Anlage - Philologenverband Baden

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Anlage - Philologenverband Baden
Stellungnahme des
Philologenverbands Baden-Württemberg
zu den Empfehlungen des Arbeitskreises „Gymnasium 2020“
Das 15-seitige Arbeitspapier gliedert sich – nach einführenden Bemerkungen zum Profil des
„Gymnasium 2020“ – in drei „Teilprojekte“. Teilprojekt 1 gibt Empfehlungen zur gymnasialen
Unterrichtskultur, zur Unterrichtsqualität und zur Lehrer-Schüler-Beziehung. Teilprojekt 2 widmet sich
in wenigen Sätzen der Fachlichkeit und dem gymnasialen Niveau. In Teilprojekt 3 wird dargelegt,
welche Veränderungen in Bezug auf die Oberstufe (inkl. Klasse 10) vorgeschlagen werden.
Abschließend werden Aussagen zur Frage der Ressourcen und zur Umsetzung bzw. dem avisierten
Projektstart gemacht. Unsere Stellungnahme folgt dieser Chronologie.
Das Profil des „Gymnasium 2020“:
Als Spezifika gymnasialen Lehrens und Lernens werden unstrittige Aspekte genannt wie das
forschende, eher theoretische Lehren und Lernen, Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen, die
hohe Qualität fachlicher Durchdringung und die Fähigkeit und Bereitschaft, „sich theoretischen
Zugängen zu öffnen, schwierige Sachverhalte geistig durchdringen zu wollen und diese verständlich
darstellen und präsentieren zu können“. Kern des Gymnasiums sei „eine breite und vertiefte
Allgemeinbildung.“ Diese Merkmale charakterisieren das Gymnasium schon heute und bedürfen
keiner weiteren Kommentierung.
Aussagen wie „Das Gymnasium 2020 zeichnet sich durch eine Vertrauens- und Wertschätzungskultur
und durch klare Reflexions- und Kommunikationsstrukturen aus. Schüler und Lehrer begegnen sich in
gegenseitigem Vertrauen“ verstehen sich als pädagogische Selbstverständlichkeiten, die im Übrigen
ja wohl nicht nur für das Gymnasium gelten sollten. Eine etwaige Unterstellung, das heutige
Gymnasium sei in dieser Hinsicht defizitär und eine Vertrauenskultur werde erst durch die
Empfehlungen des AK Gymnasium 2020 etabliert, weisen wir als realitätsfremd zurück.
Die Forderung nach einem „durchgehend differenzierenden, Heterogenität bejahenden
pädagogischen Ansatz“ basiert auf einem grundsätzlichen Missverständnis. Im Gegensatz zur
Gemeinschaftsschule gibt es am Gymnasium keine leistungsunabhängig zusammen gesetzten
Lerngruppen, in denen jeweils alle drei Leistungsstandards (G,M,E) präsent sind. Die
Unterrichtsphilosophie der Maximalheterogenität ist nicht die des Gymnasiums. Für die
Schülerschaft des Gymnasiums gilt eine relative Homogenität, was Leistungsbereitschaft und
Leistungsvermögen betrifft (vergl. Forderung auf Seite 1). Die Grundschulempfehlung,
Diagnoseverfahren wie z.B. der Lernstand 5, VERA 8 sowie regelmäßige Leistungserhebungen im
Verlaufe des Schuljahres erlauben hierüber verlässliche Rückschlüsse. Es ist ein Widerspruch, auf
Seite 1 durchgehende Differenzierung zu fordern und auf Seite 2 festzustellen, dass in der HattieStudie u.a. die Binnendifferenzierung als „weitgehend wirkungslos für erfolgreiches Lernen“ genannt
wird. Verständlich wird dieser Widerspruch vor dem Hintergrund der generellen Stoßrichtung des
Papiers, die sich dem Leser spätestens nach Lektüre von Seite 3 unmissverständlich erschließt, wo es
heißt: „Wenn ein Gymnasium dasselbe Pädagogische Profil wie eine Gemeinschaftsschule anbieten
möchte, sollte es Gemeinschaftsschule werden.“ Offiziell und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der
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Weigerung einer Ausdehnung der Parallelführung von G8 und G9 sollte die Aufgabe der
Arbeitsgruppe „Gymnasium 2020“ die Weiterentwicklung bzw. Optimierung von G8 sein. Das
angeführte Zitat lässt klar erkennen, welcher übergeordneten Stoßrichtung diese Weiterentwicklung
bzw. Optimierung untergeordnet werden soll. Hierbei hat sich die Arbeitsgruppe in eine Art
Quadratur des Kreises manövriert/manövrieren lassen. Die Propagierung zentraler Elemente der
Gemeinschaftsschule kollidiert mit der - auch gesetzlich verankerten - Aufgabe des Gymnasiums und
seinem Selbstverständnis. Die offene Frage ist, warum zur „Schärfung des gymnasialen Profils im
Sinne des academic learning bzw. need for cognition in Abgrenzung zum vocational learning“ (Seite
3), die „sich zwingend aus dem Zwei-Säulen-Modell“ ergäbe, ausgerechnet und unbedingt zentrale
Elemente der Gemeinschafsschule nötig sein sollen. Man kann - wie wir es fordern - im Zwei-SäulenModell das gymnasiale Profil schärfen oder man kann eine Überführung des gesamten Schulsystems
in ein Gemeinschaftsschulsystem vornehmen. Für widersprüchlich hielten wir jedoch die Vorstellung,
man könne das ja auch seitens der Arbeitsgruppe immer wieder wertgeschätzte spezifische
Gymnasialprofil durch die Übernahme zentraler Elemente der Gemeinschafsschule schärfen.
