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<HRLINIE-1.2PT,0,0,0,1><HRLINIE-0.8PT-DOT,0,0,0,1>
<62H RWISSENSCHAFT
L I N I E - 1 . 2 P T, 0 , 0 . 4 , 2 5 , 1 >
F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N T A G S Z E I T U N G , 2 7. J U L I 2 0 0 8 , N R . 3 0
63
Stimmphysiologie: Die Opernfestspiele in Salzburg und Bayreuth haben begonnen. Zeit, einmal darüber zu staunen, wie überhaupt jemand den Siegmund in der „Walküre“ singen kann
Und der Mund möchte singen
Die menschliche
Stimme ist ein kleines
biomechanisches
Wunder für sich – und
entsprechend anfällig
für Überlastung und
mangelnde Pflege.
VON ULRIKE GEBHARDT
Der erste Auftritt ist nicht zu überhören. Mit einem kräftigen Schrei,
etwa in Höhe des Kammertons a’,
signalisiert das Neugeborene den
Eltern etwas ganz Wesentliches:
robuste Atemfunktionen. „Das
Gebrüll selbst ist dabei zunächst
nur ein kanalisiertes Abfallprodukt
des Körpers, nämlich ausgeatmete
Luft“, sagt Michael Fuchs, Stimmspezialist am Universitätsklinikum
Leipzig und ehemaliges Mitglied
des Thomanerchors. Aus dieser
Abluft wird freilich durch das feine Zusammenspiel verschiedener
Körperteile etwas höchst Erstaunliches: der jedem Menschen eigene
Klang seiner Stimme, welcher anderen nicht selten mehr über die
Gemütslage des Sprechers verrät
als der Inhalt des Gesprochenen.
Ursprung jedes stimmlichen
Signals, das die gesamte vordere
Kopfpartie eines Menschen an die
Umgebung abstrahlt, sind zwei unscheinbare, beim Erwachsenen etwa daumennagelgroße Vorsprünge
der seitlichen Kehlkopfwand. Ein
Instrumentenbauer würde das Material, aus dem diese sogenannten
Stimmlippen bestehen, kaum verwenden, so schwammig und weich
ist es. Dennoch können diese beiden Segel aus Muskeln, Bindegewebe sowie einer Hautschicht die
Luftwege vollständig verschließen
und dadurch vibrieren wie kein anderes Körperteil.
Dabei schwingt entweder die gesamte Stimmlippe oder – bei hohen
Tönen – nur deren Hautanteil.
„Diese innere Haut liegt auf dem
Bindegewebe sehr beweglich auf
und begrenzt die Stimmlippe nach
außen als eine robuste und flexible
Zellschicht“, sagt Michael Fuchs.
Wenn wir zum Sprechen oder Singen ansetzen, schließen sich die
Stimmlippen zunächst, die während des Einatmens noch weit geöffnet waren. Steigender Druck
treibt sie wieder ein wenig auseinander. Dadurch fällt der Druck und
die Stimmlippen schließen und öffnen sich in rascher Folge (siehe:
„Bernoulli hatte recht“). Das alles
geschieht sehr schnell: 50 Mal in
der Sekunde bei tiefen Tönen und
bis zu 2500 Mal in der Sekunde bei
sehr hohen wird die durchströmende Luft verdichtet und wieder
verdünnt – eine Schallwelle entsteht.
Damit daraus auch ein klarer
Ton wird, müssen die Schließbewegungen die Stimmritze stets
komplett abdichten. Einem ausgebildeten Sänger gelingt dies in allen Tonlagen, andernfalls würde
die Stimme hauchig klingen. Beteiligt ist auch hier die bewegliche
Stimmlippenhaut, die sich, einer
Gummidichtung ähnlich, in den
Spalt bewegt. Zudem zeigt sie eine
für den Klang wichtige wellenartige Eigenbewegung. Reibungslos
Bernoulli hatte recht
Die Luft vibriert in Rachen und Nase, weil der Atem die Ritze zwischen den Stimmlippen zu passieren hat. Es ist nämlich keineswegs so,
dass eine aktive Bewegung der Muskeln in den Stimmlippen den Luftstrom modulieren würde. Der Muskel variiert lediglich die Spannung
der Stimmlippen und ermöglicht so die Erzeugung verschiedener Tonhöhen. Vielmehr ist es die strömende Luft selber, der die Stimmritze
einige bis einige tausend Mal pro Sekunde sich schließen und wieder
öffnen lässt.
