Der Zeitraum der Zeitgeschichte

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Der Zeitraum der Zeitgeschichte
Martin Sabrow
Der Zeitraum der Zeitgeschichte
Quo vadis Zeitgeschichte ?
Atelier Journée d’étude franco-allemande de jeunes chercheurs L’histoire du temps
présent et ses défis au XXIe siècle, Paris, 1er et 2 octobre 2014
I. Der Zeitraum der Zeitgeschichte
Geschichte wird durch Zäsuren in Epochen gegliedert. Deren scheinbar
klarste Ordnung folgt dem Kalender und definiert den Zeitraum der
nahen Geschichte als Jahrhundert. So hält es in Deutschland etwas das
Jena Center „Geschichte des 20. Jahrhunderts“. Doch mechanische
Zäsuren tun sich schwer, Epochen auf den Begriff zu bringen – auch das
von Eric Hobsbawm behandelte „Zeitalter der Extreme“ reicht von 1914
bis 1991, während Heinrich August Winkler die Deutschen schon 1806
den Langen Weg nach Westen antreten lässt. Zeitgeschichtliche
Zäsuren bedürfen der inhaltlichen Klammer, also nicht nur der
kalendarischen
Gliederung,
sondern
auch
der
inhaltlichen
Charakterisierung. Entsprechend legte der Begründer der deutschen
Zeitgeschichte nach 1945, Hans Rothfels, die zeitlichen Eckpunkte mit
der russischen Oktoberrevolution und dem Kriegseintritt der USA im
Epochenjahr
1917
einerseits
und
dem
Zusammenbruch
des
nationalsozialistischen Gewaltsystems 1945 andererseits fest.1 Auf der
anderen Seite aber setzte Rothfels dieser absoluten eine relative
1
In: ders., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, hg. von Hermann Graml und
Klaus-Dietmar Henke, München 1986, S. 9-35, hier S. 10 ff.
1
Gegenstandsbestimmung entgegen: Die Zeitgeschichte sei die „Epoche
der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“.2
Diese Definition gilt bis heute, auch wenn Rothfels sie formulierte, als
das „Dritte Reich“ noch keine zehn Jahre vergangen war und der auf
1917 datierte Epochenbeginn erst knapp 35 Jahre zurück lag. Analog
müsste die Zeitgeschichte heute mit der Mitte der siebziger Jahre
einsetzen. Aber eben das tut sie nicht, auch wenn die aktuelle
Forschung sich in den letzten Jahren mit Verve dem „Strukturbruch“
dieser Jahre zugewandt hat, in dem der stabile „Rahmen des
Fortschritts“ durch andere Ordnungsmuster des gesellschaftlichen
Lebens abgelöst wurde.3 Wir müssen heute einräumen, dass Rothfels‘
Definition einer fließenden Zeitgeschichte der historischen Praxis nicht
mehr entspricht. Wohl hat die Zeitgeschichte sich seit den siebziger und
achtziger Jahren in der Praxis sukzessive erst von der Revolution
1918/19 und dann von der Weimarer Republik zu lösen begonnen, und
sie hat auch den Fokus der Beschäftigung mit der NS-Zeit deutlich von
der Machtergreifungsphase auf den Völkermord des Zweiten Weltkriegs
verrückt. Aber die im Zivilisationsbruch mündende
Phase des
Nationalsozialismus hat sich als zu beherrschend erwiesen, um von
einer generationellen Neuformulierung der Zeitgeschichte verdrängt
worden zu sein. Auch das Ende der Zeitgenossenschaft hat die deutsche
Zeitgeschichte nicht die Epochenscheide von 1945 überspringen lassen,
obwohl eben dies schon vor und erst recht nach dem Zusammenbruch
der zweiten europäischen Großdiktatur 1989/90 vielfach prognostiziert
worden war und zumindest dem in der DDR geltenden Selbstverständnis
2
Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953),
S. 1-8, hier S. 4.
3
Hierzu Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die
Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, bes. S. 10 f.
2
der Zeitgeschichte entsprochen hätte.4 Schließlich erleben wir in diesen
Monaten
gerade
die
spektakuläre
Wiederaufnahme
des
Ersten
Weltkriegs in die Zeitgeschichte, und die von ihr ausgehende
Neujustierung setzt an die Stelle der an Revolutionen orientierten
Aufstiegsgeschichte
eine
am
europäischen
Opfergang
orientierte
Verfallsgeschichte, die erst mit dem Ende des zweiten europäischen
Diktatursystems am Ende des 20. Jahrhunderts ganz aufgefangen
werden konnte.
