalt. Alle drei kommen aus der Provinz nach Paris, um sich eine Karriere aufzubauen. Hilary Mantel gelingt es gut, die vorrevolutionäre Situation einzufangen: Frankreich hat ein marodes Feudalsystem, bei dem der königliche Hof mehr Geld verschlingt, als der ganze Staat einnimmt. Die einzige Maßnahme des Königs dagegen ist – der Wechsel des Finanzministers. Während die Brotpreise steigen, nimmt auch die Verarmung und der Hunger überhand; große Teile der bürgerlichen Schichten und auch einige Adlige sind sich darüber im Klaren, dass dies nur in einer Katastrophe enden kann, die Frage ist nur – wann und wie? Als sich die Situation mit der Erstürmung der Bastille, des königlichen Gefängnisses am 14. Juli 1789 geradezu eruptiv ändert, finden sich alle Teilnehmenden in einem Malstrom von Vorgängen, denen sie sich nicht mehr entziehen können. Mantel hat über Jahre intensive Recherchen betrieben und im Roman nicht nur den wichtigsten historischen Persönlichkeiten ein Privatleben angedichtet, sondern auch jede Menge anderen Personals eingeführt, wenn es nur beim Vorantreiben der Handlung behilflich ist. Ihre Fähigkeit der mit wenigen Worten charakterisierenden Personenskizze führt zu seelenvollen und lebensnahen Personenbeschreibungeen. Wir haben es bei «Brüder» nicht mit einer theoretischen Abhandlung über die Revolution zu tun, sondern Mantel zeigt, wie sich das Tempo der Revolution und die Radikalisierung ihrer Protagonisten immer weiter erhöht. Das gelingt ihr mit kurzen einprägsamen Szenen und vor allem mit ihrer herausragenden Fähigkeit, ebenso kluge wie scharf gedachte Dialoge zu Papier zu bringen, dass es beim Lesen eine Freude ist. Man pflügt sich ohne Ermüdungserscheinungen durch die 1100 Seiten. Danton tritt als grandioser Redner und wendiger Politiker, Desmoulins als fähiger und aggressiver Journalist und Robespierre als idealistischer, aber später frustrierter Vertreter der Revolution hervor. Immer weiter entfernen sich Danton und Desmoulins von den radikalen Aktionen eines Saint-Just und eines Robespierre, bis sie sich am Ende selbst auf dem Schinderkarren und auf dem Weg zur Guillutine wiederfinden. Hier endet auch der Roman. Es ist beeindruckend, wie Mantel die unterschiedlichen Strömungen im revolutionären Prozess mit wenigen Sätzen beschreibt und zeigt, wie kleine, radikalisierte Gruppen in unterschiedlichen Liaisons mit anderen Gruppierungen peu à peu die Exekutive okkupieren. Der Rezensent des «Neuen Zürcher Zeitung» hat treffend festgehalten: «Nimmt man die Erfahrungen hinzu, die in Osteuropa nach dem Fall der Mauer in Nachfolgestaaten Jugoslawiens oder der Sowjetunion gemacht worden sind, oder die undurchschaubaren Verhältnisse in den arabischen Ländern, in denen westliche Demokraten gerne auch demokratische Revolutionen am Werke sehen möchten, dann wirkt Hilary Mantels Roman durch diesen Entwurf heute unerwartet aktuell.» Ein paar Worte noch zur Übersetzung von Kathrin Razum und Susanna Roth: Sie ist ausgezeichnet und trifft bis in die Wortwahl jenen Ton, der zwischen anspruchsvoller Alltagssprache und historischen Reminiszenzen changiert und so den Eindruck der Authentizität erhöht. Alex Werth Hilary Mantel Brüder Dumont Buchverlag, Köln 2012. 1102 Seiten, gebunden, Fr. 32.00 / Euro 24.95 Im Lesesaal Dürrson Friedrich Glausers früher Orientierungspunkt: das Cabaret Voltaire in Zürich Friedrich Glauser: «Schaumkronen» Extrakte eines Lebens Hans Baumgartner Es ist nicht tot, das Mulet, das Maultier, wie er sich manchmal nannte, es hat nur geschlafen. Friedrich Glauser, der Schriftsteller «mit dem lakonisch-unprätentiösen Stil, «dessen Hauptqualität die atmosphärische Dichte ist» (Bernhard Echte/Manfred Papst), berührt bis heute. Zeit seines Lebens hatte er, immer wieder interniert, teils zwangsweise, teils freiwillig, schreibend um den Aufbau einer bescheidenen Existenz gekämpft. Doch Glausers Spielraum war klein, denn er lebte in einer engen Schweiz, die den «Pauperismus» predigte; ein Land, das trotz demokratischer Verfassung von totalitärem Denken geprägt war. Man wusste, was gesund und was krank war. Die