Ein einfaches Experiment demonstriert den physikalischen Grund dafür: Man lege ein leicht gewölbtes postkartengroßes Stück Papier mit
der Wölbung nach unten auf den Tisch. Dann blase man zwischen Tisch
und Papier hindurch und beobachte, was passiert. Anders, als man vielleicht denken würde, hebt der Luftstrom das Papier nicht an. Ganz im
Gegenteil, es drückt sich nach unten auf die Tischfläche.
Das liegt an einem Gesetz, das der Schweizer Mathematiker und Physiker Daniel Bernoulli (1700 bis 1782) entdeckte: Wenn sich die Geschwindigkeit (v) eines Luftstroms erhöht, sinkt der Druck (p), denn
beide hängen zusammen. Bezeichnet man die Dichte der Luft mit dem
griechischen Buchstaben rho ( ), so gilt folgende Gleichung:
2
v
+ p = konstant
2
Diese sogenannte „Bernoulli-Gleichung“ ist ein Spezialfall der
Grundgleichung der Hydrodynamik (wie die Physik strömender Stoffe
auch heißt) und gilt exakt nur für Flüssigkeiten, die sich nicht zusammendrücken lassen – deren Dichte also nicht vom Druck abhängt.
Aber für strömende Gase unter den Bedingungen der Erdatmosphäre
gilt sie in guter Näherung.
In dem beschriebenen Experiment zwingt die Enge zwischen Papier
und Tisch die Luft dazu, schneller zu strömen – die Geschwindigkeit v
steigt unter dem Papier. Damit die Bernoulli-Gleichung erfüllt bleibt,
muss der Druck p dort sinken. Er wird kleiner als der Luftdruck im
Raum, und die Differenz presst das Papier an den Tisch.
Im Kehlkopf passiert nun zunächst dasselbe. Zwischen den Stimmlippen muss die Luft schneller strömen, damit sinkt der Druck, und die
Lippen werden durch ihre innere Elastizität aneinandergepresst. Das
aber unterbricht den Luftstrom und damit auch den Sog, der die Ritze
verschlossen hat. Der Lungendruck kann sie nun wieder öffnen, Luft
hindurchströmen (siehe „Stimmlippen-Swing“), und das Spiel beginnt
von Neuem. Eine Schwingung entsteht.
UvR
läuft alles außerdem nur dann,
wenn die Oberflächen gut befeuchtet sind. Kein Wunder also,
dass trockene Luft den Redefluss
hemmt. Die Stimmlippen selber
können zwar keinen Schleim produzieren. Doch dafür sorgen Zellen der Nachbargewebe, die neben
zäher Flüssigkeit auch Abwehrstoffe abgeben und so das Kehlkopfinnere gleichzeitig vor Infektionen
schützen.
Die Wiege des Klangs
Würde man sich den Stimmlippenton nun direkt an seinem Produktionsort anhören, wäre man
enttäuscht. Er klänge rauh und
schnarrend. „Dieser nicht sehr
schöne Ton muss noch akustisch
verändert werden“, erklärt Michael
Fuchs. Die wunderbare Verwandlung der Stimmlippenschwingungen in Wohlklang geschieht durch
all das, was der Körper oberhalb
des Kehlkopfes noch zu bieten hat:
durch Rachen, Gaumen, Mundhöhle, Zähne, Zunge, Nase,
Nebenhöhlen und Lippen, also
das, was man im Fachjargon „Vokaltrakt“ nennt. Die baulichen Gegebenheiten dort, aber auch der
Umgang mit dem Vokaltrakt, entscheiden zusammen mit der Feindosierung des abgegebenen Luftstromes über die Qualität einer
Stimme.
Einen ausgebildeten Sänger
kann der Facharzt bei einem Blick
allein auf die Stimmlippen daher
zunächst einmal nicht erkennen.
„Diese können bei Plácido Domingo genauso aussehen wie bei
Otto Normalverbraucher. Es ist also nicht so, dass ein Sänger so etwas wie den Oberarm eines Bodybuilders in der Kehle hätte“, sagt
der Musikwissenschaftler Christian Lehmann, Stimmbildner bei
den Regensburger Domspatzen.