Trotz zahlreicher Anläufe zur Neujustierung der Zeitgeschichte5 befinden
wir uns also in einem undefinierten Zustand, der den sehr deutschen
Terminus
immer
sperriger
und
altmodisch
erscheinen
lässt.
Zeitgeschichte als Begriff hat an Strahlkraft just in der Zeit zu verlieren
begonnen, in der sie von der außeruniversitären Randdisziplin und
politisch gestützten Volkspädagogik nach 1989 zur stärksten Lokomotive
des Faches und seiner Wirkung in die Öffentlichkeit geworden ist.
Offenbar
umklammert
das
Wort
Zeitgeschichte
eine
allmählich
unzeitgemäß gewordene Einheit, die mehr und mehr überdehnt zu
werden droht.
Aus dieser Erkenntnis ist der Vorschlag erwachsen, Zeitgeschichte in
eine ältere Phase von 1917 bis 1945, eine jüngere von 1945 bis 1989
und eine jüngste von 1990 bis heute zu unterteilen. Aber diese
Gliederung, die aus der relativen Definition von Zeitgeschichte eine
4
Schon 1971 hatte Ernst Schulin vermutet, dass man sich bald entschließen werde, „im Zuge
der fortschreitenden Zeit den Pflock des Beginns, 1917, zu lockern und schließlich auf 1945 zu
setzen.“ Ernst Schulin, Zeitgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, in: Festschrift für Hermann
Heimpel, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 102-139, hier S. 104.
5
So z.B. bei Hans- Günter Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung,
Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Verletztes
Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt am Main/New York 2002, S.
39-73; Hans-Peter Schwarz, Die neueste Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51,
2003, S. 5-28; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland 1982-1990, München 2006, S. 12 f.
3
absolute macht und an die klassische Epocheneinteilung in Altertum,
Mittelalter und Neuzeit erinnert, hat sich bislang nicht durchsetzen
können. Zu stark ist das Bewusstsein, dass die Auseinandersetzung mit
der
Katastrophengeschichte
des
20.
Jahrhunderts
und
ihrer
Überwindung sich nicht in selbständige Teilbereiche aufspalten lässt.
Eine andere Überlegung geht dahin, die Vorstellung von der einen
Zeitgeschichte in drei sich überlappende Zeitschichten aufzulösen. Im
Anschluss an Zygmunt Bauman sieht in diesem Sinne etwa Anselm
Doering-Manteuffel aus der Krise der liberalen Fortschrittsmoderne
zwischen 1890 und 1950 eine strukturbasierte Ordnung der „Festen
Moderne“ von den dreißiger bis in die siebziger Jahre erwachsen, die
ihrerseits in eine netzwerkbasierte Ordnung der „Flüchtigen Moderne“
von den achtziger Jahren bis heute überging.6
Allerdings:
Eine
solche
Epochengliederung
macht
den
Begriff
Zeitgeschichte gänzlich überflüssig, und diese Einsparung ist nicht
verlustfrei zu haben. Sie verliert nämlich ein entscheidendes Moment
aus dem Blick, das einhundert Jahre lang für die strukturelle Inferiorität
der gegenwartsunmittelbaren Historie gesorgt hat und ihr eine
unabweisbare theoretisch-methodische Sonderstellung verleiht. Dieser
Eigencharakter ergibt sich aus der für die Zeitgeschichte konstitutiven
Einrede der Mitlebenden und die durch eigene Erfahrung begründete
Herausforderung der akademischen Urteilshoheit, die den deutenden
Historiker mit dem handelnden Protagonisten auf dem Podium oder auch
in eigener Person zusammenführt. Gerade im Zeitalter des Zeitzeugen
6
Anselm Doering-Manteuffel, Konturen von „Ordnung“ in den Zeitschichten des 20.
Jahrhunderts, in: Thomas Etzemüller, Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20.
Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 41-64; Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft,
Opladen 2001; Zygmunt Bauman, Schneller leben: Lernen und Vergessen in der Flüchtigen Moderne,
in: ders., Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 145-208.
4
und seiner medialen Vermarktung ist die nicht selten geschichtsreligiös
aufgeladene
Autorität
der
Authentizität
zum
allgegenwärtigen
Dauerproblem einer fachlichen Selbstbehauptung geworden, die auf der
einen Seite gegen die Sperrfrist der Akten zu kämpfen hat und sich auf
der anderen immer stärker vom Einfühlungsangebot der vermeintlich
oder tatsächlich Dabeigewesenen eingeengt sieht.
