Prognose des apallischen Syndroms –
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Prognose des apallischen Syndroms –
Prognose des apallischen Syndroms – Von der medizinischen Prognose zur Entwicklung einer sozialen Perspektive PD Dr. Andreas Zieger www.a-zieger.de Evangelisches Krankenhaus Oldenburg Abt. für Schwerst-Schädel-Hirngeschädigte CvO Universität Oldenburg Gesundheits- und Klinische Psychologie Klinische Neurorehabilitation Vortrag zum Workshop Neurologische Intensivmedizin, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum Münster am 10. Juni 2006 Übersicht I II III IV V Problemorientierung Medizinische Prognose Bedeutung neuer Bildgebung Eigene Outcome-Studie Soziale Perspektive I Problemorientierung Die Prognose bestimmt unser Verhalten – und unser Verhalten die Prognose! [Steinbach & Donis 2004] • Unzureichende Datenlage in der Forschung • Hohe Rate an Fehldiagnosen: 13-40%! • Prognostische Unsicherheit – eine sichere Vorhersage im Einzelfall ist nicht möglich! • Vorzeitiger Therapieabbruch • Mangelnde Abklärung der individuellen Rehapotenziale durch konsequente Frühreha • Diskriminierung, sozialer Ausschluss • Ethische Konflikte Terri Schiavo (2005) ? ? II Prognose – Historisch? Aktuell! Johannes Hoff im Geleitwort zur Monographie von Gerstenbrand (1967): „Das traumatische apallische Syndrom besitzt heute keineswegs mehr eine infauste Prognose … Das Buch ist daher eine Mahnung zum Versuch einer Rehabilitation in jedem Fall.“ Gerstenbrand (1990: 166) „Das apallische Syndrom ist eine Funktionsstörung, kein Defektzustand auf Dauer … Jeder Apalliker ist prinzipiell rückbildungsfähig.“ Prinzipielle Verlaufsformen Gerstenbrand 1967: 257 1. Vollbild mit tödlichem Verlauf in der Initialphase 2. Vollbild mit Remissionszeichen >6 Wo und langsamer Übergang in eine bleibende Behinderung über Wochen / Monate /Jahre 3. Vollbild mit früher Besserung <3 Wo und rascher Wiederherstellung / Resozialisierung Medizinische Prognose (1) Spontanverlauf Höchste Vorhersagekraft klinisch im Akutstadium Prädikatoren? beim Trauma durch • Alter Kombination von: • Ätiologie, Lokalisation* • Alter • Pupillenweite/-reaktion • Pupillenreaktion • motorischer Antwort • Hirnstammreflexe • Hirnstammbeteiligung* (Choi 1993) • Motorisches Antwortverhalten • HZV, SEP, EEG, P300, N400 • Komadauer • Co-Morbidität, Komplikationen Hirnstammbeteiligung im MRT Modifiziert nach Firsching et al 2003 „Tödlicher Knotenpunkt“ im neuronalen Netzwerk des KomaSyndroms oberer dorsaler Pons Parvici & Damasio 2003 Hypoxie - anoxisches Koma Indikatoren für schlechte Prognose* Nach 30 Minuten: • Fehlende Pupillenreflexe Nach 24 Stunden: *mit hoher Wahrscheinlichkeit Tod oder apallisches Syndrom Haupt et al 1997 • Fehlender Cornealreflex • Zwei der folgenden Antworten fehlend: Pupillenreflexe, Cornealreflex, PuppenkopfPhänomen, motorische Antwort Nach 3 Tagen: • Fehlende motorische Antwort, SEP bds? EEG? • Plasma-NSE-Wert >120 ng/ml (erste 5 Tage) Prognose – Spontanverlauf Multi Society Task Force on PVS 1993 120 100 erwacht 80 60 Trauma 40 tot 20 vegetativ N = 434 % 0 120 0 3 100 6 9 12 Monate erwacht 80 Hypoxie tot 60 N = 169 40 vegetativ 20 % 0 0 3 6 9 12 Monate Koma und