Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Jörg Schuster
„KUNSTLEBEN“
Jörg Schuster
„KUNSTLEBEN“
Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 –
Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und
Rainer Maria Rilkes
Wilhelm Fink
Die Habilitationsschrift wurde aus Mitteln der
Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.
Umschlagabbildung:
Rainer Maria Rilke im Palais Biron, rue de
Varenne, Paris, 1908; Brief von Rainer Maria
Rilke an Claire Goll, 11. April 1923,
Deutsches Literaturachiv Marbach
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© 2014 Wilhelm Fink Verlag, Paderborn
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5602-1
Für C.N. und D.S.
INHALT
I.
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
Von der epistolaren Erfindung des Ich zur Subjektkrise?
Zum Stand der Brief-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Moderne um 1900 und poetisch autonome (Brief-) Texte –
der ‚Brief des Lord Chandos‘ als Modell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
„Kunstleben“ – Briefkultur um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Brief und Kulturpoetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. EINE ‚WELT IN DER WELT‘ – EPISTOLARE
„LEBENSDICHTUNG“ IN ZEITEN DES ÄSTHETIZISMUS.
BRIEFSTRATEGIEN HUGO VON HOFMANNSTHALS
Gespenster und Einrichtungsgegenstände – Hugo von Hofmannsthals
Briefwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
1. BRIEF-WECHSEL VOM LEBEN ZUR KUNST: EPISTOLARE
ABGRENZUNGEN DES JUNGEN HUGO VON HOFMANNSTHAL
a) „Das symbolistische Experiment“ – Die Korrespondenz
mit Stefan George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Vorübergehende Inspiration – Hofmannsthals initiales Briefgedicht
„einem, der vorübergeht“ | Ein unerhörtes Bekenntnis: Georges Brief
vom 10. Januar 1892 | Was bleibt – stimulierende Schrift
b) Nerven-Briefkunst und arrangiertes Interieur: Der Briefwechsel
mit Marie von Gomperz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
„Vorbei!“ – Beginn mit dem Ende | Affen, Fischotter, ein dummer Pfau
und die Rosen in den Girlanden der Tapete, oder: Aus dem Leben einer
Zimmerpflanze | Epistolare poiesis: Absichtliches Träumen, ‚Arrangieren
der Wirklichkeit‘ – Hofmannsthals Brief vom 13. Juni 1892 | Vom Nutzen
und Nachteil von Brief und Tagebuch für Werk und Leben, oder: Warum
Hofmannsthal kein journal intime führte
58
8
INHALT
2. „BINDEN MIT DEM SCHATTENBANDE“ – HOFMANNSTHALS
BRIEFWECHSEL ZWISCHEN EINSAMER IMAGINATION UND
EPISTOLARER KREISBILDUNG
a) „Als käme die unglaublichste Erscheinung dem einsamsten
Einsiedler entgegen“: Der Briefwechsel mit Rudolf Borchardt . . . . . 85
Fälschungen, Brüche | Gescheiterter Annäherungsversuch: Borchardts
Brief vom 26. Mai 1903 | „Conflikte mit dem Lebendigen“ – Briefe
um Borchardts „Rede über Hofmannsthal“ | „Zusammenhang der
wenigen gleichgesinnten“ – ein liberaler Gegenentwurf zum George-Kreis? |
„Codifizierung des Gemeinsamen“ oder einsame Imagination? Der Briefwechsel
zwischen Proklamation und poetischem Stimulanzmittel | Die „endliche Tuba
Habsburgs“ und das „Enigmatische der Freundschaft“:
Borchardts Eranos-Brief und der epistolare Beziehungs-Bruch
b) Potemkins Briefe: Die Korrespondenz mit Richard Beer-Hofmann . . 118
Der Dichter und sein Hemmschuh | Lebensverdächtigung – ein verfehlter
Geburtstagsbrief | „Ein Reich für diesen einen König“ – Im Garten |
Gescheiterte Empathie – nachgeholte Diskursivität:
Der Bruch in der epistolaren Beziehung
c) Exkurs: Gestörte Kommunikation und Epiphanie –
Hofmannsthals ‚erfundene Briefe‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Warum hat Lord Chandos einen Brief geschrieben? | Redende Dinge,
schweigende Menschen – Kunst-Erfahrung und Brief-Monolog:
„Die Briefe des Zurückgekehrten“
d) „Lebensdichtung“ – Die Korrespondenz mit Harry Graf Kessler . . . 161
Ein Künstler im modus irrealis | „Am Leben mitschaffen“ –
Brief, Lebensreform und ein Libretto für Richard Strauss
3. ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG IN ZEITEN DES ÄSTHETIZISMUS?
a) Poesie und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
b) „Poetische Interpretation des gemeinen und farblosen“: Der
Briefwechsel mit Edgar Karg von Bebenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
c) Zwischen „Gefühl des Lebens“, Interieur und poetischem
„Totenreich“ – Der Briefwechsel mit Ottonie Gräfin Degenfeld . . . 190
III. „TRANSPORTABLE SCHUTZWELT“. BRIEF-POESIE,
BRIEF-ÖKONOMIE UND EPISTOLARES INTERIEUR –
RAINER MARIA RILKES KORRESPONDENZEN
1. RAINER MARIA RILKE – EINE EPISTOLARE EXISTENZ
a) „Eine Art von fein vertheiltem Irgendwo-sein“ – Quantität,
Materialität und Funktion der Briefwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
b) „Beide Schriftlichkeiten, die der Arbeit und die des Verkehrs“ –
zur Medialität des Briefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
INHALT
9
2. „MIT FERNEN SELBER RÜHREN WIR UNS AN“ –
AUTONOME BRIEFTEXTE?
a) „Noch nicht! Noch nicht!“ – Der Briefwechsel
mit Magda von Hattingberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Feuer und Herzharz – Überfülle und mediale Ökonomie | Botschaften
aus dem Inneren des Bergs: Rilkes Briefe vom 4. und 5. Februar 1914 |
Leben in der „Stube“ und unter Vitrinenglas | Noch eine Fälschung …
b) „Als ob Du bei mir eintreten könntest“: Die Korrespondenz
mit Lou Andreas-Salomé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Esoterik des Briefs, Exoterik der Konversation – Rilkes erster Brief
vom 13. Mai 1897 | „Mein Schreiben in Reden verwandelt“: Das Ideal
des Gesprächs | Ideales Wohnen als epistogene Situation | „Was Du hörst
ist nur der Laut meines Schrittes, der immer noch weitergeht“ –
Rilkes Brief vom 15. Januar 1904
c) Brief-Poesie: Rilkes Briefwechsel mit Marina Zwetajewa . . . . . . . . . 266
Poetische Brief-Zeit, poetischer Brief-Raum | „Vom Worte zum Ding“ –
Epistolare Semiose | „Nicht sein.“ | Offene epistolare Semiose und
Abgeschlossenheit gegenüber der Wirklichkeit –
Fallen und Fliegen als Brief-Metaphern
3. „IN GEBRAUCH UND SCHWEBE“ – LEBENSPRAXIS UND
BRIEFPOESIE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) „Hülfskonstruktion in der Geometrie des Herzens“ –
Briefe als Lebenshilfe?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Schwebende Pläne: Epistolare (Des-) Organisation . . . . . . . . . . . .
c) „Bloße Schwingungszusammenhänge“ –
Rilkes epistolare Finanzwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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286
295
299
„Zu einem grenzenlosen Annehmen geneigt“ – der Briefwechsel mit Karl
von der Heydt | „Pure Schwingungen“: Geld, Symbolismus, Brief |
Phantastische Geldwirtschaft – ein Finanzstreit mit Anton Kippenberg
1915
d) Das epistolare Interieur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
Im Kokon | Jugendstil-Briefe aus Schmargendorf 1900 |
Rilkes Interieur-Konzeption | Exkurs: Interieurs um 1900 |
„Als obs Duino wäre“: Briefschreiben, Wohnen und poetische Produktion |
Epistolare Raum-Semiotik: Briefe aus Muzot und Soglio | Brief und
Kulturpoetik des Raums | Fenster | „Zunehmende Lautlosigkeit“:
Korrespondenzen zwischen Zimmern
10
INHALT
IV. VERSCHLOSSENE TÜREN UND SIGNORILE NOTEN
AUS DEM EXIL – DAS ENDE DER LEBENSREFORM UND
DER ANACHRONISMUS DES EPISTOLAREN INTERIEURS
Jugendstil-Briefe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Postskript I: Mediale Obsession – Kafkas Briefrauschen . . . . . . . . . . . . . 390
Postskript II: Epistolare Herrschaftsphantasien aus
verwahrloster Luccheser Villa – Rudolf Borchardt. . . . . . . . . . . . . . . . . . 394
ABBILDUNGSNACHWEISE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
I.
KULTURPOETIK DES BRIEFS
UM 1900
Von der epistolaren Erfindung des Ich
zur Subjektkrise? Zum Stand der Brief-Forschung
Seit langem und nicht zu Unrecht gilt das 18. Jahrhundert als „Jahrhundert des
Briefes“.1 Entsprechend gut erforscht ist insbesondere die Zeit in etwa zwischen
1750 und 1800 in epistolographischer Hinsicht. „Liebeskunst. Untersuchungen
zum Liebesbrief im 18. Jahrhundert“, „Authentizität als Fiktion. Briefkultur im
18. und 19. Jahrhundert“, „Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert“, „Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830“ und „Der
Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale“ sind nur einige Titel monographischer Darstellungen, die innerhalb der letzten 20 Jahre veröffentlicht wurden;2 einige Berühmtheit erlangte
Karl Heinz Bohrers Studie „Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer
Subjektivität“.3
1 Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. Zweiter Teil. Berlin 1891. S. 245. Das Diktum Steinhausens wird von Adorno (Zu Benjamins Briefbuch ‚Deutsche Menschen‘. In: Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften. Hg. Rolf Tiedemann. Bd. 11. Frankfurt am Main 1974. S. 686-692; hier S. 691)
aufgenommen und affirmativ noch in Killys Literaturlexikon (Burckhard Dücker: Art. ‚Brief‘. In:
Walther Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Bd. 13. Begriffe, Realien, Methoden. Hg. Volker Meid.