Insgesamt hat die Einrede der Mitlebenden sich einen erheblichen
Zeitvorsprung gegenüber der Aktenöffnung erarbeitet. Die in den
neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter Rückgriff auf Maurice
Halbwachs weiterentwickelte Theorie des sozialen Gedächtnisses hebt
die über die Lebenszeit des einzelnen hinausreichende Wirkungszeit der
Erfahrungen hervor, die im kommunikativen Gedächtnis als Familienund Milieuerinnerung überliefert und transgenerationell in die eigene
Erfahrungswelt inkorporiert wird. So wurde die Epoche der mitlebenden
Zeitgenossen im Zuge des memorial turn zugleich zur Epoche des
nachlebenden Gedächtnisses, das mehrere Generationen umfasst. Dank
der Existenz von Zeitzeugenarchiven wie dem Spielberg-Archiv, ist die
Zeitgeschichte so von der Zeitgenossenschaft abgekoppelt und kann
zugleich mit der Denkfigur einer sekundären Zeitzeugenschaft arbeiten,
die auch den nachgeborenen Berichterstatter mit der „Mitverantwortung
für die Vergangenheit“ im Sinne einer „stellvertretenden Zeugenschaft“
auszustatten erlaubt – aus der von der Spanne des Menschenleben
begrenzten Epoche der Mitlebenden wurde so die zeitlich offene Epoche
der Mitfühlenden.7
Die
soziale
Deutungskraft
erfahrungs-
und
erinnerungsgestützter
Gegennarrative unterscheidet die Zeitgeschichte im Kern von allen
7
Ulrich Baer, Einleitung, in: ders. (Hg.), „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur
nach der Shoah, Frankfurt am Main 2008, S. 7-13, hier S. 12 f.
5
anderen Zeiten der Geschichte. Sie gibt ihr eine zeitlich wandernde
Sonderstellung, die über historische Zäsuren hinweg die Einheit der
Zeitgeschichte definiert. Ihr wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zielt
auf den organisierenden Blickpunkt auf die Vergangenheit. Es ist der von
Johann Chladenius so genannte ‚Sehepunkt’8, der dem vorwärts
gelebten Leben das rückwärts gerichtete Urteil gibt und in den Fluss des
Geschehens die Biegungen und Einschnitte einzeichnet, von denen aus
zurückliegende Abschnitte in ihrer Geschlossenheit hervortreten. Die
organisierende Sogkraft nachzeitiger Erzähl- und Deutungsperspektiven
lässt sich fachlich reflektieren, aber kaum reduzieren, wie wir jeden Tag
miterleben. Es bietet sich daher an, als Zeitgeschichte diejenige Epoche
oder diejenigen Epochen zu begreifen, die der letzten tiefgreifenden
Veränderung des historischen Sehepunktes vorausgehen und sich daher
von ihrer Nachzeit durch die Geltung anderer politischer, wirtschaftlicher
und
kultureller
Normen
des
gesellschaftlichen
Zusammenlebens
unterscheiden. Jahrzehntelang war dies die Zeit zwischen 1914 oder
1917 und 1945. Das Ende des Booms, um den bekannten Titel von
Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael zu zitieren9, zog in den
siebziger Jahren dann einen tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Strukturbruch nach sich, dessen Beziehung zum Niedergang
des europäischen Kommunismus am Ende der achtziger Jahre noch
seiner Erforschung harrt. In ihrer Korrespondenz stehen beide
Entwicklungen für das Auslaufen einer Fortschrittsmoderne, die sich von
unserem Weltverständnis und unserer Lebenswelt nicht weniger radikal
unterscheidet als die Zeit vor 1945 von der nach 1945.
8
Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und
Schrifften, Leipzig 1742.
