Markthalle Neun
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Markthalle Neun
Das Wunder von Kreuzberg Seit einem Jahr gibt es freitags und sonnabends wieder Wochenmarkt in der historischen Markhalle Neun. Dabei wäre um ein Haar ein Supermarkt mit Tiefgarage entstanden. Ein Spaziergang Text: Ulrike Schattenmann Erschienen in: zitty Berlin, November 2012 Zumindest Samstags scheint das Konzept aufzugehen: Zwischen den Ständen summt und brummt es, Kinder turnen auf dem Podest aus Holz herum. An einem Stand diskutieren Kunden über die Zubereitung des Pom-Pom Blanc, eines Pilzes, der aussieht wie ein Nadelkissen und auf deutsch Igelstachel heißt. An einem anderen erklärt die Dame von einem Urban-Gardening Projekt wie man aus Äpfeln Chutney macht. Daneben ein Gemüsehändler aus dem Spreewald, bei dem man Kartoffelsorten mit poetischen Namen wie Adretta, Afra, Laura kaufen kann oder der Züchter von alten Haustierrassen wie Woll- und Sattelschweinen. Einige Händler kommen direkt aus dem Kiez, die Weinhandlung Suff etwa oder die Bio-Bäckerei Soluna. Aber es gibt auch Käse aus dem Allgäu, Speck aus Südtirol und Lagerbier aus Brooklyn. Dass hier Händler frische Ware verkaufen, darf man getrost als kleines Wunder bezeichnen. Viele Jahre herrschte Stillstand und Verfall zwischen den gusseisernen Säulen der Halle hinter dem Lausitzer Platz, neben der Arminiushalle in Moabit und der Ackerhalle in Mitte die letzte historische Markhalle von einst vierzehn in Berlin. Irgendwann beschloss der Senat, das unrentable Ding zu verkaufen. Einige Zeit sah es so aus, als würden die Investoren mit der dicksten Geldbörse das Rennen machen. Deren Pläne reichten vom kommerziellen Orientbasar bis hin zum Mega-Supermarkt mit Tiefgarage. Am Ende bekamen jedoch nicht die Höchstbietenden, sondern das Team um Florian Niedermeier den Zuschlag. Das Konzept einer kleinteiligen Markt- und Kulturhalle wurde zusammen mit den Anwohnen erarbeitet. Auf dem Wochenmarkt in der Markthalle Neun kann man einkaufen, Gemüse, Obst, Wurst, Fleisch und Fisch, auch Holzspielzeug und Küchenwaren. Aber vor allem kann man eines: Schlemmen. Man weiß man gar nicht, was man zuerst probieren möchte. Tapas aus Spanien oder Räucherfleisch aus Tennessee? Rilette vom Räucherlachs oder Bratwurst vom Apfelschwein? Wer satt hierher kommt, ist selber schuld. Er wird einiges verpassen. Zum Beispiel eine Spezialität, die deutsche Auswanderer einst nach USA gebracht haben und erst seit kurzem hier exklusiv erhältlich ist: Smoked Barbecue, warm geräuchertes Fleisch. Anna Lai und ihr Partner Tobias Bürger haben dazu einen Original-Räucherofen aus Tennessee, einen sogenannten BBQ-Smoker, in die historische Markthalle geschafft. Ein riesiges Gerät, in dem ein ganzes Schwein stundenlang bei niedriger Temperatur mit dem Rauch von Walnuss, Eiche oder Fruchtholz gedämpft wird, solange bis es butterweich ist und einen dezenten Rauchgeschmack aufweist. Das sollte man unbedingt probieren, ebenso die geräucherten Forellen und Lachsfilets der Räucherei „Glut und Späne“ einen Stand weiter. Zwölf Stunden ziehen sie im Salzlake-Bad, bevor sie in den Ofen wandern. Dort färbt sie dann glimmender Smok von Buchenmehl, versetzt mit Salbei und Wacholder, sanft goldgelb. Michael Wickert macht daraus Brotaufstriche, sogenannte Rillettes oder serviert sie pur, mit frisch geriebenen Apfelsahnemeerrettich, dessen Schärfe erst im Gaumen explodiert und Sekunden später noch einmal, in der Nase. Wickert ist nicht nur Gastronom, sondern auch Fischereiwissenschaftler und leidenschaftlicher Angler, und man kann