Der PISA-Schock. Über die Zukunft von Bildung und Wissenschaft im

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Der PISA-Schock. Über die Zukunft von Bildung und Wissenschaft im
Der PISA-Schock.
Über die Zukunft von Bildung und Wissenschaft im Land der "Kulturnation"
Heiner Barz
1. PISA-Event und Sputnik-Schock
Die Veröffentlichung der PISA-Studie zum Jahreswechsel 2001/2002 markiert einen Einschnitt in der bundesrepublikanischen Bildungspolitik. Ähnlich wie es in den 60er Jahren
durch Dahrendorfs „Bildung ist Bürgerrecht“ und Pichts „Die Deutsche Bildungskatastrophe“
zu einer Aufbruchsstimmung im Bildungswesen, zu einer intensiven öffentlichen Debatte und
zu bildungspolitisch weitreichenden Weichenstellungen gekommen war, ereignet sich „seit
PISA“ ein bildungspolitischer Umbruch von beachtlichem Ausmaß. Natürlich waren auch
Dahrendorf und Picht nicht die alleinigen Verursacher der Bildungsreformen und der Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre – aber ihre zunächst als Artikel in Zeitschriften veröffentlichten Thesen brachten den Zeitgeist auf den Punkt und präzisierten entscheidende Argumente zur demokratietheoretischen und bildungsökonomischen Unterfütterung der pädagogischen Diskussion. Analog dazu liefert PISA der neueren Bildungspolitik die Argumente –
Kritiker meinen: den Vorwand – für die zunehmende Ausrichtung an Effizienz und
Employability, für die zunehmende Standardisierung und Internationalisierung. Gleichzeitig
geben die von der OECD koordinierten PISA-Studien mit ihrem am Grundbildungskonzept
orientierten Kompetenzmodell ein neues, im Vergleich zum neuhumanistischen Bildungsideal
geradezu epochal neues Bildungsverständnis vor und beanspruchen, mit ihrer Vorgehensweise ein transnational valides Testinstrumentarium prototypisch zu implementieren.
Ohne dass ich heute hier näher auf die PISA-Studie eingehen kann, möchte ich doch einige
Eckpunkte kurz in Erinnerung rufen. PISA testet in Abständen von jeweils drei Jahren viele
zigtausende Schüler der teilnehmenden Länder, zuletzt (2009) waren das 66 Staaten. Anders
als andere internationale Schulleistungsstudien wird dabei bewusst nicht auf eine lehrplanbezogene Validität anhand eines Abgleichs mit den nationalen Curricula Bezug genommen.
PISA beansprucht lehrplan- und klassenstufenunabhängig Basiskompetenzen zu erfassen.
Deshalb ist für die Stichprobenziehung auch nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Klassenstufe entscheidend – PISA testet vielmehr die 15jährigen, unabhängig davon, ob sie in
die 8., 9. oder 10. oder eine noch höhere oder niedrigere Klassen gehen. Einbezogen werden
1
sollen, das schreiben die PISA-Regularien vor, in jedem teilnehmenden Land Schüler aus
allen vorhandenen Schulformen in repräsentativer Verteilung. In den Testaufgaben stehen vor
allem drei Kompetenzbereiche im Mittelpunkt: Lesefähigkeit, Mathematik und naturwissenschaftliche Grundbildung. Pro Erhebungswelle stellt jeweils ein Kompetenzbereich den
Schwerpunkt. In der jüngsten, d.h. nach 2000, 2003, 2006 vierten PISA-Erhebung, deren Ergebnisse vor wenigen Wochen Anfang Dezember 2010 veröffentlicht wurden, wiederholt sich
also die Lesekompetenz als Schwerpunktsetzung.
Die erste PISA-Studie wurde im Jahr 2000 durchgeführt. Zum Jahreswechsel 2001/2002
brach dann mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der PISA-Schock über die Deutschen
herein. Was war geschehen? Die deutschen Schüler belegten in den verschiedenen internationalen Kompetenz-Rankings nur einen mittleren Platz, meist sogar einen Platz im unteren Mittelfeld. Leistungsspreizung wie kaum irgendwo sonst, hohe Anteile von Risikoschülern, denen nicht einmal die unterste von Kompetenzstufe, sondern gleichsam die Kompetenzstufe 0
attestiert wurde. Die Koppelung von sozialer Herkunft und den gemessenen Leistungsdefiziten war dabei in kaum einem anderen Land so deutlich wie in Deutschland. Schließlich trat
die Kluft zwischen Schülern mit Migrationshintergrund und Schülern ohne Migrationshintergrund massiv zutage. Die skandinavischen Länder, allen voran Finnland und ostasiatische
Staaten wie Japan oder Korea, bildeten dagegen die Spitzengruppe. Deutschland war entsetzt.
„Sind deutsche Schüler doof?“ titelte Der Spiegel1 und die PISA-Studie, die Suche nach Ursachen und Gegenmaßnahmen beherrschte monatelang die Schlagzeilen und Titelblätter der
Magazine. Finnland wurde zum gelobten Land der Bildungspolitik und Lehrerverbände. Finnische Schulen wurden zum Ziel zahlloser Pilgerreisen deutscher Delegationen und Expertengremien auf der Suche nach dem Geheimrezept für das unerwartet gute Abschneiden des
Landes der Mitternachtssonne. Später wird man sagen, der PISA-Schock hätte eine ähnlich
aufrüttelnde Wirkung gehabt, wie in den 50er Jahren der Sputnik-Schock.
Randbemerkungen zu beliebten Fehldeutungen
Über die Deutung der PISA-Ergebnisse hat es eine vieldimensionale und teilweise heftige
Auseinandersetzung gegeben. Interessanterweise sind sogar die führenden PISA-Forscher
selbst in wichtigen Fragen uneinig. Jedenfalls gehen die Ergebnisanalysen und die daraus resultierenden Veränderungsvorschläge des „PISA-Erfinders“ und internationalen PISAKoordinators Andreas Schleicher öfters in eine andere Richtung als die der Verantwortlichen
1
Der Spiegel, „Sind Deutsche Schüler doof?“, http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2001-50.html.
2
für die PISA-Studie in der BRD.2 Obwohl keine Seite wirklich Deutungshoheit beanspruchen
kann, lassen sich doch Punkte benennen, die als eindeutige Fehldeutungen zu qualifizieren
sind. Beispiel 1: Der vermeintliche Aufwärtstrend in den Naturwissenschaften bei PISA 2006,
von den verantwortlichen Bildungspolitikern gerne als Erfolg ihrer Reformbemühungen verbucht, lässt sich einfach darauf zurückführen, dass die Testaufgaben im naturwissenschaftlichen Bereich bei dieser Studie breiter angelegt waren und besser zu dem stark ökologisch und
von umweltbezogenen Fragen geprägten Unterricht in Deutschland passten.3
Beispiel 2: Die Glorifizierung von Finnland als Paradebeispiel erfolgreicher Bildungspolitik
par excellence, das in allen Bereichen beispielgebend sei, lässt sich spätestens dann nicht
mehr halten, wenn man sich die gerade auch für die deutsche Situation äußerst relevante Dimension der Integration von Migrantenkindern im Bildungssystem näher ansieht. Kennzeichnend für Finnland ist nicht nur ein äußerst geringer Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund; kennzeichnend ist obendrein, dass Migrantenkinder in Finnland im Vergleich zu Kindern ohne Migrationshintergrund in Finnland sehr viel schlechter abschneiden. Josef Kraus
(2005) weist darauf hin, dass der Rückstand von ausländischen Kindern im OECDDurchschnitt 36 Punkte hinter dem jeweiligen nationalen Mittelwert liegt, in Finnland jedoch
einen Abstand von 68 Punkten erreicht. Der Rückstand von Migrantenkindern in Deutschland
beträgt demgegenüber „nur“ 40 Punkte. 4
Beispiel 3: Das deutlich schlechtere Abschneiden von Jugendlichen mit Migrationshintergrund der zweiten Generation gegenüber Jugendlichen mit Migrationshintergrund der ersten
Generation bei PISA 2003 in Deutschland wurde vielfach als Beleg für die schlechtere Integration der jüngeren Generationen im Vergleich zu deren Elterngenerationen gedeutet. Passend
zum Stichwort „Parallelgesellschaft“ wurde dieser Befund als Indiz einer misslungenen schulischen
Anpassung
gelesen.
Dabei
wurde
allerdings
die
Zusammensetzung
der
Migrantengruppen völlig außer Acht gelassen: In der sog. ersten Generation sind indessen
mehr Kinder von Spätaussiedlern und in der zweiten Generation mehr Kinder von Arbeitsmigranten vertreten.5 Betrachtet man diese Migrantengruppen, wie es statistisch geboten ist,
2
Vgl. Interview mit Andreas Schleicher (PISA-Koordinator der OECD) und Manfred Prenzel (PISAKoordinator der BRD), Pisa gegen Pisa, in: Die Zeit vom 17.2.2005, http://www.zeit.de/2005/08/C-Interview.