Allerdings sind die Effekte eines
Gesangsunterrichts oder Stimmtrainings bekanntlich durchaus
hörbar und dazu auch physikalisch
messbar. „Das Ziel einer Schulung
ist, eine Stimme mit möglichst viel
Klangfülle und Tragfähigkeit zu
erzeugen, ohne dabei mit großem
Aufwand und Druck zu arbeiten“,
sagt Lehmann, der auch als Stimmtrainer und Gesangslehrer in München arbeitet.
Sprechen oder Singen können
wir nur, weil Nerven und Muskeln
blitzschnell für die richtigen Einstellungen der beteiligten Körperteile sorgen. „Die Koordinationsfähigkeit, also die Abstimmung der
vielen einzelnen Schritte, kann trainiert werden“, erklärt Lehmann.
Bei den Regensburger Domspatzen
hat der Münchner es mit jungen
Männern nach dem Stimmbruch zu
tun. Nachdem die Jungen etwa ein
bis zwei Jahre ausgesetzt haben, erhalten sie Stimmbildung in sogenannten Mutantengruppen, ein
Wort, das sich von „Mutation“ ableitet, dem Fachausdruck für den
adoleszenten Stimmwechsel. Dabei
wird mit vorsichtigen Übungen
und leichteren Liedern geprüft, wie
weit die Stimme schon wieder einsetzbar ist. Probleme mit der Feineinstellung sind dabei normal, ist
doch der Kehlkopf unter der hormonellen Umstellung rasch gewachsen: Die Stimmlippen werden
einen guten Zentimeter länger, und
die Stimme senkt sich dadurch um
etwa eine Oktave.
„Die Stimme gewinnt erst nach
und nach wieder an Umfang“, sagt
Christian Lehmann. Es gilt daher
erneut, ein Gefühl für sie zu entwickeln, Töne gezielt anzusteuern
und zu vermeiden, den Kehlkopf
nach oben zu drücken, wenn höhere Töne gesungen werden. Letzteres beobachtet der Stimmbildner
häufig bei Popstars, die gern mit
dieser physiologisch gesehen eigentlich ungesunden Stimme singen. Schlechte Vorbilder also für
Kinder. Dem Nachwuchs unter
Klangkörper Kopf
StimmlippenSwing
Die Schallquelle der menschlichen Stimme ist das gesamte
Hohlraumsystem des Kopfes – von der Stimmritze im Kehlkopf
bis zur Nasenspitze. In diesem Vokaltrakt wird der Klang geformt,
dessen Tonhöhe die Frequenz bestimmt, mit der die Stimmlippen
vibrieren (siehe „Stimmlippen-Swing“ und „Bernoulli hatte
recht”). Die Stellung der Stimmlippen zueinander wird vom Stellknorpel gesteuert. Andere bewegliche Teile sind an der Stimme
mittelbar beteiligt. Der am Zungenbein aufgehängte Kehldeckel
deckt die Atemwege während des Schluckens ab. Die Taschenfalten (auch „falsche Stimmbänder“ genannt) können die Kehle
oberhalb der Stimmlippen verengen und damit brummende
und knurrende Laute erzeugen.
Mit „Stimmbändern“ sind
meist die Stimmlippen gemeint.
Sie bestehen aber nicht nur aus
Bändern, also Bindegewebe
(gelb), sondern auch aus Muskeln (rot) und Haut (braun). Die
Serie zeigt Querschnitte eines
Stimmlippenpaares während
einer Schwingungsperiode.
Beim Kammerton a’ wiederholt
sich der gezeigte Vorgang 440
Mal in der Sekunde.
Die wahre Königin
der Instrumente
Wäre der menschliche Stimmapparat
ein Orchesterinstrument, müsste er
aufgrund seiner Abmessungen zu den
Piccolo-Flöten gesetzt werden. Doch eine ausgebildete Stimme ist nicht in erster Linie wegen der lauten Grundfrequenz über ein Orchester hinweg hörbar, sondern aufgrund ihres hohen
Pegels in bestimmten Teilen des Obertonspektrums, vor allem im Bereich
von etwa 3000 Hertz. Das wird durch
die Tiefstellung des Kehlkopfes, Weitung des Rachens und andere Einstellungen des Vokaltraktes erzielt.