sich mit ihm ebenso ausführlich über die Feinheiten des Räucherns unterhalten wie über nachhaltige Fischerei oder seltene Speisefischsorten. Er ist eben einer, die „mit Herzblut bei Lebensmitteln dabei sind“, wie es Florian Niedermeier, einer der drei Betreiber der Markthalle, ausdrückt. Um solche Leute und ihr Angebot geht es hier, um kleine Betriebe und Erzeuger, die handwerklich arbeiten, Spezialitäten anbieten oder Lebensmittel veredeln. „Eine Halle für alle ist das nicht“ Noch reicht das Angebot nicht ganz für den Wochenendeinkauf, aber „wir sind bemüht, alles abzudecken“, sagt Niedermeier. Das Sortiment soll peu a peu erweitert werden. Schon bald eröffnet eine Mikrobrauerei im Keller, mit einer Geflügelhändlerin ist man in Verhandlung, nach einem Wildproduzenten wird noch gesucht. Aktuell sind es 35 Stände, irgendwann, so Niedermeier, sollen es 100 sein, die wieder an sechs Wochentagen Markt halten. Die Geschichte der Markthalle Neun zeigt, wie Stadtentwicklung funktionieren kann, wenn es nicht ausschließlich nach finanziellen Aspekten geht. Das alles vor dem wunderschönen Panorama historischer Architektur. Die neuen Besitzer haben abgehängte Decken und Verschalungen entfernt und die alten Stände wieder freigelegt. Sehr leicht und luftig sieht das aus, fast malerisch, wären da nicht weiter hinten noch die Einkaufscontainer von Aldi, Kik und – leergeräumt, da pleite – vom Drogeriemarkt Drospa. Dessen Filiale wird nun bald abgerissen und soll Platz für neue Händler schaffen. Das findet Nadine Wruck gut. Sie sitzt am dunkel getäfelten Stand ihrer Mutter Inge, dem einzig aus alten Zeiten verbliebenen. Hier gibt es Filtercafe, belegte Stullen, Bockwurst, alles für kleines Geld, serviert mit Altberliner Charme und Schnauze. Die 33-jährige Wruck ist quasi in der Markthalle aufgewachsen, sie kennt „die guten Zeiten, die toten, und die schlechten“, wie sie sagt. „An den Markttagen ist es sehr schön, aber das Angebot spricht nur ein gewisses Klientel an“, sagt sie. „’ne Halle für alle ist das nicht.“ Vor dem Eingang klaubt ein älterer Herr Plastikflaschen aus dem Papierkorb, schieben Frauen im Hijab Handwagen. Sie sieht man nicht zwischen den Ständen. Vielleicht werden alle Beteiligten damit leben müssen, dass man mit einem Konzept, indem es um die Wertigkeit von Lebensmitteln geht, nur einen gewissen Teil der Bevölkerung erreicht. Niedermeier formuliert es so: „Die Frage ist doch: Bin ich verpflichtet, ein Angebot zu machen, das jedem gerecht wird oder ein Angebot, das den Produkten gerecht wird?“ Mit Discounterpreisen kann ein Wochenmarkt nicht mithalten. Dabei gibt es mit dem kleinen Mittagsrestaurant in der Halle, der Kantine Neun ein gelungenes Beispiel dafür, dass Nachhaltigkeit auch zu zivilen Preisen geht. Der junge Küchenchef Florian Kliem verbindet Bodenständiges mit Weltküche, serviert lauwarmen Linsensalat mit knuspriger Maistortilla, Spareribs mit Dampfkartoffeln und handgeriebenen Krautsalat. Seine Zutaten bezieht er zum Teil von regionalen Gemüsehändlern wie der Wilden Gärtnerei, zum Teil nimmt er den Biosupermärkten die überschüssige und aussortierte Ware ab. Damit setzt er nicht nur ein Zeichen gegen Lebensmittelverschwendung, sondern kann auch günstig kalkulieren. Zwischen vier und sechs Euro kosten die Tagesgerichte in der Kantine Neun. Sie ist seit kurzem jeden Tag geöffnet. Wochenmarkt der Markthalle Neun, Eisenbahnstrasse 42/43, jeden Freitag und Samstag, Freitags 12 bis 19, Samstag 9 bis 16 Uhr, www.markthalle9.de Kantine Neun in der Markthalle, täglich 12 bis 16 Uhr, www.facebook.com/KantineNEUN