Gütersloh 1992. S. 124-129; hier S. 127) und in der Monographie von Johannes Anderegg:
Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830 (Mit einem Beitrag von Edith
Anna Kunz. Göttingen 2001. S. 12) wiedergegeben.
2 Elke Clauss: Liebeskunst. Untersuchungen zum Liebesbrief im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1993;
Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart,
Weimar 1995; Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien
u.a. 2000; Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! A.a.O.; Tanja Reinlein: Der Brief als Medium
der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003; an
Einzelstudien vgl. ferner Ulrich Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber. Göttingen 1990; Claudia
Kaiser: „Geschmack“ als Basis der Verständigung. Christian Fürchtegott Gellerts Brieftheorie.
Frankfurt am Main u.a. 1993; Rafael Arto-Haumacher: Gellerts Briefpraxis und Brieflehre. Der
Anfang einer neuen Briefkultur. Wiesbaden 1995. Eine heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen
genügende ‚Geschichte des deutschen Briefs‘ ist bislang nicht geschrieben worden und kann es
aufgrund der Disparatheit der Einzeltexte vermutlich auch nicht geben; für einen sehr kursorischen Überblick vgl. Reinhard M.G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, sowie Wolfgang G. Müller:
Art. ‚Brief‘. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Tübingen
1994. Sp. 60-76. Ansätze zu einer Geschichte der Briefkultur mittels exemplarischer Einzelinterpretationen bietet nun der Band Jörg Schuster, Jochen Strobel (Hgg.): Briefkultur. Texte und
Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Berlin, Boston 2013.
3 Frankfurt am Main 1989.
14
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
Im Zuge der fortschreitenden Alphabetisierung4 und der neuen empfindsambürgerlichen Privatheit entsteht im deutschsprachigen Raum seit der Mitte des 18.
Jahrhunderts eine völlig neuartige Form der Briefkultur. Christian Fürchtegott
Gellert fordert in seinem Werk „Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von
dem guten Geschmacke in Briefen“ 1751 einen individuell-‚natürlichen‘ Briefstil
und eine Abkehr von der traditionellen Regel-Epistolographie. Dieses Konzept
wird durch zahlreiche an Gellert anknüpfende Brieflehren rasch popularisiert.5
Gleichermaßen tragen Briefschreiberinnen und Briefschreiber wie Anna Luise
Karsch, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Meta und Friedrich Gottlieb Klopstock,
Gotthold Ephraim Lessing, Caroline und Johann Gottfried Herder sowie der junge Goethe zur Herausbildung der neuen Briefkultur bei. Mit seiner ‚Neuerfindung‘
ändert sich auch die Bedeutung, die dem Brief innerhalb des literarischen Felds
zukommt. Darauf weisen zum einen die an Samuel Richardson und Jean Jacques
Rousseau anknüpfenden Briefromane etwa Sophie von La Roches, Christoph Martin Wielands, Johann Wolfgang von Goethes, Friedrich Hölderlins und Ludwig
Tiecks hin. Indizierend ist zum anderen, dass ein Autor wie Goethe noch zu Lebzeiten die Veröffentlichung seiner Briefwechsel betreibt.6
Das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte Gattungskonzept
wirkt in erstaunlichem Umfang traditionsstiftend: „Unter Anleitung [… der] großen Epistolographen“ des 18. Jahrhunderts, so schreiben die Herausgeber der
Sammlung „Deutsche Briefe“ Gert Mattenklott und Hannelore sowie Heinz Schlaffer, sei der „persönliche[…] Brief als die Schriftform des Gesprächs dauerhaft für
zwei Jahrhunderte“7 geprägt worden. Analog konstatiert Jochen Golz: „Um 1750
hat sich der deutsche Brief in seiner modernen, heute prinzipiell noch gültigen Gestalt herausgebildet.“8
Die kulturgeschichtliche Bedeutung des Briefs im 18. Jahrhundert ist in der Tat
kaum zu überschätzen. Übereinstimmend wird er in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung als zentrales Medium der Konstruktion moderner Subjektivität angesehen. Robert Vellusig bemerkt in seiner Monographie zur Briefkultur im
4 Vgl. hierzu Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. S. 169 ff.
5 Vgl. R.M.G. Nickisch: Art. ‚Briefsteller‘. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der
Rhetorik. Bd. 2. A.a.O., Sp. 76-86; hier Sp. 81.
6 1828/29 gibt Goethe seinen Briefwechsel mit Schiller heraus, die 1833/34 erschienene Korrespondenz mit Carl Friedrich Zelter hat er noch selbst mit vorbereitet; vgl. Benedikt Jeßing: Goethe als Briefschreiber. In: Bernd Witte u.a. (Hgg.): Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. 3.
Prosaschriften. Stuttgart, Weimar 1997. S. 430-473; Norbert Oellers: Der Briefwechsel zwischen
Schiller und Goethe. Ebd., S. 474-484; Edith Zehm: Briefwechsel mit Carl Friedrich Zelter.
Ebd., S. 484-496. Zum Problemkomplex von Brief und Autorschaft vgl. Jochen Strobel (Hg.):
Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg
2006; Detlev Schöttker (Hg.): Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München
2008.
7 Gert Mattenklott u.a.: Einleitung der Herausgeber. In: Dies. (Hgg.): Deutsche Briefe 17501950. Frankfurt am Main 1988. S. 7-18; hier S. 10.
8 Jochen Golz: Art. ‚Brief‘. In: Klaus Weimar u.a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin, New York 1997. S. 251-255; hier S. 252.
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
15
18. Jahrhundert: „Der Privatbrief […] übernimmt die Funktion, eine Form der
sprachlichen Selbstdarstellung auszubilden, in der sich das schreibende Subjekt […]
als Person, in seiner individuellen Erfahrungs- und Erlebniswelt, zur Geltung bringen kann.“9 Auch Johannes Anderegg führt aus, „dass der Individualismus der Zeit
und dessen Steigerung zu einem Ich-Kult vor allem im Medium Brief ihren eigentlichen Ausdruck finden konnten.“10 Tanja Reinlein bezeichnet den empfindsamen
Brief als den „exemplarische[n] Ort literaler Inszenierungspotentiale“,11 dem eine
bedeutende Rolle im Hinblick auf die „Konzeptualisierung von Identität“12 zukomme. Nicht zufällig spielen gendertheoretische Aspekte in der Analyse der spezifisch
epistolaren Konstruktion von Rollen und Selbstbildern (bis weit über das 18. Jahrhundert hinaus) eine zentrale Rolle, waren für Frauen Korrespondenzen doch „oft
die einzige Chance, sich als Person überhaupt erst zu erschaffen.“13
Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die Inszenierungsmöglichkeiten des Briefs aus seiner spezifischen Medialität, aus seinem
Charakter als schriftlichem Distanzmedium der persönlichen Kommunikation resultieren. Es handelt sich dabei um einen Aspekt, der innerhalb der epistolographischen Forschung der letzten Jahre zu Recht kontinuierlich an Bedeutung gewonnen hat.14 Einerseits ist der Brief der Gesprächsäußerung vergleichbar, indem er
9 Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. A.a.O., S. 9. Vellusigs als Standardwerk geltende Untersuchung zeichnet sich bei näherem Hinsehen allerdings durch eine teilweise naive Charakterisierung der schriftlichen und mündlichen Form der Kommunikation aus, so etwa, wenn der Verfasser apodiktisch bemerkt: „Sprechend teilen wir uns mit; beim Schreiben konzentrieren wir uns
auf das, was wir sagen wollen.“ (Ebd., S. 156.) Insbesondere was die mündliche Kommunikation
betrifft, stellt Medialität für Vellusig kein allzu großes Problem dar: „Der Metaphern- und Konnotationsreichtum des mündlichen Ausdrucks, Ironie und Witz, […] die vielfältigen Formen
hyperbolischer, […] lakonischer oder emphatischer Rede u. ä. m. bringen die Erlebnisweise des
wahrnehmenden Subjekts zum Ausdruck und lassen die Welt in ihrer konkreten Eindrucksqualität erscheinen“ (ebd., S. 17).
10 Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! A.a.O., S. 20.
11 Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. A.a.O., S. 9. Eine Schwäche von
Reinleins Untersuchung besteht zum einen darin, dass sie ihre Thesen kaum durch die Analyse
von Brief-Texten belegt; zum anderen setzt sie fälschlich ‚Natürlichkeit‘ mit ‚Authentizität‘ gleich
und bemüht sich zu zeigen, dass diese nicht erreicht werden könne, statt jene als bewusstes Stilideal zu untersuchen. Damit fällt sie in gewisser Weise hinter die Untersuchung von Annette C.
Anton (Authentizität als Fiktion. A.a.O.) zurück.
12 Ebd.
13 Gert Mattenklott: Romantische Frauenkultur. Bettina von Arnim zum Beispiel. In: Hiltrud
Gnüg, Renate Möhrmann (Hgg.): Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 1985. S. 123-143; hier S. 125; vgl. Barbara Becker-Cantarino:
Leben als Text. Briefe als Ausdrucks- und Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur
des 18. Jahrhunderts. In: Ebd., S. 38-103; Anita Runge, Lieselotte Steinbrügge (Hgg.): Die Frau
im Dialog. Studien zu Theorie und Geschichte des Briefes. Stuttgart 1991.