3
Vgl. Richard Münch, Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von
PISA, McKinsey & Co, Frankfurt a.M. 2009. „Der Test misst also weniger die tatsächlichen Kompetenzen der
Schüler, als vielmehr die Nähe seiner eigenen Fragen zu nationalen Lehrplänen und Unterrichtskonzepten.“
(Ebd., 44).
4
Josef Kraus, Der PISA-Schwindel. Unsere Kinder sind besser als ihr Ruf, Wien 2005.
5
Vgl. Petra Stanat/Michael Segeritz, Migrationsbezogene Indikatoren für eine Bildungsberichterstattung, in:
Rudolf Tippelt (Hg.), Steuerung durch Indikatoren, Opladen 2009, 141-156.
3
getrennt, dann „erzielt die zweite Generation erwartungsgemäß bessere Leistungen als die
erste Generation.“6
2. Was hat sich seit bzw. durch PISA geändert?
Es liegt eine gewisse Ironie in der Beobachtung, dass den Kultus- und Schulministerien der
Bundesländer im Zuge des PISA-Geschehens recht unterschiedliche Rollen7 zukommen.
Einmal waren sie die Verursacher, oder wenigstens Mitverursacher, da sie im Rahmen der
KMK die Beteiligung Deutschlands an der OECD-Studie beschlossen hatten. Zweitens sind
sie konzeptionell vorgesehene Nutzer, da Steuerungswissen entsteht, das ihnen zwecks Anpassung und Innovation des Bildungssystems zur Verfügung steht. Schließlich sind sie aber
auch Betroffene aufgrund des Legitimations- und Handlungsdrucks durch die nicht erwartete
massive öffentliche Rezeption.
Kerstin Martens und Klaus Dieter Wolf haben in einer Analyse des Prozesses, an dessen Ende
der Beschluss über die Durchführung der PISA-Studie stand, darauf hingewiesen, dass die
nationalen Akteure sich der OECD als supranationaler Organisation ursprünglich bedienten
um nationale Ziele durchzusetzen. Insbesondere sollte die OECD den nationalen Regierungen
helfen, die innenpolitischen Widerstände gegen neue Steuerungsinstrumente in der Bildungspolitik zu schwächen. Allerdings hatte diese Kompetenzübertragung nicht nur intendierte,
sondern auch nicht intendierte Effekte, die sich gewissermaßen gegenüber ihren Initiatoren
verselbständigten:
„Die Analyse des PISA-Projekts zeigt, wie und warum die strategische Einbindung der
intergouvernementalen Ebene, die auf eine Manipulation innerstaatlicher Kräfteverhältnisse zugunsten nationaler Exekutiven abzielte, auf eine paradoxe Weise auf die Innenpolitik zurückwirkte und in der Folge neuen Governance-Formen und einem Verlust
staatlicher Kontrolle über die Bildungspolitik den Weg ebnete. […] Der grundlegende
Unterschied zwischen der ursprünglichen Beschäftigung der OECD mit Bildungsindikatoren und PISA bestand darin, dass Erstere – wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen – gezielt von […] Staaten initiiert worden war, während PISA als eine
unintendierte Folge aus einer der OECD aufgezwungenen Beschäftigung mit Bildungsindikatoren resultierte. […] Ähnlich unserer Annahme stellt dies auch den Ausgangs6
Ebd., 147.
7
Vgl. Klaus-Jürgen Tillmann/Kathrin Dedering/Daniel Kneuper/Christian Kuhlmann/Isa Nessel: PISA als bildungspolitisches Ereignis. Fallstudien in vier Bundesländern. 1. Aufl. Wiesbaden 2008, 19.
4
punkt des auf das Verhältnis zwischen Regierungen und internationalen angewandten
principal-agent-Ansatzes dar, demzufolge principals (in diesem Fall die Regierungen)
gewissen agents (den internationalen Organisationen) begrenzte Kompetenzen übertragen, obwohl sie wissen, dass diese auch eigene Interessen haben können.“8
Wie im berühmten Goethe-Gedicht vom Zauberlehrling wurden die Regierungen die Geister,
die sie bei der OECD geweckt hatten, offenbar in der Folge der PISA-Studien nicht mehr los.
Aber lassen wir einige Eckdaten der Reaktionen auf die erste PISA-Studie, die im Jahr 2000
durchgeführt wurde noch einmal Revue passieren:
Die Öffentlichkeit wurde über die ersten Ergebnisse am 4. Dezember 2001 informiert. Es
folgte die sofortige Verabschiedung eines „Handlungskataloges“ durch die KMK9 mit sieben
Handlungsfeldern:
1.
Verbesserung der Sprachkompetenz in unterschiedlichen Feldern
2.
Bessere Verzahnung von Vor- und Grundschule, frühzeitige Einschulung
3.
Verbesserung
der
Grundschulbildung
(Lesekompetenz,
mathematisch-
naturwissenschaftliche Kompetenz)
4.
Bessere Förderung bildungsbenachteiligter Kinder
5.
Qualitätssicherung durch verbindliche Standards & Evaluation
6.
Stärkung der diagnostischen und methodischen Kompetenz der Lehrkräfte
7.
Ausbau schulischer und außerschulischer Ganztagsangebote
Man könnte diese Sofort-Agenda ergänzen durch das Handlungsfeld Bildungsmonitoring,
also die regelmäßige Sammlung, Zusammenstellung und Aufbereitung von Indikatoren zum
Bildungswesen, die inzwischen im zweijährigen Turnus als Bildungsbericht unter dem Titel
„Bildung in Deutschland“ von einer „Arbeitsgruppe Bildungsberichterstattung“ vorgelegt
werden, zuletzt 2010, davor 2003 (erste Befunde, gleichsam als Beta-Version), 2006, 2008
mit jeweils anderem Schwerpunktthema (Migration, Übergänge, Demografie).
Ein weiteres Handlungsfeld liegt in der Einführung von Bildungsstandards: 2003 kam es zur
Vorlage konkreter Entwürfe durch die KMK (Bildungsstandards für Deutsch, Mathematik
8
Kerstin Martens/Klaus Dieter Wolf, PISA als trojanisches Pferd: Die Internationalisierung der Bildungspolitik
in der OECD, in: Sebastian Botzem/Jeanette Hofmann/Sigrid Quack/Gunnar Folke Schuppert/Holger Straßheim
(Hgg.), Governance als Prozess. Koordinationsformen im Wandel, Baden-Baden 2009, 357-376; hier: 361.
9
Vgl. Pressemitteilung der KMK vom 6.12.2001, http://www.kmk.org/presse-und-aktuelles/pm2000/pm2001
/296plenarsitzung.html.
5
und 1. Fremdsprache für den mittleren Abschluss). Sie wurden am 4. Dezember 2003 in Bonn
verabschiedet und die Länder wurden verpflichtet, die Bildungsstandards ab Schuljahr
2004/05 als Basis der fachspezifischen Anforderungen zu übernehmen. Weiter wurden im
Jahr 2004 die Bildungsstandards für die Grundschule (Jg. 4) in Deutsch und Mathematik verabschiedet, für den Hauptschulabschluss in Deutsch, Mathematik und Englisch und für den
Mittleren Abschluss in den naturwissenschaftlichen Fächern (verbindlich ab Schuljahr
2005/06). Die Idee der Bildungsstandards sieht dabei eine Umpolung von der Input- zur
Outputsteuerung vor, d.h. es wird weniger der Weg und der Inhalt vorgegeben, der in einzelnen Fächern und Schuljahren zu absolvieren ist. Vielmehr wird das Resultat definiert und mit
messbaren Indikatoren verknüpft.
Schließlich ist auch der am 4. Juni 2004 erfolgte Beschluss zur Gründung des von den Ländern gemeinsam getragenen „Instituts zu Qualitätsentwicklung im Bildungswesen – Wissenschaftliche Einrichtung der Länder“ an der Humboldt-Universität Berlin (u.a. soll hier ein
Aufgabenpool zur Standardüberprüfung entwickelt werden) nicht ohne die Post-PISA-Debatte
denkbar.
