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<HRLINIE-1.2PT,0,0,0,1><HRLINIE-0.8PT-DOT,0,0,0,1> <62H RWISSENSCHAFT L I N I E - 1 . 2 P T, 0 , 0 . 4 , 2 5 , 1 > F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N T A G S Z E I T U N G , 2 7. J U L I 2 0 0 8 , N R . 3 0 63 Stimmphysiologie: Die Opernfestspiele in Salzburg und Bayreuth haben begonnen. Zeit, einmal darüber zu staunen, wie überhaupt jemand den Siegmund in der „Walküre“ singen kann Und der Mund möchte singen Die menschliche Stimme ist ein kleines biomechanisches Wunder für sich – und entsprechend anfällig für Überlastung und mangelnde Pflege. VON ULRIKE GEBHARDT Der erste Auftritt ist nicht zu überhören. Mit einem kräftigen Schrei, etwa in Höhe des Kammertons a’, signalisiert das Neugeborene den Eltern etwas ganz Wesentliches: robuste Atemfunktionen. „Das Gebrüll selbst ist dabei zunächst nur ein kanalisiertes Abfallprodukt des Körpers, nämlich ausgeatmete Luft“, sagt Michael Fuchs, Stimmspezialist am Universitätsklinikum Leipzig und ehemaliges Mitglied des Thomanerchors. Aus dieser Abluft wird freilich durch das feine Zusammenspiel verschiedener Körperteile etwas höchst Erstaunliches: der jedem Menschen eigene Klang seiner Stimme, welcher anderen nicht selten mehr über die Gemütslage des Sprechers verrät als der Inhalt des Gesprochenen. Ursprung jedes stimmlichen Signals, das die gesamte vordere Kopfpartie eines Menschen an die Umgebung abstrahlt, sind zwei unscheinbare, beim Erwachsenen etwa daumennagelgroße Vorsprünge der seitlichen Kehlkopfwand. Ein Instrumentenbauer würde das Material, aus dem diese sogenannten Stimmlippen bestehen, kaum verwenden, so schwammig und weich ist es. Dennoch können diese beiden Segel aus Muskeln, Bindegewebe sowie einer Hautschicht die Luftwege vollständig verschließen und dadurch vibrieren wie kein anderes Körperteil. Dabei schwingt entweder die gesamte Stimmlippe oder – bei hohen Tönen – nur deren Hautanteil. „Diese innere Haut liegt auf dem Bindegewebe sehr beweglich auf und begrenzt die Stimmlippe nach außen als eine robuste und flexible Zellschicht“, sagt Michael Fuchs. Wenn wir zum Sprechen oder Singen ansetzen, schließen sich die Stimmlippen zunächst, die während des Einatmens noch weit geöffnet waren. Steigender Druck treibt sie wieder ein wenig auseinander. Dadurch fällt der Druck und die Stimmlippen schließen und öffnen sich in rascher Folge (siehe: „Bernoulli hatte recht“). Das alles geschieht sehr schnell: 50 Mal in der Sekunde bei tiefen Tönen und bis zu 2500 Mal in der Sekunde bei sehr hohen wird die durchströmende Luft verdichtet und wieder verdünnt – eine Schallwelle entsteht. Damit daraus auch ein klarer Ton wird, müssen die Schließbewegungen die Stimmritze stets komplett abdichten. Einem ausgebildeten Sänger gelingt dies in allen Tonlagen, andernfalls würde die Stimme hauchig klingen. Beteiligt ist auch hier die bewegliche Stimmlippenhaut, die sich, einer Gummidichtung ähnlich, in den Spalt bewegt. Zudem zeigt sie eine für den Klang wichtige wellenartige Eigenbewegung. Reibungslos Bernoulli hatte recht Die Luft vibriert in Rachen und Nase, weil der Atem die Ritze zwischen den Stimmlippen zu passieren hat. Es ist nämlich keineswegs so, dass eine aktive Bewegung der Muskeln in den Stimmlippen den Luftstrom modulieren würde. Der Muskel variiert lediglich die Spannung der Stimmlippen und ermöglicht so die Erzeugung verschiedener Tonhöhen. Vielmehr