14 Im Mittelpunkt der Forschung steht zunehmend – nicht zuletzt aufgrund eines gesteigerten Interesses an aktuellen, mit dem Brief konkurrierenden Kommunikationsformen wie Telefon,
E-Mail, Chat oder SMS – die Frage nach der Materialität und Medialität von Briefen. Dies dokumentierte eindrucksvoll die im Jahr 2008 gezeigte Frankfurter Ausstellung „Der Brief – Ereignis
& Objekt“ (vgl. Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hgg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum.
Frankfurt am Main, Basel 2008), dies belegen aber auch neuere Beiträge wie etwa der Aufsatz von
16
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
zumeist an einen bestimmten Adressaten gerichtet ist und in der Regel auf gegenseitige Verständigung, auf den häufig rein privaten sprachlichen Austausch zweier
Subjekte zielt.15 Andererseits ist im Fall des Briefs die Situation der Produktion,
des Schreibens, zeitlich und räumlich von der Situation der Rezeption, des Lesens,
verschieden, die Kommunikation mittels des Speichermediums ‚Schrift‘ schließt –
dem Modell des Gesprächs entgegengesetzt – die Präsenz des Kommunikationspartners gerade aus. Aufgrund dieses konstitutiven Moments der Distanz und Absenz besteht, wie Albrecht Koschorke gezeigt hat, ein enger kulturhistorischer Zusammenhang zwischen der im Zuge der fortschreitenden Literalisierung entstehenden Schrift- und Briefkultur und dem sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts herausbildenden bürgerlich-empfindsamen Wertesystem:
Alle Schlüsselbegriffe der empfindsamen Periode – Tugend, Seelenfülle, Sympathie,
Zärtlichkeit, Freundschaft –, die sich im Rahmen der neuen bürgerlichen Sozialität
entwickeln, werden vorzugsweise in schriftlichen Verkehrsformen, sei es in gedruckter Literatur, sei es mit den Mitteln von Briefwechsel und schriftlicher Introspektion,
symbolisch erprobt. Die Schrift ist dabei keineswegs nur Träger von Inhalten und als
Medium neutral; sie unterhält eine enge Komplizenschaft mit der Ideologie von Tugend/Entkörperung/Seele, für die sie das Forum bietet. Allgemeiner ausgedrückt:
Schriftlichkeit ist ein kommunikationstechnisches Korrelat des diskursiven Phänomens
‚Seele‘.16
Generell lässt sich gerade im Hinblick auf den Brief „von einer epochentypischen
Strategie sprechen, empirische Präsenz in Semiose, in Zeichentätigkeit zu verwandeln“:17
„Distanz […] läßt sich als glückhafte Anspannung der Empfindungskräfte und insofern als identitätssteigernd erfahren. Sie führt zu einem erhöhten Pegel an imagina-
Rainer Baasner zum Thema „Schrift oder Stimme? Materialität und Medialität des Briefs“ (in:
Detlev Schöttker (Hg.): Adressat: Nachwelt. A.a.O., S. 53-69). Auch die Herausgeber des Tagungsbands „Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ (Berlin, New York 2008) Renate Stauf, Annette Simonis und Jörg Paulus betonen diesen Aspekt bereits im Untertitel und formulieren den Anspruch, „Liebesbriefe als kulturanthropologische Zeugnisse und als besondere ästhetische Kommunikationsformen zugleich zu betrachten“ (ebd., S. 2), ohne allerdings einen präzisen Lösungsansatz zu präsentieren, wie diese
doppelte Perspektive methodisch zu erreichen wäre.
15 Der aus der Antike (vgl. Marcus Tullius Cicero: 2. Philippische Rede. In: Ders.: Sämtliche Reden. Übers. Manfred Fuhrmann. Bd. 7. Zürich, München 1982. S. 144 f.) überlieferte Topos
vom ‚Gespräch mit einem Abwesenden‘ wird im 18. Jahrhundert von Christian Fürchtegott Gellert (Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In:
Ders.: Die epistolographischen Schriften. Faksimiledruck nach den Ausgaben von 1742 und
1751. Mit einem Nachwort von Reinhard M. G. Nickisch. Stuttgart 1971. S. 3) um des Ideals
der ‚Natürlichkeit‘ willen wieder aufgenommen, auch wenn er, wie Rainer Baasner gezeigt hat,
die Vorteile der Schriftkultur durchaus anerkannte (vgl. Rainer Baasner: Schrift oder Stimme?
A.a.O., S. 60 f.).
16 Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. A.a.O., S. 196; Hervorhebungen hier
und im Folgenden, soweit nicht anders vermerkt, immer im Original.
17 Ebd., S. 251.
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
17
tiver und semantischer Aktivität.“18 Kurz gesagt: „Individualisierung und Medialisierung sind dasselbe.“19
In der Epistolarkultur des 18. Jahrhunderts ist somit bereits jener Zusammenhang von Briefschreiben und Subjektivität verwirklicht, den Karl Heinz Bohrer –
ohne die Medialität der Gattung in den Vordergrund zu rücken – auf emphatische
Weise der Romantik um und nach 1800 attestiert: „das Ich weiß nichts von sich,
redet nicht über sich, erfindet sich erst im Sprechen.“20 Es handle sich dabei nicht
mehr, wie angeblich noch im 18. Jahrhundert, „um die Reproduktion psychischer
Fakten“,21 sondern um die Herstellung „einer ästhetischen Identität“.22 Die Briefe
Karoline von Günderrodes, Clemens Brentanos und Heinrich von Kleists seien
„als autonome Texte zu lesen, in denen das Ich sich gewissermaßen erst semantisch
findet, erfindet.“23 In der Tat gelingt es Bohrer zu zeigen, wie durch die poetische
Dichte der von ihm untersuchten Brieftexte eine Form ästhetischer Subjektivität
hergestellt wird, die außerhalb der Textualität nicht existiert.
Überblickt man die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den auf das
„Jahrhundert des Briefes“ folgenden 200 Jahren Gattungsgeschichte, so kann leicht
der Eindruck entstehen, der Brief habe seit der Romantik einen kontinuierlichen
Bedeutungsverlust erlitten. Apodiktisch urteilt etwa Theodor W. Adorno:
Das Jahrhundert der Briefe war im Deutschen der Korrespondenz günstig, weil bürgerliche Beschränktheit, bei allem Bewußtsein, etwas […] Naivetät ererbte und zeitigte […]. Daß Goethe […] in den Spätbriefen das eigene Innere nur noch als Kanzlist seiner selbst verlautbart, antezepiert das geschichtliche Urteil über den Brief als
Form. Sie ist veraltet; wer ihrer noch mächtig ist, verfügt über archaische Fähigkeiten
[…].24
Auf ähnliche Weise attestiert Johannes Anderegg einen Verlust an innovativem
Potential:
18
19
20
21
22
23
24
Ebd.
Ebd., S. 265.
Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. A.a.O., S. 217.
Ebd.
Ebd., S. 218.
Ebd., S.13.
Theodor W. Adorno: Zu Benjamins Briefbuch ‚Deutsche Menschen‘. A.a.O., S. 691 f. Noch
deutlicher heißt es in Adornos Aufsatz „Benjamin, der Briefschreiber“: „Die Form des Briefes ist
anachronistisch […]. Das Briefschreiben meldet einen Anspruch des Individuums an, dem es
heute so wenig mehr gerecht wird, wie die Welt ihn honoriert. […] In einer gesellschaftlichen
Gesamtverfassung, die jeden Einzelnen zur Funktion herabsetzt, ist keiner länger legitimiert, so
im Brief von sich selbst zu berichten, als wäre er noch der unerfaßte Einzelne, wie der Brief es
doch sagt: das Ich im Brief hat bereits etwas Scheinhaftes. Subjektiv aber sind die Menschen, im
Zeitalter des Zerfalls der Erfahrung, zum Briefschreiben nicht mehr aufgelegt. Einstweilen sieht
es aus, als entzöge die Technik den Briefen ihre Voraussetzung. Weil Briefe, angesichts der
prompteren Möglichkeiten der Kommunikation, der Schrumpfung zeiträumlicher Distanzen,
nicht mehr notwendig sind, zergeht auch ihre Substanz an sich.“ (Theodor W. Adorno: Benjamin, der Briefschreiber. In: Ders.: Noten zur Literatur. A.a.O., S. 583-590; hier S. 585 f.)
18
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
Auch nach dem 18. Jahrhundert – und bis in die Gegenwart – werden deutsche Briefe geschrieben, rein quantitativ gesehen vielleicht mehr als im 18. Jahrhundert. Aber
die Möglichkeiten des Mediums Brief sind kurz nach 1800 weitgehend ausgelotet,
und für die gesellschaftlichen Veränderungen werden im 19. Jahrhundert die technischen Errungenschaften bald wichtiger als das Briefschreiben […].25
Was die Forschung zur Gattungsgeschichte des 19. Jahrhunderts betrifft, so beschränkt sie sich zumeist auf einzelne Autorinnen und Autoren wie Rahel Varnhagen, Annette von Droste-Hülshoff und Eduard Mörike.26 Generell dient die Briefkultur des 19. Jahrhunderts, folgt man einer Grundthese der einschlägigen Buchpublikation zum Thema, vor allem „der konventionalisierten Bestätigung eines gemeinsamen Weltbildes“;27 primär gehe es „um die Bekräftigung derselben Werthaltungen und Umgangsnormen“.28 Der Brief besitzt dieser Auffassung zufolge nicht
mehr so sehr produktiv-innovatives Potential, sondern ist eher als bildungsbürgerlich geprägte, konsensorientierte gesellschaftliche Umgangsform von Interesse.