Nachdem inzwischen fast 10 Jahre seit der ersten PISA-Publikation vergangen sind, kann man
also durchaus eine starke Dynamik in der Schulpolitik feststellen. Der Ausbau der Ganztagsschulen durch das 4 Mrd. schwere „Investitionsprogramm Bildung und Betreuung“ (IZBB)
der rot-grünen Bundesregierung, die Einführung von Bildungsstandards, die Etablierung eines
regelmäßigen Bildungsmonitorings, das Zentralabitur, das inzwischen in vielen Bundesländern etabliert wurde, Lernstandserhebungen und Vergleichsarbeiten, Schulzeitverkürzung mit
„G 8“ (achtjähriges statt neunjähriges Gymnasium), frühe Sprachstandsdiagnostik und
Sprachförderungsprogramme – das sind nur die vielleicht prominentesten Stichworte zu den
seither eingeführten Neuerungen. Ebenso ist der Hochschulbereich im Umbau begriffen, veranlasst und vorangetrieben vor allem durch den sog. Bologna-Prozess und die Umstellung der
Hochschulpolitik auf Akkreditierung statt Genehmigung von Studiengängen oder die sog.
Exzellenzinitiative. Studiengebühren, Bildungsgutscheine und „Bildungsgipfel“ stellen ein
Novum in der bundesrepublikanischen Bildungsentwicklung dar. Nicht zuletzt soll der sog. U
3-Bereich (frühkindliche Bildung und Betreuung für die unter 3-jährigen) quantitativ und qualitativ stark ausgebaut werden.
Im Folgenden will ich kursorisch auf Hintergründe, Umsetzungen und Auswirkungen dieser
Maßnahmen eingehen. Dabei sollen auch die Argumente von Skeptikern und Kritikern zur
6
Sprache kommen, für die die bereits initiierten Veränderungen entweder nicht weit genug
oder sogar in die völlig falsche Richtung gehen.
3. PISA-Müdigkeit und PISA-Kritik
Ob die bildungspolitische Betriebsamkeit nach PISA sich unter dem Strich freilich als Segen
oder als Fluch für die deutsche Bildungslandschaft ausgewirkt hat, ist noch nicht abschließend
zu beurteilen. Ich werde darauf zurückkommen. Fest steht indessen, dass mit PISA und der
Vorläuferstudie TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) der Globalisierungsprozess unbestreitbar die Schule erreicht hat. Fest steht außerdem, das wurde inzwischen
in etlichen Analysen der PISA-Konzeption und ihres Bildungs- und Kompetenzverständnisses
herausgearbeitet, dass durch die PISA-Dominanz in Bildungsforschung und Bildungspolitik
eine „inhaltliche Neuausrichtung des Bildungsverständnisses von epochalem Charakter“10 auf
den Weg gebracht wurde. Kritiker sprechen sogar von einem Missbrauch von „Bildung“ als
positiv besetztes Signalwort – um etwas ganz anderes, zumindest ein radikal anders akzentuiertes Verständnis dessen, was Schule und Ausbildung leisten sollten, zu implementieren.
Indem die PISA-Forscher Bildungsdefizite von und Bildungsbenachteiligung sprechen, machen sie sich die gerade in Deutschland in Richtung auf ein humanistisches Persönlichkeitsideal gehenden Konnotationen des Bildungsbegriffs zunutze. Unter der Hand jedoch meinen
sie etwas ganz anderes.11
Auch findet sich in den PISA-Publikationen ein fast inflationärer Gebrauch des Konstrukts
„Literacy“, was man als Lesefähigkeit oder Lesekompetenz übersetzen kann. Damit ist aber
bei PISA nur gemeint: Wissen aus Texten entnehmen. Leseverständnis im Sinne von Informationslesen, Gebrauchsanweisungen verstehen, Busfahrpläne entziffern. Oder auch „Lesen um
zu Lernen“.12 Soweit sich Einblick in die Aufgaben nehmen lässt – das PISA-Konsortium
veröffentlicht nur Beispielaufgaben, also ähnliche Aufgaben wie die tatsächlich verwendeten
Aufgaben, um diese für die weitere Verwendung nicht zu verbrennen – ermittelten Kritiker,
dass nur 12% literarische Texte eingesetzt werden. Literarische Texte, ein auf Hermeneutik,
Selbstverständigung oder Welterkenntnis zielendes Erschließen von künstlerischen Dimensionen ist nicht Gegenstand von PISA: „Spezifisch ästhetische Leseweisen kommen im PISA10
Rudolf Messner, PISA und Allgemeinbildung, in: Zeitschrift für Pädagogik 3 (2003), 400-412; hier: 401.
11
Ebd.
12
Daniel Müller, Das Bildungsideal der OECD. Zur Kritik der normativen Grundlagen der PISA-Studie, in:
Kieler Berichte – Neue Folge, Beiträge aus dem Institut für Pädagogik 13 (2006), 11.
7
Lesetest nicht vor“.13 Damit wird ein Ausschnitt, nämlich die sachlogische Literacy als Ganzes der schulischen Bildung missverstanden bzw. ausgegeben. Mit der Beschränkung auf die
drei Kompetenzbereiche erfolgt eine systematische Ausklammerung von Geschichte, Sprache,
Ästhetik und Kritikfähigkeit.
Der PISA-Kritiker Messner bilanziert demzufolge in seinem Aufsatz „PISA und Allgemeinbildung“ schon 2003, dass mit PISA eine „„kulturrevolutionäre„ Neuakzentuierung schulischer Bildung [erfolge]. An die Stelle bisher in schulischen Bildungskontexten – wenigstens
ideell – dominierenden sprachlich-literarisch-ästhetischen Intellektualität (die eigentliche
‚Literalität„), tritt unter dem Zeichen des davon entliehenen Namens (‚Literacy„) nun eine
sachstrukturell-kognitive Intelligenz.“14
Diese Kritik am Bildungsverständnis, das problematische Verkürzungen aufweist, ist inzwischen vielfach aufgegriffen, präzisiert und weiter detailliert worden.
Die neue Bezugnahme auf den Kompetenzbegriff anstelle des Bildungsbegriffs wird beispielsweise in der an meinem Institut von Tabea Raidt vorgelegten Dissertation nachgezeichnet.15 Dass das bildungspolitische „Wording“ sich grundsätzlich verändert hat, wird in einem
eingehenden Vergleich der baden-württembergischen Bildungspläne von 1994 und 2004 besonders deutlich. Tabea Raidt zeigt etwa am Beispiel einer detaillierten Analyse der Lehrplanangaben zu Musik in der Grundschule16 auch die Problematik der angesprochenen Entwicklung. Die Problematik nämlich, dass die jüngeren Fortschritte der Bildungspolitik in Sachen Qualitätssicherung, Orientierung an Effizienz und anwendungsbezogenen Kompetenzmodellen durchaus janusköpfig sind. Ihnen steht jedenfalls ein Verlust an kultureller Einwurzelung und an identitätsstiftender materialer Bildung gegenüber. Im genannten Beispiel zum
Thema „Musik in der Grundschule“ bot der ältere Bildungsplan aus dem Jahr 1994 im Vergleich zu dem des Jahrs 2004 noch deutlich konkretere Hinweise:
„Er enthält den Umgang mit und das Einüben von Liedern, Regeln und Inhalten des
Musizierens, musikalische Begriffe und Zeichen, Verläufe und Strukturen von Musikstücken, Stimmbildung und die Fähigkeit zum musikalischen Hören. Zwar werden im
Bildungsplan 2004 Bereiche wie das darstellende Spiel, das Musikhören, die Umset-
13
Messner, PISA und Allgemeinbildung, aaO. (Anm. 10), 403.
14
Messner, PISA und Allgemeinbildung, aaO. (Anm. 10), 407 f.
15
Tabea Raidt, Bildungsreformen nach PISA. Paradigmenwechsel und Wertewandel, Dissertation, Düsseldorf
2010.
16
Ebd., 125 ff.
8
zung von Musik in Bewegung oder Bilder und das Gestalten einer grafischen Partitur in
Niveaukonkretisierungen beschrieben […].
[ABER:] Im Gegensatz zum Bildungsplan 2004 enthält der Bildungsplan 1994 auch das
Wecken von ‚Freude an musikalischer Tätigkeit‟ […] Zwar enthält der Bildungsplan
2004 auch die ‚Freude‟, doch in einer eher funktionalisierenden Form: die Schüler/innen sollen ‚aus praktischem musikalischem und künstlerischem Tun Freude und Zuversicht in die eigene Leistungsfähigkeit entwickeln‟.“17
Musikalische Bildung, Musik Hören und Verstehen oder sogar Musik selber machen wird im
neuen Lehrplan also verkürzt auf das Mittel zum Zweck der allgemeinen Leistungssteigerung.
Wobei die eigentlich relevanten Leistungsbereiche der Grundschule ja in vielen Bundesländern schon durch die verbindliche sog. Grundschulempfehlung auf Mathematik und Deutsch
festgelegt sind. [Ich kann mir an dieser Stelle eine kleine Nebenbemerkung nicht versagen:
„Grundschulempfehlung“, dieses Wort ist ein Etikettenschwindel par excellence insofern es
sich de facto um eine Zuweisung der Kinder am Ende der 4. Klasse auf diejenige weiterführende Schulform handelt, über die der Notendurchschnitt und die Klassenkonferenz ohne
nennenswerte Berücksichtigung von Elternwünschen entscheidet].