ist es die strömende Luft selber, der die Stimmritze einige bis einige tausend Mal pro Sekunde sich schließen und wieder öffnen lässt. Ein einfaches Experiment demonstriert den physikalischen Grund dafür: Man lege ein leicht gewölbtes postkartengroßes Stück Papier mit der Wölbung nach unten auf den Tisch. Dann blase man zwischen Tisch und Papier hindurch und beobachte, was passiert. Anders, als man vielleicht denken würde, hebt der Luftstrom das Papier nicht an. Ganz im Gegenteil, es drückt sich nach unten auf die Tischfläche. Das liegt an einem Gesetz, das der Schweizer Mathematiker und Physiker Daniel Bernoulli (1700 bis 1782) entdeckte: Wenn sich die Geschwindigkeit (v) eines Luftstroms erhöht, sinkt der Druck (p), denn beide hängen zusammen. Bezeichnet man die Dichte der Luft mit dem griechischen Buchstaben rho ( ), so gilt folgende Gleichung: 2 v + p = konstant 2 Diese sogenannte „Bernoulli-Gleichung“ ist ein Spezialfall der Grundgleichung der Hydrodynamik (wie die Physik strömender Stoffe auch heißt) und gilt exakt nur für Flüssigkeiten, die sich nicht zusammendrücken lassen – deren Dichte also nicht vom Druck abhängt. Aber für strömende Gase unter den Bedingungen der Erdatmosphäre gilt sie in guter Näherung. In dem beschriebenen Experiment zwingt die Enge zwischen Papier und Tisch die Luft dazu, schneller zu strömen – die Geschwindigkeit v steigt unter dem Papier. Damit die Bernoulli-Gleichung erfüllt bleibt, muss der Druck p dort sinken. Er wird kleiner als der Luftdruck im Raum, und die Differenz presst das Papier an den Tisch. Im Kehlkopf passiert nun zunächst dasselbe. Zwischen den Stimmlippen muss die Luft schneller strömen, damit sinkt der Druck, und die Lippen werden durch ihre innere Elastizität aneinandergepresst. Das aber unterbricht den Luftstrom und damit auch den Sog, der die Ritze verschlossen hat. Der Lungendruck kann sie nun wieder öffnen, Luft hindurchströmen (siehe „Stimmlippen-Swing“), und das Spiel beginnt von Neuem. Eine Schwingung entsteht. UvR läuft alles außerdem nur dann, wenn die Oberflächen gut befeuchtet sind. Kein Wunder also, dass trockene Luft den Redefluss hemmt. Die Stimmlippen selber können zwar keinen Schleim produzieren. Doch dafür sorgen Zellen der Nachbargewebe, die neben zäher Flüssigkeit auch Abwehrstoffe abgeben und so das Kehlkopfinnere gleichzeitig vor Infektionen schützen. Die Wiege des Klangs Würde man sich den Stimmlippenton nun direkt an seinem Produktionsort anhören, wäre man enttäuscht. Er klänge rauh und schnarrend. „Dieser nicht sehr schöne Ton muss noch akustisch verändert werden“, erklärt Michael Fuchs. Die wunderbare Verwandlung der Stimmlippenschwingungen in Wohlklang geschieht durch all das, was der Körper oberhalb des Kehlkopfes noch zu bieten hat: durch Rachen, Gaumen, Mundhöhle, Zähne, Zunge, Nase, Nebenhöhlen und Lippen, also das, was man im Fachjargon „Vokaltrakt“ nennt. Die baulichen Gegebenheiten dort, aber auch der Umgang mit dem Vokaltrakt, entscheiden zusammen mit der Feindosierung des abgegebenen Luftstromes über die Qualität einer Stimme. Einen ausgebildeten Sänger kann der Facharzt bei einem Blick allein auf die Stimmlippen daher zunächst einmal nicht erkennen. „Diese können bei Plácido Domingo genauso aussehen wie bei Otto Normalverbraucher. Es ist also nicht so, dass ein Sänger so etwas wie den Oberarm eines Bodybuilders in der Kehle hätte“, sagt der Musikwissenschaftler Christian