Auf der Treppe
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Auf der Treppe
Utbildningsradion – Hört mit! 2002/2003 Auf der Treppe Programnr. 02070/ra 16 Auf der Treppe Författare: Alexa Hennig von Lange Radiobearbetning: Dagmar Pirntke Sändningsdatum: P2 den 1.4 2003 kl. 09.30 Programlängd: 29´22´´ Producent: Kristina Blidberg /Musik/ Vorsichtig ziehe ich die Wohnungstür hinter mir zu. Das Schloss rastet trotzdem laut ein. Großartig! Jetzt ist bestimmt die kleine Schwester von Marc aufgewacht. „Maaamaaa! Maaamaaa! Maaamaaa!” Die wacht bei dem kleinsten Geräusch auf. Wenn ich bei Marc nachts aufs Klo gehe, steht sie plötzlich in ihrem Mickey-MouseSchlafanzug im Flur und plärrt los. „Maaamaaaa! Maaamaaa!” Sofort knie ich mich neben sie und versuche sie ruhig zu stellen. „Pst! Nicht so laut! Ich bin’s doch nur.” „Maaamaaa! Maaamaaa!” Am liebsten würde ich ihr den Mund zuhalten. „Pssst!” Aber Marcs Schwester ist eine verwöhnte Göre. Die ist nicht so leicht zu beruhigen. Die steht mitten im Flur und plärrt: „Maaaamaaa! Maaamaaa!” Und schon biegt Marcs Mutter in ihrem hellblauen Frottee-Bademantel und zerzausten Haaren um die Ecke. „Vielen Dank, Nora!” Sie klemmt sich die quengelnde Göre mit der Mickey Mouse auf dem Bauch unter den Arm und packt sich mit ihr zusammen ins Kinderbettchen. Morgens, beim Frühstück, muss ich mich vor der ganzen Familie entschuldigen: „Tut mir Leid, dass ich aufs Klo musste!” Ich stehe auf dem Fußabtreter im Treppenhaus und lausche. [...] Auf der anderen Seite der Wohnungstür rührt sich nichts. Scheinbar befindet sich Marcs kleine Schwester in einer Tiefschlafphase. Oder sie ist tot. Erstickt an den Toffifees, die sie immer von den Eltern in den Hintern gesteckt bekommt. [...] Marc kriegt nie Schokolade geschenkt. Er schläft auf seinem Hochbett auf der anderen Seite der dicken Treppenhauswand. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, strecke meinen Arm nach oben und streiche mit den Fingerspitzen über das helle Quadrat, das die Sonne oberhalb meines Kopfes an die Wand zeichnet. Genau dahinter liegt Marcs Kopf. Es ist noch früh. Vielleicht sieben Uhr. Und schon scheint die Sonne. Normalerweise unternehmen Marc und ich immer schöne Sachen, wenn die Sonne scheint. Den ganzen Sommer über haben wir im Park auf der Wiese rumgelegen und uns gegenseitig beim Zigarettedrehen fotografiert. Einmal haben wir die Geldkassette im Telefonhäuschen neben dem Gemeindehaus geknackt. Das ging einfacher als erwartet. Und von dem Geld hat sich Marc am Bahnhof ein Tattoo machen lassen. Dabei ist er ohnmächtig geworden und hat sich aus Versehen in die Hose gepinkelt. [...] Die Nadel hat gesurrt und ich habe mit ein bisschen Küchenkrepp den Boden um Marc, den Stuhl und die Füße vom Tätowierer abgewischt. „Erzähl 1 Utbildningsradion – Hört mit! 2002/2003 Auf der Treppe Programnr. 