Es gilt daher, die einzelnen Vorschläge daraufhin zu prüfen, ob sie dem von der Arbeitsgruppe selbst
definierten Ziel einer Schärfung des gymnasialen Profils zu- oder abträglich sind.
Teilprojekt 1: Unterrichtskultur, Unterrichtsqualität, Lehrer-Schüler-Beziehung
Die Berufung auf die Hattie-Studie erfolgt zu oberflächlich. Im Übrigen treffen seine Ranglisten der
wirkungsvollsten pädagogischen Programme bei Wissenschaftlerkollegen auf viel Kritik, ebenso seine
Rechenfehler (Die ZEIT, Nr. 50/2014). Auf die Widersprüchlichkeit bzgl. der Binnendifferenzierung
wurde bereits hingewiesen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass „Leistungsdifferenzierung“ im
Sinne einer leistungsorientierten Lerngruppenbildung Formen der leistungsunabhängigen
Lerngruppenbildung eindeutig überlegen ist und dass dieser Nachteil auch durch die sogenannte
Binnendifferenzierung nicht kompensiert werden kann, denn Binnendifferenzierung taugt nicht als
Alternative zur Differenzierung nach Fähigkeit und Leistung (Peter M. Roeder). Wenn sich der AK
Gymnasium 2020 „für die mittelfristige Wiedereinführung des Grund- und Leistungskurssystems in
der Qualifikationsphase“ ausspricht (Seite 10) - eine Empfehlung, der wir uns anschließen - so kann
dem gewiss nicht die Überzeugung zugrunde liegen, Formen der äußeren Leistungsdifferenzierung
seien wirkungslos.
Wenn dem Gymnasium in Baden-Württemberg im Zusammenhang mit der G8/G9-Debatte attestiert
wird, dass die Kürzung der Schulzeit um ein ganzes Schuljahr zu keinen erwähnenswerten
Verschlechterungen in der Abiturprüfung geführt habe (Prof. Trautwein, Tübingen) und wenn unsere
Abiturientinnen und Abiturienten im bundesweiten Vergleich die höchste Erfolgsquote beim Studium
haben, so weist dies nicht auf Defizite in der gymnasialen Unterrichtskultur hin, die es rechtfertigen
würden, Maßnahmen zu empfehlen, die mit Ausnahme von „akademischen Lehr- und Lernformen“
allesamt der Unterrichtsphilosophie der Gemeinschaftsschule entsprechen (Lernateliers, niveaudifferenzierte Kompetenzraster, Lerntagebücher etc.), die im Gegensatz zum gymnasialen
Methodenrepertoire bislang keinerlei Nachweis ihrer Tauglichkeit erbracht hat.
Hingegen begrüßen wir die ablehnende Haltung des AK bzgl. einer Überführung des Schulversuchs
NwT-1 in die Regelphase.
Da wir die traditionelle Klassengemeinschaft nicht durch Maßnahmen der individuellen
Selbstorganisation schwächen wollen, was dann wiederum einen „Ansprechpartner für den Schüler
auf der Ebene der Ich-Du-Beziehung“ nötig erscheinen lässt, sehen wir die Empfehlung des AK, ein
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Coaching-System von Klasse 5 bis 12 einzuführen, sehr kritisch und schlagen stattdessen eine
Stärkung bewährter Beratungs- und Förderstrukturen vor. Der PhV BW fordert seit Jahrzehnten die
Einführung einer Klassenlehrerstunde. Anrechnungsstunden bzw. Deputatsabsenkung für Fachlehrer,
Verbindungslehrer, Beratungslehrer und für die Hausaufgabenbetreuung entsprechen dem
Klassenverbands- und Fächerprinzip weit mehr als ein Coach. Wir fordern, die für ein CoachingSystem veranschlagten Ressourcen in die genannten gymnasialen Beratungs- und Förderstrukturen
zu investieren.