9
Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die
Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
6
Die Abgeschlossenheit sichernden Fluchtpunkte historischen Erzählens
in der Zeit der kommunikativen Erinnerung konstituieren Zeitgeschichte
und grenzen sie zugleich von der zur Gegenwart hin offenen Zeit der
jüngsten Vergangenheit ab, die noch ohne solche organisierenden
Betrachtungswinkel auskommen muss. Die von der Zeitgeschichte
abzuhebende Gegenwartsgeschichte hat mit einer Zeit der unmittelbaren
Vergangenheit zu tun, die sich ihrer Historisierung schon dadurch
entzieht, dass in ihr zeitgenössische Handlungsnormen und nachzeitige
Deutungsmaßstäbe noch nicht auseinander getreten sind. Ohne den
Bruch zwischen Erleben und Verstehen, den der Wechsel von
Sehepunkten
und
Denkhorizonten
erzeugt,
bleibt
aber
Geschichtsschreibung ein spekulatives Geschäft auf schwankendem
Deutungsgrund10, dessen Parameter und Interpretationslinien sich
beständig verschieben können. Mit welcher Wucht das geschehen kann,
bezeugte etwa der große Europa-Historiker Tony Judt. Wie er in der
Einleitung schrieb, überfiel ihn die Idee zu seinem grandiosen Werk
„Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“, als er im Taxi die
Radiomeldungen vom Aufstand gegen Ceausescu hörte und mit einem
Schlag wusste: „Eine Epoche war beendet“. Auf der Fahrt zum Wiener
Westbahnhof erlebte der unter dem Eindruck der samtenen Revolution
von Prag nach Wien gereiste Historiker Judt, dass der Umbruch in der
Gegenwart die Vergangenheit umschrieb: „Der Kalte Krieg, der OstWest-Konflikt,
der
Wettstreit
zwischen
‚Kommunismus‘
und
‚Kapitalismus‘ [...] – all das erschien nun nicht mehr als Produkt
10
Vgl. die Unbestimmtheit, in die Doering-Manteuffel die Zeitschicht der „flüchtigen Moderne“
auslaufen lässt: „Der Zusammenbruch des internationalen Finanzmarkts im Verlauf des Jahres 2008
hat augenscheinlich die Phase des ‚digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus‘ beendet, deren Geltung in der
Epoche ‚nach dem Boom‘ eingesetzt hatte und seit 1989/90 dominierend geworden war. Inwieweit an
die Stelle der auch ideologisch beschworenen ‚Flüchtigkeit‘ (...) eine neue Form von Festigkeit,
Gemeinsinn und rahmengebender Staatsverantwortung treten wird, ist völlig offen“. DoeringManteuffel, Konturen von „Ordnung“, S. 45, Fn. 15.
7
ideologischer Notwendigkeit oder der eisernen Logik der politischen
Verhältnisse, sondern als zufälliges Ergebnis der Geschichte – und die
Geschichte fegte alles beiseite.“ Die Geschichte fegte alles beiseite, und
die Historiker hatten keine Wahl, als hier hinterher zu kehren: „Nun
erschienen die Jahre zwischen 1945 und 1989 nicht als Schwelle zu
einer neuen Epoche, sondern als Zwischenzeit, als Auslaufphase eines
noch unerledigten Konfliktes, der 1945 zwar zu Ende gegangen war,
dessen Epilog aber weitere 50 Jahre dauerte. Welche Gestalt Europa
auch annehmen würde, sein vertrautes Geschichtsbild hatte sich ein für
allemal geändert. In diesem kalten mitteleuropäischen Dezember wurde
mir klar, daß die europäische Nachkriegsgeschichte neu geschrieben
werden mußte.“11
Anders als der Zeitgeschichte ist der Gegenwartsgeschichte die rastlose
Suche nach der strukturierenden Zäsur förmlich eingeschrieben, die zur
„Betrachtungsform“ des ordnenden Historikers taugen kann. Dies erklärt,
warum allein in den zwanzig Jahren seit 1989 so zahlreiche Ereignisse
ebenso unmittelbar zu Epochenwenden ausgerufen wurden, wie sie
dann ihren Zäsurencharakter in Einzelfällen vielleicht auch nur vorläufig
wieder abschreiben mussten: allen voran der 11. September 2001, aber
auch die Zeitenwende des Millenniums, die Einführung des EuroBargelds
2002,
die
EU-Osterweiterung
2004
oder
zuletzt
die
Finanzkrisen von 2008 und 2010 oder in diesen Wochen die Rückkehr
des Ost-West-Konfliktes auf die europäische Agenda. Erst letzte Woche
veranschaulichte Karl Schlögel auf dem Göttinger Historikertag diese
rastlose Zäsurensuche: „Sein ganzes Forscherleben lang habe er die
Ukraine von Moskau aus gesehen. Bis zum Frühjahr 2014. Da hätte ihn
11
Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, dt. Ausgabe München/Wien 2006, S.