02070/ra 16 ins Kinderzimmer rein. Da liegt seine Mama zusammengefaltet neben der Mickey Mouse im Kinderbett. „Was hast du denn da auf dem Arm?” - „Wo?” - „Na, da! Ist das etwa ein Tattoo?” In der Aufregung hat er ganz vergessen, sich brav ein T Shirt überzuziehen. „Ist das ein Tattoo? Ich will keinen Sohn mit einer Tätowierung haben!” Die Mama rennt hinter Marc durch die Wohnung. ”Nora, bist du auf dem Klo?” Und wenn er feststellt, dass ich abgehauen bin, macht er sich Sorgen. „Nora ist weg!” Er ruft bei mir zu Hause an: „Ist Nora da?” Mama soll ihn anlügen: „Nein, tut mir Leid! Ich weiß nicht, wo Nora ist!” Der soll sich richtig in die Hose machen. So wie er sich im /Musik/ Tätowierladen in die Hose gemacht Heute werden Marc und ich bestimmt hat. Aber dieses Mal wische ich nicht den Boden auf. Der soll sich lieber nichts Schönes unternehmen. Der holde Jüngling schläft. Die dicke Wand mal Gedanken machen, was er sich ist zwischen uns. Die Tür ist zu. Richtig gestern in der Schrebergartensiedlung geleistet hat. Ich bin immer noch dramatisch. Meine Fingerspitzen sind richtig wütend. nicht weiter als fünfzig Zentimeter von seinem Ohr, seiner Wange, seinen Haaren entfernt. Die Haare liegen über /Musik/ seinem Gesicht. So lagen sie jedenfalls Von oben kommt jemand die Treppe eben, als ich vorsichtig vom Hochbett geklettert bin. Fast wäre ich gegen sein runter. Ich hocke mich besser auf die Treppenstufen und setze mein Es-istSchlagzeug gestoßen, als ich mich in alles-in-Ordnung-Gesicht auf. Nicht meine viel zu enge Jeans gequetscht dass hier jemand auf die Idee kommt, habe. Mit offener Hose bin ich rausgeschlichen. „Nicht, dass der holde ich würde an Marcs Türschwelle kratzen. [...] Ich sitze auf den Stufen Jüngling doch noch aufwacht!” [...] und kann nicht glauben, dass Marc Wenn Marc nachher aufwacht, gestern Nacht einfach so eingeschlafen würde ich am liebsten dabei sein. ist. Nicht, um ihn lieb anzulächeln, Als wir endlich auf seinem Hochbett sondern um mitzuerleben, wie er sich liegen, dreht er mir den Rücken zu erschreckt, weil ich nicht mehr da bin. „Nora? Nora, wo bist du?” Er läuft und pennt ein! Tatsächlich! Dass der schlafen kann, nach dem, was alles durch die Wohnung und sucht mich. passiert ist! Zuerst überlege ich, ob „Hat jemand Nora gesehen?” Er sieht bloß niemandem, dass ich ohnmächtig geworden bin!” Jetzt hat Marc auf seinem linken Oberarm einen bunten Schmetterling sitzen. Wenn er aus dem Badezimmer kommt, muss er gucken, dass er ein T Shirt anhat. „Meine Mutter rastet aus, wenn die das sieht!” Seine Mutter ist schon mal ausgerastet, als er sich mit einer Nähnadel von ihr in die Ohren gestochen hat. „Ich will keinen Sohn mit Ohrlöchern haben!” Da war er dreizehn. Seitdem sagt Marc: „Ich bin das schwarze Schaf der Familie! Die hassen mich!” Ich sage immer: „Ach Quatsch! Das glaube ich nicht!” Aber ich denke, Marc hat Recht. [...] 2 Utbildningsradion – Hört mit! 2002/2003 Auf der Treppe Programnr. 02070/ra 16 ich ihn wieder wach machen soll. „Ach nein! Das bringt ja auch nichts!” Stattdessen streichle ich mit den Fingerspitzen über seine nackten Schulten. „Mal sehen, ob ich noch so etwas wie Liebe spüre!” [...] Es ist so warm im Zimmer. Der kleine silberne Herzanhänger, den ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe, liegt zwischen seinen Schulterblättern. Nachts rutscht das kleine Herz an der Kette immer auf seinen Rücken. Als mir das auffällt, muss ich heulen. Nach dem Heulen versuche ich einzuschlafen. Das