Teilprojekt 2: Fachlichkeit und gymnasiales Niveau
Der PhV BW teilt die Auffassung des AK, dass bezüglich der Fachlichkeit und des gymnasialen Niveaus
von einem „hohen Bedarf zur Bewahrung des Bestehenden“ und von einem „geringen Bedarf zur
Veränderung“ auszugehen ist. Wir stimmen darin überein, „dass an dem hohen
fachwissenschaftlichen Niveau der Lehrkräfte durch ein universitäres Studium keine Abstriche
gemacht werden dürfen.“ Etwaigen Tendenzen, diese unstrittige Vorgabe in der Lehrerbildung zu
missachten, muss entschieden entgegen getreten werden.
Teilprojekt 3: Gymnasiale Oberstufe
a) die Eingangsphase (Klasse 10, vorgeschlagene Neubezeichnung: OS1)
Um denjenigen Schülerinnen und Schülern, die in der Gemeinschaftsschule bzw. der Realschule keine
2. Fremdsprache gelernt haben, einen Übergang nicht nur auf das berufliche, sondern auch auf das
allgemein bildende Gymnasium zu ermöglichen, sollen sie in der OS1 eine 2. Fremdsprache beginnen
können, die dann auf „B-Niveau“ drei Jahre lang mit einer Gesamtwochenstundenzahl von 12 gelernt
wird. Den Gymnasiasten soll es ermöglicht werden, ihre 2. Fremdsprache Ende Klasse 9 zu beenden
und ebenfalls in der OS1 mit einer weiteren Fremdsprache, ihrer dritten, zu beginnen. Der PhV lehnt
diese Maßnahme ebenso wie der Kultusminister ab, der in der Landtags-Drucksache 15/6603 vom
12.3.2015 erklärte, dass die Übertrittsmöglichkeit in § 6 Abs. 3 der Multilateralen Versetzungsordnung geregelt sei und das Kultusministerium „keine konkreten Planungen“ verfolge, Maßnahmen
für eine weitere Öffnung zu ergreifen. Eine weitere inhaltliche Diskussion erübrigt sich daher.
Wir stellen mit Verwunderung fest, dass der AK Gymnasium 2020 schon jetzt, da die Gemeinschaftsschule erst bei Klasse 7 angelangt ist, davon auszugehen scheint, dass entgegen der Versicherung
durch das Kultusministerium offensichtlich Französisch den Schülern des E-Niveaus nicht auf eben
diesem, nämlich dem gymnasialen Niveau, vermittelt werden kann. Dasselbe scheint der AK aber
auch für alle Kernfächer anzunehmen, denn für die Schulwechsler aus Gemeinschaftsschule und
Realschule soll als individuelles Lernangebot ein dreistündiges „Fundamentum“ eingeführt werden,
das der Übung und Vertiefung dienen soll. Man geht also davon aus, dass die Schüler der
Gemeinschaftsschule im E-Niveau nach Klasse 10 weniger gelernt haben als die Schüler nach der 9.
Klasse am Gymnasium trotz entsprechender Abstimmung der beiden Bildungspläne (G8 und
gemeinsamer Plan), für die ja angeblich die Durchlässigkeit als oberstes Leitprinzip gelten soll.
Eltern, die ihre Kinder auf eine Gemeinschaftsschule schicken in dem festen Glauben, sie bekämen
dort das gymnasiale Niveau (E-Niveau) vermittelt, sollte diese Vorahnung des AK stutzig bzw.
misstrauisch machen.
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Ungeachtet dessen kann in der OS1 ein gewisser, wie im Einzelnen auch immer zu organisierender
Spielraum für Vertiefungs-/Übungsstunden (entsprechende Organisation von Poolstunden) eine
Optimierung der Vorbereitung für die Kursstufe sein. Müssen sie für sehr gute Schülerinnen und
Schüler zwingend obligatorisch sein? Ihre vermeintliche/tatsächliche Dringlichkeit ist auch Ausdruck
der Tatsache, dass - wie auch seitens des AK festgestellt wird - aufgrund der Schulzeitverkürzung die
11. Klasse fehlt und deshalb ein zeitlicher Druck bzw. Lerndefizite feststellbar sind. Anders
ausgedrückt: in einem 9jährigen Gymnasium würden sich viele der jetzt diskutierten Probleme gar
nicht stellen.
b) Qualifikationsphase OS2/OS3 und Abiturprüfung
So nachvollziehbar es ist, dass man in OS2 und OS3 „universitätsnahe Organisationsformen des
Unterrichts“ als wissenschaftspropädeutische Maßnahmen vorsieht, so bedenklich ist eben auch,
dass dies dann mit 15-17jährigen geschieht, was durchaus die Frage der Altersgemäßheit und damit
der Sinnhaftigkeit aufwirft und eben nicht zuletzt die Frage einer Parallelführung von G8 und G9.
