Im Lesesaal - Elster Verlag

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Im Lesesaal - Elster Verlag
Im Lesesaal
Nummer IX/12 | 17. September 2012 | Elster Verlagsbuchhandlung AG | Hofackerstrasse 13 | CH 8032 Zürich
www.elsterverlag.ch – [email protected] | Telefon 0041 (0) 44 385 55 10
Auslieferungen — Deutschland: Brockhaus Kommission, Kornwestheim | Schweiz: AVA, Affoltern a. A.
Geschnatter vom Piratendampfer!
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freunde des Verlags,
Study hard –
Work harder
Da gehts lang in der Literatur:
Her mit der realen Welt !
Neben den üblichen Themen (Vater, Mutter, Kindheit) hat die deutschsprachige Literatur
die gesellschaftliche Krise entdeckt. Dr. Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg, ehemaliger Verlagsleiter des Verlages Hoffmann & Campe und vor kurzem Mitdiskutant beim Literaturclub des Schweizer Fernsehens, ist die Büchertische der Neuerscheinungen entlanggegangen.
Als Martin Walser vor ein paar Jahren seinen Roman «Angstblüte» veröffentlichte und
seinen nicht mehr ganz jungen Helden Karl
von Kahn mit allerhand Aktien handeln ließ,
beklagte er in Interviews, dass sich deutsche
Schriftsteller viel zu wenig für das ökonomische Fundament unserer Gesellschaft interessierten. Und recht hatte Walser damit, denn
addiert man jene Romane der letzten Jahre,
in denen das kapitalistische Wirtschaften
nicht nur in Bausch und Bogen à la Jelinek
verdammt, sondern substanziell beschrieben wird, so ist die Ernte dürftig. Gewiss, da
gibt es den Ex-­Unternehmer Ernst-Wilhelm
Händler, der nicht nur Studienräte, Buchhändlerinnen oder Paartherapeuten zu seinen
Akteuren macht. Da gab es Burkhard Spinnen, der in «Der schwarze Grat» ein schwäbisches Unternehmerleben nachzeichnete,
und da lobte man Kristof Magnussons RoFortsetzung Seite 2
Schwere Häme muss sich dieser Tage das Vorstandsmitglied der deutschen Piratenpartei
Julia Schramm gefallen lassen. Sie hat ein
Buch geschrieben, das «Klick mich» heißt, und
100 000 Euro Vorschuss erhalten. Ein kleiner
Blick hinein lässt erschauern: «Manchmal
wird der Leser denken, dass ich mich widerspreche. Und genau das tue ich, denn Denken
bedeutet widersprechen, sich nicht einig sein
…» Auweia – bei der Bearbeitung haben die
Lektoren hoffentlich Gefahrenzulage verlangt.
Es ist ein echter Härtetest voller Unsinn. In
einem «Spiegel»-Interview meinte Schramm
noch, Privatsphäre sei «sowas von Eighties.»
Urheberrecht und anderes kann – klar – nur
die «Content-Mafia» verlangen.
Hier kann man gut das Denken von Frau
Schramm beobachten – ich denke, also widerspreche ich mir. Die rechte Hälfte des
Gehirns (emotional, liebt Risiko) denkt sich:
«Scheiße Urheberrecht, ich will Lady Gaga
runterladen», während die linke Hälfte (fürs
Rationale verantwortlich) sich gedacht hat:
«Her mit der Knete; ich muss eh Katzenfutter
kaufen. Das ist sowas von Twentysomething.»
Kein Wunder, dass sich Frau Schramm mit
sich nicht einig ist und das Video, in dem sie
gegen das Urheberrecht wettert, vom Netz
nimmt. Zwar stellt angeblich freies Kopieren «eine essentielle Grundvoraussetzung für
die soziale, technische und wirtschaftliche
Weiterentwicklung unserer Gesellschaft dar»
(Piratenprogramm). Aber Herbert Wehner
(1906–1990), der legendäre SPD-Führer, bekannt und berüchtigt für seine spitzen Bemerkungen, hätte wohl gedröhnt: «Das tönende
Nichts!»
