St. Galler Tagblatt

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St. Galler Tagblatt
Samstag, 24. Januar 2015
Focus
27
ZEITGEIST
Befreiung der
Achselhaare
Um zu protestieren, braucht es
nicht zwingend Transparente
und Demonstrationen. Performancekünstlerin Marina Abramović beweist das immer wieder. Ihr Körper ist ihr Transparent. Schon 1975 bürstete sie
sich in einem Kunstvideo die
Haare so heftig, dass der Zuschauer glaubte, selber zu spüren, wie es ziept. Damit protestierte Abramović gegen das
Schönheitsideal in der Kunst.
Diese hatte damals ausschliesslich adrett zu sein.
Heute protestieren Frauen
gegen das menschliche Schönheitsideal. Hübsch ist, was unbehaart ist. Nach Achsel-, Beinund Schamhaaren müssen deshalb auch jene im Gesicht verschwinden. «Dermaplaning»
heisst diese Art der Rasur, die
aus Japan stammt. Frau geht
also wie Mann zum Barbier und
verspricht sich davon feinere
Haut und jüngeres Aussehen.
Seit dem Ende der Hippiezeit schon zeigt die haarige
Kurve nach unten. Bald könnte
sie wieder nach oben führen.
Gegnerinnen des AalglattTrends setzen wie Abramović
auf ihren Körper – und auf
Natur pur. Sie treten dem digi-
(K)ein Volk
von Skifans
Bis aus den Schweizern wenigstens für
ein paar Jahre eine echte Ski-Nation wurde,
brauchte es zwei Weltkriege, einen
skibegeisterten General und viele Medaillen.
KATJA FISCHER DE SANTI
Mit drei übten wir die ersten
Schwünge zwischen Vaters Beinen, mit sechs wurden wir in die
Skischule geschickt, mit zehn ins
Skilager – und hiess es «Pulver
gut» dann quetschte sich die
Familie morgens um sechs ins
Auto, um spätestens um halb
neun in der Schlange an der Talstation zu stehen. Fürs Skifahren
reichte das familiäre Budget in
den 1980er-Jahren irgendwie immer. Gespart wurde an den Sommerferien. Da war nix mit Meer,
nix mit all-inclusive in Tunesien.
Eine Schweizerin kann Ski fahren. Daran pgab es in meiner
Kindheit keinen Zweifel.
Das ist 25 Jahre her und entspricht nicht mehr ganz der Realität. Zwar gibt gut ein Drittel der
Schweizerinnen und Schweizer
an, Ski zu fahren, doch sie tun
dies weniger oft und gerne auch
im Ausland.
Die Tourismusbranche jammert denn auch seit Jahren, dass
Familie Schweizer zu wenig Wintersport betreibe und dass Immigrantenkinder ohne SkilagerObligatorium dem Ski-Virus niemals erlägen und lieber Fussball
spielen würden. Dies obwohl der
Anteil einheimischer Wintergäste in den Alpen steigt (54 Prozent
im Jahr 2012/2013). Doch gerade
in Zeiten des schwächelnden
Euro und der fehlenden ausländischen Gäste sollen Schweizer
Skifahrer dem regionalen Tourismus den Rücken stärken. Wer
etwas in den Geschichtsbüchern
blättert, dem kommen solche
Sprüche bekannt vor.
Die Österreicher waren zuerst
Denn die Schweiz ist nicht
etwa seit der Faltung der Alpen
eine Ski-Nation, sie wurde mit
viel Propaganda zu einer gemacht. Bis um 1930 war der
Unterländer «gottenfroh», hatte
er des Winters nichts mit diesen
Bergen zu tun. Dort drohten nur
Lawinen, beissende Kälte und
permanente Rutschgefahr.
Es brauchte schon die für ihre
sportliche Extravaganz bekannten Briten, um die neuartigen
Alpinski (Made in Österreich!) in
den 1920er-Jahren an den hiesigen Hängen zu testen. So gilt
etwa der Engländer Sir Arnold
Lunn als Vater der Slalom- und
der
Abfahrtsdisziplin.
1922
steckte er den ersten offiziellen
Slalom der Skigeschichte am
Lauberhorn – notabene für die
britische Skimeisterschaft. Als es
Lunn 1930 gelang, Slalom und
Abfahrt als Skidisziplinen beim
FIS-Kongress in Oslo anerkennen zu lassen, und er den ersten
Alpinen-Weltcup ins Berner
Oberland holte, erwachte die
Ski-Nation Schweiz langsam aus
ihrem Winterschlaf.
Die armen, blassen Kinder
Doch es brauchte den Ersten
und den Zweiten Weltkrieg, geschlossene Grenzen, Weltwirtschaftskrisen und immer mal
wieder einen zu starken Franken,
bis die Schweizer Fremdenverkehrsindustrie das Potenzial der
Einheimischen erkannte.
In der Broschüre der Vorläuferorganisation von Schweiz
Tourismus wurden Eltern 1936
aufgefordert, ihre Kinder vom
«Segen des Bergwinters» und der
«reinen Luft» profitieren zu lassen. «Wer seine elterliche Pflicht
wahrnehme, könne miterleben,
wie blasse, schwache Kinder
aufblühten und bald braunge-
Die Österreicher
haben den Alpinski
erfunden, die Briten
haben ihn gefahren.
brannte Pausbacken hätten»,
fasst Autor Michael Lütscher, in
seinem Buch «Schnee, Sonne
und Stars», die damalige Propaganda zusammen.
Heizferien in den Bergen
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und ausländische Touristen, aber auch Benzin und Kohle
Mangelware wurden, führte der
Bund «Heizferien» ein. Menschen, die wegen des Kohlemangels nicht arbeiten können, sollen in die Berge fahren und sich
von der Sonne heizen lassen.