Ob die von PISA geprüften Kompetenzbereiche wirklich entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unserer Nation sind, wird ebenfalls oftmals in Frage gestellt. Weitere Kritik an PISA
wendet sich gegen die millionenschwere „Testeuphorie“, die mittlerweile unter den Bezeichnungen Lernstandserhebungen oder Vergleichsarbeiten fast flächendeckend die ganze Schulkarriere unserer Schüler in allen Schulformen durchziehen. Wenn es denn so wäre, wie PISA
diagnostiziert, dass die Schwäche der deutschen Schüler vor allem im eigenständigen Denken
liege, dann wird jedenfalls diese Schwäche mit genormten Tests nicht beseitigt sondern vielmehr perpetuiert. Statt die vielversprechenden Ansätze der Schulreformdiskussion der 90er
Jahre, nämlich Deregulierung und Schulautonomie fortzusetzen, führt die Testwelle zu mehr
Zentralisierung und Erstarrung in einer Fixierung auf die immer engmaschigeren, genormten
schriftlichen Prüfungen (wohlgemerkt: ohne dass damit das Abitur zwischen Bremen und
Bayern vergleichbar würde!). „Teaching for Testing“ ist das Resultat – eine nichtintendierte
Nebenwirkung, die gleichwohl am Beispiel des US-amerikanischen Bildungssystems, das sich
schon früher auf diesen Weg machte, gut dokumentiert ist. Dort18 finden sich jedenfalls viele
17
Ebd., 126.
18
Vgl. Georg Lind, Amerika als Vorbild? Erwünschte und unerwünschte Folgen von Tests, in: Pädagogik 10
(2010), 40-45.
9
Analysen die den „Kollateralschaden“ (collateral damage) durch eine forciert einseitige Testkultur auf die Art des Unterrichtens und der Schülerrekrutierung längst genau rekonstruieren.
Viele Kritiker fordern dann auch statt kurzatmigem Output-Denken, geduldig an nachhaltigen
Schulreformen zu arbeiten. Statt Ranking und Benchmarking sei didaktische Neubesinnung
notwendig. Schulinterne Evaluationsprojekte sind wichtiger als großflächige Leistungsvergleiche.
4. Blick zurück: Bildungsreform, Bildungsexpansion, Bildungsstagnation, Bildungshype
Jede Generation hat ihre Vorbilder, ihre Helden und ihre Mythen. Das gilt auch für Generationen von Bildungsforschern. Weil man in der um Nüchternheit bemühten Welt der Wissenschaft schnell Probleme bekommt, wenn man schwer operationalisierbare Begriffe wie Mythos oder Held verwendet, könnte man es auch vorsichtiger so formulieren, dass jede Generation von Bildungsexperten Themen hat, die sie mit Vorliebe bearbeitet. In den 60er Jahren
erlebte die Bildungsforschung eine erste Blüte im Zusammenhang mit dem Thema Bildungsreform.
Während Picht vor allem bildungsökonomisch argumentierte, stand in der ebenfalls äußerst
einflussreichen Buchpublikation von Ralf Dahrendorf „Bildung ist Bürgerrecht“ von 1965 die
Forderung nach Einlösung des Chancengleichheitspostulats im Zentrum. Dahrendorf fasste
die Befunde der damals von ihm mit in Gang gebrachten bildungssoziologischen Forschung
zum Thema Bildungsbenachteiligung zusammen. Aus den nachweisbaren strukturellen Benachteiligungen der Mädchen, der Landbevölkerung, der Katholiken und der Kinder aus unteren sozialen Schichten bzw. aus Arbeiterfamilien resultierte die Forderung nach einer nicht
nur formalen sondern realen Demokratisierung des Bildungssystems, das wirkliche Chancengleichheit zu ermöglichen habe. Als zentrale Intentionen der von diesen beiden Autoren maßgeblich mit auf den Weg gebrachten Bildungsreform lassen sich die Mobilisierung der „Begabungsreserven“ wegen des wachsenden Qualifikationsbedarfs der modernen Industriegesellschaft auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft, die Forderungen nach Demokratisierung und Chancengleichheit, sowie der Abbau frühzeitiger Schülerselektion benennen. Erreicht werden sollten diese Ziele u.a. durch die Mitwirkung aller Beteiligten, durch Wissenschaftsorientierung in allen Schularten, die Humanisierung des pädagogischen Umgangs und
die Reform der Schulstrukturen durch Integration unterschiedlicher Bildungsgänge. Freilich
arbeitete – wie wir insbesondere nach den neuere Forschungen zum George-Kreis von Ulrich
10
Raulff wissen – ein ganzes Netzwerk von Schulreformern, Bildungspolitikern, Soziologen,
Pädagogen bis hin zu Unternehmensführern und Publizisten an der Umsetzung dieser Ziele.19
In den 70er und 80er Jahren stand dann das Thema Bildungsexpansion ganz oben auf der
Agenda. Die eigentliche Bildungsexpansion begann nach dem Zweiten Weltkrieg: Gymnasien
und höhere Sekundarschulen wurden weiter geöffnet, die Schülerschaft hinsichtlich der sozialen Herkunft heterogener, wobei die Determinierung des Bildungsweges durch die Schichtzugehörigkeit zwar abgeschwächt, insbesondere hierzulande jedoch weiter gegeben ist.20 Die
politischen Ziele des Abbaus der Chancenungleichheit sollten realisiert werden durch einen
massiven Ausbau des Bildungswesens und einen deutlichen Anstieg der Bildungsbeteiligung
in allen Bevölkerungsschichten. So kam es zu einer Expansion des Schulwesens in allen Bereichen: seit Beginn des Bildungsexpansionsschubs in den 1960ern hat sich die Pflichtschulzeit für alle verlängert. Hinsichtlich niedriger und mittlerer Bildungsniveaus wurde Berufsbildung zum Regelfall – entsprechend stieg die Zahl der Absolventen mit qualifiziertem Berufsabschluss. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht stellt sich die Bildungsexpansion als eine kontinuierliche Höherqualifizierung der Bevölkerung dar. Bis in die 1960er Jahre hinein waren
die typischen Erwerbstätigen ungelernte Arbeitskräfte; diese stellten noch in den 1950erJahren mehr als zwei Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung. 2006 bilden sie nur noch ein
kleines, relativ stabil bleibendes Segment des Arbeitsmarktes im Umfang von 19 Prozent der
Deutschen.21
Irgendwann in den 90er Jahren entdeckten Berufsbildungsforscher, dass die gesellschaftliche
Bildungseuphorie gebrochen und der Bildungstanker zum Stillstand gekommen sei – Bildungsstagnation wurde diagnostiziert.22 Denn die Verteilung auf die Schularten bzw. der
Schulabschlüsse hat sich nicht mehr dramatisch geändert. 23
Berufsbildungsforscher weisen auf das Problem hin, dass das zukünftige qualifikationsspezifische Arbeitskräfteangebot mit den Anforderungen des Hochtechnologiestandortes BRD
nicht mehr wird mithalten können. Aufgrund des demografischen Wandels wären dem be19
Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2010.
20
Vgl. Rudolf Tippelt, Bildung und sozialer Wandel. Eine Untersuchung von Modernisierungsprozessen am
Beispiel der Bundesrepublik Deutschland seit 1950, Weinheim 1990.
21
Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland,
Bonn 2008, 202.
22
Z.B. Alexander Reinberg/Michael Hummel, Fachkräftemangel bedroht Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Wirtschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage 24 (2004), 3-10.
23
Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I, Bielefeld 2008.
11
ständigen Anstieg der Qualifikationsanforderungen nur deutlich besser qualifizierte geburtenschwache Jahrgänge gewachsen. Diese Höherqualifizierung der jüngeren Generation sei aber
nicht zu erwarten, da „aus der Bildungsexpansion von einst […] zwischenzeitlich in weiten
Teilen Stagnation geworden ist.“ 24
Projektionen weisen auf einen weiteren strukturellen Anstieg der Qualifikationsanforderungen
im Beschäftigungssystem hin, während die Nachfrage nach Arbeitskräften ohne Berufsausbildung voraussichtlich weiterhin abnehmen wird.25
Stagnation an den Schulen: Diese Annahmen erscheinen vor dem Spiegel der demografischen
Entwicklung folgenreich. So kam es von den 60ern bis zu den 90ern im Zusammenhang mit
dem sogenannten „Pillenknick“ nahezu zu einer Halbierung der jüngeren Kohorten. Es ist von
einer weiteren Abnahme bis deutlich unter den Tiefststand der 70er Jahre auszugehen. Zeitgleich sank die Zahl der Schulabgänger von 1985 bis 2000 deutlich ab: von 940.000 auf
700.000, davon bei den Abiturienten von 209.000 auf 176.000.26 Der durch die demografische
Entwicklung limitierte Umfang des qualifizierten Arbeitskräftenachwuchses wurde durch die
Bildungsexpansion weitgehend aufgefangen. Da die Bildungsexpansion sich seither nur noch
sehr abgeschwächt fortsetzt ist dieser Ausgleich zukünftig nicht mehr zu erwarten. Die Zahl
der 8.-Klässler am Gymnasium nahm von 30% 1990 auf 33% im Jahr 2005 nur noch geringfügig zu. Bei den Realschülern lassen sich sogar leichte Abnahmen verzeichnen (1990: 29%,
2005: 27%).