Remissionsstadien (nach Gerstenbrand (1967) • Hirntodsyndrom: keine Remission möglich! • Koma (ca. 3 Wo) (Intensivstation) vegetativ Wachkoma-Vollbild vegetativer Status Apallisches Syndom Remissionsstadien I und II emotional Minimales Antwortverhalten: MRS, MCS Remissionsstadium III-IV HOPS, cognitive impaired state Remissionsstadium V Erholt, Integration kognitiv Prognosesicherheit von Ärzten (EU-Biomed I Programm: Nationaler Bericht 1998) Erfahrenheit der Ärzte N=283 unerfahren n=51 erfahren n=232 Komadauer 1-3 M % % überhaupt nicht sicher wenig sicher ziemlich sicher sehr sicher 43 16 10 14 57 23 12 3 25 12 10 35 9 6 31 48 Komadauer >12 M überhaupt nicht sicher wenig sicher ziemlich sicher sehr sicher Individuelle Lebenserwartung – Überleben im „vegetative state“ Minderhoud & Braakman 1985 • über 3 Jahre: • über 5 Jahre: • über 6 Jahre: 58% 34% 22% Jennett 1993: 105 „Es gibt wohldokumentierte Einzelfallberichte von Überlebenden von 10, 15 und 18 Jahren, einer sogar von 36 Jahren. Es ist diese Kapazität für ein verlängertes Überleben, die das ethische Dilemma ausmacht…“ Spätes Erwachen/Erholung Autor May 1968 Rosenberg 1977 Higashi 1981 Tanheco 1982 Snyder 1983 Shuttleworth1983 Arts 1985 Falk 1990 Jordan 1990 Levin 1991 Andrews 1996 Thümler 1994 Golby 1995 Childs 1996 Dyer 1997 Zieger 1998 1968-1998 n 1 1 2 1 1 1 1 1 1 5 11 1 1 1 1 5 35 Ätiol Dauer Hypx 12M Hypx 17M Hypx 8M 3J Hypx 6J Hypx 22M Hypx prolong trauma 2,5J Hypx prolong Trauma prolong Trauma 1-5J Hypx 4-8M Hypx 3J Hypx 5M Hypx 6J Hypx prolong SHT Hpx 1-13J Hpx>SHT 4M-13J Outcome schw B mäßig B schwr B gute Erh schw B gute Erh gute Erh gute Erh gute Erh gute Erh schw B alle Grade Das „Wunder“ Terry Wallis Terry Wallis (20) 1984: Dauerkoma nach Unfall mit Tetraplegie / Beugespastik 2003: Im Pflegeheim erwacht. Sagt „Mom“, “Pepsi“ Fehlinformation durch TV and Medien Wijdicks & Wijdicks (2006): Review von 30 Filmen und 22 Szenen zwischen 1970-2004 mit Erwachen aus einem prolonged coma: • Verkehrsunfall als Komaursache: 68% • Komadauer: Tage bis 10 Jahre • Auftreten von Erwachen: 60% plötzlich, kognitiv unbeeinträchtigt trotz langer Komadauer, „Dornröschen“-Bild • Adäquate Darstellung: in 2 von 30 Filmen (7%) in 8 von 22 Szenen (36%) Medizinische Aufklärung und Beratung notwendig! Medizinische Prognose (2) unter Intervention (Frührehabilitation) Aktivierung und Förderung der neuroplastischen Potenziale und der funktionellen Restitution • Zeitfenster: so früh wie möglich • Spezifische Therapieansätze: z.B. „Komastimulation“ • Integrierte Strukturen und interdisziplinäre Teamarbeit mit Einbeziehung von Angehörigen „soziales Gehirn“ Verlaufsdynamik • • • • erste Remissionszeichen innerhalb von 21 Tagen? frühe Reagibilität im „overt behavior“? SEKS/KRS frühe Reagibilität im „covert behavior“? HRV, EEG Nachweis von P300?, N400? Neue Bildgebung: (sub)kortikale Aktivierbarkeit? Einfluss von sensorischer Stimulation und Dialogaufbau auf frühe Reagibilität und Outcome nach schwerem SHT (n = 42 Koma-Patienten) (Hildebrandt et al 2000, Zieger et al 2000) Hirnstammbeteiligung p = 0.025 Komadauer Max. des mittl. HR-Frequenzbandes* unter Stimulation p = 0.009 FIM-Outcome *Indikator für unbewusste emotionale