«Macht Ferien! Schafft Arbeit!»,
rief Bundesrat Enrico Celo 1940
der Bevölkerung zwecks geistiger Landesverteidigung zu.
Archivbild: Stöckli Swiss Sports AG
Sie bauchfrei, er im Hemd und mit pinken Ski, so warb Stöckli während des Ski-Booms Ende der 60er-Jahre.
Es war dann aber ein anderer
Schweizer, der das Skifahren
zum Nationalsport machte. General Henri Guisan erklärte 1940
das Skifahren als ideale Tätigkeit,
um physisch und moralisch
Kräfte zu tanken, die es zur Landesverteidigung brauche. Kleines Detail am Rande: Henri Guisans Sohn war zu eben diesem
Zeitpunkt Präsident des Schweizerischen Skiverbandes (SSV),
Guisans Frau leitete 1943 eines
der frühen Jugendskilager in Engelberg.
Eine patriotische Pflicht
Tourismusbranche und Armee hatten nun ein gemeinsames Ziel: Skifahren soll zur patriotischen Pflicht werden. Es
lenkt ideal von den Kriegswirren
ab, stärkt die schwachen Bergregionen, sorgt für patriotischen
Zusammenhalt und ist auch
noch gesund (von der hohen
Unfallquote einmal abgesehen).
Was nun folgte waren die wohl
erfolgreichsten
Werbekampagnen in der Schweizer Tourismusgeschichte. «Gesunde Jugend, wehrkräftiges Volk durch
Wintersport», heisst es auf einem Werbeplakat aus dieser
Zeit. Der Tourismusverband liess
einen Film mit dem Titel «Ein
Volk fährt Ski» drehen. 100 000
Menschen sahen ihn in den
Kinos. Der Skiverband startete
zeitgleich mit den ersten Jugendskilagern und verteilte gratis Skiausrüstungen an arme Familien.
Die Propagandawelle wirkte.
Auch ohne ausländische Gäste
hatten die Hotel- und Kurbetriebe im Winter 1943/44 fast 90 Prozent der Frequenzen der Vor-
Skifahren sollte zur
patriotischen Pflicht
werden, um das Volk
fit zu halten.
kriegsjahre erreicht. Was auch
daran gelegen haben könnte,
dass das kriegerische Ausland
nicht gerade zum Ferienmachen
einlud.
Ski-Virus erfolgreich injiziert
Ganz bestimmt aber klang der
damalige Slogan «Das ganze Volk
fährt Ski» noch bis weit in die
Nachkriegsjahre hinein nach.
Der Ski-Virus war erfolgreich
injiziert. Obligatorische Skilager
(via Jugend+Sport vom Bund
subventioniert) und ein grosszügiger Infrastrukturausbau in
den Bergregionen trugen dazu
bei, dass in den 1970er-Jahren
scheinbar fast die ganze Schweiz
Ski fuhr.
Wer es nicht tat, der verfolgte
zumindest zu Hause am Bildschirm wie Bernhard Russi, Marie-Theres-Nadig, Pirmin Zurbriggen, Vreni Schneider und
Maria Walliser auf ihren Latten
der Welt davonfuhren. Zehn
Medaillen an den olympischen
Winterspielen in Sapporo und
sagenhafte 15 Medaillen 1988 in
Calgary machten aus dem Land
mit den vielen Bergen eine Nation, die weiss, wie man von diesen am schnellsten herunterfährt.
Und dann kam Albertville
Der alpine Skisport prägt ein
zweites Mal das Nationalgefühl.
Doch dann kamen Albertville
(drei Medaillen!), die Snowboarder, Billigflüge nach Tunesien,
ein gerissenes Kreuzband, grüne
Winter, andere Hobbies. Die Ski
begannen im Keller zu rosten,
die Ferienwohnung wurde verkauft. Doch an besonders nebligen Tagen im Flachland ertappt
man sich beim Gedanken, dass
der General schon Recht hatte
mit dem «Segen des Bergwinters». Und dass man seinen blassen Kindern die Sonne, aber
auch die kalten Hände, die
feuchten Socken und das unglaubliche Gefühl, im Tiefschnee
die ersten Schwünge zu ziehen,
nicht vorenthalten sollte.
talen «Hairy legs club» bei und
posten auf der gleichnamigen
Homepage Bilder von stoppeligen Ober- und Unterschenkeln.
Und seit US-Hairstylistin Roxie
Hunt ihrer Kollegin die Achselhaare gefärbt und Fotos des
Experiments gebloggt hat, tragen einige Frauen unter den
Armen nun bunt. Die Ergebnisse laden sie unter dem
Hashtag Freeyourpits ins Netz.
Sehr beliebt sind Grün, Pink
und Gelb. Und nicht selten erlebt Mann sein blaues Wunder.
Diana Bula
UND DAS NOCH
Artig sitzen
in der U-Bahn
In Bus und Zug herrscht Fettnäpfchen-Gefahr. Was man dort
alles falsch machen kann! Zu
laut Musikhören, zu laut reden,
nicht reden, Käse-Wurst-Salat
mit Knoblauch essen. In öffentlichen Verkehrsmitteln in Bern
hängen Piktogramme, welche
ermahnen, wie man sich korrekt
verhält. Auch die New York Verkehrsbetriebe erziehen nun ihre
Kunden – aber nur die männlichen. Schilder fordern die Passagiere auf, nicht mit gespreizten Beinen in der U-Bahn zu
sitzen. Einige Männer reagierten
verärgert. Dabei gehe es den
Verkehrsbetrieben nicht darum,
Fahrgästen ihre machoide Sitzposition auszutreiben. Man
wolle nur mehr Plätze schaffen,
hiess es. (dbu)

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