Stagnation an den Hochschulen: Im Vergleich zu anderen Ländern und gemessen an seinem
wirtschaftlichen Entwicklungsstand hat Deutschland eine ausgesprochen niedrige Quote von
Studierenden und Hochschulabsolventen. Auch diese Quote ist seit den 1980ern kaum angestiegen. 27
Jedenfalls wird der Quasi-Automatismus der Höherentwicklung des Qualifikationsniveaus in
Zweifel gezogen: „Diese Befunde widersprechen einem weit verbreiteten Vorurteil: Jüngere
seien – was die formalen Abschlüsse anbelangt – besser qualifiziert als Ältere. Diese Ein24
Alexander Reinberg/Michael Hummel, Zur langfristigen Entwicklung des qualifikationsspezifischen Arbeitskräfteangebots und -bedarfs in Deutschland. Empirische Befunde und aktuelle Projektionsergebnisse, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 35 (2002), 580-600; hier: 580.
25
Vgl. z.B. Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK), Zukunft von Bildung und Arbeit. Perspektiven von Arbeitskräftebedarf und -angebot bis 2015, in: Materialien zur Bildungsplanung und Forschungsförderung 104 (2002).
26
Vgl. Reinberg/Hummel, Arbeitskräfteangebot und -bedarf, aaO. (Anm. 23).
27
Vgl. OECD, Bildung auf einen Blick. OECD-Indikatoren 2003, Paris 2003; Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im
Anschluss an den Sekundarbereich I, Bielefeld 2008.
12
schätzung basiert offensichtlich auf der Vorstellung einer quasi naturwüchsig anhaltenden
Bildungsexpansion. Die Annahme, dass besser qualifizierte jüngere Generationen an die Stelle schlechter qualifizierterer älterer treten werden, trifft heute jedoch nicht mehr zu.“28
Quasi zeitgleich begann der bis heute anhaltende Bildungshype mit der Verklärung von Bildung zu einer neuen Erlösungsreligion. Im Zuge der Verschränkung der beiden dominanten
Erfahrungscluster
des
postsowjetischen
Zeitalters,
nämlich
Globalisie-
rung/Mobilität/Wettbewerb und Qualitätssicherung/Evaluation/Controlling wurde mit tatkräftiger Hilfe der OECD und der von ihr koordinierten PISA-Studien eine gleichsam chiliastische Bildungsreligion etabliert. Bildung ist die heilige Kuh des jüngsten Zeitalters. Bildung ist
das gesellschaftliche Totem, individuell oft ungeliebt aber allseits geachtet und überall propagiert. Unbewiesen aber allseits gefördert. Bildungsausgaben gelten als Zukunftsinvestitionen,
Bildungsgipfel garantieren steigende Bildungsanstrengungen, Bildungseinrichtungen sind von
den aktuellen Kürzungsimperativen der Staatshaushalte ausgenommen, ja ihnen werden sogar
wachsende Zuschüsse in Aussicht gestellt. Welche Kosten, Reibungsverluste und
Hospitalismuseffekte womöglich mit der immer lückenloser curricular domestizierten Weltaneignung, mit der immer engmaschiger abgeprüften Lernbulimie verbunden sein können, ist
heute erst wenigen Bildungsskeptikern bewusst.
Neben den Diagnosen und Forderungen zur Hebung des allgemeinen Bildungs- und Qualifikationsniveaus der Bevölkerung, fanden auch immer wieder Ungleichheiten in den Bildungschancen die Aufmerksamkeit der Bildungsforscher. Auch hier lassen sich charakteristische
Veränderungen in den letzten Jahrzehnten erkennen. War es in den 60er Jahren die „katholische Arbeitertochter vom Lande“, die der Bildungsforschung als Inbegriff der kumulierten
Bildungsbenachteiligung galt, so hat die Bildungsforschung der 2000er Jahre insbesondere die
Schüler männlichen Geschlechts und die Migrantenkinder als neue Bildungsverlierer identifiziert und den „muslimischen Jungen aus der Trabantenstadt“ als symbolische Kunstfigur für
die sozialstrukturelle Beschreibung von Bildungsungleichheiten und für die Initiierung bildungspolitischer Reformbestrebungen entdeckt.
5. Kritische Gegenströmungen mit einem Exkurs zur Ökonomiephobie der deutschen
Kulturnation
28
Reinberg/Hummel, Arbeitskräfteangebot und -bedarf, aaO. (Anm. 23), 594.
13
Unter den Reformgegnern findet man im Wesentlichen drei Gruppen. Von Altphilologen und
Neuhumanisten wird die unverzweckte Persönlichkeitsbildung schmerzlich vermisst, Bildung
sollte - so das Credo - Selbstzweck sein und nicht den Gesetzen des Marktes unterworfen
werden. Spät-Aufklärer und Freunde der Dialektik der Aufklärung sehen die Ideale von Rationalität und Selbstreflexion, von Wissen ohne Anwendungsbezug auf dem Altar der Humankapital-Theorie geopfert. Demgegenüber wittert die dritte Gruppe, bestehend aus Altlinken
und Kritikern des Neo-Liberalismus, eine neue Qualität der gezielten Einflussnahme der kapitalistischen Klasse und ihrer Schergen, wie Bertelsmann Stiftung und McKinsey & Co.
In der bundesdeutschen Diskussion über die aktuellen Entwicklungen im Bildungssystem
spielen also auch und vor allem Argumente eine wichtige Rolle, die sich mit dem Einfluss
ökonomischer Denkweisen und wirtschaftsnaher Verbände und Stiftungen beschäftigen. Am
einflussreichsten hat vielleicht der Bamberger Soziologe Richard Münch in seinem Buch
„Globale Eliten - lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA,
McKinsey & Co“29 eine ökonomiekritische Sicht vertreten.
Nach meinem Eindruck spiegelt sich hierin das alte Schisma von Geld und Geist – gleichsam
eine deutsche Erbsünde. Insbesondere die Tradition des deutschen Geisteslebens trägt gerade
auch in den Zeiten seiner größten Blüte, also in den Zeiten von Goethe und Schiller, von
Kant, Fichte und Hegel ein geradezu wirtschaftsfernes, wo nicht wirtschaftsfeindliches Gepräge. Wer sich mit anspruchsvollen geistigen Problemen, wer sich mit Kunst, Literatur oder
Bildung beschäftigt, hält Fragen des wirtschaftlichen Auskommens für unwichtig und befasst
sich höchstens widerwillig damit. Bestenfalls nebenher geht man einem „Brotberuf“ nach. Die
leicht despektierliche Ausblendung von wirtschaftlichen Aspekten gipfelt oft in einer ostentativen Abwertung: „Geld ist rund und rollt weg, aber Bildung bleibt” formulierte z.B. Heinrich
Heine (1830).30 Er brachte damit ein Denken auf den Punkt, in dem die Sphäre des Geistes
und die Sphäre der Wirtschaft fast unversöhnliche Gegenwelten darstellen. Die deutsche Bildungsdiskussion ist von mancherlei unnötigen Dichotomien geprägt. Während andere Länder,
etwa Großbritannien, Frankreich oder die skandinavischen Länder seit Anfang der 70er Jahre
– oft mit Unterstützung konservativer Parteien – konsequent auf ein Gesamtschulmodell setzten, liefern sich in der BRD Befürworter und Gegner der Gesamtschule seit 40 Jahren erbitterte Grabenkämpfe. Während andere Länder Marketing, Fundraising und Sponsoring auch im
29
Münch, Globale Eliten, lokale Autoritäten, aaO. (Anm. 3).
30
Heinrich Heine, Reisebilder. Dritter Teil. Die Bäder von Lucca. Kap. II. Historisch-kritische
Gesamtausgabe der Werke (7), hrsg. v. Manfred Windfuhr, Hamburg 1986.
14
Bildungsbereich seit langem praktizieren, diskutiert man in Deutschland noch heute, ob die
Freiheit von Forschung und Lehre oder die pädagogische Unabhängigkeit von Schulen durch
Kooperationen mit der Wirtschaft auf dem Spiel stehen. Die Welt der Bildung und die Welt
der Finanzen sind in Deutschland jedenfalls nur sehr schwer zusammenzubringen.