Auch der Entwicklung der Gattung um 1900 sowie im frühen 20. Jahrhundert
wird bei weitem nicht das literatur- und kulturwissenschaftliche Interesse entgegengebracht, das dem Brief vor und um 1800 als Forschungsobjekt zukommt. Zu Recht
konstatiert Alexander Košenina, die Forschung habe sich „der Briefkultur um 1900
bisher kaum angenommen“.29 Ausnahmen bilden lediglich die luzide, im deutschen
Sprachraum aber wenig rezipierte Studie von Vincent Kaufmann30 und die Untersu-
25 Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! A.a.O., S. 12.
26 Vgl. Jutta Juliane Laschke: Wir sind eigentlich, wie wir sein möchten, und nicht so wie wir sind.
Zum dialogischen Charakter von Frauenbriefen Anfang des 19. Jahrhunderts, gezeigt an den
Briefen von Rahel Varnhagen und Fanny Mendelssohn. Frankfurt am Main u.a. 1988; Barbara
Breysach: „Die Persönlichkeit ist uns nur geliehen“. Zu Briefwechseln Rahel Levin Varnhagens.
Würzburg 1989; Barbara Hahn: „Antworten Sie mir!“ Rahel Levin Varnhagens Briefwechsel.
Frankfurt am Main, Basel 1990; Kristin Rheinwald: Eduard Mörikes Briefe. Werkstatt der Poesie. Stuttgart, Weimar 1994; Margaretmary Daley: Women of Letters. A Study of Self and Genre
in the Personal Writing of Caroline Schlegel-Schelling, Rahel Levin Varnhagen, and Bettina von
Arnim. Columbia, SC, 1998; Luisa Callejón Callejón: Briefliche Momentbilder. Lektüren zur
Korrespondenz zwischen Rahel Levin Varnhagen und Pauline Wiesel. Berlin 2002; Walter Gödden: Die andere Annette. Annette von Droste-Hülshoff als Briefschreiberin. Paderborn u.a.
1991; Heike Spies: Literatur in den Briefen Droste-Hülshoffs. Frankfurt am Main u.a. 2010; zu
einigen exemplarischen Liebesbriefwechseln des 19. Jahrhunderts vgl. jetzt: Roman Lach: Der
maskierte Eros. Liebesbriefwechsel im realistischen Zeitalter. Berlin u.a. 2012.
27 Rainer Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis. In:
Ders. (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999. S. 1-36; hier S. 15.
28 Ebd.
29 Alexander Košenina: „Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch“. Vom Briefschreiber zum
Autor – am Beispiel Hofmannsthals. In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und
Revisionen. Stuttgart, Weimar 2002. S. 241-257; hier S. 242.
30 Vincent Kaufmann: Post Scripts. The Writer’s Workshop. Cambridge, Mass., London 1994 (frz.
u.d.T. L’équivoque épistolaire. Paris 1990.). Diese komparatistische Untersuchung zeichnet sich
zwar partiell durch ihrem essayistischen Stil geschuldete Ungenauigkeiten aus, arbeitet aber entscheidende Grundzüge der Gattungsgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts (Baudelaire,
Flaubert) bis zu Kafka heraus.
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
19
chung von Anne Overlack, die genaue und sensible Interpretationen zu einzelnen
Briefwechseln Hugo von Hofmannsthals und Else Lasker-Schülers präsentiert.31
Das geringe Interesse überrascht aus mehreren Gründen. Erstens „lodert im fin de
siècle jene ‚Briefwut‘ wieder auf, wie sie aus der Goethezeit bereits bestens vertraut
ist.“32 Dies gilt insbesondere für Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke,
die als exzeptionelle Briefautoren auf den folgenden knapp 400 Seiten exemplarisch
in den Blick genommen werden – beide hinterließen jeweils weit über 10.000 Briefe;33
weitere manische Briefschreiberinnen und -schreiber sind etwa Else Lasker-Schüler,
Franziska zu Reventlow, Thomas Mann, Franz Kafka und Hermann Hesse. Zweitens
zeichnen sich gerade die Briefe Hofmannsthals und Rilkes, wie zu demonstrieren sein
wird, durch ein so außergewöhnliches Maß an Poetizität aus, dass man teilweise von
einer Nähe zum Prosagedicht sprechen kann. Was die literaturgeschichtliche Relevanz des Briefs um 1900 betrifft, so ist – in engem Zusammenhang damit stehend –
drittens auf seine Rolle als Modell für prominente, im engeren Sinne als literarisch
oder fiktional angesehene Werke zu verweisen. Der Bedeutung des Briefromans im
18. Jahrhundert entspricht mutatis mutandis die literaturhistorische Stellung von
Prosatexten wie Hofmannsthals fingiertem „Brief“ des Lord Chandos (1902) oder
Kafkas autobiographischem „Brief an den Vater“ (entst. 1919).
Es ist daher zweifellos richtig, „die Briefkultur um 1900 […] als Epochensymptom [zu] begreifen.“34 Doch worin besteht ihre symptomatische Bedeutung? Diese
Frage ist bislang, in völligem Gegensatz zur epistolographischen Forschung zum
18. Jahrhundert, erstaunlicher Weise noch kaum gestellt und schon gar nicht adäquat beantwortet worden. Sofern sie nicht – wie im Falle Rilkes35 – lediglich als
31 Allerdings ist diese Arbeit in ihrer methodischen Reflexion durch grobe Vereinfachung und Ungenauigkeit geprägt, etwa wenn die Autorin feststellt: „als Text ist der Brief Literatur, als Anrede
und Selbstaussprache ist er kommunikativer Akt“ (Anne Overlack: Was geschieht im Brief?
Strukturen der Briefkommunikation bei Else Lasker-Schüler und Hugo von Hofmannsthal. Tübingen 1993. S. 227) oder: „der literarische Charakter, der dem kommunikativen Ereignis ‚Brief‘
durch die Verschriftlichung zuwächst, nähert ihn den klassisch fiktionalen Textsorten an.“ (Ebd.)
Die theoretischen Überlegungen zur Gattung ‚Brief‘ hätten an dem Punkt zu beginnen, an dem
Overlack aufhört: bei der Frage nach dem genauen Zusammenhang zwischen Schriftlichkeit, Literarizität und Fiktionalität.
32 Alexander Košenina: „Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch“. A.a.O., S. 242.
33 Vgl. Günther Fetzer: Das Briefwerk Hugo von Hofmannsthals. Modelle für die Edition umfangreicher Korrespondenzen. Marbach am Neckar 1980. S. 15; Joachim W. Storck: Das Briefwerk.
In: Manfred Engel (Hg.): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2004.
S. 498-506; hier S. 498.
34 Alexander Košenina: „Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch“. A.a.O., S. 243.
35 Vgl. die Dissertationen von Wolfgang Herwig: Studien zu Rilkes Briefen. Diss. (masch.) Hamburg 1951; Timothy Casey: Rilkes Briefe. Der persönliche Hintergrund seiner Dichtung und die
Entwicklung ihrer Grundthemen. Diss. (masch.) Bonn 1953; Joachim W. Storck: Rainer Maria
Rilke als Briefschreiber. Diss. (masch.) Freiburg 1957. Diese Untersuchungen sind nicht nur
methodisch überholt, auch die editorische Situation hat sich in dem halben Jahrhundert seit ihrer
Entstehung grundlegend gewandelt – auch wenn zahlreiche Korrespondenzen Rilkes noch immer nicht publiziert sind. Allerdings nimmt die Untersuchung von Storck insofern eine Sonderrolle ein, als sie wichtige Aspekte wie die Spannung zwischen dem monologischen und dialogischen Charakter der Briefe und den Zusammenhang von epistolarer und literarischer Produktion
thematisiert. Für eine Skizze meines eigenen Forschungsansatzes vgl. meinen Aufsatz „Als ob Du
20
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
biographische oder werkgeschichtliche Dokumente gelten, werden Briefe um die
Jahrhundertwende – etwa von Angelika Ebrecht – pauschal als „Krisensymptome“,36
als „Ausdruck einer Krisenstimmung, die das bürgerliche Selbstbewußtsein um die
Jahrhundertwende erfaßt und erschüttert hatte“,37 interpretiert. Auf ähnliche Weise greift selbst der innovative und reflektierte Beitrag von Alexander Košenina zu
Hugo von Hofmannsthal als Briefschreiber auf in der Forschung tradierte Klischees zurück, wenn er die – im fiktionalen ‚Chandos-Brief‘ artikulierte – Sprachkrise auf den Autor und die Entwicklung von dessen Briefwerk überträgt.38 Die
spärliche epistolographische Forschung zur Jahrhundertwende reproduziert somit
weitgehend für die Charakterisierung der Epoche gängige Stereotype, statt nach
der spezifischen Funktion des Briefs um 1900 zu fragen.
Die Moderne um 1900 und poetisch autonome (Brief-) Texte –
der ‚Brief des Lord Chandos‘ als Modell?
Offensichtlich kommt der Gattung ‚Brief‘ nicht nur vor und um 1800, sondern,
wie sich insbesondere an den Korrespondenzen Hofmannsthals und Rilkes belegen
lässt, auch in der bislang kaum untersuchten Periode um 1900 in quantitativer wie
in qualitativer Hinsicht eine zentrale Bedeutung zu. Wie ist dies, in Anbetracht der
völlig veränderten zeit- und kulturgeschichtlichen Umstände, zu erklären? Natürbei mir eintreten könntest“. Rainer Maria Rilkes epistolare Intérieurs. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. XIX (2009), H. 3. S. 574-589. Aus einer an Bourdieu orientierten, soziologischen
Perspektive zieht Martina King in ihrer bemerkenswerten Rilke-Studie (Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke. Göttingen 2009.) in großem Umfang dessen Briefwechsel heran. Auch wenn King betont, es werde mit ihrer Untersuchung „kein Forschungsbeitrag zu
Rilkes Briefwechseln als solchen geleistet“ (ebd., S. 116), und sie tatsächlich keine Analyse einzelner Briefe oder Briefwechsel vornimmt, deutet sie die Briefe im Gegensatz zur traditionellen Forschungsliteratur dennoch nicht als inhaltliche Dokumente, sondern analysiert ihre produktive
Funktion im Rahmen von Rilkes Autorschafts-Inszenierungen. Es eröffne sich nämlich „mit dem
Briefwerk eine umfassende soziologische Perspektive auf jenen Dichter, der wie kein Zweiter als
Modell für erfolgreiche Selbststilisierung, Gemeindekonstitution und posthume Mythenbildung
gelten kann.“ (Ebd., S. 19). Völlig zu Recht beschreibt King den Brief als zentrales Medium von
Rilkes die ihm gewidmete Memorialliteratur wie die Rezeption seines Werks steuernder Selbststilisierung.