Eine Sopranistin erzeugt in einem
Abstand von einem Meter satte 102 Dezibel, was etwa der Lärmemission einer
Nietmaschine entspricht, die auf Dauer
das Gehör schädigt. Während eine
nicht trainierte Stimme einen Tonhöhenumfang von etwas mehr als zwei
Oktaven aufzubieten hat, kann es ein
Sänger auf knapp 3 Oktaven bringen.
Öffnung der
Eustachischen
Röhre
zum Mittelohr
Nasenhöhle
Oberer Nasengang
Mittlerer Nasengang
Unterer Nasengang
Mundhöhle
Gaumenzäpfchen
Lange Arien können nur trainierte
Stimmen bewältigen, die im Vergleich
zum Normalbürger Töne mindestens
doppelt so lange (20 bis 30 Sekunden)
halten können.
ugeb
Zungenbein
Rachen
Stellknorpel
José Carreras (geboren 1946)
wagte sich an zu schwere Rollen.
Taschenfalte
Kehlkopf
Stimmritze
Schildknorpel
(Adamsapfel)
Stimmlippen
(mit Stimmbändern)
Ringknorpel
Zwar wird üblicherweise nur registriert, was vorne am Kopf
herausschallt. Doch akustische Wellen breiten sich auch bis in
den Bronchialbereich, den Bauchraum, ja sogar bis in die Fußspitzen aus, sagt Stolze. „Die Vibrationen können Muskeln in einen
besseren Spannungszustand versetzen und durch gezieltes
,Losschicken’ in den Körper mitunter sogar bei Asthma oder Verstopfungen Erleichterung verschaffen.“
ugeb
Luftröhre
Speiseröhre
LUFTSTROM
F.A.Z.-Grafik Karl-Heinz Döring; Fotos: Gamma/StudioX, dpa/Picture Alliance (4), Interfoto/Lebrecht Music Collection
Auch die erwachsene Stimme kann
sich noch ändern, und nicht immer
zu ihrem Vorteil. Technische Fehler, Überanstrengung oder mangelnde Schonung bei Infekten können dazu führen, dass sie nicht
mehr klar, voll, elastisch und tragend, sondern eher hauchend,
dünn, spröde oder gepresst klingt.
Auch hormonelle Schwankungen
erfordern eine gewisse Rücksichtsnahme. Früher wurden Sängerinnen zeitweise von ihrer Auftritts-
Unmittelbar vor seinen Auftritten
traf Enrico Caruso, wie seine Witwe Dorothy erzählt, folgende Vorkehrungen: „Hatte er seine Zigarette aufgeraucht, ging er zum
Waschbecken und nahm einen
großen Schluck Salzwasser, das er
in die Lungen einatmete oder einzuatmen schien, dann ausspie, ehe
er erstickte. Mario, sein Diener,
hielt ihm eine Dose mit schwedischem Schnupftabak hin, davon
nahm er eine Prise, um seine Nüstern zu klären. Dann trank er ein
Weinglas voll Whisky, danach ein
Glas Sprudel, und zuletzt aß er ein
Viertel eines Apfels. In die beiden
Taschen, die in jedes Kostüm genau
griffbereit eingearbeitet waren,
schob er zwei Flaschen mit warmem Salzwasser für den Fall, dass
er sich auf der Bühne den Rachen
spülen müsste. Wenn das alles getan war, gab ihm Mario seinen Talisman: ein gewundenes Korallenhorn, Heiligenmedaillen und alte
Münzen, aufgereiht an einem goldenen Kettchen. Zuletzt rief er seine tote Mutter an; der Gedanke an
sie gab ihm Mut.“
SCHALL
Ausreichend trinken, nicht rauchen, und wenn Stimmruhe angeordnet ist, tatsächlich schweigen ist Stolzes Rat. Und nicht flüstern, was die Stimme – entgegen der landläufigen Meinung –
eher anstrengt. Außerdem gibt es Übungen, die die Beweglichkeit
der Stimmlippenoberfläche erhöhen. „Lassen Sie die Luft ganz
leicht durch die Stimmlippen strömen, so dass nur die Ränder der
Stimmlippen zum Flattern gebracht werden.“ Stolze empfiehlt,
auf diesem Minimalton nun ohne Anstrengung „auf und ab zu gehen“, und das Ganze am besten mehrmals am Tag für ein bis
zwei Minuten. Solch ein Training lohne sich, denn die Stimme habe eine positive Wirkung auf den ganzen Körper.