Lehmann, Stimmbildner bei den Regensburger Domspatzen. Allerdings sind die Effekte eines Gesangsunterrichts oder Stimmtrainings bekanntlich durchaus hörbar und dazu auch physikalisch messbar. „Das Ziel einer Schulung ist, eine Stimme mit möglichst viel Klangfülle und Tragfähigkeit zu erzeugen, ohne dabei mit großem Aufwand und Druck zu arbeiten“, sagt Lehmann, der auch als Stimmtrainer und Gesangslehrer in München arbeitet. Sprechen oder Singen können wir nur, weil Nerven und Muskeln blitzschnell für die richtigen Einstellungen der beteiligten Körperteile sorgen. „Die Koordinationsfähigkeit, also die Abstimmung der vielen einzelnen Schritte, kann trainiert werden“, erklärt Lehmann. Bei den Regensburger Domspatzen hat der Münchner es mit jungen Männern nach dem Stimmbruch zu tun. Nachdem die Jungen etwa ein bis zwei Jahre ausgesetzt haben, erhalten sie Stimmbildung in sogenannten Mutantengruppen, ein Wort, das sich von „Mutation“ ableitet, dem Fachausdruck für den adoleszenten Stimmwechsel. Dabei wird mit vorsichtigen Übungen und leichteren Liedern geprüft, wie weit die Stimme schon wieder einsetzbar ist. Probleme mit der Feineinstellung sind dabei normal, ist doch der Kehlkopf unter der hormonellen Umstellung rasch gewachsen: Die Stimmlippen werden einen guten Zentimeter länger, und die Stimme senkt sich dadurch um etwa eine Oktave. „Die Stimme gewinnt erst nach und nach wieder an Umfang“, sagt Christian Lehmann. Es gilt daher erneut, ein Gefühl für sie zu entwickeln, Töne gezielt anzusteuern und zu vermeiden, den Kehlkopf nach oben zu drücken, wenn höhere Töne gesungen werden. Letzteres beobachtet der Stimmbildner häufig bei Popstars, die gern mit dieser physiologisch gesehen eigentlich ungesunden Stimme singen. Schlechte Vorbilder also für Kinder. Dem Nachwuchs unter Klangkörper Kopf StimmlippenSwing Die Schallquelle der menschlichen Stimme ist das gesamte Hohlraumsystem des Kopfes – von der Stimmritze im Kehlkopf bis zur Nasenspitze. In diesem Vokaltrakt wird der Klang geformt, dessen Tonhöhe die Frequenz bestimmt, mit der die Stimmlippen vibrieren (siehe „Stimmlippen-Swing“ und „Bernoulli hatte recht”). Die Stellung der Stimmlippen zueinander wird vom Stellknorpel gesteuert. Andere bewegliche Teile sind an der Stimme mittelbar beteiligt. Der am Zungenbein aufgehängte Kehldeckel deckt die Atemwege während des Schluckens ab. Die Taschenfalten (auch „falsche Stimmbänder“ genannt) können die Kehle oberhalb der Stimmlippen verengen und damit brummende und knurrende Laute erzeugen. Mit „Stimmbändern“ sind meist die Stimmlippen gemeint. Sie bestehen aber nicht nur aus Bändern, also Bindegewebe (gelb), sondern auch aus Muskeln (rot) und Haut (braun). Die Serie zeigt Querschnitte eines Stimmlippenpaares während einer Schwingungsperiode. Beim Kammerton a’ wiederholt sich der gezeigte Vorgang 440 Mal in der Sekunde. Die wahre Königin der Instrumente Wäre der menschliche Stimmapparat ein Orchesterinstrument, müsste er aufgrund seiner Abmessungen zu den Piccolo-Flöten gesetzt werden. Doch eine ausgebildete Stimme ist nicht in erster Linie wegen der lauten Grundfrequenz über ein Orchester hinweg hörbar, sondern aufgrund ihres hohen Pegels in bestimmten Teilen des Obertonspektrums, vor allem im Bereich von etwa 3000 Hertz. Das wird durch die Tiefstellung des Kehlkopfes, Weitung des Rachens und andere Einstellungen des Vokaltraktes erzielt. Eine Sopranistin erzeugt in einem Abstand