Ganz herzlich
Seite 2
Im Lesesaal
Fortsetzung von Seite 1
Her mit der realen Welt
man «Das war ich nicht», in dem ein Jungbanker per Knopfdruck ein paar Millionen in
den Sand setzt. Erst in diesem Herbst jedoch
scheint es so, als würde die Literatur auf die
längst unübersichtlich gewordene Anhäufung
von Finanz(markt-)krisen reagieren und Szenarien entwickeln, die uns die auf den ersten
Blick so schöne Welt von Topmanagern und
Vorstandsvorsitzenden nahebringt. Sibylle
Berg zum Beispiel, die gemeinhin eher das anthropologisch grundsätzlich Verwerfliche im
Blick hat, lässt in «Vielen Dank für das Leben»
einen Wertpapierhändler namens Kasimir
agieren, der es nicht verkraftet, dass sein alter
Kinderheimgefährte Toto seine üblen Kreise
stört und das ungetrübt Gute verkörpert.
Über die reale Finanzwelt erfährt man bei
Frau Berg indes herzlich wenig, über den
nahenden Untergang des Kapitalismus eher
Allgemeines, und dass es mit Toto nicht gut
endet, versteht sich von selbst.
Genauer hat sich da Rainald Goetz in die
Materie eingearbeitet, genauer: in den Kosmos
der unter anderem in Ostthüringen agierenden Firmengruppe Assperg. Deren Vorstandsvorsitzender Johann Holtrop gibt Goetz’ Roman seinen Titel und ist ein Musterexemplar
jener «Gier», die Kapitalismuskritiker Goetz
schon auf der ersten Seite als prägendes Element unserer Niedergangs­gesellschaft ausmacht. Was auf den Seiten danach kommt,
ist nicht viel, allenfalls eine Ansammlung charakterlich defekter Wirtschaftsführer – Freunde des Schlüsselromans und Feinde Thomas
Middelhoffs kommen auf ihre Kosten – und
Banker, die kein gutes Ende nehmen … wer
hätte es gedacht? Immerhin bereichert der Autor den deutschen Adjektivfundus, etwa mit
seiner Wendung «vom drüberen Tisch». Wer
sich durch Goetz’ Sprachwust durchgearbeitet
hat, freut sich fast schon, John Lanchesters
Roman «Kapital» zu lesen, der zwar auch Gut
und Böse treff­sicher zu unterscheiden weiß
und Banker Roger Yount vergebens auf dicke
Boni hoffen lässt, aber in seiner Dickens’schen
Breite, die von einer einzigen Londoner Straße ausgeht, strahlt dieser Roman eine gewisse
Gemütlichkeit aus.
Das alles ist nur der Anfang. Die nächsten Eurokrisendramen kommen bestimmt,
und vielleicht findet sich ja bald ein Journalist
oder Verlagsleiter, der unter Pseudonym dar­
über schreibt, wie Buchhandelsketten die Luft
ausgeht und deren Manager von Bergen unverkäuflicher Finanzmarktkrisenepen erschlagen werden. Wer diesen Stapeln wohl einen
Schubs gegeben hat? Eigentlich ein schönes
Krimimotiv.
Noch einmal Hiaasen
Schmöker hoch vier
Wie man abstürzt …
Für die Herbstferien …
In Carl Hiaasens Romanen findet sich meist
ein Personal, welches sich mit einer gewissen
Unerbittlichkeit darum bemüht, den amerikanischen Traum, the pursuit of happyness, auf
die eigenen Bedürfnisse zurechtzustutzen.
Hier ist es die 20-jährige Popsirene Cherry
Pye, die nach einem drogenbedingten Absturz
an ihrem Comeback arbeitet. Aber es sieht
schlecht aus. Wieder hat sie sich mit allem,
was high macht, vollgestopft, diesmal auch
mit Vogelfutter, denn sollte sie einmal wiedergeboren werden, möchte sie ein Kakadu sein.
Damit die Abstürze und ihr Verschwinden in Entzugkliniken nicht zu offensichtlich
werden, gibt es ein Körperdouble, das Cherry
bei «Unpässlichkeit» ersetzt. Allerdings wird
die von einem Paparazzo gekidnappt.