Stress in der Kehle
VON ELEONORE BÜNING
Kehldeckel
Die biologische Uhr tickt im Kehlkopf genauso wie in anderen
Körperteilen. Doch der Bremer Stimmwissenschafter Heinz Stolze
macht Mut: „Die meisten älteren Menschen besitzen in ihrer
Stimme einen schlummernden Schatz.“ Bis zum Alter von 70
Jahren sei das Entwicklungspotential einer wenig geschulten
Stimme so groß, dass die durch natürliche Alterung bedingten
Schwächen ohne weiteres ausgeglichen werden könnten.
pflicht befreit, weil sich kurz vor
und während der Menstruation
vermehrt Wasser in das Stimmlippengewebe einlagert und die Stimme in dieser Phase weniger leistungsfähig sein kann.
Besonders stressempfindlich sind
die Zellschichten an der Oberfläche
der Stimmlippen. Und beim normalen Stimmgebrauch sind es die
sehnenartigen Befestigungsstrukturen am Ende der Stimmlippen, die
mechanisch am stärksten belastet
sind. Das haben Computersimulationen gezeigt. Bei Fehlgebrauch jedoch verlagert sich die Beanspruchung: Vibrationen, Luftstrom und
das immerwährende Zusammenschlagen strapazieren die Stimmlippen stärker in der Mitte. Das
Gewebe reagiert darauf nicht selten mit Verdickungen. Dann wird
Wasser einlagert, Knötchen oder
gar Vernarbungen bilden sich und
schränken die Flexibilität stark ein.
„Es ist wie bei den Schwielen, die
sich nach dem Holzhacken an den
Händen einstellen“, sagt Michael
Fuchs. „Der Körper versucht tiefe-
Die Operngeschichte ist voller Stimmen, die an
Überforderung zugrunde gingen. Oder daran,
dass die Psyche dem Talent nicht gewachsen war.
Zunge
Auch die Stimme altert
fachkundiger Anleitung Erfahrungen im richtigen Umgang mit der
eigenen Stimme zu ermöglichen,
ist hingegen sehr sinnvoll. „Kinder,
die im Chor singen, haben später
in stimmintensiven Berufen die
besseren Karten, weil sie neben einer verbesserten Leistung ihre
Stimme sensibler wahrnehmen“,
sagt Michael Fuchs, der dazu in
Zusammenarbeit mit Kinder- und
Jugendchören am Universitätsklinikum in Leipzig eine Studie
durchgeführt hat.
Diagnose: kaputtgesungen
res Gewebe zu schützen und lagert
Wasserpolster ein.“ Diese organischen Veränderungen erzeugen
unerwünschte Geräusche, beispielsweise Heiserkeit, weil sie die
Vibrationseigenschaften und den
Stimmlippenschluss verändern.
Verschwinden Knötchen und Verdickungen nicht von alleine oder
durch eine Stimmübungsbehandlung beim Logopäden, können sie
chirurgisch entfernt werden.
Neuerdings bietet die Stimmchirurgie sogar die Möglichkeit
eines „Anti-Aging“. Mit zunehmendem Alter erschlaffen Muskeln und Bindegewebe, die Knorpel des Kehlkopfes verkalken, und
die Oberfläche der Stimmlippen
verändert sich, was deutliche
Qualitätseinbußen zur Folge hat
(siehe: „Auch die Stimme altert“).
„Um die Elastizität wieder zu erhöhen und den Stimmlippenschluss zu verbessern, kann man
zum Beispiel Collagen einspritzen
oder eine Operation am Kehlkopfgerüst vornehmen“, erläutert
Fuchs.
Damit gar nicht erst zum Skalpell gegriffen werden muss, empfehlen der Leipziger Facharzt und
viele andere
Experten, ein
Stimmtraining schon in die Ausbildung solcher Berufe einzubauen, bei denen das Gewebe im
Kehlkopf besonders gefordert ist.