klappt nicht, weil ich so wütend bin und keine Liebe mehr spüre. Also warte ich, bis es draußen hell wird. [...] Die Tür ist zu. Ich kann nicht zurück, außer ich wecke Marcs Familie mit der Klingel auf. „Vielen Dank, Nora!” Das lasse ich wohl besser. Die sind bestimmt froh, wenn ich weg bin. Beim Frühstück sagen sie zu Marc: „Jetzt telefonier Nora nicht gleich hinterher. Mach dir einen schönen Tag ohne sie!” Gute Idee! Das wird ein prima Sonntag. Den ganzen Tag werde ich in meinem Zimmer sitzen und darauf warten, dass er anruft. Und wenn er dann endlich anruft, humple ich so schnell ich kann ins Wohnzimmer und reiße Mama den Hörer aus der Hand. „Nora, es tut mir Leid. Es tut mir so Leid. Wie kann ich das je wieder gutmachen?” Vorausgesetzt, ich bin schnell genug. „Nein, tut mir Leid! Ich weiß nicht, wo Nora ist!” Meine Füße sind schließlich kaputt. Richtig kaputt. So kaputt, dass ich kaum laufen kann. Die sind von unten blutig aufgeschürft. Und das ist Marcs Schuld. /Musik/ Gestern Nachmittag war noch alles in Ordnung. Nach der Schule bin ich in die U-Bahn gestiegen und zu Karl gedüst. Karl ist der beste Freund von Marc. Bis gestern war er es jedenfalls. Wie die Geschichte heute aussieht, weiß ich nicht. In der U-Bahn klebt mein T-Shirt am Rücken an den grünen Plastiksitzschalen fest. Ich schwitze ein bisschen vor Aufregung. Sogar an den Beinen! Letzte Woche hat er mich beim Grillen im Park ins Gebüsch gezogen: „Sag mal, Nora, wollen wir uns nicht mal auf einen Tee treffen?” „Äh ja, können wir machen!” Er ist drei Jahre älter als ich und hat schon sein Abitur. Ich weiß nicht, warum er sich auf einmal mit mir treffen will. Vielleicht findet er mich einfach nur nett. Kann doch sein. Nächste Station muss ich aussteigen. [...] Oben duftet es nach Keksen. Auf dieser Straße duftet es immer nach Keksen. Um die Ecke ist nämlich die Keksfabrik, bei der Marc und ich uns immer Tonnen von Krümelkeks besorgen. Am liebsten würde ich da jetzt hinlatschen und mir Krümelkeks besorgen, anstatt zu Karl zu gehen. Ich weiß echt nicht, warum der sich mit mir treffen will. Vielleicht hätte ich ihn einfach mal fragen sollen. Aber dazu war ich in dem Moment zu aufgeregt. Marc stand nur fünf Meter entfernt am Grill und hat eine Wurst gegessen. Er weiß gar nichts von der Verabredung. Karl hat nämlich im Gebüsch gemeint: „Das bleibt aber unter uns!” Komisch ist das schon. [...] Nur noch über die Straße. Schon stehe ich vor Karls Haus und klingle. 3 Utbildningsradion – Hört mit! 2002/2003 Auf der Treppe Programnr. 02070/ra 16 Sofort geht der Türsummer. Scheinbar hat er schon neben seiner Gegensprechanlage auf mich gewartet. „Wo bleibt bloß Nora?” Oben steht er grinsend an den Rahmen seiner Wohnungstür gelehnt. Ich grinse auch und drücke mich an ihm vorbei in die Wohnung: „Willst du was trinken?” Karl hat keine Kekse. Dafür zeigt er mir seine Zeichnungen und Bilder. Karl sagt: „Ich bin ein Künstler!” Das klingt komisch, wenn das jemand von sich selbst behauptet. Es ist doch besser, wenn andere Leute sagen: „Karl ist ein Künstler!” Aber vielleicht sagt das niemand. Darum muss er sich das immer selber sagen: „Ich bin ein Künstler!” Ganz