von einem Meter satte 102 Dezibel, was etwa der Lärmemission einer Nietmaschine entspricht, die auf Dauer das Gehör schädigt. Während eine nicht trainierte Stimme einen Tonhöhenumfang von etwas mehr als zwei Oktaven aufzubieten hat, kann es ein Sänger auf knapp 3 Oktaven bringen. Öffnung der Eustachischen Röhre zum Mittelohr Nasenhöhle Oberer Nasengang Mittlerer Nasengang Unterer Nasengang Mundhöhle Gaumenzäpfchen Lange Arien können nur trainierte Stimmen bewältigen, die im Vergleich zum Normalbürger Töne mindestens doppelt so lange (20 bis 30 Sekunden) halten können. ugeb Zungenbein Rachen Stellknorpel José Carreras (geboren 1946) wagte sich an zu schwere Rollen. Taschenfalte Kehlkopf Stimmritze Schildknorpel (Adamsapfel) Stimmlippen (mit Stimmbändern) Ringknorpel Zwar wird üblicherweise nur registriert, was vorne am Kopf herausschallt. Doch akustische Wellen breiten sich auch bis in den Bronchialbereich, den Bauchraum, ja sogar bis in die Fußspitzen aus, sagt Stolze. „Die Vibrationen können Muskeln in einen besseren Spannungszustand versetzen und durch gezieltes ,Losschicken’ in den Körper mitunter sogar bei Asthma oder Verstopfungen Erleichterung verschaffen.“ ugeb Luftröhre Speiseröhre LUFTSTROM F.A.Z.-Grafik Karl-Heinz Döring; Fotos: Gamma/StudioX, dpa/Picture Alliance (4), Interfoto/Lebrecht Music Collection Auch die erwachsene Stimme kann sich noch ändern, und nicht immer zu ihrem Vorteil. Technische Fehler, Überanstrengung oder mangelnde Schonung bei Infekten können dazu führen, dass sie nicht mehr klar, voll, elastisch und tragend, sondern eher hauchend, dünn, spröde oder gepresst klingt. Auch hormonelle Schwankungen erfordern eine gewisse Rücksichtsnahme. Früher wurden Sängerinnen zeitweise von ihrer Auftritts- Unmittelbar vor seinen Auftritten traf Enrico Caruso, wie seine Witwe Dorothy erzählt, folgende Vorkehrungen: „Hatte er seine Zigarette aufgeraucht, ging er zum Waschbecken und nahm einen großen Schluck Salzwasser, das er in die Lungen einatmete oder einzuatmen schien, dann ausspie, ehe er erstickte. Mario, sein Diener, hielt ihm eine Dose mit schwedischem Schnupftabak hin, davon nahm er eine Prise, um seine Nüstern zu klären. Dann trank er ein Weinglas voll Whisky, danach ein Glas Sprudel, und zuletzt aß er ein Viertel eines Apfels. In die beiden Taschen, die in jedes Kostüm genau griffbereit eingearbeitet waren, schob er zwei Flaschen mit warmem Salzwasser für den Fall, dass er sich auf der Bühne den Rachen spülen müsste. Wenn das alles getan war, gab ihm Mario seinen Talisman: ein gewundenes Korallenhorn, Heiligenmedaillen und alte Münzen, aufgereiht an einem goldenen Kettchen. Zuletzt rief er seine tote Mutter an; der Gedanke an sie gab ihm Mut.“ SCHALL Ausreichend trinken, nicht rauchen, und wenn Stimmruhe angeordnet ist, tatsächlich schweigen ist Stolzes Rat. Und nicht flüstern, was die Stimme – entgegen der landläufigen Meinung – eher anstrengt. Außerdem gibt es Übungen, die die Beweglichkeit der Stimmlippenoberfläche erhöhen. „Lassen Sie die Luft ganz leicht durch die Stimmlippen strömen, so dass nur die Ränder der Stimmlippen zum Flattern gebracht werden.“ Stolze empfiehlt, auf diesem Minimalton nun ohne Anstrengung „auf und ab zu gehen“, und das Ganze am besten mehrmals am Tag für ein bis zwei Minuten. Solch ein Training lohne sich, denn die Stimme habe eine positive Wirkung auf den ganzen Körper. Stress in der Kehle VON ELEONORE BÜNING Kehldeckel Die biologische Uhr tickt im Kehlkopf genauso wie in anderen Körperteilen. Doch der Bremer Stimmwissenschafter Heinz Stolze macht Mut: „Die meisten älteren Menschen besitzen in ihrer Stimme einen schlummernden Schatz.