Hiaasen jagt sein geldgieriges Personal
mitleidslos durch die Handlung. Dabei hat
er, sozusagen als Hilfestellung, zwei Pro­
tagonisten aus früheren Romanen zu Hilfe
geholt, den ehemaligen Gouverneur, der
jetzt einsam in den Krokodilsümpfen lebt,
und dem Mörder Chemo, der in «Unter die
Haut» seine rechte Hand an einen Barrakuda verloren hatte und an ihrer Stelle einen
Rasentrimmer trägt. Hiaasen ist ein in den
USA außerordentlich bekannter Autor, der
mit seinen Romanen in ihrer merkwürdigen
Mischung von kriminellem Tun und Humor
ein ganzes Genre initiiert hat. Hier ist ihm
wieder ein frischer und gleichzeitig recht
schwarzer Roman gelungen, der gut zu seinen besseren seiner inzwischen langen Reihe
von Thrillern passt.
Bernd Zocher
Carl Hiaasen
Sternchenhimmel
Broschiert, 396 Seiten
Fr. 22.00 / Euro 15.00
Goldmann – Manhattan, München 2012.
Leichtfüßig und tiefgründig entführt uns
Annika Reich nach Berlin, 34 Meter über
dem Meer. Das ist Horowitz, der Meeresforscher, der nie am Meer war, gescheitert
als Wissenschaftler und in der Liebe. Seine
prächtige Wohnung erzählt Geschichten
über das Meer; die Einrichtung ist der Jules
Verne‘schen «Nautilus» nachempfunden. Sie
ist für ihn aber zum Gefängnis voller Erinnerungen geworden, und so schreibt er sie zum
Tausch aus.
Für die Abenteuererin und ewige Träumerin Ella ist das Angebot ein Geschenk, das sie
sofort annimmt. Ella hat eine lebenshungrige,
blonde, pralle, immer abwesende Mutter und
eine pragmatische Schwester, die immer wieder versucht, Ella auf den Boden der Realität
zu bringen.
Ausgerechnet in die Mutter der beiden
Schwestern verliebt sich der melancholische
Horowitz. Sie tröstet ihn mit dem klugen Satz:
«Scheitern ist auch nur eine Interpretation einer Geschichte, die man auch anders hätte
erzählen können» und reißt ihn buchstäblich
mit in ein anderes Leben.
Sanft und ideenreich spinnt die Erzählerin
die Fäden ihrer Geschichte und man lässt sich
freudig einwickeln, bis man, fröhlich gefangen
im Kokon der Ereignisse, beschliesst, noch
ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen und
eine weitere Sommernacht mit den witzigen,
mutigen und schrägen Figuren aus Berlin zu
verbringen.
Ulla Schiesser
Annika Reich
34 Meter über dem Meer
Gebunden, 272 Seiten
Fr. 26.90 / Euro 18.90
Hanser Verlag, München 2012.
Im Lesesaal
Seite 3
Die nächsten Ereignisse :
19. Oktober 2012 , 18:30 Uhr
Universitätsbibliothek Bern,
Münstergasse 61/63, Vortragssaal
Buchvernissage mit Esther Wyler zu ihrem
Buch «Wistleblowing»
Peter Gut
Alles wird Gut
Elster Verlag • Zürich
27. Oktober 2012: «Zürich liest»,
11:00 Uhr: Buchhandlung im Schwert,
Obertor 2, 8400 Winterthu
Signierstunde mit Peter Gut:
«Alles wird Gut».
Friedrich Glauser
SCHAUMKRONEN
Gedichte und Aphorismen
Herausgegeben von Hans Baumgartner
Elster
ZEN TEEHAUS
TEAHOUSE
Werner Blaser
Elster Verlag
27. Oktober 2012: «Zürich liest»,
13:00 Uhr: Bellevue, beim «Odeon».
Literarischer Spaziergang mit Martin Dreyfus durch Zürichs Altstadt, anlässlich
des Erscheinens des Glauser-Bandes
«Schaumkronen».
27. Oktober 2012: «Zürich liest»,
17:00 Uhr: Rietberg-Museum,
Gablerstrasse 15, 8002 Zürich
Buchvernissage zu Werner Blasers Buch
«ZEN – Teehaus». Werner Blaser im
Gespräch mit Martin Albers,
ehem. 1. Vorsitzender des SWB.