schön traurig! Ich sage: „Ich finde deine Bilder echt toll!” Aber das ist gelogen. [...] „Darf ich dich küssen?” Ich tue besser so, als hätte ich nichts gehört. Hoffentlich hat er nicht gemerkt, wie ich vor Schreck zusammengezuckt bin. Wir sitzen dicht nebeneinander auf dem Sofa und hören Bob Marley. „Darf ich dich küssen?” Er hat bestimmt gemerkt, wie ich zusammengezuckt bin. Und plötzlich macht er mit seinen Fingern in meinem Haar rum. Ich lächle. Was soll ich sonst machen? „Darf ich dich küssen?” Das ist ja mal eine denkwürdige Frage. Der weiß doch, dass ich mit Marc zusammen bin. Das scheint ihn nicht weiter zu interessieren. Jetzt liegt seine Hand auf meinem Nacken. Ich lächle immer noch und glotze rüber in Richtung Küche. Da steht eine Cannabispflanze auf dem Fensterbrett. Ohne Umschweife zieht er mich zu sich heran. Unsere Lippen berühren sich. Wir knutschen rum. Karl kann nicht küssen. Seine Zunge wirbelt über mein Kinn und macht alles nass. Bob Marley singt und ich stütze mich mit feucht glänzenden Wangen von seiner Brust ab. Ich lächle. „Ich finde deine Bilder echt toll!” Das will der Künstler gar nicht hören. Er legt noch einen Zacken zu. Dem ist egal, wie ich seine Bilder finde. [...] Er hebt mich auf seine Arme, als wäre ich seine Braut, und bugsiert mich rüber zum Bett. Und da liegen wir. Seine Hand auf meinem nackten Bauch. Seine Arme sind dünn. Marcs Arme sind viel dicker. Das kommt vom Schlagzeug spielen. Draußen auf der Straße rasen die Autos vorbei. Jemand hupt. Marc hockt hinter seinem Schlagzeug in seinem Zimmer und trommelt. Mein Körper liegt auf einem zerknautschten Laken, unter einem zerknautschten Typen. Seine farbverschmierten Hände sind überall. Sie fassen mich an. Das ist nicht gut, was ich hier mache. Dabei mache ich gar nichts. Ich liege nur hier und lasse mich befummeln. Ist doch gut. Ich mache ja nichts. Schön, dass Karl Lust hat, an mir rumzufummeln. Ich bin jung. Ist doch schön. Das soll man ausnutzen. Karl malt Bilder. Die liegen auf dem Boden und auf dem Sofa. Wir liegen auf dem Bett. Marc hat keine Ahnung. Wir sind verabredet. „Ich hab dich lieb!”, hat er gestern Abend noch am Telefon gesagt. „Bis morgen!” Marc hat echt keine Ahnung, was hier los ist. Was mit mir los ist. „Ich glaube, ich muss los!” Aber bevor ich aktiv werden kann, macht mir der Karl noch eilig einen Knutschfleck auf die rechte Seite vom Hals. Direkt unters Kinn. Sehr geistreich! [...] /Musik/ 4 Utbildningsradion – Hört mit! 2002/2003 Auf der Treppe Programnr. 02070/ra 16 Im Sonnenschein, im Keksduft bin ich zu Marc gerannt. „Was hast’n du da am Hals?” Jetzt sitzen wir auf dem Hochbett und lassen unsere Beine baumeln. Ich habe einen Kloß im Hals. Der muss raus. „Karl und ich haben rumgeknutscht. Aus Versehen!” Ich denke: „Geheimnisse haben ist blöd!” Und dieser dämliche KünstlerKnutschfleck leuchtet blau an meinem Hals. Eigentlich wollten wir am Abend zusammen auf die Schrebergartenparty von Julia gehen. Aber nach meinem Geständnis ist Marc einfach vom Hochbett gekrabbelt und alleine hingefahren. „Das verzeih ich dir nie!” Kann ich ja auch verstehen. Trotzdem wollte ich mit auf die Schrebergartenparty