“ Bis zum Alter von 70 Jahren sei das Entwicklungspotential einer wenig geschulten Stimme so groß, dass die durch natürliche Alterung bedingten Schwächen ohne weiteres ausgeglichen werden könnten. pflicht befreit, weil sich kurz vor und während der Menstruation vermehrt Wasser in das Stimmlippengewebe einlagert und die Stimme in dieser Phase weniger leistungsfähig sein kann. Besonders stressempfindlich sind die Zellschichten an der Oberfläche der Stimmlippen. Und beim normalen Stimmgebrauch sind es die sehnenartigen Befestigungsstrukturen am Ende der Stimmlippen, die mechanisch am stärksten belastet sind. Das haben Computersimulationen gezeigt. Bei Fehlgebrauch jedoch verlagert sich die Beanspruchung: Vibrationen, Luftstrom und das immerwährende Zusammenschlagen strapazieren die Stimmlippen stärker in der Mitte. Das Gewebe reagiert darauf nicht selten mit Verdickungen. Dann wird Wasser einlagert, Knötchen oder gar Vernarbungen bilden sich und schränken die Flexibilität stark ein. „Es ist wie bei den Schwielen, die sich nach dem Holzhacken an den Händen einstellen“, sagt Michael Fuchs. „Der Körper versucht tiefe- Die Operngeschichte ist voller Stimmen, die an Überforderung zugrunde gingen. Oder daran, dass die Psyche dem Talent nicht gewachsen war. Zunge Auch die Stimme altert fachkundiger Anleitung Erfahrungen im richtigen Umgang mit der eigenen Stimme zu ermöglichen, ist hingegen sehr sinnvoll. „Kinder, die im Chor singen, haben später in stimmintensiven Berufen die besseren Karten, weil sie neben einer verbesserten Leistung ihre Stimme sensibler wahrnehmen“, sagt Michael Fuchs, der dazu in Zusammenarbeit mit Kinder- und Jugendchören am Universitätsklinikum in Leipzig eine Studie durchgeführt hat. Diagnose: kaputtgesungen res Gewebe zu schützen und lagert Wasserpolster ein.“ Diese organischen Veränderungen erzeugen unerwünschte Geräusche, beispielsweise Heiserkeit, weil sie die Vibrationseigenschaften und den Stimmlippenschluss verändern. Verschwinden Knötchen und Verdickungen nicht von alleine oder durch eine Stimmübungsbehandlung beim Logopäden, können sie chirurgisch entfernt werden. Neuerdings bietet die Stimmchirurgie sogar die Möglichkeit eines „Anti-Aging“. Mit zunehmendem Alter erschlaffen Muskeln und Bindegewebe, die Knorpel des Kehlkopfes verkalken, und die Oberfläche der Stimmlippen verändert sich, was deutliche Qualitätseinbußen zur Folge hat (siehe: „Auch die Stimme altert“). „Um die Elastizität wieder zu erhöhen und den Stimmlippenschluss zu verbessern, kann man zum Beispiel Collagen einspritzen oder eine Operation am Kehlkopfgerüst vornehmen“, erläutert Fuchs. Damit gar nicht erst zum Skalpell gegriffen werden muss, empfehlen der Leipziger Facharzt und viele andere Experten, ein Stimmtraining schon in die Ausbildung solcher Berufe einzubauen, bei denen das Gewebe im Kehlkopf besonders gefordert ist. „Die Stimmlippen eines Lehrers haben sich am Ende eines Arbeitstages durch Vibrationen kilometerweit hin und her bewegt deutlich mehr als die Handgelenke eines Bauarbeiters, der mit dem Presslufthammer gearbeitet hat“, sagt Bernhard Richter, Leiter des Zentrums für Musikermedizin in Freiburg, der eine Spezialsprechstunde für Lehrer