Denn: Es gibt eine gerade in Deutschland bis heute tief verwurzelte Abscheu und oft auch
eine gründliche Ignoranz gegenüber wirtschaftlichem Denken gerade unter Geisteswissenschaftlern. Manifestiert z.B. in den „fünf Einsprüchen“ einer Reihe von Erziehungswissenschaftlern (Erstunterzeichner: Gruschka, Herrmann, Radtke, Rauin, Ruhloff, Rumpf, Winkler)
aus dem Jahr 2005 unter dem Titel „Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb“, der von
über dreihundert Pädagogen und Erziehungswissenschaftler unterzeichnet wurde.31 Auch
wenn in diesen Thesen z.T. durchaus reale Probleme benannt werden, geht der Tenor doch
eindeutig in Richtung auf die Fortschreibung der apodiktischen Frontstellung von Erziehungsund Wirtschaftswissenschaft, wenn es etwa heißt:
„Wir wenden uns gegen die Illusionen einer alle politischen Parteien übergreifenden
Bildungspolitik, die das Bildungssystem nach betriebswirtschaftlichen Mustern in den
Griff zu bekommen sucht“ (Wortlaut des 1. Einspruchs).32
Die Suche nach neuen Steuerungsmodellen, weil sich die überkommenen Strukturen als ineffizient und unflexibel erwiesen haben, wird hier in Bausch und Bogen abgelehnt und damit
einem Strukturkonservativismus das Wort geredet, in dem der Staat als TransfermassenUmverteiler fungiert. Qua staatlicher Machtvollkommenheit sollen dem Wirtschaftskreislauf
Ressourcen entzogen und für Bildung und Unterricht verwendet werden. Obwohl sprachlicher
Duktus und imperialer Gestus der Apologeten der Ökonomisierungskritik nicht eben Bescheidenheit signalisieren, bleiben die Analysen in Bezug auf konkrete wirtschaftliche Gestaltungsfragen im Bildungsbereich merkwürdig einsilbig. Letztlich mündet alles in die Formel: Vater
Staat soll‟s richten.
Während man andernorts die Umstellung von einer marktersetzenden oder -korrigierenden
auf eine marktvorbereitende und -schaffende Politik diskutiert und die Bedeutungszunahme
wirtschaftlicher Kategorien unumkehrbar scheint, fordern nicht wenige, die in Bildungsein-
31
Andreas Gruschka/Ulrich Herrmann/Frank-Olaf Radtke/Uwe Rauin/Jörg Ruhloff/Horst Rumpf/Michael Winkler, Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb! Fünf Einsprüche gegen die technokratische Umsteuerung des
Bildungswesens, wiederabgedruckt in: Ursula Frost (Hg.), Unternehmen Bildung. Die Frankfurter Einsprüche
und kontroverse Positionen zur aktuellen Bildungsreform, Sonderheft zur Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik (2006), 12-19.
32
Ebd.
15
richtungen arbeiten oder die sich als Intellektuelle zu stellvertretendem Protest aufgerufen
fühlen, den Erhalt ineffizienter überkommender Strukturen. Ökonomisierung wird hier oft
zum Synonym für Entdemokratisierung und entfremdeten Kapitalismus33:
Generell sehen diejenigen, denen es um eine Stigmatisierung ökonomischer Rationalität geht,
„die Gefahr, dass die Orientierung an wissenschaftlichem Wissen hinter privatwirtschaftliche
Partikularinteressen zurücktritt“.34
Als Ursache und Movens für die sog. Ökonomisierung sieht etwa Radke weniger die Wirtschaft sondern „ein strategisches Projekt der Politik selbst“.35 Luhmanns Systemtheorie, Foucaults Analysen der Gouvernementalität und andere anspruchsvolle Referenzrahmen werden
herangezogen um das Bildungswesen gegenüber Veränderungen zu immunisieren. Die alte
Universität wird zur heilen Welt, die durch die bösen Unternehmensberater bedroht ist. Die
alte universitäre Verwaltungsbürokratie wird zur „Dienerin der Professoren“ – wohingegen
„unter dem Regime von McKinsey & Co“ die eigentliche akademische Lehre leidet und stattdessen „ein umfangreiches Angebot an Sprache-, Kommunikations- und Trainingskursen zur
Selbstvermarktung“36 eingeführt wird. Selbst die kameralistische Buchführung erscheint gegenüber den Zumutungen der neuen Kosten- und Leistungsrechnung, gegenüber schlimmen
Dingen wie „Humankapital“, „Bildungsmarkt“ oder „Käufer und Verkäufer“ im milden Glanz
verklärter Vergangenheit. Wenngleich vor allem in den einschlägigen Fach- und Standesorganisationen derartige Positionen viel Gehör finden, werden sie nicht von allen geteilt, die sich
aus bildungssoziologischer oder erziehungswissenschaftlicher Perspektive mit dem „New
Public Management“ beschäftigen. Den Vorwurf der Ökonomisierung weist beispielsweise
Heinz-Elmar Tenorth scharf zurück:
„Gefangen in den alten Formeln, zeigen sich die Kritiker blind gegenüber der tatsächlichen Praxis und den Möglichkeiten der aktuellen Bildungsreform; vereint in einem seltsamen Bündnis der alten Privilegierten, vor allem in den Universitäten, mit denjenigen,
die sich in ihrem gemütlichen Alltag aufgeschreckt finden, wozu Evaluation ohne Zwei33
Vgl. Ingrid Lohmann/Rainer Rilling (Hgg.), Die verkaufte Bildung. Kritik und Kontroversen zur
Kommerzialisierung von Schule, Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaften, Opladen 2002; Heiner Keupp,
Die Zerstörung der deutschen Universität und der Schule. Oder: Über die Ökonomisierung der Bildung, in: PÄD
Forum: unterrichten erziehen 3 (2008), 152-159.
34
Andrea Liesner, Bildungsökonomie – Gefahren aus bildungskritischer Sicht, in: Gerhard Mertens/Ursula
Frost/Winfried Böhm (Hgg.), Handbuch der Erziehungswissenschaft Bd. 1, Paderborn 2008, 909-917; hier: 914.
35
Frank-Olaf Radke, Ökonomisierung, in: Sabine Andresen/Rita Casale/Thomas Gabriel/Rebekka Horlacher/Sabina Larcher Klee/Jürgen Oelkers (Hgg), Handwörterbuch Erziehungswissenschaft, Weinheim 2009,
621-636; hier: 625.
36
Richard Münch, Unternehmen Universität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 45 (2009), 10-16; hier: 11; 13.
16
fel beiträgt, machen sie sich zum Wortführer einer Politik, die den notwendigen Umbau
unseres Bildungssystems hemmt.“37
Einschlägige Expertisen, Gutachten oder programmatische Konzepte stammen denn auch
zumeist aus Nachbardisziplinen wie der Bildungsökonomie, dem Bildungsrecht oder aus der
Bildungspolitik. Die Erziehungswissenschaft kann indessen die Befassung mit Themen an der
Schnittstelle zur Ökonomie nicht weiter
a. ausblenden, d.h. so tun, als hätte man damit nichts zu tun
b. verteufeln, d.h. die Ökonomisierung bejammern oder attackieren
c. ausschließlich anderen überlassen.
Es ist an der Zeit, dass das Thema der Bildungsfinanzierung seinen Platz auf der Agenda erziehungswissenschaftlicher Diskussionen findet. Die Relevanz von Methoden und Instrumenten, die ihren angestammten Platz in den Wirtschaftswissenschaften haben, wurde inzwischen
ja vielfach entdeckt. Inzwischen gibt es endlich auch im deutschsprachigen Raum für eigentlich alle Bildungsbereiche eine intensivierte erziehungswissenschaftliche Debatte um Bildungscontrolling, Qualitätssicherung oder auch um Bildungsmanagement und Bildungsmarketing. Diese Interfaces zwischen Erziehungswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft bekommen der pädagogischen Diskussion durchaus gut – weil sie viele Fragen versachlichen
helfen.
Auch wenn es lange gedauert hat: in den letzen Jahren bewegt sich etwas: Expertenkommissionen, Gutachten, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Parteien und ihre Stiftungen widmen
sich der Frage, wie die Finanzströme im Bildungssystem eigentlich aussehen. Man hat bemerkt, dass es nicht ausreicht, nur immer neu höhere Bildungsbudgets zu fordern. Die Diskussion hat sich ausdifferenziert, insofern die Stimmen derjenigen, die auf chronische Unterfinanzierung in allen Bildungsbereichen hinweisen, heute ergänzt werden durch kritische
Einwände der Bildungsökonomik, die nachzuweisen bestrebt ist, dass die Verteilungsmechanismen mindestens genauso wichtig sind wie die schiere Höhe der Budgets. Begrifflichkeiten,
die vor 10 Jahren noch kaum einer kannte, werden zum Standardvokabular in Bildungspolitik
und Bildungsmanagement: Anreizsysteme, Leistungsorientierte Mittelvergabe, Zielvereinbarungen, Innovationsfonds etc.