Der PhV BW würde den Wegfall der Präsentationsprüfung sowie die Streichung der GFS in OS2 und
OS3, auf jeden Fall jedoch in OS3, befürworten. Der Seminarkurs (Besondere Lernleistung) soll jedoch
fakultativ bleiben und weiterhin mit drei Stunden ausgestattet sein, weil ein Belegungszwang den
Reiz bzw. Leistungsanreiz vermindern würde.
Die Vorschläge zur äußeren Differenzierung in Mathematik, Deutsch und den Fremdsprachen im
Sinne von Vertiefungskursen für die Leistungsstärkeren und Fundamentum-Kursen für die
Leistungsschwächeren tragen der bereits erwähnten Tatsache Rechnung, dass das Lernergebnis bei
einer Lerngruppenbildung gemäß Leistungsvermögen besser ist als bei maximalheterogenen
Gruppen. Seit der Abschaffung der Grund-und Leistungskurse konnte diese Beobachtung landesweit
vor allem im Fach Mathematik gemacht werden. Der AK scheint sich dieses Phänomens voll und ganz
bewusst zu sein und so stellt sich die Frage, warum nicht gleich eine Wiedereinführung eines Grundund Leistungskurssystems empfohlen wird. Dies würde auch wieder die Möglichkeit eröffnen, eine
Fremdsprache als Nebenfach/Grundkurs zu belegen. Seit der Abschaffung der Grund- und Leistungskurse 2001/2002 wird allgemein bedauert, dass in der Kursstufe eine Fremdsprache nur als Hauptfach belegt werden kann.
Ein Wegfall der 2007 eingeführten Vorgabe, wonach das 4. Hauptfach eine Naturwissenschaft oder
eine 2. Fremdsprache sein muss, ist - wenn überhaupt - nur unter folgenden Bedingungen denkbar:
der Stellenwert der Naturwissenschaften (MINT) beim Abitur müsste geklärt werden, denn
schließlich wird von vielen Seiten immer wieder gerade eine Stärkung des MINT-Bereichs gefordert.
Die Wahl des 4. und 5. Hauptfaches könnte nicht beliebig sein. Es müsste sichergestellt werden, dass
beispielsweise nur je ein Fach der Fächergruppe Musik-Kunst-Sport und ein Fach der Fächergruppe
Geschichte-Geographie-Wirtschaft-Politik gewählt werden kann. Wenn - vor allem bei
Wiedereinführung einer Nebenfachfremdsprache - eine 2. Hauptfachfremdsprache verzichtbar
erscheint, so ist es doch äußerst zweifelhaft, ob tatsächlich keines der fünf Hauptfächer eine
Naturwissenschaft zu sein hat.
Grundsätzlich erscheint eine - früher schon einmal geltende - Regelung mit nur drei schriftlichen
Prüfungsfächern und zwei mündlichen unter den genannten Vorgaben über die Art der mündlichen
Prüfung denkbar. Natürlich kann eine Fremdsprache gemäß KMK-Vorgabe schriftlich oder mündlich
geprüft werden. Jedoch wurde in den vergangenen Jahren sehr viel Energie in die Entwicklung der
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sogenannten Kommunikationsprüfung in den modernen Fremdsprachen investiert. Sie ist Teil der
schriftlichen Prüfung, die also einen schriftlichen und einen (innovativen) mündlichen Teil umfasst.
Nach zwei Durchgängen wird die Kommunikationsprüfung von allen Beteiligten sehr gelobt. Würde
sich ein Schüler in der Fremdsprache mündlich und nicht schriftlich prüfen lassen, so wäre diese
mündliche Prüfung vermutlich eine traditionelle mündliche Prüfung und die innovative
Kommunikationsprüfung entfiele, während bei dem Schüler, der sich in der Fremdsprache schriftlich
prüfen ließe, dieses innovative Element, also auch ein mündlicher Teil, enthalten wäre. Eine
verpflichtende schriftliche Prüfung in der Fremdsprache wäre daher wünschenswert. Eine schriftliche
Abiturprüfung gäbe es aber dann nur noch in den Fächern Deutsch, Mathematik und den
Fremdsprachen. Die Frage ist, ob vor diesem Hintergrund nicht doch eher an der vierten schriftlichen
Prüfung festgehalten werden sollte.
Der PhV BW regt an, bei einer Abiturprüfungsleistung von 0 NP die Abiturprüfung als nicht bestanden
einzustufen und die Zahl der zu tolerierenden Unterkurse zu reduzieren.
Hauptvorstand des PhV BW
Stuttgart, 3. Juli 2015
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