15 f.
8
die Wirklichkeit ‚aus der Bahn gworfen‘, die Wirklichkeit der Intervention
‚des kleinen ehrgeizigen Lügners Putin‘ in der Ostukraine sei für ihn ein
Schock gewesen. Eine Zeitenwende wie der 11. September 2001,
beschwor Schlögel das Publikum.“12
II. Die erkenntnisleitende Kraft zeithistorischer Zäsuren
Doch auch wie ein coup de foudre einschlagende Zäsuren bieten nur
scheinbar
einen
festen
Grund
der
zeithistorischen
Gegenstandsbestimmung. Spätestens seit 1989/90 ist die Auffassung für
geschichtswissenschaftlich allgemein anerkannt: Zäsuren gelten selten
umfassend, sondern meist nur sektoral. Als scharfe Einschnitte
verstanden, sind sie in der Regel ereignisgeschichtlich begrenzt; die
Zäsuren der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und ebenso der
Kulturgeschichte folgen anderen Logiken und Rhythmen des Wandels.
Zäsuren sind zudem perspektivenabhängig, wie sich nicht nur zwischen
den verschiedenen nationalen Meistererzählungen zeigt, sondern mehr
noch zwischen Mit- und Nachwelt. Besonders im Medienzeitalter und der
mit ihm verbundenen kommunikativen Verdichtung werden sie oft
ausgerufen und schnell wieder vergessen, wie es etwa der Jahrhundertund Jahrtausendzäsur erging, die von einem starken Bewusstsein der
Zeitenwende begleitet wurde und rückblickend ihren Zäsurencharakter
rasch wieder eingebüßt hat.13 Nicht selten werden zunächst dramatisch
erscheinende Einschnitte durch den wachsenden Abstand wieder
12
Sven Felix Kellerhoff/Berthold Seewald, Sind wir die neuen Schlafwnandler? Beim 50. Deutschen
Historikertag in Göttingen war der Bestseller von Christopher Clark zum Ersten Weltkrieg ein großes
Diskussionsthema wie sonst nur die aktuelle Bedrohung durch Putins Russland, in: Die Welt,
27.9.2014.
13
Rudolf Stöber, Epochenvergleiche in der Medien- und Kommunikationsgeschichte, in: Gabriele
Melischek/ Josef Seethaler/ Jürgen Wilke (Hg.), Medien- & Kommunikationswissenschaft im Vergleich.
Grundlagen, Gegenstandsbereiche, Verfahrensweisen, Wiesbaden 2008, S. 27-42.
9
eingeebnet
werden.
Zeitgeschichte
So
etwa
erging
den
es
in
der
Notstandgesetzen,
jüngeren
deutschen
deren
drohende
Verabschiedung die Studentenbewegung mobilisierte und eine fast
hysterische Furcht vor der drohenden Faschisierung der Gesellschaft
auslöste, der Einführung des Euro am 1. Januar 2002 oder der EUOsterweiterung vom Mai 2004 – allesamt als historisch aufgerufene
Daten, die rasch nivelliert wurden. Zudem: Historische Zäsuren
entsprechen dem zeitlichen Gliederungswunsch von Historikern, aber sie
schlagen nicht zwingend auf die Ebene des menschlichen Lebens durch:
Historische
Zäsuren
sind
mit
biographischen
nicht
immer
deckungsgleich. Auch der 8. Mai 1945 bedeutete nur für einen kleinen
Teil der Deutschen den tatsächlichen Übergang vom Krieg zum Frieden,
denn Gefangennahme und Demobilisierung richteten sich nach dem
vorrückenden Frontverlauf statt nach den Waffenstillständen von Reims
und Berlin-Karlshorst. Die Sorge um das tägliche Überleben, der tägliche
Kampf um Brennholz und Nahrung überdeckte vielfach das Bewusstsein
der Zeitenwende des Mai 1945, gleichviel ob als Zusammenbruch oder
Befreiung verstanden, und in der Erinnerung bildete eher die
Währungsreform 1948 als das Kriegsende 1945 „die markante Zäsur, die
die gute von der schlechten Zeit schied“.14
Trotzdem kann die Geschichtswissenschaft eines wie immer gearteten
Begriffs der Zeitgrenze gar nicht entraten. Die fachtheoretische Rettung
des Zäsurenbegriffs kann darauf gründen, dass die zum Scheitern
verurteilte Suche nach universalhistorischen Zäsuren noch keine Absage
an die Geltungskraft von Zäsuren selbst bedeutet, sondern nur deren
14
Schildt, Nachkriegszeit, S. 568.