„Die Stimmlippen eines Lehrers
haben sich am Ende eines Arbeitstages durch Vibrationen kilometerweit hin und her bewegt deutlich mehr als die Handgelenke eines Bauarbeiters, der mit dem
Presslufthammer gearbeitet hat“,
sagt Bernhard Richter, Leiter des
Zentrums für Musikermedizin in
Freiburg, der eine Spezialsprechstunde für Lehrer anbietet. Mehr
als die Hälfte der Lehrer habe deshalb Stimmprobleme, sagt Richter. Dieses mache sich durch eine
rasche Ermüdung der Stimme
oder einen veränderten Klang bemerkbar. Sinnvoll erscheint es daher auch, wenn sich angehende
Pädagogik- oder Gesangsstudenten vorab auf ihre Stimmtauglichkeit untersuchen lassen – ein Test,
der in Ostdeutschland vor der
Wiedervereinigung sogar vorgeschrieben war.
Michael Fuchs führt solche
Untersuchungen in der HNO-Klinik in Leipzig durch. „Wie sieht
der Stimmapparat aus, welches
Schwingungsverhalten zeigen die
Stimmlippen?“ Das sind die Dinge, nach denen er als Erstes schaut.
Zum Beispiel mit Hilfe einer speziellen Kehlkopfspiegelung, bei
der die Stimmlippenschwingungen
mit einer Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommen werden.
Außerdem wird geprüft, wie laut,
leise, hoch oder tief gesungen und
wie lange ein Ton ausgehalten werden kann. Der Klang wird anschließend möglichst objektiv beurteilt und die Zufriedenheit des
Untersuchten mit seiner eigenen
Stimme durch einen Fragebogen
erfasst. Bei manchen stelle sich
dann heraus, dass sie sich doch lieber einen anderen Beruf suchen
sollten. Wieder andere hätten zwar
eine prinzipiell geeignete, aber
durchaus verbesserungswürdige
Stimme. Auch hier empfiehlt
Fuchs ausreichendes Training, um
Erkrankungen des Stimmapparates
rechtzeitig vorzubeugen.
Nur ein bisschen heiser?
Denn nicht jeder, der an der Stimme laboriert, gesteht sich das auch
ein. Bin bloß heiser, sagt man dann.
„Stimmprobleme werden oft als eigenes Problem oder Schwäche
wahrgenommen. Auch das soziale
Umfeld tut sich schwer damit, ihnen
einen echten Krankheitswert zuzubilligen“, sagt Bernhard Richter.
Deshalb kommt der Entwicklung neuer Methoden für die
stimmphysiologische Diagnostik
auch so eine große Bedeutung zu.
Der Mathematiker Michael Döllinger, der die Forschergruppe
„Strömungsphysikalische Grundlagen der menschlichen Stimmgebung“ an der Universität Erlangen-Nürnberg leitet, hat dazu die
Schwingungseigenschaften von
Stimmlippen an isolierten Kehlköpfen, aber auch an nachgebildeten Modellen erforscht. Er hat
daraus ein Computerprogramm
mitentwickelt, bei dem Hochgeschwindigkeitsaufnahmen in ein
stehendes Farbbild umgerechnet
werden. Da eine Stimme umso gesünder ist, je periodischer und
symmetrischer sie schwingt, kann
der geübte Arzt bei einem Blick auf
ein solches sogenanntes Phonovibrogramm Fehlfunktionen ausmachen. „Das ist die erste Methode,
mit der man die Hochgeschwindigkeitsaufnahmen objektiv auswerten kann“, sagt Michael Döllinger. Das Verfahren wird seiner
Meinung nach zukünftig in der
Klinik immer mehr zum Einsatz
kommen, weil es die Erfolge operativer Eingriffe oder sogar die
von Stimmtherapien messbar
macht. Doch dürfte auch eine solchermaßen ausgestattete Stimmmedizin kaum in der Lage sein, einem Opernstar, der der Optik,
nicht des Organs wegen Karriere
macht, operativ zu einem CarusoSound zu verhelfen. Wenn das
doch einmal möglich ist, dann wäre das natürlich der letzte Schrei.
Das Ritual erfüllte seinen
Zweck. Caruso trieb ansonsten
Raubbau mit seinen Kräften, das
ist wahr, er starb früh; doch hat ihn
seine Wundercellostimme zeitlebens nicht im Stich gelassen. Ob es
eher am Apfel lag oder an Koralle
und Mutter, ist letztlich egal. Eine
ausgebildete Opernstimme ist ein
empfindliches Instrument, das
nicht nur von Viren oder Zugluft
angegriffen wird, sondern auch
von den unsichtbaren Turbulenzen
im Seelenhaushalt. Ein bisschen
Hokuspokus kann da nicht schaden. Andererseits: Wer zu tief ins
Whiskyglas guckt, wie der begnadete Jussi Björling, der kann sich
seine Stimmkrise wohl auch herbeitrinken.