36 Angelika Ebrecht: Brieftheoretische Perspektiven von 1850 bis ins 20. Jahrhundert. In: Angelika
Ebrecht u.a. (Hgg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Stuttgart
1990. S. 239-256; hier S. 244.
37 Ebd., S. 243.
38 Vgl. Alexander Košenina: „Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch“. A.a.O., S. 250. Zum
epistolaren Werk Hofmannsthals vgl. ferner Richard Alewyn: Unendliches Gespräch. In: Ders.:
Über Hugo von Hofmannsthal. Göttingen 41967. S. 17-45; Marcel Reich-Ranicki: Hofmannsthal in seinen Briefen. In: Neue Rundschau 85 (1974), H. 1. S. 138-153; Elsbeth Dangel: Die
Inszenierung von Brüchen in Hofmannsthals Briefwechseln. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 17 (2009). S. 147-170; Jörg Schuster: Ästhetische Erziehung oder ‚Lebensdichtung‘? Briefkultur in Zeiten des Ästhetizismus. Ebd., S. 171-202.
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
21
lich fällt sofort auf, dass es sich in beiden Fällen um Epochen handelt, die durch
fundamentale Modernisierungsprozesse geprägt sind. Zeichnet sich die zweite
Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und das Entstehen der modernen Subjektivität aus, so ist für die Zeit seit
dem späten 19. Jahrhundert bekanntlich ebenfalls ein radikaler Modernisierungsschub in politisch-gesellschaftlicher ebenso wie in technischer und ökonomischer
Hinsicht festzustellen. Als Stichworte seien nur der Niedergang der monarchistisch-ständisch geprägten Gesellschaft, die rasante Industrialisierung und Urbanisierung sowie damit einhergehende Phänomene wie Mobilität, Beschleunigung
und Reizüberflutung genannt.
Vor diesem Hintergrund ist eben nicht allein zu fragen, inwiefern Briefe als
Dokumente dieser häufig als Krise wahrgenommenen rasanten Veränderungen anzusehen sind. Zu untersuchen ist vielmehr, welche textuelle und mediale Qualität
und Funktion Briefe in diesem Zeitkontext besitzen. Die zentrale Frage lautet: Gibt
es für die Briefkultur um 1900 konstitutive produktive Potentiale, Inszenierungspotentiale, die, der Briefkultur vor und um 1800 vergleichbar, aus der spezifischen
Medialität des Briefs resultieren und die es entsprechend erlauben würden, ihm einen über das rein Dokumentarische hinausgehenden Status zuzubilligen? Eine Krise des Briefs nämlich, das belegt die enorme epistolare Produktion, gibt es zu dieser
Zeit – trotz der Konkurrenz neuer Kommunikationsmittel wie insbesondere des
Telefons – nicht.39
Diese Frage nach den produktiven Potentialen führt zu einer weiteren Perspektive der Untersuchung. Zu analysieren ist der Brief natürlich nicht allein im Kontext des radikalen gesellschaftlichen Umbruchs der Zeit, sondern insbesondere
auch im Rahmen der ästhetischen Moderne um 1900. Bekanntlich zeichnen sich
auf Realismus und Naturalismus reagierende Strömungen wie Décadence, Ästhetizismus, Impressionismus, Jugendstil und Symbolismus sowie der – in mancher
Hinsicht als gegenläufige Bewegung anzusehende – Expressionismus durch die
Tendenz zur Autonomisierung des sprachlichen Materials aus; ähnliches gilt für die
Bildende Kunst und die Musik der Zeit – man denke an den Beginn der abstrakten
Malerei bei Wassily Kandinsky oder die Zwölftonmusik Arnold Schönbergs. Unter
Berufung auf das Konzept der ‚art pour l’art‘ und die ‚poésie pure‘ wird seit dem
39 Die Situation ändert sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts entscheidend, indem der Brief als Medium der persönlichen Distanzkommunikation – gerade auch im privaten Bereich – zunächst
zunehmend durch das Telefon abgelöst wird und schließlich um die Jahrtausendwende durch die
Konkurrenz der elektronischen Medien einen radikalen Bedeutungsverlust erfährt. Auffallend ist
in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur, dass dem Brief, gerade indem er die Kommunikation per E-Mail und SMS häufig nur noch zu besonderen Situationen (wie feierlichen Anlässen
oder gravierenden Auseinandersetzungen) ersetzt, eine neue Dignität zukommt; bemerkenswert
ist insbesondere, dass die der persönlichen schriftlichen Distanzkommunikation inhärenten Inszenierungs- und Täuschungspotentiale, die im Fall des Briefs eine lange Tradition besitzen, in
der elektronischen Kommunikation ein völlig neues Ausmaß erfahren – man denke nur an die
Möglichkeit, sich im ‚Chat‘ als eine völlig andere Person auszugeben. Vgl. zum Komplex des
Medienwandels Joachim R. Höflich, Julian Gebhardt (Hgg.): Vermittlungskulturen im Wandel.
Brief – E-Mail – SMS. Frankfurt am Main u.a. 2003.
22
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
ausgehenden 19. Jahrhundert eine auf suggestiv-evokative Wirkung zielende hermetische, vom ‚Realen‘ und von jeglicher pragmatisch-lebenspraktischer Zweckbestimmung befreite Dichtung propagiert.40
Dass dies nicht ohne Folgen für das autobiographische Schreiben blieb, hat
Manfred Schneider in seiner Untersuchung „Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert“ eindringlich belegt. Wird im 18. Jahrhundert Subjektivität sprachlich hervorgebracht, so verschwindet das Subjekt nun
gewissermaßen im autonom gewordenen Text: „Der autobiographische Text des
20. Jahrhunderts, der die große prunkvolle Erscheinung der Schrift in ihrer Materialität und Uninterpretierbarkeit vollzieht, er schenkt dem Leser […] keine Identitätszeichen mehr.“41 Es gehe in der Autobiographie der Moderne gerade nicht
mehr um Selbstoffenbarung, sondern vielmehr um die „Anstrengung der Selbstauslöschung in der Schrift, in der Produktion eines unerkennbaren poetischen
Doppels der eigenen Person.“42 An die Stelle der Subjektivität tritt somit „ein symbolischer Körper poetischer Effekte“.43
Auch der Brief ist eine autobiographische Gattung. Blickt man im Licht von
Manfred Schneiders Untersuchung auf den wohl berühmtesten ‚Brief‘ der Zeit,
den mit der autobiographischen Form allerdings nur spielenden, fingierten Brief
des Lord Chandos, so scheint auch er den Paradigmenwechsel vom subjektiven
Bekenntnis hin zur poetischen Autonomie zu bestätigen. Chandos entzieht sich in
seinem programmatisch ‚letzten‘ Brief, der das Geständnis enthält, nicht mehr zusammenhängend denken und sprechen zu können, – jedenfalls vorgeblich – den
Ansprüchen weiterer Kommunikation und Konfession. Doch gerade unter diesem
Vorwand eines ‚letzten‘ persönlichen Bekenntnisses und des angekündigten Kommunikationsabbruchs erschließt er beinahe unbegrenzte semiotische Potentiale,
die den Befund einer Sprachkrise Lügen strafen. In Momenten epiphanischen Er-
40 Angeführt seien hierzu aus der längst unüberschaubar gewordenen Masse an Forschungsliteratur
exemplarisch als für den hier verhandelten Problemzusammenhang wichtige Beiträge: Paul Hoffmann: Symbolismus. München 1987; Dieter Borchmeyer, Viktor Žmegač (Hgg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen 21994; Moritz Baßler u.a.: Historismus und literarische
Moderne. Tübingen 1996; Renate Werner: Art. ‚Ästhetizismus‘. In: Klaus Weimar u.a. (Hgg.):
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin, New York 1997. S. 20-23; Peter
Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis
zur Jahrhundertwende. München 1998; ders.: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 19001918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begr. von Helmut de
Boor und Richard Newald. Bd. 9.1 und 9.2); Annette Simonis: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne. Tübingen 2000.
41 Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München, Wien 1986. S. 46; an neueren Untersuchungen zur Autobiographie vgl. Martina
Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000; Carola Hilmes: Das inventarische
und das inventorische Ich. Grenzfälle des Autobiographischen. Heidelberg 2000; Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart 2000.
42 Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. A.a.O., S. 46.