von Julia. Darum bin ich gleich auf den Balkon gerannt und habe runtergebrüllt: „Warte auf mich!” Aber da war Marc auch schon weg. Jetzt stehe ich hier, mein Gesicht zwischen den Geranien, und weiß nicht, wo der Schrebergarten von Julias Eltern ist. Das ist dumm. Das ist sehr dumm. Alle sind auf der Party. Vor allen Dingen Marc. Mit dem will ich mich wieder vertragen. Bei Julias Eltern kann ich nicht anrufen und fragen, wo ihr Schrebergarten ist. Hinterher wissen die gar nichts von der Party und dann kriegt Julia Ärger. [...] Und wie ich da so traurig an der Balkonbrüstung stehe, kommt mir ein Geistesblitz: „Dann suche ich eben den Schrebergarten. So schwer wird der nicht zu finden sein!” [...] Ich fühle mich scheiße. Einfach nur scheiße. Ich will zu Marc. Ich will ihn in den Arm nehmen. „Ich habe ja gar nichts gefühlt, als Karl mich geküsst hat.” Das war alles ein Versehen. /Musik/ Rechts über die Brücke. Die riesige Schrebergartensiedlung liegt vor mir. Zweihundert Schrebergärten in fünf Reihen. Ich gehe durch das eiserne, grün gestrichene Eingangstor. Ich habe meine neuen Sandalen an. Der Weg ist staubig. Steinig und staubig. Die Sohlen meiner Sandalen sind dünn. [...] In jedem Schrebergarten steht ein kleines Haus. Ich will die Party finden. Ich gehe weiter. Die Riemen reiben an den Fersen. Unter den Riemen an den Zehen reibt der Sand. [...] Die Sonne geht unter. Langsam und vorsichtig steige ich die Treppe runter. Meine Füße tun weh. Zum Schluss bin ich barfuß durch die Schrebergartenreihen gerannt. Die Sandalen in der Hand. „Ich will Marc finden!” Die spitzen Steinchen haben sich von unten in meine Fußsohlen gebohrt. „Ich will Marc finden!” Das hat gar nicht wehgetan. Ich habe es fast nicht bemerkt. „Ich will Marc finden!” Erst hinterher, als ich mich im Dunkeln neben das Eisentor ins Gras gesetzt habe. Da haben meine Füße angefangen wehzutun. ”Wo willst du denn hin?” Marc steht auf einmal neben mir. An seinem Fahrradlenker hängen orange Plastiktüten voller Bierflaschen. „Ich hab dich gesucht!” - „Was willst du denn noch?” - „Mich entschuldigen!” - „Das kannst du vergessen!” Marc schiebt sein Rad durch das Eisentor. „Warte auf mich!” Meine Füße tun weh. Aber noch mehr tut weh, dass Marc einfach weitergeht. „Ich hab ja gar nichts gefühlt, als Karl mich geküsst hat.” Das war alles ein Versehen. Die Flaschen in den Tüten schlagen ans 5 Utbildningsradion – Hört mit! 2002/2003 Auf der Treppe Programnr. 02070/ra 16 Vorderrad. „Bitte warte auf mich!” Er ist viel schneller als ich. Der dreht sich nicht mal nach mir um. Ich kann kaum gehen. [...] Meine Fußsohlen sind blutig aufgeschürft von unten. „Ich hab dich überall gesucht. Wo ist denn die Party?” Ich will auf seinem Sattel sitzen. Marc soll mich schieben. Oder ich setze mich auf seine Stange und wir fahren zusammen zum Schrebergarten. „Geh nach Hause, Nora!” - „Ich kann nicht mehr gehen. Meine Füße sind ganz blutig!” „Selbst schuld, wenn du mit Karl rumknutschst!” - „Das ist aus Versehen passiert. Wirklich!” Jetzt hält Marc doch noch an und dreht sich zu mir um. „Wie kann so was bitte >aus Versehen< passieren?” - „Es tut mir Leid!” - „Kannst du mal das Fahrrad