Predigt - Stunde des Höchsten

Transcription

Predigt - Stunde des Höchsten
Stunde des Höchsten
Gottesdienst vom Samstag, 01. Januar 2012
Thema: Sei mutig und stark
Predigt
Er wollte eine Raviolidose öffnen. Aber es war ihm nicht möglich. Alexandre Jollien ist körperlich und sprachlich schwer behindert. In seinem Buch »Die Kunst Mensch zu sein« erzählt er davon. Alle verzweifelten Versuche, die Dose zu öffnen, scheiterten. Die Dose war in
der Zwischenzeit völlig ramponiert. Dann habe er allen Mut zusammengefasst, und sei damit
zu seinem Nachbarn gegangen und hätte ihn um Hilfe gebeten. Der habe sich die heillos
ramponierte Dose angeschaut und ihm eine neue geschenkt. Was hätten Sie an Jolliens
Stelle getan? Es ist ja nicht einfach, sich selbst und dann noch anderen sein Unvermögen,
seine Schwachheit einzugestehen. Jollien zieht nach dieser Ravioli-Anekdote ein interessantes Fazit: »Mein Unvermögen hat mir eine leckere Mahlzeit und eine neue Freundschaft beschert.«
Wer sich selbst und anderen seine Schwachheit eingesteht, schafft sich neue Möglichkeiten,
eröffnet sich die Chance einer neuen Lebensqualität.
Wir sind von klein auf eher programmiert worden auf Stärke. Nur ja keine Schwächen zulassen. Aber je älter man wird, um so mehr kommt man an seine Grenzen und damit auch zu
den Schwachstellen, zu den persönlichen Schwächen. Es geht nicht nur um eine RavioliDose, die man nicht aufbekommt. Es geht um Beziehungen, in denen man sich gegenseitig
behindert. In denen vermeintliche Schwächen des anderen zur Zerreisprobe werden. Es geht
um die schwache Leistung am Arbeitsplatz, weil man mit manchen Herausforderungen einfach nicht zurecht kommt. Es geht um die Schicksalsschläge, die einen mit ganzer Wucht
getroffen haben, und die einen mit der Zeit schwach werden lassen. Es ist schwer, die eigenen Schwächen zu ertragen und mit der Schwachheit eines anderen klar zu kommen. Zumal
man immer den Eindruck hat und so auch in der Gesellschaft vermittelt bekommt: ankommen und durchkommen, weiterkommen – kommen nur die Starken, die Fitten, die Gesunden, die Vermögenden. Und so sind Schwächen verpöhnt, schwach sein unerwünscht und
man begibt sich lieber auf die Flucht und rennt mit und vor der Schwachheit davon.
www.stunde-des-hoechsten.de
Pfarrer Heiko Bräuning
Seite 1
Völlig auf den Kopf gestellt wird diese Ordnung, diese Rangordnung der Starken und der
Schwachen durch das Wort von Paulus in 2. Korinther 12, 9-10: »Jesus Christus hat zu mir
gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei
mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.« Ich
denke an meine Kinder: sie sind einfach noch zu klein, um stark zu sein. Sie sind zu jung,
um alles können zu können. Ihre kindliche Schwachheit zieht Hilfsbedürftigkeit nach sich.
Und alle Liebe und Fürsorge, alle Wertschätzung und alles Interesse von uns als Eltern ist
ihnen sicher! Überlegen Sie selbst: Am liebsten helfen wir denen, die Hilfsbedürftigkeit signalisieren, die andeuten, dass sie selbst nicht können, dass sie zu schwach sind. In einem kurzen Satz bringt der deutsch-jüdische Philosoph Theodor W. Adorno den Zusammenhang von
Liebe und Schwäche auf den Punkt: »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen
darfst, ohne Stärke zu provozieren.«
Paulus hätte an sich verzweifeln können. Seine Schwachheit machte ihn zu einem kümmerlichen, sorgenvollen, enttäuschten Menschen. Andere machten sich über ihn lustig, verachteten und verspotteten ihn. Anders hört sich an, was Gott ihm in dieser Situation sagt: Für mich
bist du nicht ein Häufchen Elend, ein bemitleidenswertes Nichts, ein hoffnungsloser Fall. Du
bist von mir geliebt, so wie du bist. Und meine ganze Liebe, mein ganzes Interesse, meine
ganze Zuwendung gilt dir! Meine Kraft ist in deiner Schwachheit mächtig. Daran lass dir genügen.
Dietrich Bonhoeffer hat in seiner Londoner Predigt über 2. Kor. 12, 9 Folgendes gesagt:
»Schwachheit ist in den Augen Christi nicht das Unvollkommene gegenüber dem Vollkommenen, sondern eher ist Stärke das Unvollkommene und Schwachheit das Vollkommene.