43 Ebd.
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
23
lebens, so Chandos, bedeuteten ihm alle Dinge mehr und anderes als sie selbst, es
scheine ihm „alles, alles, was es gibt, […] etwas zu sein“:44
In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer,
ein verkümmerter Apfelbaum, ein sich über den Hügel schlängelnder Karrenweg, ein
moosbewachsener Stein mir mehr, als die schönste, hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist. Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe
entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen
vermag.45
Innerhalb der Fiktion des Briefs – und damit zugleich in Form eines performativen
Widerspruchs – wird der intersubjektive Austausch mit Brief- oder Gesprächspartnern durch sprachlich virtuos (hier in Form des hyperbolischen Vergleichs) inszenierte solipsistische Bewusstseinszustände und die Illusion einer Einheit mit der
Außenwelt ersetzt, an die Stelle der Kommunikation tritt vorgeblich „eine Sprache,
in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen“.46
Wie Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“47 besitzt der ‚Chandos-Brief‘ paradigmatische Bedeutung für die literaturgeschichtliche Situation und
die Briefkultur seiner Entstehungszeit – auch wenn es sich in beiden Fällen nicht
um Briefe, sondern um fiktionale Texte handelt. Der Briefschreiber Werther inszeniert sich als in höchstem Maß empfindsames Subjekt. Dass diese Inszenierung
ihm so ausgezeichnet gelingt, ist zum einen darauf zurückzuführen, dass er sich
durch literarische Vorbilder wie Klopstock oder Ossian schriftlich selbst stimuliert,
zum anderen darauf, dass die Geliebte Lotte ihm als (unerreichbare) Projektionsfläche für seine überströmenden Empfindungen dient. Durch die Schrift und in
der Schrift wird die eigene Einbildungskraft befeuert und entfernt sich Werther
immer mehr von der Realität – die Serialität seiner einsam-monologischen Briefproduktion verweist auf den Teufelskreis der sich gegenseitig perpetuierenden Momente Schrift und Einbildungskraft. Bringt das empfindsame Subjekt sich auf diese Weise selbst hervor, so kann es sich schließlich auch nur selbst wieder eliminieren – die existenzielle Bedeutung des suchthaften Gebrauchs von Schrift und Einbildungskraft könnte nicht deutlicher demonstriert werden als durch den Selbstmord Werthers.
44 Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Ders.: Gesammelte Werke. Erzählungen, Erfundene
Gespräche und Briefe, Reisen. Hg. Bernd Schoeller. Frankfurt am Main 1979. S. 461-472; hier
S. 469. Zum ‚Chandos-Brief‘ und seiner umfassenden Rezeptionsgeschichte s.u. Kap. II. 2. c),
S. 147 ff.
45 Ebd.
46 Ebd., S. 472.
47 Vgl. hierzu an neuerer Forschungsliteratur Edith Anna Kunz: „Ich werde, wie gewöhnlich,
schlecht erzählen …“ Zu den Briefen des jungen Werther. In: Johannes Anderegg: Schreibe mir
oft! A.a.O., S. 70-81; Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion.
Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A.
Hoffmann. München 2008. S. 233-284; Harald Neumeyer: Anomalien, Autonomien und das
Unbewusste. Selbstmord in Wissenschaft und Literatur von 1700 bis 1800. Göttingen 2009.
S. 151-205.
24
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
Dem Teufelskreis der „Leiden des jungen Werthers“ kontrastiert der performative
Widerspruch des ‚Chandos-Briefs‘: Unter dem Vorwand, die eigene Sprachkrise zu
beklagen, kommt es dort zur höchst virtuosen Textproduktion. Der Briefschreiber
bezahlt für seine solipsistische Imagination nicht mit dem Leben, sondern verdankt
ihr die (labile) Illusion einer epiphanischen Einheit mit der Außenwelt samt enormer semiotisch-poetischer Effekte. Die Frage nach dem innovativen Charakter des
Briefs in der Moderne könnte vor diesem Hintergrund wie folgt beantwortet werden: Es geht um 1900 nicht mehr wie im späten 18. Jahrhundert um die Herstellung und Inszenierung von Subjektivität; von entscheidender Bedeutung ist aber
auch nicht die viel beschworene Krise des Subjekts oder der Sprache – diese fungiert weit eher als Vorwand für die Produktion eines weitgehend autonomen poetischen Texts.
Allerdings macht man es sich zu einfach, wenn man von einem fingierten Brief
wie dem des Lord Chandos auf die Briefkultur einer ganzen Epoche schließt. Ein
solcher Text kann indizierend wirken, er mag heuristischen Wert für die Gattung
‚Brief‘ besitzen; dennoch handelt es sich eben um einen fiktionalen Prosatext mit
eigenen Lizenzen und poetischen Verfahren. Aus diesem Grund sollen solche fiktionale Brieftexte – bis auf einen kurzen Exkurs – bewusst ausgeklammert werden.
Wie in programmatisch intensiver Textarbeit zu belegen sein wird, steigt die Komplexität der Probleme, wenn man sich der tatsächlichen Briefkommunikation, den
um 1900 tatsächlich postalisch zugestellten Briefen zuwendet. Denn wie verhält es
sich mit dem produktiven Potential der Sprachautonomie im Fall von Texten, die
primär auf pragmatische Weise der Alltagskommunikation dienen? Ganz konkret
dienen Briefe doch häufig dem Zweck, sich im Leben einzurichten, sich lebensweltlich zu arrangieren.
„Kunstleben“ – Briefkultur um 1900
Das Sich-Einrichten, Sich-Arrangieren mittels Briefen mag auf den ersten Blick als
eine Banalität erscheinen; bei näherem Hinsehen entpuppt es sich als spezifische
Qualität der Gattung um 1900. Changiert der Brief generell zwischen Gebrauchswert und literarischem Anspruch, zwischen Privatheit und öffentlicher Geltung,
zwischen vermeintlicher Authentizität und Inszenierung, zwischen Faktualität und
Fiktionalität, so besteht die Spannung zwischen Leben und Kunst für die ‚Jahrhundertwende‘ auf besondere Weise – und dies nicht nur aufgrund des epochenspezifischen Phänomens der Autonomisierung des ästhetischen Materials. Maßgeblich
für die Zeit sind nicht allein solche ästhetische Innovationen. Von entscheidender
Bedeutung ist auch, dass sich zu den bereits genannten sozial- und zeitgeschichtlichen Entwicklungen wie Industrialisierung und Urbanisierung um 1900 eine Gegenbewegung formiert, die sich, an Nietzsches Einheit und Ganzheit suggerierendes, die Momente des Leibs und des Dionysischen implizierendes Konzept der
‚Lebensbejahung‘ anknüpfend, emphatisch auf den Zentralbegriff des ‚Lebens‘
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
25
beruft. Dieses Schlagwort wird von Soziologen und Philosophen wie Georg Simmel oder Henri Bergson und insbesondere von vielen Künstlern der Zeit begeistert
aufgenommen.48
Gewissermaßen als ein ‚retour à la nature‘ unter den Bedingungen der industrialisierten Gesellschaft der Moderne sowie als Opposition gegen das repressiv-militaristische Klima des wilhelminischen Deutschland entsteht die Bewegung der Lebensreform.49 Auf der Ebene der Alltagskultur wird das Heil in Alkoholabstinenz
und vegetarischem Essen, betonter Körperlichkeit, etwa im Zeichen der Freikörperkultur oder des Ausdruckstanzes, im Barfußgehen und im Gründen ländlicher
Kolonien gesehen, in denen alternative Lebensformen praktiziert und neue künstlerische Bestrebungen verfolgt werden. Beispiele sind die Künstlerkolonien Hellerau, Darmstadt, Worpswede oder Monte Verita. Rainer Maria Rilke war ein begeisterter Anhänger dieser Ideen, der Vitalismus des „Cornet“ und teilweise auch des
„Stundenbuchs“ sind nur vor diesem Hintergrund angemessen zu verstehen.50
Doch auch der symbolistische Gegenspieler Hugo von Hofmannsthal51 beruft
sich emphatisch auf das ‚Leben‘. Topische Beispiele für die Antinomie von Kunst
und Leben sind die frühen lyrischen Dramen Hofmannsthals wie „Gestern“ oder
„Der Tor und der Tod“.52 Als Schlüsselbegriff fungiert das ‚Leben‘ aber auch in
einem Text, der bezeichnenderweise wiederum mit der Gattung ‚Brief‘ spielt, den
1907/08 publizierten „Briefen des Zurückgekehrten“. Wie der berühmtere ‚Chandos-Brief‘ besitzen auch sie symptomatischen Charakter. Der Lebenskult ist hier
offensichtlich, programmatisch wird von einer „Frömmigkeit des Lebens“53 gesprochen. Was der nach einer jahrelangen Weltreise aus der Fremde zurückgekehr-
48 Vgl. Rudolf Reuber: Ästhetische Lebensformen bei Nietzsche. München 1988; Angela Sendlinger: Lebenspathos und Décadence um 1900. Studien zur Dialektik der Décadence und der Lebensphilosophie am Beispiel Eduard von Keyserlings und Georg Simmels. Frankfurt am Main
u.a. 1994; Alexander Hogh: Nietzsches Lebensbegriff. Versuch einer Rekonstruktion. Stuttgart,
Weimar 2000.
49 Vgl. hierzu Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um
die Jahrhundertwende. Frankfurt am Main 1997; Kai Buchholz u.a. (Hgg.): Die Lebensreform.
Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bde. Darmstadt 2001.
50 Vgl. hierzu die allerdings nur bedingt kulturgeschichtlich ausgerichtete und das Frühwerk unverständlicher Weise gerade ausklammernde Studie von Michael Kahl: Lebensphilosophie und Ästhetik. Zu Rilkes Werk 1902-1910. Freiburg im Breisgau 1999.
51 Zum Verhältnis und Vergleich zwischen Hofmannsthal und Rilke vgl. Joachim W. Storck:
Nachbarschaft und Polarität. Überlegungen zum Hintergrund des Briefwechsels zwischen Hugo
von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke. In: Modern Austrian Literature 15 (1982), Nr. 3/4
S. 337-370; Egon Schwarz: Noch einmal Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke. In:
Sigrid Bauschinger, Susan L. Cocalis (Hgg.): Rilke-Rezeptionen / Rilke reconsidered. Tübingen,
Basel 1995. S. 15-25; Uwe C. Steiner: Die Zeit der Schrift. Die Krise der Schrift und die Vergänglichkeit der Gleichnisse bei Hofmannsthal und Rilke. München 1996.