Das aktuelle Angebot :
Friedrich Glauser
SCHAUMKRONEN
Gedichte und Aphorismen
Herausgegeben von Hans Baumgartner
Elster
Friedrich Glauser
Schaumkronen
Gedichte und Aphorismen
Gebunden, 80 Seiten Seiten, Fr. 19.80 / Euro 18.00
Elster Verlag
hier bestellen: http://www.elsterverlag.ch/html/index.php?id=28
Hilary Mantel
Brüder
Gebunden, 1102 Seiten, Fr. 32.00 / Euro 26.00
Dumont Buchverlag, Köln 2012.
hier bestellen: http://www.elsterverlag.ch/html/index.php?id=27
Annika Reich
34 Meter über dem Meer
Gebunden, 272 Seiten, Fr. 24.00 / Euro 18.90
Hanser Verlag, München 2012.
hier bestellen: http://www.elsterverlag.ch/html/index.php?id=28
Carl Hiaasen
Sternchenhimmel
Broschiert, 396 Seiten, Fr. 22.00 / Euro 15.00
Goldmann – Manhattan, München 2012.
hier bestellen: http://www.elsterverlag.ch/html/index.php?id=27
Seite 4
Im Lesesaal
Pech für Monsieur Marat; Charlotte Corday hat kurzen Prozess gemacht, und Jacques-Louis David
hat es mit seinem i-Phone aufgenommen (1793).
«Brüder» von Hilary Mantel
Von der Pike auf die Laterne!
Die Französische Revolution dürfte auch weiterhin neben der amerikanischen Unabhängigkeit
eines der einschneidendsten Ereignisse der Weltgeschichte bleiben, hat sie doch neben dem
großen Terror die erste Erklärung allgemeiner Menschenrechte gebracht und bildet bis heute
aus ihren Errungenschaften eine wichtige Grundlage für moderne, verfasste Gesellscften. Die
Engländerin Hilary Mantel hat bereits vor 17 Jahren einen Roman über sie geschrieben, der
jetzt auf deutsch erschienen ist – und er ist großartig.
A Place of Greater Safety heißt Mantels Roman
auf englisch – «Brüder» hat ihn der deutsche
Verlag genannt. Das ist insofern treffend, als
die Entwicklung zur Französischen Revolution aus dem Blickwinkel dreier Protagonisten
geschildert wird, die tatsächlich eine tragende
Rolle innehatten. Zu Beginn der Revolution
kämpfen sie gemeinsam, erst der Verlauf der
Ereignisse treibt sie auseinander. Hilary Mantel gelingt es hervorragend, deren Wesen aus
ihren Handlungen heraus zu skizzieren.
Da ist zum einen Camille Desmoulins,
(1760–1794) ein junger Anwalt, der neben
seinem Schreibtalent ein rhetorisches Genie
ist und durch seine öffentlichen Reden die
revolutionären Ereignisse vorantreibt.
Da ist weiterhin Georges Danton (1759–
1794), ebenfalls ein Anwalt und königlicher
Rat, der sich durch die Ereignisse radikalisiert.
Und schließlich Maximilien de Robespierre (1758–1794), auch Anwalt. Alle drei
kommen aus der Provinz nach Paris, um sich
eine Karriere aufzubauen.
Hilary Mantel gelingt es gut, die vorrevolutionäre Situation einzufangen: Frankreich
hat ein marodes Feudalsystem, bei dem der
königliche Hof mehr Geld verschlingt, als
der ganze Staat einnimmt. Die einzige Maßnahme des Königs dagegen ist – der Wechsel
des Finanzministers. Während die Brotpreise
steigen, nimmt auch die Verarmung und der
Hunger überhand; große Teile der bürgerlichen Schichten und auch einige Adlige sind
sich darüber im Klaren, dass dies nur in einer
Katastrophe enden kann, die Frage ist nur –
wann und wie?
Als sich die Situation mit der Erstürmung
der Bastille, des königlichen Gefängnisses am
14. Juli 1789 geradezu eruptiv ändert, finden
sich alle Teilnehmenden in einem Malstrom
von Vorgängen, denen sie sich nicht mehr
entziehen können.
Mantel hat über Jahre intensive Recherchen betrieben und im Roman nicht nur den
wichtigsten historischen Persönlichkeiten ein
Privatleben angedichtet, sondern auch jede
Menge anderen Personals eingeführt, wenn es
nur beim Vorantreiben der Handlung behilflich ist. Ihre Fähigkeit der mit wenigen Worten charakterisierenden Personenskizze führt
zu seelenvollen und lebensnahen Personenbeschreibungeen. Wir haben es bei «Brüder»
nicht mit einer theoretischen Abhandlung
über die Revolution zu tun, sondern Mantel
zeigt, wie sich das Tempo der Revolution und
die Radikalisierung ihrer Protagonisten immer weiter erhöht. Das gelingt ihr mit kurzen
einprägsamen Szenen und vor allem mit ihrer
herausragenden Fähigkeit, ebenso kluge wie
scharf gedachte Dialoge zu Papier zu bringen,
dass es beim Lesen eine Freude ist. Man pflügt
sich ohne Ermüdungserscheinungen durch
die 1100 Seiten.