Psyche und Stimme sind nicht
zu trennen. Sonnige Sänger mit
guten Nerven, wie Christa Ludwig
oder Waltraud Meier, Alfredo
Kraus oder Luciano Pavarotti, sind
grundsätzlich weniger stimmkrisenanfällig als die Zornnickel oder
Sensibelchen, die leicht außer Fassung geraten. Gegen eine Halsentzündung, die im letzten Festspielsommer Salzburgs Herzkönigin
Anna Netrebko samt Kolleginnen
serienweise aus dem Verkehr zog,
sind zwar auch die Selbstbewussten
nicht gefeit. Doch lässt sich die
Mehrzahl der Fälle von Sängerversagen zurückführen auf Zweifel,
Kummer und anderen negativen
Stress. Nur so ist zu erklären, dass
ein Tenor mit Heldenpotential, der
gerade eben noch in Stuttgart ein
glänzender Ritter Stolzing war, als
Parsifal in Bayreuth an seine Grenze gerät. Dies widerfuhr Katharina Wagners Exlebensgefährten
Endrik Wottrich, der dann ein Jahr
später als Siegmund antrat, mitten
in der Saison aufgab und ausgewechselt wurde. Übermorgen ist
Wottrich wieder als Bayreuther
Siegmund am Start: Immer locker
bleiben!
Ähnlich überfordert zeigte sich
Bariton Franz Hawlata, der in Essen einen wunderbar jungen, aufgehellten Hans Sachs sang und in
der gleichen Rolle in Bayreuth den
Schlussmonolog nur noch krächzen konnte. „Überforderung“ bedeutet freilich nicht, dass ein Sänger nur etwas nervös geworden ist
und mehr Kamillentee trinken
sollte. In den meisten Fällen, auch
beim allzu wenig bassdunklen
Hawlata, kommt dazu, dass Umfang und Textur der Stimme mit
dem Rollenfach (noch) nicht zusammengewachsen sind. Nimmt
ein Sänger darauf keine Rücksicht,
kann er seine Stimme dauerhaft
schädigen und die Karriere ist vorbei, bevor sie angefangen hat. Rolando Villazón hat vielleicht Glück
gehabt, dass er so früh in seiner
steilen Laufbahn zum Pausieren
und Nachdenken gezwungen worden ist. Tragische Fälle, in denen
das nicht passierte, gibt es genug.
Maria Callas (1923 bis 1977) wollten ihre Fans noch hören, als ihre Stimme
den Zenit schon überschritten hatte. Zuvor hatte gesangliche Überlastung
bereits die Karriere von Giuseppe Di Stefano (1921 bis 2008) beendet.
Leukämie besiegt hat, aber schon
lange vorher seinem einst so zauberhaft samtig-lyrischen Tenor mit
zu schweren Partien den Garaus gemacht hatte. Und, exemplarischer
Fall von Typecasting, Peter Hofmann, das blonde Muskelpaket, ein
Mannsbild von Jung-Siegfried:
Schon die umjubelten ersten Bayreuther Aufnahmen enthüllen
dumpfe Mittellage, Registerbrüche
und gebellte Höhen, nach weniger
als zehn Jahren war die Karriere
vorbei.
Sänger sind quasi Bewohner ihres Instrumentes. Sie hören sich
selbst anders singen, als sie vom
Rest der Welt außerhalb ihres Körpers gehört werden. Deshalb sollte jeder Opernsänger ein paar ehrliche Ratgeber kennen, jenseits der
Küsschen-Küsschen-Komplimente nach Ende der Vorstellung, in
der Kulisse. Hatten selbst große,
vielbeschäftigte Sänger früher immer noch Einkehrphasen bei ihren
alten Lehrern, die ihnen im Vertrauen sagten, wie sie wirklich klingen, so haben sie heute mit etwas
Glück einen Korrepetitor, der sich
traut, den Mund aufzumachen.