52 Vgl. hierzu insbesondere Gregor Streim: Das „Leben“ in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal. Würzburg 1996.
53 Hugo von Hofmannsthal: Die Briefe des Zurückgekehrten. In: Ders.: Gesammelte Werke. Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. A.a.O., S. 544-571; hier S. 555. s.u. Kap.
II. 2. c), S. 156 ff.
26
KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
te Briefschreiber im wilhelminischen Deutschland vermisst, ist die ‚Einheit des
Lebens‘.
Allerdings ist das Ideal der Homogenität, an dem der Zurückgekehrte die wilhelminische Gesellschaft misst, ein artifiziell-ästhetisches. Das Bild von Deutschland, das er in der Fremde in sich kultiviert hat, ist geprägt durch Goethes
„Werther“ und „Wilhelm Meister“ sowie durch Kupferstiche Albrecht Dürers. Es
kann daher nicht verwundern, dass die subjektive ‚Bewältigung‘ der durch die
deutsche Gesellschaft der Jahrhundertwende hervorgerufenen Krisenerfahrung
ebenfalls nur auf ästhetischem Wege erfolgen kann. Sie verdankt sich wie im Fall
des Lord Chandos einem Epiphanieerlebnis, das hier allerdings nicht durch beliebige Gegenstände, sondern durch Bilder van Goghs bewirkt wird. Die künstlerisch
dargestellten Gegenstände rufen genau jene Wirkung hervor, derer der Briefschreiber bedarf, sie heben sich ihm „wie neugeboren aus dem furchtbaren Chaos des
Nichtlebens, aus dem Abgrund der Wesenlosigkeit entgegen[…]“.54 KohärenzErfahrung, so suggerieren es die „Briefe des Zurückgekehrten“, ist unter den Bedingungen der Moderne nur noch ästhetisch möglich, die gesuchte Einheit und
Ganzheit des Lebens ist nicht im Leben, sondern nur in der Kunst zu finden.
Diese Kippbewegung vom Leben zur Kunst ist symptomatisch für die kulturgeschichtliche Situation um 1900. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend,
dass die Bewegung der Lebensreform im völlig durchgestalteten Gesamtkunstwerk
der Jugendstil-Architektur kulminiert, wie es etwa Henry van de Velde realisiert.
Insbesondere im Interieur des Jugendstils ist alles einheitlich durchstilisiert, von
den Tapeten und Möbeln über die Form der Türklinken und das Design des Bestecks und Geschirrs bis hin zum Schnitt der Reformkleidung der Menschen, die
sich in den Räumen aufhalten.55 Die inhaltliche Unbestimmtheit des monistischen
Lebens-Credos wird ästhetisch kompensiert. Das Schlagwort ‚Leben‘ steht – gegen
die chaotische moderne Reizüberflutung und Heterogenität – für Ganzheit und
Einheit; erfahrbar wird dieses Ideal jedoch nur auf ästhetischem Wege, durch
künstliche Lebens-Arrangements.
Vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund bilden „Lebenskunst“ und
„Kunstleben“ nur scheinbar Alternativen. Es handelt sich deshalb um einen zweifelhaften Rat, wenn die ehemalige Nietzsche-Freundin, Schriftstellerin und spätere
Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé, die entscheidend an Rainer Maria Rilkes
Annäherung an die Lebensreform-Bewegung beteiligt ist, ihm in einem Brief vom
10. August 1903 zu bedenken gibt, jeder müsse „sein Theil in den individuellsten
Mischungen suchen […] von Kunstleben und Lebenskunst.“56 Dass dieser Ratschlag die Antwort auf Rilkes ständige an die Mentorin gerichtete Bitten um epistolare Lebenshilfe ist, deutet bereits an, dass das Verhältnis von Kunst und Leben
54 Hugo von Hofmannsthal: Die Briefe des Zurückgekehrten. A.a.O., S. 565.
55 Vgl. hierzu den Exkurs zur Interieur-Konzeption um 1900 in Kap. III. 3. d), S. 334 ff.
56 Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Hg. Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main
2
1979. S. 100.
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in der realen Briefkommunikation noch weitaus prekärer ist als in den ‚erfundenen
Briefen‘ Hofmannsthals.
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die Antinomie von ‚Kunst‘
und ‚Leben‘, die Andreas-Salomé in ihrem Brief thematisiert, nicht nur von enormer kulturgeschichtlicher Bedeutung für die Zeit um 1900 ist, sondern eben auch in
medialer Hinsicht konstitutiv für die Gattung ‚Brief‘ ist. Damit ist angedeutet, worin
die produktive Leistung des Briefs um 1900 bestehen könnte: Es geht um die Inszenierung des ‚Lebens‘ in Schriftform, häufig an der Grenze zur Poetisierung und Ästhetisierung.57 Rilke spricht gegenüber seinen Briefpartnern (und vor allem -partnerinnen) die Erwartung aus, „daß ich immer wieder von Ihrem Leben werde lesen
dürfen“.58 Er schätzt seine Briefbekanntschaften als „Leben aufschließend, Reichtum und Weite, Bilder hinter Bildern, Beziehungen und Einsichten; […] wie gibt
sich immer Neues noch aus Ihren Briefen und Aufzeichnungen heraus in unsere
Hände.“59
Das „Leben“, das der Dichter auf diese Weise rezipiert, speist sich dabei aus dem
Thesaurus des literarisch-ästhetischen Diskurses der Jahrhundertwende, des Jugendstils: „Ich habe Deinen Brief, […] der mich wie mit einer Welle anrührt, so
stark und rauschend, der mich wie mit Gärten umgiebt und mit Himmeln
überbaut“.60 Das Leben der Briefpartner wird als Kunstwerk rezipiert: „Sie haben,
starke Freundin, aus Ihrem jungen Leben ein Gedicht gemacht […], eine helle
Hymne mit vollen glänzenden Klängen“.61 Dabei wird durchaus reflektiert, dass es
sich bei dieser Literarisierung um eine Leistung des Briefschreibers handelt, der
selbst die „Hymne“ verfasst, die in der sakralen Geste des ‚Segnens‘ gipfelt: „Also
Gräfin, lassen Sie sich diese Hymne gefallen […]. Ich segne Sie.“62 Ironisch verkürzt bringt Carl J. Burckhardt diese Rilkesche Brief-Ästhetik auf den Punkt, wenn
er bemerkt: „Briefe schreibt er wie ein Goldschmied Schmuck anfertigt“.63 Das
Briefschreiben und das Kunstgewerbe scheinen nicht allzu weit voneinander entfernt. Es könnte sich bei Briefen um 1900 tatsächlich um Formen der Gebrauchskunst handeln, die durch das inszenatorische Potential der Gattung mittels einer
57 Im Hinblick auf die um 1900 grassierende Lektüre von Briefen – etwa Julie de Lespinasses (17321776), des jungen Goethe, Bettine von Arnims oder Caroline Schlegels – bemerkt Alexander
Košenina daher zu Recht: „Gesucht wird darin meist das Leben, möglichst der Jugend, mithin
also die Zauberkategorie des Fin de Siècle.“ (Alexander Košenina: „Der wahre Brief ist seiner
Natur nach poetisch“. A.a.O., S. 247.)
58 An Marietta Freiin von Nordeck zur Rabenau, 14.4.1910. Rainer Maria Rilke: Briefe. Hg. vom
Rilke-Archiv in Weimar. In Verbindung mit Ruth Sieber Rilke besorgt durch Karl Altheim.
Frankfurt am Main 21966. Bd. 1. S. 263.
59 An Gräfin Mary Gneisenau, 11.9.1906. Ebd., S. 138.
60 An Lou Andreas-Salomé, 11.8.1900. Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel.
A.a.O., S. 42; Hervorhebungen durch J.S.
61 An Gräfin Franziska Reventlow, vermutl. Jan. 1898. Rainer Maria Rilke: Briefe. Hg. v. RilkeArchiv in Weimar. A.a.O., Bd. 1. S. 12.
62 Ebd.
63 Carl J. Burckhardt an Hugo von Hofmannsthal, Oktober 1920. Hugo von Hofmannsthal, Carl
J. Burckhardt: Briefwechsel. Hgg. Carl J. Burckhardt, Claudia Mertz-Rychner. Frankfurt am
Main 1991. S. 49.
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KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
ästhetizistischen Gestaltung der Lebenswirklichkeit, dem Jugendstil vergleichbar, auf
die Herausforderungen der Moderne reagieren.
Die Bezeichnung ‚um 1900‘ ist dabei cum grano salis zu verstehen. Gerade in
den Briefen Hofmannsthals und Rilkes ist ‚die Jahrhundertwende‘ im kultur- und
ästhetikgeschichtlichen Sinne bis weit ins 20. Jahrhundert verlängert; die gleichen
ästhetischen Konzepte und medialen Funktionen sind, durch die Erfahrung des
Zivilisationsbruchs des Ersten Weltkriegs modifiziert, zum Teil aber auch durch sie
verstärkt, bis in die 1920er-Jahre virulent. Die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zeichnen sich in extremer Weise durch die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ (Ernst Bloch) aus. Bereits unmittelbar nach der Jahrhundertwende werden neben den Briefen Hofmannsthals und Rilkes, die kunstgewerblich hergestellte Ganzheit und Einheit suggerieren, Briefe geschrieben, die von ästhetizistischem
Harmoniebestreben weit entfernt sind. Else Lasker-Schüler unterminiert durch
exzessive provokative Rollenspiele, in denen sie die Briefpartner gewaltsam mit
„fiktiven Identitäten“64 ausstattet und durch den Abbruch der Beziehung bestraft,
wenn sie die von ihr aufgestellten Spielregeln nicht befolgen, den kommunikativen
Austausch ebenso wie Franz Kafka, der (paradigmatisch im Fall der Geliebten Felice Bauer) auf dem Weg der schriftlichen Kommunikation Beziehungen aufbaut,
nur um sofort wieder auf ihre Destruktion hinzuarbeiten.65 Allerdings praktizieren,
wie zu sehen sein wird, auch Hofmannsthal und Rilke auf ihre Weise extreme
Formen der epistolaren Kommunikation.