anbietet. Mehr als die Hälfte der Lehrer habe deshalb Stimmprobleme, sagt Richter. Dieses mache sich durch eine rasche Ermüdung der Stimme oder einen veränderten Klang bemerkbar. Sinnvoll erscheint es daher auch, wenn sich angehende Pädagogik- oder Gesangsstudenten vorab auf ihre Stimmtauglichkeit untersuchen lassen – ein Test, der in Ostdeutschland vor der Wiedervereinigung sogar vorgeschrieben war. Michael Fuchs führt solche Untersuchungen in der HNO-Klinik in Leipzig durch. „Wie sieht der Stimmapparat aus, welches Schwingungsverhalten zeigen die Stimmlippen?“ Das sind die Dinge, nach denen er als Erstes schaut. Zum Beispiel mit Hilfe einer speziellen Kehlkopfspiegelung, bei der die Stimmlippenschwingungen mit einer Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommen werden. Außerdem wird geprüft, wie laut, leise, hoch oder tief gesungen und wie lange ein Ton ausgehalten werden kann. Der Klang wird anschließend möglichst objektiv beurteilt und die Zufriedenheit des Untersuchten mit seiner eigenen Stimme durch einen Fragebogen erfasst. Bei manchen stelle sich dann heraus, dass sie sich doch lieber einen anderen Beruf suchen sollten. Wieder andere hätten zwar eine prinzipiell geeignete, aber durchaus verbesserungswürdige Stimme. Auch hier empfiehlt Fuchs ausreichendes Training, um Erkrankungen des Stimmapparates rechtzeitig vorzubeugen. Nur ein bisschen heiser? Denn nicht jeder, der an der Stimme laboriert, gesteht sich das auch ein. Bin bloß heiser, sagt man dann. „Stimmprobleme werden oft als eigenes Problem oder Schwäche wahrgenommen. Auch das soziale Umfeld tut sich schwer damit, ihnen einen echten Krankheitswert zuzubilligen“, sagt Bernhard Richter. Deshalb kommt der Entwicklung neuer Methoden für die stimmphysiologische Diagnostik auch so eine große Bedeutung zu. Der Mathematiker Michael Döllinger, der die Forschergruppe „Strömungsphysikalische Grundlagen der menschlichen Stimmgebung“ an der Universität Erlangen-Nürnberg leitet, hat dazu die Schwingungseigenschaften von Stimmlippen an isolierten Kehlköpfen, aber auch an nachgebildeten Modellen erforscht. Er hat daraus ein Computerprogramm mitentwickelt, bei dem Hochgeschwindigkeitsaufnahmen in ein stehendes Farbbild umgerechnet werden. Da eine Stimme umso gesünder ist, je periodischer und symmetrischer sie schwingt, kann der geübte Arzt bei einem Blick auf ein solches sogenanntes Phonovibrogramm Fehlfunktionen ausmachen. „Das ist die erste Methode, mit der man die Hochgeschwindigkeitsaufnahmen objektiv auswerten kann“, sagt Michael Döllinger. Das Verfahren wird seiner Meinung nach zukünftig in der Klinik immer mehr zum Einsatz kommen, weil es die Erfolge operativer Eingriffe oder sogar die von Stimmtherapien messbar macht. Doch dürfte auch eine solchermaßen ausgestattete Stimmmedizin kaum in der Lage sein, einem Opernstar, der der Optik, nicht des Organs wegen Karriere macht, operativ zu einem CarusoSound zu verhelfen. Wenn das doch einmal möglich ist, dann wäre das natürlich der letzte Schrei. Das Ritual erfüllte seinen Zweck. Caruso trieb ansonsten Raubbau mit seinen Kräften, das ist wahr, er starb früh; doch hat ihn seine Wundercellostimme zeitlebens nicht im Stich gelassen. Ob es eher am Apfel lag oder an Koralle und Mutter, ist letztlich egal. Eine ausgebildete Opernstimme ist ein empfindliches Instrument, das nicht nur von Viren oder Zugluft angegriffen wird, sondern auch von den unsichtbaren Turbulenzen