10
räumliche Geltungsbreite und strukturelle Geltungstiefe einschränkt.15
Sodann spiegeln Zäsuren ein historisches Orientierungsbedürfnis der
Gesellschaft wider, dem die Fachwissenschaft nicht ausweichen kann,
so sehr sie Zäsuren geschichtstheoretisch als höchst wandlungsfähige
und konjunkturabhängige Phänomene ansehen mag. Im Gegenteil
bedient
die
Geschichtsschreibung mit
ihrer
Beteiligung
an
der
historischen Jubiläumskultur bereitwillig das Bedürfnis, den historischen
Stoff über markante Wendepunkte und Erinnerungsdaten für die
Gegenwart aufzubereiten.
Zäsuren begrenzen und konstituieren die Zeitgeschichte als Gegenstand
und beruhen selbst auf Zuschreibungen. Um ihre Geltungskraft zu
erfassen,
ist
Erfahrungszäsur
die
und
Unterscheidung
nachträglicher
zwischen
zeitgenössischer
Deutungszäsur
hilfreich.
Deutungszäsuren ergeben sich aus der retrospektiven Festlegung von
Zeitgrenzen durch die Nachlebenden. Sie können ereignisgeschichtlich
begründet sein wie die Französische Revolution 1789 und die „Stunde
Null“ 1945, aber genauso auch strukturgeschichtliche Bedeutung tragen
wie die mit „1968“ verbundene „Umgründung“ der Bundesrepublik
(Manfred Görtemaker)16 oder der zuletzt immer stärker akzentuierte
Umbruch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hin zu einer Zeit „nach
dem Boom“. All diese Gliederung benennen Einschnitte in den Gang der
Geschichte, für die sich in der deutenden Retrospektive gute oder
15
Reinhart Koselleck, Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Herzog/Koselleck (Hg.):
Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, S. 269-282, hier S. 270 f..
16
Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur
Gegenwart, München 1999, S. 475 ff.
11
weniger gute Gründe finden lassen, ohne dass aber in ihnen die Zäsur
gleichsam selbst zeitgenössische Erfahrungsmacht erlangt hat.17
Eben diese zeitgenössische Erfahrungsmacht können Zäsuren fallweise
aber auch selbst ausüben, wie sich vielleicht an keinem Beispiel besser
belegen lässt als am Umbruch von 1989. Die epochale Bedeutung des
Mauerfalls 1989 ist unmittelbar augenfällig, und die historische Kerbe,
die wir mit historischen Umbrüchen verbinden, kam in ihm musterhaft
zum Ausdruck. Der Mauerfall von 1989 schuf eine grundstürzend neue
Perspektive, den Endpunkt einer historischen Entwicklung, der zu
Reorganisierung des eigenen Weltverständnisses herausfordert und
seine eigene Historizität so aufsagt, dass eine kontrafaktische Sicht
gegenstandslos wird. Der rasche und widerstandslose Zerfall der SEDHerrschaft im Herbst und Winter 1989 war ein Ereignis, das ante factum
nicht vorstellbar war und post factum geschichtsnotwendig erscheint. Es
sprengte den Denkrahmen der Politik, überstieg die Phantasie der
Öffentlichkeit, und es strafte die prognostische Kompetenz der
Gesellschaftswissenschaften und besonders der DDR-Forschung Lügen.
Wie sehr auch die Zeithistoriker unter den Zeitgenossen des Umbruchs
sich der historisch erzwungenen Verschiebung ihres Sinnhorizontes
hatten beugen müssen, lehrt Vergleich ihrer Auffassungen und
Äußerungen vor und nach 1989. Die zeithistorische Zunft hat sich
schnell dazu verstanden, dieses Versagen mit Kopfschütteln zu
betrachten und die Frage, warum zeitgenössische Analysen das
nahende Ende der DDR nicht kommen sahen, beispielsweise mit
bedauerlicher moralischer Indifferenz oder fachlicher Blindheit zu
17
„Dass im Epochenbegriff „zugleich ein sich im Bewusstsein nachträglich herstellender Ordnungssinn
und ein sich im Handeln aktual vollziehendes Sinngeschehen“ zusammenkommen, erörtert auch:
Friedrich Jaeger, Epochen als Sinnkonzepte historischer Entwicklung, in: Jörn Rüsen (Hg.), Zeit
deuten. Perspektiven – Epochen – Paradigmen, Bielefeld 2003, S.313-354, hier S. 314.