Brief und Kulturpoetik
Durch den – eher heuristisch wertvollen – Blick auf Hugo von Hofmannsthals
„Briefe des Zurückgekehrten“ und eine erste flüchtige Beschäftigung mit einigen
Briefen Rilkes konnte im vorigen Abschnitt angedeutet werden, was es heißt, den
Status von Briefen innerhalb des literarisch-kulturellen Felds um 1900 zu analysieren. Für einen Zeitabschnitt, in dem der Terminus ‚Leben‘ als zentrales Schlagwort
fungiert, kann gerade diese Gattung zum Probierstein werden. Anhand dieser im
Spannungsfeld zwischen Leben und Kunst, ‚Wirklichkeit‘ und Literatur, scheinbarer Authentizität und Inszenierung angesiedelten Texte wird das ‚Leben‘, das um
1900 in (Populär-) Philosophie, Pädagogik, Kunst, Literatur und Gesellschaft (‚Jugendbewegung‘, ‚Lebensreform‘) propagiert wird, in seiner kulturell-textuellen Gemachtheit und Artifizialität fassbar.
Briefe sind somit eben nicht als bloße inhaltliche Dokumente zu behandeln und
im Sinne authentischer Quellen für das Leben eines Autors oder eine geschichtliche Situation zu interpretieren. Auch die Untersuchungen zur Epistolarkultur um
1800 analysieren Briefe ja nicht als Dokumente, in denen Subjektivität widerge64 Anne Overlack: Was geschieht im Brief? A.a.O., S. 157.
65 S.u., Kap. IV, S. 390 ff.
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spiegelt oder reproduziert würde, sondern zeigen, wie – aufgrund des Charakters
des Briefs als Distanzmedium der persönlichen Kommunikation und der daraus
resultierenden Inszenierungsmöglichkeiten – in Briefen Subjektivität hergestellt
wird. Eine ähnliche interpretatorische Arbeit wurde für den Brief um 1900 noch
nicht geleistet. Wie ist also vorzugehen, um die Frage nach der Funktion und nach
dem symptomatischen Charakter des Briefs für die Kulturgeschichte um 1900 zu
beantworten?
Sollen hier weniger die technisch-administrativen Möglichkeitsbedingungen
der Briefkommunikation analysiert werden, wie dies Bernhard Siegert auf eigenwillige Weise unternommen hat,66 sondern vielmehr die Machart und die Funktion
des Briefs in einem bestimmten kulturellen Kontext, so bietet sich ein Vorgehen an,
das sich – eher als an der Foucaultschen Diskursanalyse oder an Bourdieus Feldtheorie – an Positionen der Kulturpoetik orientiert. Im Grunde nämlich geht es auch
in der folgenden Untersuchung um die methodische Gretchenfrage: „Wie kann
Literaturwissenschaft der Komplexität ihres Gegenstands, des Textes in der Kultur,
analytisch gerecht werden?“67 Der Lösungsansatz der Kulturpoetik besteht, das
reichlich plakative methodologische Schlagwort ‚Kultur als Text‘68 aufgreifend, in
einer Applikation des Prinzips der Intertextualität auf den gesamten Bereich der
Kultur. Dieser Ansatz besitzt gerade für die Auseinandersetzung mit Briefen, die
doch zunächst einmal primär eine Funktion in Bezug auf die intersubjektive Kommunikation zu besitzen scheinen, einen hohen Reiz, denn:
Die Texte einer Kultur […] bilden in ihrer Gesamtheit einen Objektbereich […].
Das bedeutet, […] daß Texte noch von einer anderen Position als der des Empfängers her lesbar sind, von einer objektivierenden Position außerhalb des Kommunikationsmodells, die den Text […] – gut strukturalistisch – aus seinem Verhältnis und
seiner Differenz zu den anderen Texten seiner Kultur heraus versteht.69
Dieser Ansatz blendet zwar aus, dass kulturelle und kommunikative Phänomene in
ihrem gegenwärtigen Vollzug immer mehr und anderes sind als nur Text – dass
also etwa Briefe für ihre Absender und Adressaten eine kommunikative Realität
herstellen, die über die reine Textualität hinausgeht. Richtig ist aber (aus der Pers66 Vgl. Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-1913. Berlin
1993.
67 Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche
Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005. S. 1.
68 Vgl. zu diesem Schlagwort aus anthropologisch-ethnologischer Perspektive Doris Bachmann-Medick (Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Tübingen, Basel 22004. S. 7-64), die als Ziel angibt, „im Horizont der Metapher
von Kultur als Text Zugang zu den Selbstbeschreibungsdimensionen einer Gesellschaft zu gewinnen.“ (Ebd., S. 10; Hervorhebung J.S.) Demgegenüber spricht Baßler, in produktiver Weiterentwicklung von Positionen des New Historicism, vom Versuch, „das theoretisch-methodische Instrument einer nicht-metaphorisch verstandenen ‚Textualität der Kultur‘ so scharf wie möglich zu
machen.“ (Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. A.a.O., S. VI; Hervorhebung J.S.). Kultur sei nämlich überhaupt nur insoweit interpretierbar, als sie in textueller Form
vorliege.
69 Ebd., S. 65.
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KULTURPOETIK DES BRIEFS UM 1900
pektive des Interpreten), dass solche Phänomene nur insofern analysiert werden
können, als sie als ‚gespeicherter‘, eine wiederholte Lektüre ermöglichender ‚Text‘
(in einem erweiterten Sinne des Wortes) zugänglich sind. Da die Subjekte des Absenders und des Adressaten der literatur- und kulturwissenschaftlichen Analyse
nicht zugänglich sind, empfiehlt sich in der Tat die Konzentration auf die Analyse
von Texten – ohne zu ignorieren, dass diese Texte einmal kommunikative Zwecke
verfolgten, aber auch im Wissen, dass die ‚Rekonstruktion‘ ihrer kommunikativen
Realität wiederum nur mittels Texten und nie vollständig möglich ist.
Zur Analyse der kommunikativen Funktion eines Briefs treten jedenfalls drei
weitere Aspekte hinzu, die für die „Komplexität [des] Gegenstands, des Textes in
der Kultur“, von zentraler Bedeutung sind. Erstens handelt es sich bei den Briefen
Hofmannsthals und Rilkes, auch aufgrund ihres partiellen Charakters der monologischen Imagination, häufig um hochkomplexe Texte von großer poetischer Intensität, die durchaus im Horizont der Sprachautonomie der symbolistischen Dichtung zu analysieren sind.70 Dies hat auch, aber nicht nur damit zu tun, dass es sich
um Briefe von Schriftstellern handelt, die, spätestens seit Goethe, häufig im Blick
auf eine spätere potentielle Veröffentlichung hin geschrieben werden.71 Ein zweiter
zentraler Aspekt für die Analyse ist darin zu sehen, dass die Briefe Hofmannsthals
und Rilkes in hohem Maße mit ‚kultureller Energie‘ (Stephen Greenblatt) aufgeladen sind. Das ist wiederum nicht einfach darauf zurückzuführen, dass mittels Briefen sozial interagiert, kommuniziert wird. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr, wie zu zeigen sein wird, dass sich die Autoren in ihren Briefen und mittels
ihrer Briefe als tagesaktuellen autobiographischen und zugleich pragmatischen
Texten ihres Lebens versichern, sich ganz konkret lebensweltlich arrangieren, einrichten und dieses ‚Leben‘, diese Lebenswelt – zumindest implizit – am emphatischen
70 Dies gilt übrigens für die Korrespondenz, die Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke
zwischen 1899 und 1925 miteinander führten, gerade nicht. Es handelt sich um einen relativ
schmalen, insgesamt nur 58 Briefe und Billets umfassenden Briefwechsel, der kaum über den
sachlich-höflichen beruflichen Austausch zweier Dichter hinausgeht; vgl. Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke: Briefwechsel. 1899-1925. Hgg. Rudolf Hirsch, Ingeborg Schnack.
Frankfurt am Main 1978. Aus diesem Grund vertritt Joachim W. Storck (Nachbarschaft und
Polarität. Überlegungen zum Hintergrund des Briefwechsels zwischen Hugo von Hofmannsthal
und Rainer Maria Rilke. A.a.O.; hier S. 338) die These, gerade die „Aussparungen, welche ihre
Korrespondenz […] kennzeichnen“, seien für die Einschätzung der Beziehung von entscheidender Bedeutung. Allerdings handelt es sich bei Storcks Versuch, die Ambivalenz des Verhältnisses
auf die unterschiedliche Haltung der beiden Autoren zum „Österreichertum“ zurückzufühen,
um eine Einengung der Problematik.
71 So sah Rilke seine Briefe durchaus als einen Teil seines schriftstellerischen Werkes an, den er zur
Publikation vorschlug (s.u. Kap. III.1.a), S. 220). In Bezug auf die Frage der ‚Authentizität‘ von
Briefen ergibt sich aus dem Schielen auf die Veröffentlichung allerdings nur ein gradueller Unterschied, denn Posieren tun Briefschreiber nicht nur vor einem möglichen größeren Publikum,
sondern auch vor dem Adressaten und vor sich selbst – beim Brief handelt es sich immer um ein
potentiell öffentliches Medium. Georg Simmel spricht daher in Bezug auf den Brief von einer
„zwar nur potentielle[n], aber dafür unbegrenzte[n] ‚Öffentlichkeit‘“ (Georg Simmel: Exkurs
über den schriftlichen Verkehr. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe. Bd. 11. Hg. Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main 1992.
S. 429-433; hier S. 429).

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