im Seelenhaushalt. Ein bisschen Hokuspokus kann da nicht schaden. Andererseits: Wer zu tief ins Whiskyglas guckt, wie der begnadete Jussi Björling, der kann sich seine Stimmkrise wohl auch herbeitrinken. Psyche und Stimme sind nicht zu trennen. Sonnige Sänger mit guten Nerven, wie Christa Ludwig oder Waltraud Meier, Alfredo Kraus oder Luciano Pavarotti, sind grundsätzlich weniger stimmkrisenanfällig als die Zornnickel oder Sensibelchen, die leicht außer Fassung geraten. Gegen eine Halsentzündung, die im letzten Festspielsommer Salzburgs Herzkönigin Anna Netrebko samt Kolleginnen serienweise aus dem Verkehr zog, sind zwar auch die Selbstbewussten nicht gefeit. Doch lässt sich die Mehrzahl der Fälle von Sängerversagen zurückführen auf Zweifel, Kummer und anderen negativen Stress. Nur so ist zu erklären, dass ein Tenor mit Heldenpotential, der gerade eben noch in Stuttgart ein glänzender Ritter Stolzing war, als Parsifal in Bayreuth an seine Grenze gerät. Dies widerfuhr Katharina Wagners Exlebensgefährten Endrik Wottrich, der dann ein Jahr später als Siegmund antrat, mitten in der Saison aufgab und ausgewechselt wurde. Übermorgen ist Wottrich wieder als Bayreuther Siegmund am Start: Immer locker bleiben! Ähnlich überfordert zeigte sich Bariton Franz Hawlata, der in Essen einen wunderbar jungen, aufgehellten Hans Sachs sang und in der gleichen Rolle in Bayreuth den Schlussmonolog nur noch krächzen konnte. „Überforderung“ bedeutet freilich nicht, dass ein Sänger nur etwas nervös geworden ist und mehr Kamillentee trinken sollte. In den meisten Fällen, auch beim allzu wenig bassdunklen Hawlata, kommt dazu, dass Umfang und Textur der Stimme mit dem Rollenfach (noch) nicht zusammengewachsen sind. Nimmt ein Sänger darauf keine Rücksicht, kann er seine Stimme dauerhaft schädigen und die Karriere ist vorbei, bevor sie angefangen hat. Rolando Villazón hat vielleicht Glück gehabt, dass er so früh in seiner steilen Laufbahn zum Pausieren und Nachdenken gezwungen worden ist. Tragische Fälle, in denen das nicht passierte, gibt es genug. Maria Callas (1923 bis 1977) wollten ihre Fans noch hören, als ihre Stimme den Zenit schon überschritten hatte. Zuvor hatte gesangliche Überlastung bereits die Karriere von Giuseppe Di Stefano (1921 bis 2008) beendet. Leukämie besiegt hat, aber schon lange vorher seinem einst so zauberhaft samtig-lyrischen Tenor mit zu schweren Partien den Garaus gemacht hatte. Und, exemplarischer Fall von Typecasting, Peter Hofmann, das blonde Muskelpaket, ein Mannsbild von Jung-Siegfried: Schon die umjubelten ersten Bayreuther Aufnahmen enthüllen dumpfe Mittellage, Registerbrüche und gebellte Höhen, nach weniger als zehn Jahren war die Karriere vorbei. Sänger sind quasi Bewohner ihres Instrumentes. Sie hören sich selbst anders singen, als sie vom Rest der Welt außerhalb ihres Körpers gehört werden. Deshalb sollte jeder Opernsänger ein paar ehrliche Ratgeber kennen, jenseits der Küsschen-Küsschen-Komplimente nach Ende der Vorstellung, in der Kulisse. Hatten selbst große, vielbeschäftigte Sänger früher immer noch Einkehrphasen bei ihren alten Lehrern, die ihnen im Vertrauen sagten, wie sie wirklich klingen, so haben sie heute mit etwas Glück einen Korrepetitor, der sich traut, den Mund aufzumachen. Und wie oft passiert es, dass die Verglühte Sterne Die amerikanische Sopranistin Cheryl Studer war so ein Stern, der zu früh an sich selbst verglüht ist: Sie erzwang sich das hochdramatische Fach mit unerhörter Intensität, sang Wagner in Bayreuth, Strauss an der Met, stets hart am Rand. Ihre fiebrig-strahlende Kämpferin Leonore bei den Salzburger Festspielen 1996 ist unvergessen. Dann brach die Stimme. 