Nicht der Schwache hat dem Starken zu dienen, sondern der Starke dem Schwachen - und
dies nicht aus Wohltätigkeit, sondern aus Liebe und Ehrfurcht. Nicht der Mächtige hat recht,
letztlich hat immer der Schwache recht. So bedeutet das Christentum eine Abwertung aller
menschlichen Werte und die Errichtung einer neuen Ordnung der Werte im Angesicht Jesu
Christi.«
www.stunde-des-hoechsten.de
Pfarrer Heiko Bräuning
Seite 2
Lassen Sie sich ermutigen. Lassen Sie sich trösten: Was Christus am Kreuz vollbracht hat,
hat für viele bis heute den Anschein einer ohnmächtigen Gottheit, einer großen Hilflosigkeit,
einer unvergleichlichen Schwachheit. Aber es war genau das, was jedem von uns am meisten hilft: Er hat den Schwachen gezeigt, wie sehr er sie lieb hat, wie sehr sie ihm mit ihrer
Hilfsbedürftigkeit am Herzen liegen. Und er hat im Kreuz einen Ort geschaffen, wo er sich
ganz in die großen Nöte der Schwachen hineinbegibt. Schwachsein ist keine Schande. Keiner muss sich dafür schämen. Sondern er darf sich sicher sein, und voll großer Erwartung,
was Gott mit dieser Schwachheit vor hat. Und das wertvolle am Kreuz ist: Es ist der Ort, von
dem aus das Leben danach anders weitergeht, als vorher. Der Auferstandene, der die
Schwachheit mit uns aushält und sie mit uns erträgt, geht mit jedem, der am Kreuz vorbeikommt, neue Wege. Das Leben der Schwachen geht in der Kraft des Auferstandenen und
mit der Kraft des Auferstandenen weiter.
Wie diese Kraft in der Schwachheit konkret werden kann, davon schreibt Erika Schuchhardt
in ihrem Buch »Warum gerade ich?«. Sie ist als Pfarrerin durch ihre Krankheit aus ihrem
tatkräftigen und erfolgreichen Leben geworfen worden. Sie schreibt: »Ich glaube fest, dass
Gott für jeden ein ganz persönliches Maß gesetzt hat, das erfüllt werden will: ein Maß für den
Unbegabten, ein Maß für den Ängstlichen, ein Maß für den Traurigen, ein Maß für den Kranken. Man wird mich fragen, warum ich nichts gemacht habe aus den Umständen, unter denen mein Leben nun einmal verlaufen ist. Man wird mich nicht fragen: Warum bist du so oft
traurig gewesen? Sondern: Was hast du gemacht aus deiner Traurigkeit? Hast du mit deiner
Traurigkeit ein Gespür dafür bekommen, wie schwierig auch das Leben anderer sein kann,
wie niederdrückend, und hat dich das ein wenig geduldiger, ein wenig feinfühliger, ein wenig
zurückhaltender in deinem Urteil gemacht? Man wird mich nicht fragen: Warum bist du so oft
krank gewesen? Sondern: Was hast du aus deiner Krankheit gemacht? Wie hast du den
Freiraum genützt, den deine Krankheit dir eingeräumt hat? Du bist nicht zu jeder Zeit verpflichtet gewesen zu arbeiten und für deinen Lebensunterhalt zu sorgen, du hast viel freie
Zeit gehabt. Wozu hast du sie verwendet? Zu nutzlosem Gejammer nach dem Muster: Wäre
doch! und könnte nicht! oder dazu, in aller Bescheidenheit anderen immer wieder mal eine
Freude zu machen? Und sei es einfach nur durch die Zeit, die du hattest zum Zuhören? Ich
möchte es noch einmal wiederholen: Ich glaube fest daran, dass jeder Mensch zur Vollendung kommen kann!«
www.stunde-des-hoechsten.de
Pfarrer Heiko Bräuning
Seite 3
Im Bußgebet des jüdischen Gottesdienstes bekennen sich die Beter zu ihrer Ohmacht und
bitten um Gottes Zuwendung: Beten Sie es gerne mit: »Der sich erbitten lässt zum Erbarmen, der sich versöhnen lässt durch Flehen, lass Dich erbitten und versöhne Dich dem elenden Geschlecht, denn es ist ohne Helfer. Und wir, wir wissen nicht, was wir tun sollen – sondern auf Dich sind unsere Augen gerichtet. Deine Liebe walte über uns, Gott, wie wir auf
Dich harren! Gedenke an uns nicht die früheren Sünden, lass uns schnell Dein Erbarmen
entgegenkommen, denn wir sind sehr schwach. Hilf uns, Gott unsres Heils, zur Ehre Deines
Namens, und versöhne unsre Sünden um Deines Namens willen.« Amen.
Danke, wenn Sie Stunde des Höchsten mit Ihrer Spende unterstützen:
Stunde des Höchsten
Konto 135 135
Evangelische Kreditgenossenschaft Kassel (abgekürzt: EKK Kassel)
BLZ 520 604 10
www.stunde-des-hoechsten.de
Pfarrer Heiko Bräuning
Seite 4

Documents pareils