halten?” Ich humple neben ihn und halte das Rad am Lenker fest. Seine Hand angelt nach einer Bierflasche in der Tüte. Am Ende vom Weg taucht Karl auf seinem Fahrrad auf. Einen besseren Augenblick hätte er sich nicht aussuchen können. Gerade sind wir zu einer Aussprache bereit und der Verbrecher kommt direkt auf uns zu geschlingert. „Wo bleibst du denn mit dem Bier? Wir warten schon!” Das war’s dann wohl mit der Aussprache. Marc trinkt die Flasche in einem Zug leer und schmeißt sie cool ins Gebüsch. „Ich komme ja schon!” Neben uns fällt Karl fast von seinem Rad. „Na, Nora, wie geht’s?” Jetzt stützt er sich auch noch an meiner Schulter ab. Der tut tatsächlich so, als sei nichts passiert. Dabei habe ich ihm diesen riesigen Knutschfleck zu verdanken. Dem zeig ich’s! „Ich habe Marc gesagt, dass wir rumgeknutscht haben!” Aber entgegen meiner Erwartung bleibt der Künstler ganz gelassen. Er zieht an seiner Zigarette und schnippt sie mir anschließend vor die Füße. Ich mache einen Schritt zurück. Die kleinen Steinchen pieken in meine wunden Sohlen. „Ist dir ja auch nichts anderes übrig geblieben bei dem fetten Knutschfleck an deinem Hals!” Karl hat echt Mut. Der steht voll zu seinem Verbrechen. Mal sehen, was Marc dazu sagt: „Du hättest ihr ja nicht gleich einen Knutschfleck machen müssen!” Was soll das denn heißen? „Ich dachte, du brauchst so ’ne Art Beweis, dass ich tatsächlich mit ihr rumgeknutscht habe! Hätte ja sein können, dass sie’s dir nicht erzählt und du mir hinterher nicht glaubst!” /Musik/ Den ersten Treppenabsatz habe ich hinter mir. Ich hätte zu Hause anrufen sollen. „Papa, kannst du mich bitte abholen? Ich kann nicht mehr laufen!” Das wäre wirklich mal vernünftig gewesen. „Ist was passiert?” Ich glaube, ich schaffe es nicht bis zur U-Bahnstation. „Nein, nein, alles in Ordnung. Ich kann bloß nicht mehr laufen!” Die Sandalen reiben an den Fersen. Sie sind viel zu eng. Meine Füße sind geschwollen. [...] Ich sitze hier im Treppenhaus und will nach Hause. Mama soll meine Füße eincremen. Sie soll mich ins Bett legen. Sich neben mich auf die Bettkante setzen. Sie soll mir meine Haare aus der Stirn streichen und Marc anlügen, falls er anruft: „Nein, tut mir Leid! Ich weiß nicht, wo Nora ist!” Das Licht geht an. Jemand kommt die Treppe hoch. Schnell wische ich 6 Utbildningsradion – Hört mit! 2002/2003 Auf der Treppe Programnr. 02070/ra 16 meine Tränen weg. Niemand soll sehen, dass ich weine. Warum hat Marc das gemacht? „Ich wollte sehen, ob ich dir vertrauen kann!” Marc hat mich reingelegt. Karl auf mich angesetzt. Dabei war doch alles gut. Wir haben im Park rumgelegen. Uns gegenseitig fotografiert. Die Fotos hängen in meinem Zimmer an der Pinnwand. Da gucke ich beim Hausaufgabenmachen drauf. ”Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist nach Hause gefahren!” Marc steht vor mir. Mit staubigen Schuhen. „Ich hab auf dich gewartet, damit wir uns wieder vertragen können!” Marc stolpert an mir vorbei. Er riecht nach Bier. Der soll bloß leise die Tür aufschließen, sonst steht seine kleine Schwester gleich im Flur. „Maaamaaa! Maaamaaa!” Die wacht bei dem kleinsten Geräusch auf. „Pst! Nicht so laut!” /Musik/ 7