Danton tritt als grandioser Redner und
wendiger Politiker, Desmoulins als fähiger
und aggressiver Journalist und Robespierre als
idealistischer, aber später frustrierter Vertreter
der Revolution hervor. Immer weiter entfernen sich Danton und Desmoulins von den
radikalen Aktionen eines Saint-Just und eines
Robespierre, bis sie sich am Ende selbst auf
dem Schinderkarren und auf dem Weg zur
Guillutine wiederfinden. Hier endet auch der
Roman.
Es ist beeindruckend, wie Mantel die unterschiedlichen Strömungen im revolutionären Prozess mit wenigen Sätzen beschreibt
und zeigt, wie kleine, radikalisierte Gruppen
in unterschiedlichen Liaisons mit anderen
Gruppierungen peu à peu die Exekutive okkupieren. Der Rezensent des «Neuen Zürcher
Zeitung» hat treffend festgehalten: «Nimmt
man die Erfahrungen hinzu, die in Osteuropa
nach dem Fall der Mauer in Nachfolgestaaten
Jugoslawiens oder der Sowjetunion gemacht
worden sind, oder die undurchschaubaren
Verhältnisse in den arabischen Ländern, in
denen westliche Demokraten gerne auch demokratische Revolutionen am Werke sehen
möchten, dann wirkt Hilary Mantels Roman
durch diesen Entwurf heute unerwartet aktuell.»
Ein paar Worte noch zur Übersetzung von
Kathrin Razum und Susanna Roth: Sie ist
ausgezeichnet und trifft bis in die Wortwahl
jenen Ton, der zwischen anspruchsvoller Alltagssprache und historischen Reminiszenzen
changiert und so den Eindruck der Authentizität erhöht.
Alex Werth
Hilary Mantel
Brüder
Dumont Buchverlag, Köln 2012.
1102 Seiten, gebunden, Fr. 32.00 /
Euro 24.95
Im Lesesaal
Dürrson
Friedrich Glausers früher Orientierungspunkt: das Cabaret Voltaire in Zürich
Friedrich Glauser: «Schaumkronen»
Extrakte eines Lebens
Hans Baumgartner
Es ist nicht tot, das Mulet, das Maultier, wie
er sich manchmal nannte, es hat nur geschlafen. Friedrich Glauser, der Schriftsteller «mit
dem lakonisch-unprätentiösen Stil, «dessen
Hauptqualität die atmosphärische Dichte ist»
(Bernhard Echte/Manfred Papst), berührt bis
heute. Zeit seines Lebens hatte er, immer wieder interniert, teils zwangsweise, teils freiwillig, schreibend um den Aufbau einer bescheidenen Existenz gekämpft.
Doch Glausers Spielraum war klein, denn
er lebte in einer engen Schweiz, die den «Pauperismus» predigte; ein Land, das trotz demokratischer Verfassung von totalitärem Denken
geprägt war. Man wusste, was gesund und was
krank war. Die Anpassung an das Normale
war Gebot. Abweichendes Verhalten musste
als Krankheit behandelt werden, auch mit
Zwang; Hilfe war in Wirklichkeit Abhilfe.
Seine frühen Förderer glaubten, Glauser
dem Publikum als Sünder und sein Werk als
Beichte vorstellen zu müssen. Sie wollten dem
Zeitgeist Rechnung tragen, um durch ein
Unterwerfungssignal die «unterentwickelte
Zelle, die von einem Zellenstaat ausgestoßen
worden ist», vor Ausgrenzung zu schützen. Es
bleibt offen, ob sie ihm damit wirklich geholfen haben. Das kannte er ja. Glauser wusste,
was von ihm verlangt wurde: «Langsam fange
ich an zu verstehen, dass ein Außenseiter nicht
unbedingt untergehen muss. Es ist eine Frage
der Anpassung, die ich vielleicht doch lösen
werde.» Sein Urteil über die Zwangsvollstrecker der Norm war trotzdem unmissverständlich: «Was ist schließlich Helfen und Schützen
anderes als ein Surrogat für Herrschen?»