Und wie oft passiert es, dass die
Verglühte Sterne
Die amerikanische Sopranistin
Cheryl Studer war so ein Stern, der
zu früh an sich selbst verglüht ist: Sie
erzwang sich das hochdramatische
Fach mit unerhörter Intensität, sang
Wagner in Bayreuth, Strauss an der
Met, stets hart am Rand. Ihre fiebrig-strahlende Kämpferin Leonore bei den Salzburger Festspielen
1996 ist unvergessen. Dann brach
die Stimme. 1998 löste die Bayerische Staatsoper Studers Verträge
auf. Heute lehrt sie Gesang an der
Hochschule in Würzburg. Andere
treten tapfer immer weiter auf, ja,
zum Teil sogar mit hübschem Publikumserfolg, obwohl sie stimmtechnisch längst ruiniert sind. Da ist
die kapriziöse Belcantodiva Lucia
Aliberti, die Anfang der Achtziger
eine große Hoffnung gewesen war.
Da ist José Carreras, der Netteste
unter den drei Tenören, der die
Rolando Villazón (geboren 1972) hat seine frühe Stimmkrise vielleicht
ein vorzeitiges Karriereaus erspart. Anna Netrebko (geboren 1971) zeigt
sich bislang belastbar, bis auf eine branchentypische Halsentzündung.
Lucia Aliberti (geboren 1957)
sang einmal Belcanto.
Ärmsten erst mitten in der Vorstellung merken, dass sie gar nicht
hätten auftreten dürfen! Im Oktober 1982 sang der Tenor Reiner
Goldberg nur wenige Takte im
Tannhäuser an der Wiener Staatsoper, ging ab und kam nicht mehr
wieder. Sensationellerweise gelang
es innerhalb von zwanzig Minuten,
einen Ersatz-Tannhäuser zu finden, Spas Wenkoff war zufällig in
Wien. Voriges Jahr blieb Robert
Dean Smith, der kurz zuvor für
den ausgefallenen Wottrich in Bayreuth eingesprungen war, mitten
im Preislied des Ritter von Stolzing
die Stimme weg. Gottlob saß Raymond Very im Saal und konnte
übernehmen. Eine wie Maria Callas aber war aus Prinzip unersetzlich. Für sie gab es keine Zweitbesetzung, als die unsterbliche
Primadonna assoluta war sie verdammt zu ewigem Erfolg.
Das war der Preis: Ende der
Fünfziger war die Stimme der Callas längst nicht mehr schön – aber
was ist Schönheit, wenn man die
Wahrheit hören kann? Bei ihrem
Jussi Björling (1911 bis 1960)
hatte ein Alkoholproblem.
langjährigen Partner Giuseppe Di
Stefano, der nicht über das Charisma der Callas verfügte, stellte sich,
als er sich kaputtgesungen hatte,
diese Frage gar nicht erst. Und hat
die Callas nicht schon als junger
Star zu viel „Essig“ in der Stimme?
Schärfer wird sie mit den Jahren,
rissig, brüchig, was alle Callasfans
wohl wussten und sie selbst vielleicht am besten. Sie kompensiert
das mit Ausdruckskraft, Klugheit
und unerschöpflicher Musikalität.
Immer noch ist die Callas umschwärmt, umkämpft, begehrt,
doch schon säumen Versagensängste, Absagen, Konventionalstrafen
und Drogen ihren Weg. Im Januar
1957 soll sie in einer Galaaufführung in Rom in Anwesenheit des
Staatspräsidenten die Norma singen. Noch in der Neujahrsnacht
hat sie vorab, als Kostprobe für die
Nation, im Fernsehen die „Casta
diva“-Arie vorgetragen. Danach
feiert sie in einem Nachtclub ins
neue Jahr hinein. Und erwacht, 36
Stunden vor Vorstellungsbeginn,
ohne Stimme. Den ersten Akt hat
die Callas mit Hilfe von Medikamenten durchgestanden, danach
wird die Vorstellung abgebrochen,
trotz Protest und Buhkonzert, das
Publikum samt Staatspräsident
nach Hause geschickt. Diese Sorte
Skandal, die den Stoff zu Legenden
liefert, gibt es heute nicht mehr.
Die einen Talente singen auf Sicherheit. Schade. Die anderen aber
verzetteln und vergeuden sich, bevor sie alt genug sind, dass eine Ahnung von der Wahrheit sie anfliegen könnte.
Peter Hofmann (geboren 1944)
war der perfekte Siegfried, jedenfalls optisch. Dann sang er Rock
’n’ Roll – ins Mikrophon.

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