Anpassung an das Normale war Gebot. Abweichendes Verhalten musste als Krankheit behandelt werden, auch mit Zwang; Hilfe war in Wirklichkeit Abhilfe. Seine frühen Förderer glaubten, Glauser dem Publikum als Sünder und sein Werk als Beichte vorstellen zu müssen. Sie wollten dem Zeitgeist Rechnung tragen, um durch ein Unterwerfungssignal die «unterentwickelte Zelle, die von einem Zellenstaat ausgestoßen worden ist», vor Ausgrenzung zu schützen. Es bleibt offen, ob sie ihm damit wirklich geholfen haben. Das kannte er ja. Glauser wusste, was von ihm verlangt wurde: «Langsam fange ich an zu verstehen, dass ein Außenseiter nicht unbedingt untergehen muss. Es ist eine Frage der Anpassung, die ich vielleicht doch lösen werde.» Sein Urteil über die Zwangsvollstrecker der Norm war trotzdem unmissverständlich: «Was ist schließlich Helfen und Schützen anderes als ein Surrogat für Herrschen?» Glausers Philosophie, seine Analyse des Menschseins und seine Kritik an der mit Lebenslügen vollgepropften Realität stand quer zum kollektiven Optimismusgebot. Hermann Hesse, der als jugendlicher Aussteiger, erfolgloser Suizident und psychiatrisch Zwangsinternierter bemerkenswerte Parallelen zu Glauser aufweist, wollte lieber Mut zusprechen: «Es fehlt nicht an Autoren, deren Verzweiflung an unserer Zeit und deren Angst vor dem Chaos echt ist. Es fehlt aber an solchen, deren Glaube und Liebe ausreicht, sich selber über dem Chaos zu halten.» Nein, so einer war Friedrich Glauser nicht. Seine Sicht blieb radikal: «Und unser Verlangen, die Zeit sich ändern zu sehen, ist wohl nicht weniger ungeheuerlich als unser Verlangen, das Herz sich ändern zu sehen.» Sein Fazit ist für Weltverbesserer ebenso eine Provokation wie für Ordnungshüter: «Die Zeit ändert sich nicht, die Herzen ändern sich nicht.» Der an Einsamkeit Leidende wird nicht deshalb zum Helden, zum Underground-Poeten oder Drogenmärtyrer, nur weil ihn kollektive, intellektuelle Moden in den letzten Jahrzehnten gern so hätten. Seite 5 Was aber an Friedrich Glauser bis heute fasziniert, ist der luzide Scharfsinn, mit dem er auf menschliches Verhalten blickt. Es ist, als habe er durch seine vielen Leben eine innere Unabhängigkeit erlangt, die es ihm ermöglichte, sich unvoreingenommen mit den Tiefen und Untiefen der menschlichen Seele auseinanderzusetzen. Bereits in den Dreißigerjahren erblickt er in den Vorgängen nördlich der Schweiz etwas, was in seiner Verderbtheit auch innerhalb helvetischer Grenzen denkbar wäre: «Was in den Konzentrationslagern vorgeht – ich wette mit Ihnen, dass auch in der Schweiz, wenn die Umstände danach sind, sich ebenso viele Sadisten auftreiben lassen, denen es eine Freude sein würde, Andersdenkende zu quälen – um sie (bequeme Ausrede) zu bekehren. Man muss verstehen …» Immer wieder erfolgt der Aufruf zum Verständnis, aber Glauser spendet keinen Trost: «Und ohne die Religion gehen die Seelen nicht einmal dem Teufel zu, sondern dem Schmerz, der Angst und der Furcht.» Der ideologieresistente, großen Tönen stets misstrauende Dieb und Lügner, der so stark zu formulieren wusste und selbst mit dem Alltag so furchtbar schlecht zurande kam – seinem absoluten Satz «Wahrheit hat mit Worten nichts zu tun» vermag der aufgeklärte Teil der Gesellschaft kaum mehr zu entgehen. Vielleicht ist es diese Erkenntnisverwandtschaft, verbunden mit seiner Empfindsamkeit, die den verständnisvollen, warmherzigen, ja zauberhaften, aber manchmal auch sehr gemeinen, hilflosen und schwachen Maulesel so interessant macht. Die hier versammelten Aphorismen zeigen, dass sie auch ohne den Rahmen der stets biografisch geprägten Erzählungen zu tragen vermögen. Für die, denen sie sich nicht erschließen, sind sie gewiss Türöffner dorthin. Die wenigen Gedichte von Friedrich Glauser aber sind noch mehr als das, sie sind ein Abbild seiner Seele. Auszüge aus dem Vorwort von Hnas Baumgartner zum Band «Schaumkronen» Friedrich Glauser SCHAUMKRONEN Gedichte und Aphorismen Herausgegeben von Hans Baumgartner Elster Friedrich Glauser Schaumkronen Gedichte und Aphorismen Gebunden, 80 Seiten Seiten, Pappband Fr. 19.80 / Euro 14.80