Glausers Philosophie, seine Analyse des
Menschseins und seine Kritik an der mit Lebenslügen vollgepropften Realität stand quer
zum kollektiven Optimismusgebot. Hermann
Hesse, der als jugendlicher Aussteiger, erfolgloser Suizident und psychiatrisch Zwangsinternierter bemerkenswerte Parallelen zu Glauser aufweist, wollte lieber Mut zusprechen:
«Es fehlt nicht an Autoren, deren Verzweiflung an unserer Zeit und deren Angst vor
dem Chaos echt ist. Es fehlt aber an solchen,
deren Glaube und Liebe ausreicht, sich selber
über dem Chaos zu halten.»
Nein, so einer war Friedrich Glauser nicht.
Seine Sicht blieb radikal: «Und unser Verlangen, die Zeit sich ändern zu sehen, ist wohl
nicht weniger ungeheuerlich als unser Verlangen, das Herz sich ändern zu sehen.» Sein Fazit
ist für Weltverbesserer ebenso eine Provokation wie für Ordnungshüter: «Die Zeit ändert
sich nicht, die Herzen ändern sich nicht.» Der
an Einsamkeit Leidende wird nicht deshalb
zum Helden, zum Underground-Poeten oder
Drogenmärtyrer, nur weil ihn kollektive, intellektuelle Moden in den letzten Jahrzehnten
gern so hätten.
Seite 5
Was aber an Friedrich Glauser bis heute
fasziniert, ist der luzide Scharfsinn, mit dem
er auf menschliches Verhalten blickt. Es ist,
als habe er durch seine vielen Leben eine innere Unabhängigkeit erlangt, die es ihm ermöglichte, sich unvoreingenommen mit den
Tiefen und Untiefen der menschlichen Seele
auseinanderzusetzen. Bereits in den Dreißigerjahren erblickt er in den Vorgängen nördlich
der Schweiz etwas, was in seiner Verderbtheit
auch innerhalb helvetischer Grenzen denkbar
wäre: «Was in den Konzentrationslagern vorgeht – ich wette mit Ihnen, dass auch in der
Schweiz, wenn die Umstände danach sind,
sich ebenso viele Sadisten auftreiben lassen,
denen es eine Freude sein würde, Andersdenkende zu quälen – um sie (bequeme Ausrede)
zu bekehren. Man muss verstehen …» Immer
wieder erfolgt der Aufruf zum Verständnis,
aber Glauser spendet keinen Trost: «Und
ohne die Religion gehen die Seelen nicht einmal dem Teufel zu, sondern dem Schmerz,
der Angst und der Furcht.»
Der ideologieresistente, großen Tönen
stets misstrauende Dieb und Lügner, der so
stark zu formulieren wusste und selbst mit
dem Alltag so furchtbar schlecht zurande kam
– seinem absoluten Satz «Wahrheit hat mit
Worten nichts zu tun» vermag der aufgeklärte
Teil der Gesellschaft kaum mehr zu entgehen.
Vielleicht ist es diese Erkenntnisverwandtschaft, verbunden mit seiner Empfindsamkeit, die den verständnisvollen, warmherzigen, ja zauberhaften, aber manchmal auch
sehr gemeinen, hilflosen und schwachen
Maulesel so interessant macht.
Die hier versammelten Aphorismen zeigen, dass sie auch ohne den Rahmen der stets
biografisch geprägten Erzählungen zu tragen
vermögen. Für die, denen sie sich nicht erschließen, sind sie gewiss Türöffner dorthin.
Die wenigen Gedichte von Friedrich Glauser
aber sind noch mehr als das, sie sind ein Abbild seiner Seele.
Auszüge aus dem Vorwort von Hnas Baumgartner zum Band «Schaumkronen»
Friedrich Glauser
SCHAUMKRONEN
Gedichte und Aphorismen
Herausgegeben von Hans Baumgartner
Elster
Friedrich Glauser
Schaumkronen
Gedichte und
Aphorismen
Gebunden,
80 Seiten Seiten,
Pappband
Fr. 19.80 / Euro
14.80