Verarbeitung EEG-Reagibilität im Power-Spektrum mit ereigniskorrelierter ß-Aktivierung unter therapeutischer Intervention Interventionsereignisse L R 1 2 3 Verlaufsdynamik - KRS KRS geht Anstieg im FIM um 4 Wo voraus! FIM N = 11 FIM Summenscores KRS Wochen nach hypoxischer Schädigung Modifiziert nach Dauch 2003 III Bedeutung neuer Bildgebung Hirn-SPECT mit kortikaler Residualaktivität beim hypoxischem Wachkoma im Sinne von „Traumaktivität“ NRZ Greifswald 1999 Schmerzempfinden im Wachkoma? anteriores Cingulum ACC „Knotenpunkt“ im Netzwerk für „Schmerzempfinden“ N=8 Schmerzverarbeitung möglich! (Kassubek et al 2003) Aktivierbare subkortikale und kortikale inselförmige Areale im PET/fMRT (Schiff et al 2002) Hypometabole Hirnregionen (PET) im vegetativen Status (nach SHT) Ausgedehnte Läsionen - Diskonnektionen Nakayama et al, Mai 2006 Intrakortikale und thalamokortikale Diskonnektion Hypometabole Areale Normale Aktivität (Laureys et al 1999-2004) Emotionale Verarbeitung bei MCS A Fremde Stimme vs B+C vertraute Stimme (Mutter) (Bekinschtein 2005) Auditorische Stimulation bei PVS/MCS Kreuzkorrelation kortikaler Aktivitäten MCS PVS (Boly et al 2004) IV Eigene Outcome-Studie Station für Schwerst-Schädel-Hirngeschädigte, Ev. Krankenhaus Oldenburg Prospektive Studie 1997-2004 Einschlusskriterien: • • • • • Schweres SHT (CT, MRT, EEG) Komadauer mindestens 21 Tage GCS_A max 8/15 Punkte KRS_A max 12/23 Punkte GOS 2 Punkte („apallisch“, „Wachkoma“) Patienten n = 53 Alter durchschnittl 39,5 Jahre (17 - 71) Geschlecht w 33 m 20 Ätiologie • SHT/Polytrauma n = 22 • Hypoxie n = 15 70% • ICB/Insult n = 13 • SAB/OP n=2 • Enzephalitis n=1 Verweildauer • Intensiv 49,2 Tage (11-190) • Frühreha 163,6 Tage (39 - 354) Outcome-Parameter • • • • • • • • • GCS, GOS (Komatiefe, Outcome) KRS, SEKS* (Reagibilität/Remisisonszeichen) FRB (Grad der Pflegeabhängigkeit) FIM (Funktionelle Unabhängigkeit) Mobilitätsstatus Status orale Ernährung Kommunikationsstatus Remissionsstatus (modif. nach Gerstenbrand 1967) Entlassungsstatus *Zieger 1997-2002 Outcome - Komaskalen (Vergleich Mittelwert Aufn/Entl N = 53) 30 p = 0.00 25 p = 0.00 20 p = 0.00 15 10 5 0 Aufn Entl GCS KRS SEKS 6,3 12,9 7,6 17,5 9,5 24,5 Outcome GOS – alle Ätiologien % 62% 70 60 50 40 81% 30 20 10 0 GOS 1 tot GOS 2 apall GOS 3 schwb GOS 4 mb GOS 5 gErh Outcome GOS - Hypoxie/SHT N = 37 70% SHT 14 12 Hypoxie 10 8 Hypox SHT 6 4 2 0 GOS 1 GOS 2 GOS 3 GOS 4 GOS 5 Outcome - Mobilitätsstatus 75% 40 35 30 25 20 15 25% 10 5 0 bettlägerig Rollstuhl Rollstuhl Gehen passiv aktiv mHP Gehen selbst Outcome - Status orale Ernährung Frühe Oralisation korreliert mit besserer Prognose! (vgl. Formisano et al 2004) 60 50 66% ohne TK 40 „essfähig“ 30 34% 20 38% 17% 11% 10 0 TK mPEG oral passiv oral aktiv oral selbst oPEG „schluckfähig“ mHP Aufn Entl Outcome - Kommunikationsstatus analog ˜ digital 36% 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 34% Buzzer 20,5% 9,5% nur vegetativ Ja/Nein Code nonverbalemotional verbal Outcome – Remissionsstatus [modifiziert nach Gerstenbrand 1967: 55] R0 R1 25 R2 R3 R4 40% R5 LIS = 2 4% 20 26,5% 15 10 5 0 13% 7% 5,5% 4% Volbild opt Fixieren opt Folgen Zuwendung Unmut Eigenakt Zorn HOPS Integration Outcome - FIM und FRB 60 Alltagsrelevantes Outcome gering Pflegeabhängigkeit hoch 79% 50 83% 40 30 Aufn Entl 20 10 0 FIM <33 FIM <66 FIM >66 FRB <0 FRB <30 FRB >30 Ergebnisse - Entlassungsstatus soziale Perspektive? 