Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns

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Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns
Oliver Jahraus
Zur Systemtheorie Niklas Luhmannns
in: Niklas Luhmannn Aufsätze und Reden, Reclam 18149
Seite 303 - 314
Stichwörter:
…das System ist die Differenz von System und Umwelt.
…Selbstreferentialität, der operativen Geschlossenheit und der Prozessualität.
…These von der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation
…Unbestimmtheit ist die Keimzelle von sozialen Systemen.
Soziale Systeme regeln Erwartungen, aber auch Erwartungserwartungen
…Sinn ist, so Luhmann, „ Die Einheit von Aktualisierungen und Virtualisierung“
Am Anfang der Systemtheorie steht eine radikal abstrakte Neudefinition des
Systembegriffs.
Im Gegensatz zum Strukturalismus, der ein System als geordneten Zusammenhang von
Systemkomponenten sieht, ist für die Systemtheorie das System einzig durch das definiert,
was es nicht ist, nämlich seine Umwelt. Aber auch der Begriff der Umwelt erfährt keine
inhaltliche Definition: Umwelt ist, was das System nicht ist. Damit es das einzige, was ein
System konstituiert und definiert (definiert im eigentlichen Sinn des Wortes von Abgrenzung),
seine Umwelt. In sofern kann die Systemtheorie sagen: das System ist die Differenz von
System und Umwelt.
Diese Differenz ist der „ Ausgangspunkt jeder Systemtheoretischenanalyse“(Soziale
Systeme, S.35) wo immer sich solche Differenzen finden lassen, lassen sich also per se
auch Systeme ausmachen. Gleichzeitig wird deutlich, dass in dieser Definition von System
der Begriff des Systems, der ja das zu definierende bzw. das Definiendum ist, auch auf der
Seite des definierenden bzw. des Definiens wiederkehrt. Der Systembegriff bezieht sich auf
sich selbst und wird autoreflexiv.
Auf die Gesellschaft bezogen heißt dies, dass überall dort, wo eine solche Differenz
auszumachen ist, von sozialen Systemen gesprochen werden kann. Luhmann präzisiert den
Systembegriff im Hinblick auf soziale Systeme mit den konstitutiven Charakteristika der
Selbstreferentialität, der operativen Geschlossenheit und der Prozessualität.
1. Wenn nur eine System/Umwelt- Differenz vorliegen würde, wäre damit nicht viel
gewonnen. Der Blick auf die Gesellschaft zeigt aber, dass sozialen Systemen die Fähigkeit
unterstellt werden muss, dass sie sich selbst als System erhalten und dass sie sich selbst
von ihrer Umwelt unterscheiden können müssen. Das bedeutet, soziale Systeme müssen
sich auf sich selbst beziehen können, sie sind selbstreferentielle Systeme, und die eigene
Systemkonstitution ist kein abgeschlossener Akt sondern ein permanenter Prozess. Systeme
existieren nur durch Selbstreferentialität und durch Prozessualität.
2. Selbstreferentialität bedeutet, dass das System die Differenz von System und Umwelt
innerhalb des Systems noch einmal reproduziert und somit dem Prozess handhabbar macht.
Das System ist eben gerade definiert durch seine Abgeschlossenheit von der Umwelt. Es
kann also prinzipiell nicht außerhalb seiner selbst, also in der Umwelt, sondern immer nur in
sich selbst operieren. Seine Beziehung zur Umwelt gestaltet es demnach dadurch, dass es
diese Differenz in sich selbst hineinkopiert und somit zum Ausgangspunkt weiterer
Operationen macht, die aber auch wieder nur systemintern prozessiert werden. Das heisst:
der Unterschied wird im Unterschiedenen noch einmal wiederholt; Luhmann nennt dies
„re-entry“.
3. Der Prozess, in dem sich ein System konstitutiv fortzeugt, besteht aus den Operationen
des Systems. Das System muss also immer wieder neue Systemzustände einnehmen.
Dabei wird die Geschlossenheit des Systems immer an seinen Operationen manifest.
1
Selbstreferentialität ist deswegen ein Korrelat der Schließung des Systems gegenüber seiner
Umwelt. Da die Differenz konstitutiv ist, würde eine Auflösung oder Aufweichung der
Differenz zwischen System und Umwelt zwangsläufig zur Auflösung des Systems selbst
führen. Dass für das System überhaupt Umwelt handhabbar werden kann, liegt in dieser
strikten Differenz, die ihrerseits wiederum zur Voraussetzung für das Re-entry wird Luhmann
geht so weit zu sagen, dass Geschlossenheit Voraussetzung für Offenheit ist.
4. Auf dieser Grundlage lässt sich doch noch eine positive Bestimmung der Differenz von
System und Umwelt geben. Gegenüber der Umwelt ist das System aufgrund seiner
Eigenschaften in der Lage, Umweltkomplexität systemintern zu reduzieren. Komplexität
bedeutet, dass mehr Selektionsmöglichkeiten vorliegen, als aktualisiert worden sind oder
werden können. Da allerdings für die Reduktion von Komplexität wiederum Komplexität
vonnöten ist, ist die Differenz durch eine doppelte Komplexitätsschwelle unterschiedlicher Art
(System- und Umweltkomplexität) nach beiden Seiten hin, also durch ein gegenläufiges
Komplexitätsgefälle definiert. Kurz gesagt: soziale Systeme sind operativ geschlossene,
selbstreferentielle Prozesse.