1998 löste die Bayerische Staatsoper Studers Verträge auf. Heute lehrt sie Gesang an der Hochschule in Würzburg. Andere treten tapfer immer weiter auf, ja, zum Teil sogar mit hübschem Publikumserfolg, obwohl sie stimmtechnisch längst ruiniert sind. Da ist die kapriziöse Belcantodiva Lucia Aliberti, die Anfang der Achtziger eine große Hoffnung gewesen war. Da ist José Carreras, der Netteste unter den drei Tenören, der die Rolando Villazón (geboren 1972) hat seine frühe Stimmkrise vielleicht ein vorzeitiges Karriereaus erspart. Anna Netrebko (geboren 1971) zeigt sich bislang belastbar, bis auf eine branchentypische Halsentzündung. Lucia Aliberti (geboren 1957) sang einmal Belcanto. Ärmsten erst mitten in der Vorstellung merken, dass sie gar nicht hätten auftreten dürfen! Im Oktober 1982 sang der Tenor Reiner Goldberg nur wenige Takte im Tannhäuser an der Wiener Staatsoper, ging ab und kam nicht mehr wieder. Sensationellerweise gelang es innerhalb von zwanzig Minuten, einen Ersatz-Tannhäuser zu finden, Spas Wenkoff war zufällig in Wien. Voriges Jahr blieb Robert Dean Smith, der kurz zuvor für den ausgefallenen Wottrich in Bayreuth eingesprungen war, mitten im Preislied des Ritter von Stolzing die Stimme weg. Gottlob saß Raymond Very im Saal und konnte übernehmen. Eine wie Maria Callas aber war aus Prinzip unersetzlich. Für sie gab es keine Zweitbesetzung, als die unsterbliche Primadonna assoluta war sie verdammt zu ewigem Erfolg. Das war der Preis: Ende der Fünfziger war die Stimme der Callas längst nicht mehr schön – aber was ist Schönheit, wenn man die Wahrheit hören kann? Bei ihrem Jussi Björling (1911 bis 1960) hatte ein Alkoholproblem. langjährigen Partner Giuseppe Di Stefano, der nicht über das Charisma der Callas verfügte, stellte sich, als er sich kaputtgesungen hatte, diese Frage gar nicht erst. Und hat die Callas nicht schon als junger Star zu viel „Essig“ in der Stimme? Schärfer wird sie mit den Jahren, rissig, brüchig, was alle Callasfans wohl wussten und sie selbst vielleicht am besten. Sie kompensiert das mit Ausdruckskraft, Klugheit und unerschöpflicher Musikalität. Immer noch ist die Callas umschwärmt, umkämpft, begehrt, doch schon säumen Versagensängste, Absagen, Konventionalstrafen und Drogen ihren Weg. Im Januar 1957 soll sie in einer Galaaufführung in Rom in Anwesenheit des Staatspräsidenten die Norma singen. Noch in der Neujahrsnacht hat sie vorab, als Kostprobe für die Nation, im Fernsehen die „Casta diva“-Arie vorgetragen. Danach feiert sie in einem Nachtclub ins neue Jahr hinein. Und erwacht, 36 Stunden vor Vorstellungsbeginn, ohne Stimme. Den ersten Akt hat die Callas mit Hilfe von Medikamenten durchgestanden, danach wird die Vorstellung abgebrochen, trotz Protest und Buhkonzert, das Publikum samt Staatspräsident nach Hause geschickt. Diese Sorte Skandal, die den Stoff zu Legenden liefert, gibt es heute nicht mehr. Die einen Talente singen auf Sicherheit. Schade. Die anderen aber verzetteln und vergeuden sich, bevor sie alt genug sind, dass eine Ahnung von der Wahrheit sie anfliegen könnte. Peter Hofmann (geboren 1944) war der perfekte Siegfried, jedenfalls optisch. Dann sang er Rock ’n’ Roll – ins Mikrophon.