„Amokläufe an Schulen _ Wie Columbine

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„Amokläufe an Schulen _ Wie Columbine
stern.de - 20.4.2009 - 20:58
URL: http://www.stern.de/panorama/661363.html
Amokläufe an Schulen:
Wie Columbine - nur schlimmer
Von Katharina Schönwitz
© Daniel Maurer/AP
Was bleibt von einem Schul-Massaker
wie zuletzt in Winnenden? Unter
anderem die Erkenntnis, dass in Sachen
Prävention noch einiges im Argen liegt
Der Amoklauf an der Columbine
High School vor zehn Jahren war
nicht der erste an einer Schule.
Doch nie zuvor hatten Täter ihren
Exzess derartig vorbereitet und
inszeniert. Die USA haben aus der
Katastrophe gelernt, in
Deutschland dagegen blieb die
Politik nach ähnlichen Vorfällen
weitgehend tatenlos.
Die Schüler saßen an kleinen runden
Tischen in der Bibliothek, blätterten
in ihren Büchern und lernten, als
zwei ihrer Mitschüler hereinstürmten
und um sich schossen. Panisch
flüchteten die 52 Schüler, zwei
Lehrer und zwei Angestellte unter die Tische, um dem Kugelhagel zu
entkommen. Einige wurden von den Mördern hervorgezerrt, andere unter
dem Tisch kauernd erschossen. In der High School kamen zwölf Schüler und
der Sportlehrer Dave Sanders ums Leben, 23 Menschen wurden verletzt. Es
hätte sogar noch schlimmer kommen können an jenem 20. April 1999: Die
beiden Amokschützen hatten Bomben gebaut und teilweise in der Cafeteria
versteckt. Dank technischer Mängel detonierten diese nicht.
Columbine High School: Der Inbegriff des Amoklaufs
Noch heute, zehn Jahre später, kursieren im Internet die Bilder, die eine
Überwachungskamera in der Bibliothek der Columbine High School
aufzeichnete, ebenso Tagebuchnotizen der Täter. Zahlreiche amerikanische
Fernsehsender berichteten am 20. April 1999 live aus der Kleinstadt Littleton
nahe Denver - die ganze Welt konnte zusehen, wie sich ein angeschossener
Schüler aus Angst vor den beiden Amokläufern aus dem Fenster stürzte und
schwer verletzte.
"Sie wollten zu Medienhelden werden"
Die beiden 17 und 18 Jahre alten Täter hatten auf diese Aufmerksamkeit
spekuliert. "Sie wollten zu Medienhelden und Ikonen werden", erklärt der
Darmstädter Psychologe Jens Hoffmann. Mit Kollegen hat er eine Methode
zur Früherkennung von "school shootings" entwickelt und sich intensiv mit
Amokläufern in Deutschland und Amerika und deren Warnsignalen
beschäftigt. Mindestens ein Jahr lang planten die beiden Freunde ihre Tat,
schon Monate vorher hatten sie in Videos, Kurzgeschichten und
Tagebucheinträgen ihre Gewaltfantasien beschrieben. Viele davon sind immer
noch im Internet zu finden, für Jens Hoffmann ein Graus. "Genau das wollten
die beiden: Endlich mal jemand sein. Präsent sein in allen Medien, berühmt
werden." Deswegen plädiert der Wissenschaftler dafür, keine Namen der
Täter zu nennen und ihre Fotos zu verändern.
Auch Lothar Adler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in
Mühlhausen in Thüringen, sieht bei den Columbine-Tätern noch einen
weiteren Unterschied zu früheren Amokläufen. Sie hätten ihre Tat regelrecht
ritualisiert. "Sie trugen schwarze Trenchcoats, sie wählten Hitlers Geburtstag
als Termin." Dieses Kalkül, das Effekt heischende und berechnende
Vorgehen, sei auch bei späteren Amokläufern immer wieder aufgefallen.
"Auch vor 400 Jahren sind die Leute Amok gelaufen"
Adler hat mehr als 500 Amokläufe wissenschaftlich untersucht, darunter auch
viele, die mehrere hundert Jahre zurückliegen. Dabei kommt er zu dem
gleichen Ergebnis wie sein Darmstädter Kollege, nämlich dass gewalttätige
Computerspiele oder Horrorfilme keine Auslöser sind. "Vor 400 Jahren gab
es definitiv keine Videospiele und Horrorfilme, und die Menschen sind
trotzdem Amok gelaufen."
Neben der Ritualisierung sieht Jens Hoffmann auch den Versuch der Täter,
ihre Grausamkeit durch krause Ideologie zu rechtfertigen. "Sie sprachen in
ihren Videos und Tagebüchern immer wieder davon, dass sie das angeblich
unmenschliche System zerstören wollten." Der spätere Amokläufer von
Emsdetten unterlegte seine Videos mit RAF-Zitaten. Er kleidete sich schwarz
wie seine Vorgänger in Columbine, auch die Amokläufer von Winnenden
und Erfurt kleideten sich dunkel. Einer der Jugendlichen übernahm sogar den
amerikanischen Ausdruck "jocks", den die beiden Amokläufer von
Columbine für die von ihnen verhassten sportlichen Schüler benutzt hatten.
Jens Hoffmann stieß bei seinen
Recherchen immer wieder auf
Videos potenzieller Nachahmer, in
denen Bezug auf Columbine
Schul-Massaker: Amok im Theater genommen wurde. "Oft war darin die
Rede davon, dass es genauso wie in
Jugendschutz bei Videospielen: Der Columbine werden soll, nur noch
schlimmer." Insgesamt sehen die
"Killerspiel"-Prüfer
beiden Wissenschaftler sehr viele
Übereinstimmungen bei den
jugendlichen Amokläufern, egal ob in den USA, Finnland oder Deutschland.
Alle hatten schon lange vor der Tat gewaltverherrlichende Bilder gemalt
oder Videos gedreht. In allen Ländern kamen sie auf ähnliche Weise zu den
Waffen, nämlich "meistens über Freunde oder die Familie", sagt Jens
Hoffmann.
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Während die Anzahl der "school shootings" in den USA durch gute
Präventionsarbeit von geschulten Lehrern seit 1999 gesunken ist, nimmt sie
in Deutschland zu. Hoffmann findet, dass die Politik seit Erfurt viel zu
wenig getan hat. Jetzt müsse die Prävention schleunigst verbessert werden.
"Auch in Deutschland muss es an jeder Schule zwei oder drei Lehrer geben,
die speziell in Sachen Früherkennung geschult sind", so der Psychologe. "Sie
müssen gefährdete Schüler im Auge behalten und Ansprechpartner für
Mitschüler sein, die etwas mitbekommen. Außerdem müssen sie mit der
Polizei und anderen Behörden vernetzt sein."
"Egoshooter spielen alle"
Denn bei allen Schießereien an Schulen habe es Warnsignale gegeben:
"Egoshooter zu spielen ist kein Indiz, das spielen die meisten Jugendlichen
heutzutage. Aber wenn jemand seine Schule in das Spiel einbindet oder droht,
seine Lehrerin zu erschießen, dann müssen Lehrer und Eltern genauer
hinsehen." Vor allem müsse allen Jugendlichen klar gemacht werden, dass
Amokläufer keine Helden sind. "Sie sind Mörder und Verlierer und sonst gar
nichts", sagt Jens Hoffmann.
Artikel vom 20. April 2009

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