45% 25 20 15 23% 17% 10 9,5% 5,5% 5 0 verst Akutkl Pflege stat Pflege amb Reha weiterf Reha AHB Apallisches Syndrom als menschliche Seinsweise – medizinisch und sozial? • verstorben • im Dauerkoma lebend Grauzone „Living with liminality“* • bedürfnisnah kognitiv präsent und/oder verbal kommunikabel • körperlich pflegeabhängig • Integration und Teilhabe? 10% 10% *Mwaria 1990, Studie bei Angehörigen von 200 Wachkoma-Patienten 10% 80% 75% V Soziale Perspektive „Die Prognose wird zu 80% durch psychosoziale Umstände bestimmt, durch die Hirnschädigung selber nur zu 20%.“ (Ben-Yishay (1993) Definition • Das menschliche Miteinander (Löwith) • sich auf andere beziehen • für andere Sinn machen und Bedeutung haben Ziel Trotz schlechter medizinischer Prognose in sozialer Gemeinschaft leben und teilhaben! Durch den sozialen Faktor kann die Prognose gehemmt oder gefördert werden • • • • Angehörigenbesuche auf der Intensivstation? Vorhandensein einer Familie? Übergang vom Krankenhaus in die Schwerstpflege? Funktionstüchtigkeit der sozialen Netzwerke Familie, Schule, Betrieb, Gemeinde? • Gesellschaftliche Strukturen, Ressourcen und Akzeptanz? Ohne ein intaktes soziales Umfeld ist der Aufbau einer individuellen Lebensqualität mit Wohlbefinden und Zufriedenheit für Koma-Patienten und ihre Angehörigen kaum möglich! Wachkoma-Studie NRW 1999/2000 (Bienstein & Hannich 2000) Bereits geringe Beratung, Information und Hinweise zur Lebensweltgestaltung in Pflegeeinrichtungen Und im häuslich-ambulanten Bereich führen zu messbaren Veränderungen im Pflegestatus, der Zufriedenheit der Bewohner sowie in der Entlastung von Angehörigen und Betreuern. Durch soziale Assistenz lassen sich viele sonst nicht mögliche Bedürfnisse wieder befriedigen. Notwendige Voraussetzungen Personell • Ausreichend qualifiziertes Personal: Pflege, Therapeuten, Ärzte (Teamfähigkeit) Strukturell-organisatorisch • • • Geeignete Pflegeeinrichtungen Familienentlastende Dienste, mobile Reha Tagesstätten, Wohngruppen, Wachkoma-Haus Materiell • Mischfinanzierung Psychologisch • • • • • Überwindung von Defizitorientierung Kompetenzen und Selbstwirksamkeit beachten Soziale Beziehung und Kommunikation stärken Positiv denken, Mut machen Achtung und Anerkennung aussprechen Soziales Netzwerk • • • • Case Management, personale Navigation Solidarische Haltung, Selbsthilfegruppen Gemeinde- und alltagsnahe Integration Soziale Mobilität und Teilhabe (WHO ICF 2001) Aus dem Tagebuch einer einer Komaund Wachkoma-Erfahrenen … SHT 1984: nach 3,5 Jahren aus dem apallischen Syndrom remittiert Von der blinden Patientin mit der ABCMethode diktiert: Ich weiß nicht, wo sich meine Körperteile befinden. Ich merke nicht, dass ich mich anspanne. (10.5.1991) Ich habe das Stadium eines Apallikers durchlaufen. (28.7.1991) Meine Eltern helfen mir nicht, um Anerkennung zu kriegen, sondern weil sie mich lieben! (2.10.1992) Ich kann nicht mit den Augen sehen, aber mit dem Herzen! (20.10.1992) Behinderte sind Menschen wie Du und ich! (11.10.1992)