12
erklären. Klüger wäre es, hier anzuerkennen, dass historische Zäsuren
neue Denkhorizonte schaffen können, die wissenschaftlich nicht
einholbar sind.
Dies muss freilich nicht für jeden Einschnitt gelten, den Zeitgenossen als
epochal bezeichnen. Das Argument der historischen Eigenmacht von
Zäsuren ist auf Zeitgrenzen einschränken, die den Lauf der Geschichte
in eine unerwartete, nicht vorhersehbare Richtung lenken, einen neuen
Normalzustand an der Stelle eines alten etablieren, so wie eine
scheiternde Revolution als Putsch oder Hochverrat behandelt wird und
eine siegreiche eine neue politische und kulturelle Ordnung erzeugt mit
eigenen Maßstäben von Gut und Böse erzeugt. Mit dem 9.11.1918
wurde der blutig unterdrückte Hochverrat aufständischer Matrosen zur
republikanischen Tugend; mit dem 9.11.1989 verwandelte die lästige
Berichtspflicht eines inoffiziellen Mitarbeiters sich zum moralischen
Verrat. Solche Zäsuren hatten heterodoxen Charakter, indem sie die
überkommene Lebenswelt nicht nur, mit Reinhart Koselleck zu sprechen,
„aufsprengten“ sondern den zeitgenössischen Erfahrungsraum gänzlich
auf den Kopf stellten und den gesellschaftlichen Erwartungshorizont über
„einen mit der Zeit fortschreitenden Veränderungskoeffizienten“18 hinaus
in einer vordem unvorstellbaren Weise verschoben.
Als
der
kritischen
Reflexion
zugängliche
historiographische
Deutungszäsur lässt sich der Einschnitt von 1989 daher in Frage stellen,
nicht aber als sinnweltliche Erfahrungszäsur, die das Denken und
Handeln der Zeitgenossen insbesondere der Ostdeutschen unmittelbar
beeinflusste. Diesen heterodoxen, neue Ordnungen stiftenden Zäsuren
gegenüber stehen orthodoxe Zäsuren, die die vorherrschende Weltsicht
18
Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in:
ders., Vergangene Zukunft, S. 349-375, hier S. 361 u. 363.
13
einer Gesellschaft und einer Zeit eher bestätigen, als in Frage stellen.19
Eine solche orthodoxe Zäsur bilden ungeachtet konkurrierender
Deutungen zumindest im europäischen Verständnis die islamistischen
Terroranschläge des 11. September 2001. „America is under attack“,
erklärte Präsident George Bush jr. noch während der Anschlagserie, und
die nachfolgenden Kriege in Afghanistan und gegen den Irak unter
Saddam Hussein belegen die Konsequenz, mit denen die USA sich
gegen die islamistische Bedrohung zur Wehr zu setzen versuchten.
Gleichzeitig
bestätigt
Selbstmordanschlag
der
von
über
3000
Mohammed
Menschenleben
Atta
und
fordernde
seinen
13
Gesinnungsgenossen die These einer Radikalisierung und Verschärfung
der Gewalt in der Epoche der asymmetrischen Kriege. Der 11.
September belegt die Entgrenzung der Gewalt hin zu einem „Terrorkrieg
(...), der weltweit und ohne jede Selbstbeschränkung bei der Auswahl
der Opfer geführt wird.“20
Doch trotz seiner verheerenden Gewalt und seiner weitreichenden
politischen Wirkung stellt „9/11“ insofern eine orthodoxe Zäsur dar, als
der Al-Qaida-Anschlag die Basisnormen und -vorstellungen unserer Zeit
her zunächst eher bestätigte als infragestellte. Anders als „1989“ schuf
er im europäischen Denken nicht oder nicht sofort neuen Sichtachsen
und Denkhorizonte, sondern bestätigte bereits vorher bekannte. Nicht
zufällig sprechen Kulturhistoriker vom „Mythos einer neuen Ära“.21 Der
11. September 2001 hat der Zeitgeschichte nicht gegeben, was der 9.
Oktober 1989 ihr gab: die Leseanleitung für eine abgeschlossene
19
Als einen solchen „Bewegungsbegriff“, der für die Zukunft erwartete Zäsuren immer schon
sinnweltlich zu integrieren vermag, lässt sich etwa die Kategorie „Fortschritt“ fassen: „Der ‚Fortschritt‘
ist der erste genuin geschichtliche Begriff, der die zeitliche Differenz zwischen Erfahrung und
Erwartung auf einen einzigen Begriff gebracht hat.“ Ebd., S. 366
20
Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 189 f.