37
Heinz-Elmar Tenorth, Milchmädchenrechnung. Warum der Vorwurf der Ökonomisierung des Bildungswesens falsch ist, in: Die Zeit 41 (2005), 89.
17
6. Praktische Gegenströmungen: Reformschulbewegung und Projekte kultureller Bildung
6.1 Reformpädagogik
Reformpädagogische Konzepte scheinen heute gleichzeitig in der Defensive wie in der Offensive. Gemessen am aktuellen Mainstream der bildungspolitischen Diskussion, der seit Jahren
eindeutig und nachhaltig von PISA, von flächendeckenden Lernstandserhebungen und einheitlichen Bildungsstandards, von Leistungssteigerung und Verkürzung der Schulzeit dominiert wird, befinden sich Ansätze etwa der Montessoripädagogik oder der Waldorfschulen
deutlich im Hintertreffen. Dem stehen das seit Jahren steigende Angebot an Privatschulen und
die deutliche Zunahme der Schülerzahlen gegenüber; seit Mitte der 90er Jahre hat die Zahl
der Privatschüler um knapp 50% zugenommen. Neben der Reformpädagogik alter Prägung
tauchen inzwischen auch neue Akteure als Schulträger auf: Die Phorms Management AG mit
dem erklärten Ziel, mit Bildung Geld zu verdienen (Berlin, München, Frankfurt a.M., Köln).
Der Sudbury-Ansatz, berühmtestes Beispiel die Hamburger Schulgründung mit Beteiligung
der deutschen Pop-Ikone Nena. Vielerorts kommen Kinder aus den „Waldkindergärten“ ins
schulpflichtige Alter und „aktive Naturschulen“ werden gegründet.
In der Erziehungswissenschaft war nach einer Phase aktiver Sympathie verbunden mit prominenten Namen wie Flitner, Nohl oder Röhrs ein deutlich zurückgenommenes Interesse an reformpädagogischen Ansätzen zu verzeichnen. Kennzeichnend waren seit den 80er Jahren eher
dekonstruktivistische Bemühungen in Richtung Entmystifizierung, Ideologiekritik oder Abschied vom romantischen Kindbild (Oelkers, Tenorth, Ullrich). Erst in jüngster Zeit finden
sich indessen nennenswerte Versuche, Schulwirklichkeit und Bildungserfolg der reformpädagogisch geprägten Einrichtungen mit dem Instrumentarium der empirischen Sozialforschung
zu überprüfen. Neben einem aktuellen DFG-Projekt zu „Lehrer-Schüler-Beziehungen an
Waldorfschulen“38 liegt eine neue Studie zu „Bildung und Lebensgestaltung ehemaliger Waldorfschüler“39 vor. Auch zu den Bildungskulturen von Montessori-40 und Jena-Plan-Schulen41
38
Heiner Ullrich/Bernhard Stelmaszyk/Davina Höblich/Gunther Graßhoff/Dana Jung: Autorität und Schule. Die
empirische Rekonstruktion der Klassenlehrer-Schüler-Beziehung an Waldorfschulen. Wiesbaden 2007
39
Heiner Barz/Dirk Randoll: Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung. Wiesbaden 2007.
40 Vgl. Harald Ludwig: Montessori-Pädagogik im Spiegel aktueller empirischer Forschung. Vortrag beim Kongress der DGfE in Dresden am 18. März 2008. Online verfügbar unter:
http://www.waldorf-absolventen.de/files/Ludwig_Emp_Waldorfpaed.pdf
41
Hans Günter Lambrich: Soziale Beziehungen als Grundlage für soziales Lernen. Fallstudie in einer
Jenaplanschule. In: Heiner Ulrich/Till Sebastian Idel/Katharina Kunze (Hrsg.): Das Andere Erforschen. Empirische Impulse aus Reform- und Alternativschulen. Wiesbaden 2004. S. 79-92
18
entstanden in den letzten Jahren empirische Forschungsarbeiten. Und ich bin auch sicher, dass
die Reformpädagogik ihre jüngste Krise, verbunden mit den Namen Odenwaldschule und
Hartmut von Hentig, ohne dauerhaften Schaden überstehen wird – auch wenn manche Kritiker wie Jürgen Oelkers sie gerne ganz von der Bildfläche verschwinden sehen würden.
6.2 Kulturelle Bildung an Schulen
„Wer viel Theater spielt wird gut in Mathematik“ (Enja Riegel) - „You can change your life
in a dance class” (Royston Maldoom). Mit derartiger Programmatik versuchen Anhänger der
kulturellen Bildung – fast ein bisschen verzweifelt – eine Brücke zu bauen, um ihr Anliegen
PISA-konform zu formulieren. Und somit in Zeiten, in denen die Quartilsabstände von Kompetenzstufen, Employability und Soft Skills die Rhetorik der Bildungsdebatten dominieren,
eher defensiv darauf hinzuweisen, dass das Musische, Künstlerische, Kunsthandwerkliche
doch nicht ganz aus der Schule verschwinden dürfe. Elemente praxisorientierter kultureller
Bildung, zum Beispiel musische Fächer wie Tanz oder Gesang fristen an den Schulen schon
länger ein Schattendasein. In den letzten Jahren lassen sich zwei gegenläufige Tendenzen
feststellen: Einerseits werden die Freiräume für echte Kulturprojekte in den Schulen durch die
Fixierung auf die vermeintlichen Kerncurricula immer enger. Andererseits wird der Aspekt
der kulturellen Bildung verstärkt diskutiert – auch als eine mögliche Antwort auf die deutschen PISA-Ergebnisse. „Auf Bildungsseite hat der PISA-Schock dazu geführt, Standards zu
überdenken und neue Wege der Förderung von Kreativität und Zukunftsfähigkeit zu suchen.
Hier muss sich die kulturelle Kinder- und Jugendbildung einbringen. Sie verfügt über wertvolle Potentiale, Kreativität und zukunftsfähige Kompetenzen zu vermitteln.“42 Tanz- und
Gesangsprojekte mit Jugendlichen im schulischen Rahmen werden weniger als Selbstzweck
sondern verstärkt auch als Mittel zu Persönlichkeitsbildung gesehen. „Die Entwicklung von
kommunikativer Kompetenz und Kreativität von Kindern und Jugendlichen ist ein wichtiges
Element der Zukunftsgestaltung.“43 Nicht zuletzt wird in musische Schulfächer die Hoffnung
gelegt, dass diese Transferwirkungen auf eine allgemeine Verbesserung von schulischen Leistungen haben könnten. Bisher gibt es aber erst wenige empirische Studien zur Wirksamkeit
von musischen und kulturellen Projekten mit schulpädagogischem Hintergrund. Brauchen wir
42
KMK, Empfehlung der KMK zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Beschluss der KMK vom
01.02.2007, Bonn, http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2007/2007_02_01Empfehlung-Jugendbildung.pdf.
43
Deutscher Städtetag, Kommunale Positionen zur Bildungsreform, Positionspapier des Deutschen Städtetages,
Köln 2006, http://www.staedtetag.de/imperia/md/content/veranstalt/2007/51.pdf.
19
kulturelle Bildung in der Schule als Bestandteil eines umfassenden Bildungsverständnisses?
Kann Gesangs- und Instrumentalunterricht gemäß der vieldiskutierten These „Mozart macht
schlau“ als Mittel zur Ausbildung von Schlüsselqualifikationen dienen? Sollte er das überhaupt? Derartige Fragen versuchen wir in Begleitforschungsprojekten zu „Jedem Kind seine
Stimme“ (JeKiSti, Neuss) und „Take-off. Junger Tanz. Tanzplan Düsseldorf“ (Tanzhaus
NRW) zu bearbeiten.
7. Fazit
In einer Bilanz der gegenwärtigen Situation der bildungspolitischen Diskussion kann man
nicht unbedingt nur vom Wünschbaren ausgehen. Genauso relevant sind die Tendenzen, deren
Fortführung man fürchten muss. In diesem Sinne werden die folgenden Szenarien in Befürchtungen, Hoffnungen und realistische Erwartungen gegliedert.