21
Armin Winiger, Der 11. September. Mythos einer neuen Ära, Wien 2007.
14
Epoche, die mit diesem Tag zu Ende ging – er markiert ein
zeithistorisches Datum von Gewicht, aber keine Epochenzäsur.22
Heterodoxe Zäsuren dagegen erzwingen Neuinterpretationen, stellen
Zeitgenossen vor Anpassungsprobleme, die den Gegensatz von
biographischer
Kontinuität
und
politischer
oder
sinnweltlicher
Diskontinuität zu bewältigen verlangen. Damit sind sie selbst ein
historischer Handlungsfaktor und geben dem Zäsurenbegriff nicht nur
historiographische, sondern auch historische Bedeutung. Die Grenze
zwischen heterodoxen und orthodoxen Zäsuren bleibt freilich fließend,
und es mag sein, dass der arabische Flächenbrand und die Sogkraft des
Islamischen Staates nicht doch noch den 11. September 2001 als
heterodoxe
Zäsur
und
eigentliches
Gründungsdatum
des
21.
Jahrhunderts betrachten werden wird.
Auch die Zeitgeschichte also, um ein Wort von Ernst-Wolfgang
Böckenförde aufzunehmen, ist von Voraussetzungen abhängig, die sie
selbst nicht garantieren kann und die ihrer Erkenntnisbildung Richtung
und Betrachtungsstruktur vorgeben. Auch die Abtrennung einer jüngsten
offeneren Phase als Gegenwartsgeschichte bietet hier nur trügerische
Sicherheit, wie die Ordnungskraft nachzeitiger Zäsurenbildung zeigt. Von
ihr zeugt nicht nur die Konkurrenz von 68er-Zäsur und Siebziger-JahreUmbruch, sondern ebenso die im diesjährigen Weltkriegsjubiläum sich
abzeichnende Heimholung des Ersten Weltkriegs in die Zeitgeschichte.
Mit dem Platztausch von 1917/18 und 1914 als ihre Anfangszäsur
verschieben
sich
die
Perspektiven:
weg
von
einem
revolutionsgeschichtlichen, fortschrittsorientierten Geschichtsbild hin zu
22
Vgl. auch Michael Butter/Birte Christ/Patrick Keller (Hg.), 9/11. Kein Tag, der die Welt veränderte,
Paderborn 2011; Manfred Berg, Der 11. September 2001 – eine historische Zäsur?, in: Zeithistorische
Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), S. 463-474.
15
einem katastrophengeschichtlichen und verlustorientierten Bild des 20.
Jahrhunderts, ohne dass dieser Blickwechsel im Kern das Ergebnis
neuer Forschungserkenntnisse ist. So instabil wie die Außengrenzen
sind auch die Binnengrenzen der Zeitgeschichte: Innerhalb weniger
Jahre verblasste die Zäsur der Fundamentalliberalisierung der sechziger
Jahre
durch
eine
„Achsendrehung
in
der
Organisation
der
zeithistorischen Aufmerksamkeit“ (Hans Günter Hockerts), die den
Strukturbruch der 1970er Jahre als Vorgeschichte gegenwärtiger
Problemlagen herausarbeitet. Und vor unseren Augen vollzieht sich eine
neuerliche Zäsurenverschiebung, wie sie wieder auf dem jüngst zu Ende
gegangenen Historikertag zu besichtigen war: Mit dem Abschied von der
Sonderwegsthese tritt das Jahr 1933 in den Hintergrund, das die
zerstörerische deutsche Kontinuität der obrigkeitsstaatlichen Eliten des
Wilhelminismus herausstellte. Statt seiner schiebt sich unter dem
Einfluss einer immer stärker opferzentrierten Geschichtskultur das Jahr
1941/42 in den Vordergrund, das die Entfesselung von Holocaust und
Völkermord markiert und stärker auf die situationistische Entgrenzung
staatlicher Gewalt und die Ambivalenz der Moderne verweist.
Mit solchen Unsicherheiten muss freilich nicht nur die Zeitgeschichte
leben – offen ist eben nicht nur die Zukunft, sondern auch die
Vergangenheit.
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