Zukunft 1: Was man fürchten muss
a) Das Gesamtschulthema bleibt in Deutschland verbrannte Erde, sogar in der kleinen Lösung als 6jährige Grundschule wird sie es schwer haben – nachdem die schwarz-grüne
Koalition in Hamburg im Jahr 2010 daran spektakulär gescheitert ist. Eher schon in der
Version der Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen zu Sekundarschulen, Mittelschulen, Regionalschulen könnte sich der Trend einer Art „Gesamtschule light“ fortsetzen, der sich in Deutschland in den letzten 10, 20 Jahren verstärkt beobachten lässt.
b) Der Bildungs- und Kulturföderalismus bleibt uns erhalten. Die Föderalismusreform von
2006 hat jedenfalls am grundlegenden Dilemma der 16 unterschiedlichen Bildungssysteme nichts geändert – und so bleibt der Umzug einer Familie mit schulpflichtigen Kindern in ein anderes Bundesland nach wie vor mit unkalkulierbaren Risiken behaftet.
Entgegen ihrem Anspruch auf klarere Kompetenzgrenzen ist darüber hinaus auch nach
der Reform der föderalen Gewaltenteilung für den Normalbürger noch immer kaum
nachvollziehbar, wo und wann der Bund dann doch auch in Bildungsfragen mitregieren
darf (Beispiele: .
Zukunft 2: Was man hoffen kann
a) Es finden sich schon heute Stimmen, die eine unreflektierte Bildungseuphorie zu relativieren suchen. So spricht etwa der Soziologe Wolfgang Sofsky vom „Größenwahn der
20
Pädagogen“ und fragt, warum Bildung heute maßlos überschätzt wird.44 „Dazu passt,
dass unsere Gesellschaft Bildung und Elite nicht mehr in eins setzt. „Schauen Sie„, widersprach der Kulturtheoretiker Boris Groys kürzlich in der ‚Süddeutschen Zeitung„
dem kulturbeflissenen Interviewer, ‚Fussballer, Rapper und Models gehören zum Beispiel auch zur Elite. Sie verdienen viel Geld und haben ein Elitebewusstsein.„ Man könne sich, so Groys weiter, ‚leicht eine Gesellschaft vorstellen, in der die Elite ausschließlich aus Ungebildeten besteht. Bildung kostet sehr viel Zeit und Kraft. Sie lenkt eigentlich vom Erfolg ab.„“45
b) Zu hoffen ist ebenfalls, dass die vorsichtigen Ansätze zur Schulautonomie, zur selbstbestimmten Steuerungsmöglichkeit für Bildungseinrichtungen sich in die Zukunft hinein
fortsetzen. Es gibt aus der international vergleichenden Schulforschung jedenfalls Hinweise46, dass hierin ein zentraler Schlüssel für ein leistungsfähiges Schulsystem liegen
könnte.
Zukunft 3: Was man erwarten darf. Welche Zukunftsszenarien sind also realistisch?
a) In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat es in der BRD einen quantitativen und qualitativen Ausbau des privaten Sektors des Bildungswesens gegeben. Der Anteil der Schüler
an privaten Schulen ist gestiegen und innerhalb der privaten Schulen machen zwar die
katholischen Schulen noch immer den größten Anteil aus – aber die Neugründungen
kommen stärker aus dem Bereich der klassischen Reformpädagogik (Montessori, Waldorf) oder aus dem Feld der Freien Alternativschulen.
b) Auch dürfte es zu einem weiteren Vordringen ökonomischer Konzepte in Bildungseinrichtungen und in die Bildungssteuerung kommen: Bildungscontrolling, Bildungsmarketing, Bildungsökonomie werden sich als mehr und mehr selbstverständliche Bestandteile des Schulwesens und der Bildungsdiskussion etablieren. Da die Verbindung von
wirtschaftlichen Kategorien und pädagogischen Ambitionen gerade in Deutschland immer wieder strittig ist, möchte ich hierzu eine abschließende Bemerkung machen.
44
Vgl. Wolfgang Sofsky, Größenwahn der Pädagogen. Warum Bildung heute maßlos überschätzt wird, in: Die
Welt vom 24.10.2008, http://www.welt.de/kultur/article2616826/Warum-Bildung-heute-masslos-ueberschaetztwird.html.
45
Joachim Güntner, Flache Lektüren für digitale Gehirne, in: Neue Zürcher Zeitung vom 7.12.2009,
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/flache_lektueren_fuer_digitale_gehirne_1.4121007.html.
46
Vgl. Ludger Wößmann: Familiärer Hintergrund, Schulsystem und Schülerleistungen im internationalen Vergleich. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 21-22. 33-38.
21
Es wird darauf ankommen, dass den Akteuren des Bildungsdiskurses klar ist: Die ökonomische Betrachtungsweise kann die pädagogische nicht ersetzen. Die ökonomische Sicht ist aber
mehr und mehr zu einem unverzichtbaren Korrektiv der pädagogischen geworden. Beide Perspektiven schließen sich streng genommen aus – weil ihre Begrifflichkeiten, ihre Denkansätze
und Erfolgsmaßstäbe gänzlich unterschiedlichen Referenzsystemen entstammen. Aber beide
Perspektiven ergeben zusammen genommen erst ein vollständiges Bild des Bildungs- und
Erziehungssystems. Das erinnert an den Welle-Teilchen-Dualismus in der Physik – wo man
nach jahrhundertelangen ideologielastigen Auseinandersetzungen sich inzwischen auch mit
einer Art friedlicher Koexistenz der unvereinbaren Theoriemodelle arrangiert hat. Auch Goethes Farbenlehre mit ihrer phänomenologischen Betrachtung der Wirkung der Farben auf‟s
Gemüt („Taten und Leiden des Lichts“) wurde mittlerweile von prominenten Physikern als
notwendige Ergänzung von Frequenzmessung und Spektralanalyse rehabilitiert.47 Licht und
Farbwahrnehmungen sind nicht bloß mit physikalischen Messgeräten beschreibbare und in
Datensätzen abbildbare Phänomene. Licht und Farbe sind aber ebenso wenig nur in den
menschlichen Gemütsregungen real. Also nicht: Entweder oder. Sondern: Sowohl als auch!
Ein kreativer Kopf der Wissenschaftstheorie, Paul Feyerabend, hat daraus vor ca. 25 Jahren
die sog. Inkommensurabilitätsthese entwickelt, die besagt, dass widerstreitende Erklärungsmodelle sich bisweilen nicht nur gegenseitig ausschließen sondern sich gegenseitig erst zu
einem vollständigeren Bild der Wirklichkeit ergänzen.48 Je nach Fragestellung kann es angemessen sein, einmal der Teilchentheorie und einmal der Wellen-Theorie den Vorzug zu geben. Welle-Teilchen-Dualismus heißt das deshalb in der jüngeren Physik. Also auch nicht:
entweder Newton oder Goethe – sondern fallweise: Newton und Goethe!49 Vielleicht brauchen wir ähnliches in der Bildungsforschung, nämlich einen Ökonomie-Pädagogik-Dualismus
oder eine Inkommensurabilitätsthese für wirtschaftliche und pädagogische Perspektiven auf
Bildung. Nicht entweder Wagenschein oder Wößmann, sondern fallweise Wagenschein oder
Wößmann – um einmal zwei bedeutende Vertreter der pädagogisch-didaktischen bzw. bildungsökonomischen Betrachtungsweise zu nennen. Damit wäre gleichzeitig übergriffigen
Ansprüchen beider Fachkulturen ein Riegel vorgeschoben. Die Wirtschaftswissenschaft kann
zwar berechnen, inwiefern sich Qualitätssicherungssysteme auf die Leistungsfähigkeit eines
47
Z.B. Carl Friedrich Weizsäcker, Einige Begriffe aus Goethes Naturwissenschaft, in: Goethe, Johann Wolfgang
von, Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, München 1981, 539-555.
48
Vgl. Heiner Barz, Paul Feyerabends pluralistische Wissenschaftstheorie, in: ders, Anthroposophie im Spiegel
von Wissenschaftstheorie und Lebensweltforschung, Weinheim 1994, 83-127.
49
Vgl. Heiner Barz, Goetheanismus als notwendige Ergänzung des naturwissenschaftlichen Paradigmas, in: ders,
Anthroposophie im Spiegel von Wissenschaftstheorie und Lebensweltforschung, Weinheim 1994, 159-163.
22
Bildungssystems auswirken – aber sie kann wenig zu einer bildungstheoretischen Neuformulierung der Allgemeinen Didaktik beitragen. Umgekehrt kann die Pädagogik zwar aus neuen
anthropologischen Reflexionen oder – so eher die Tendenz des letzten Jahrzehnts – aus neurowissenschaftlichen Befunden ihr Methodenarsenal neu bestücken – ohne die Überprüfung
an harten Effizienzkriterien bleibt sie aber mehr oder weniger in Glaubenssätzen stecken. In
anderen Worten: Statt Furcht vor feindlicher Übernahme bietet friedliche Koexistenz die
Hoffnung für ein künftig konstruktives Verhältnis von Wirtschaft und Pädagogik.
23

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