Wissenschafts- und erkenntnistheoretisch gesehen ist das System also nicht etwas, was
man in der Empirie vorfinden könnte, sondern das System, diesem Verständnis
entsprechend, ist in erster Linie ein Instrument zur Beobachtung. Die Systemtheorie
beobachtet die Gesellschaft und alles, was sich in und an der Gesellschaft als Strukturen
herausbildet, als System. Darin liegt ein konstruktivistisches Moment, das Luhmann in
späteren Arbeiten immer deutlicher in den Vordergrund rückt. Gesellschaft als System zu
beschreiben heißt also nicht, den Systemcharakter der Gesellschaft als ihren Wesenskern
herauszudestiliereren, sondern Gesellschaft überhaupt erst als System zu entwerfen.
Beobachtungsinstrument und Beobachtetes werden eins.
Auch hier ist wiederum ein Punkt erreicht, an dem Systemtheorie einen Beginn willkürlich
setzt, um einen Anfangsgrund für weitere Konzeptualisierung zuschaffen. Sie setzt beim
System an und behandelt Systeme, obschon sie Beobachtungsresultate sind, als ontologisch
vorgegeben; so beginnt das Kapitel aus den Sozialen Systemen mit dem provokanten Satz:
„Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt“ (S.30)
Kommunikation, Kommunikationsmedien, doppelte Kontingenz, Sinn
Worin bestehen nun die Operationen sozialer Systeme? Luhmann antwortet: ausschließlich
aus Kommunikationen. Damit wird die Kommunikationstheorie, wie sie Luhmann entwirft,
zur Grundlagentheorie sozialer Systeme. Luhmann bricht allerdings radikal mit der
Vorstellung der Kommunikation als eine Übermittlung einer Botschaft von einem Sender zu
einem Empfänger. Stattdessen wird Kommunikation selbst als der Prozess begriffen, der
die sozialen Systeme überhaupt erst ausmacht.
1 Kommunikation ist für Luhmann das prozessuale Ineinandergreifen einer dreifachen
Selektion zunächst wird aus einer Reihe von möglichen Informationen eine ausgewählt,
anschließend wird ein bestimmtes Verhalten selegiert, um diese Informationen mitzuteilen,
und schließlich wird aus den Möglichkeiten ausgewählt, zwischen Information und Mitteilung
zu unterscheiden. Kommunikation wird somit als dreistellige Relation von Information,
Mitteilung und Verstehen beschrieben.
Boe: Brier – information, utterance, meaning
2 Das Verstehen darf nicht missverstanden werden, etwa im Sinne der Hermeneutik, als
Zugriff auf das, was ein anderes Bewusstsein wirklich meint. Verstehen ist lediglich eine
Differenzierung zwischen Information und Mitteilung. Damit kann Verstehen im Prozess
der Kommunikation wiederum als Information oder als Mitteilung gehandhabt werden so
dass sich die Kommunikation über das Verstehen selbst reproduziert. Verstehen ist also
2
Selektion aus Selektionen. Was kommuniziert wird und wie kommuniziert wird, wird über
das Verstehen der Kommunikation nicht von außen vorgegeben, sondern ausschließlich
kommunikationsintern produziert und prozessiert.
3 Kommunikation ist nicht an natursprachliche Formen gebunden. Sprache ist zwar in der
Lage, Kommunikation hoch flexibel zu machen, aber sie ist für Kommunikation nicht
ausschließlich notwendig. Das bedeutet, dass der, der nichts sagt, nicht auch nicht
kommuniziert. Auch Luhmanns Kommunikationskonzeption ist dem konstruktivistischen
Topos verbunden, dass man nicht nicht kommunizieren kann.
4 Da Kommunikation so lange, wie sie läuft, sich immer über das Verstehen reproduziert,
wird immer auch verstanden. Das bedeutet wiederum, dass der Unterschied zwischen
Verstehen und Missverstehen eingeebnet wird. Denn Verstehen, so verstanden, meint eben
gerade nicht eine intentionale Aneignung, sondern lediglich kommunikative Reproduktion.
5 Wenn aber Kommunikation sich derart einfach selbst reproduziert, stellt sich die Frage,
warum Kommunikation überhaupt stattfindet. Diese Frage bringt Luhmann zu der These von
der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. Kommunikation ist selbst ein Prozess. Nur
solange kommuniziert wird, ist Kommunikation überhaupt. Für Kommunikation kommt es
also konstitutiv darauf an das sie sich selbst fortsetzt, d.h., dass sie immer wieder aufs Neue
kommunikative Anschlüsse produziert. Dieser Selbstreproduktion versteht Luhmann als
prinzipiell unwahrscheinlich. Es ist unwahrscheinlich, dass verstanden wird, und es ist
unwahrscheinlich dass das Verständnis akzeptiert wird. Vor diesem Hintergrund hebt
Luhmann das Potenzial der Sprache hervor Formen zur Verfügung zu stellen, deren
kommunikative Funktion nicht zu übersehen ist, wodurch die Wahrscheinlichkeit, dass
zwischen Information und Mitteilung differenziert, dass also verstanden wird, deutlich erhöht
wird.
6 In diesem Kommunikationsmodell kommen keine Sprecherpositionen mehr vor. Das hat
zunächst zur Folge, dass der Kommunikationsprozess, damit er überhaupt handhabbar und
beobachtbar wird, auf Personen zugerechnet werden muss, die in der Kommunikation als
Verantwortliche für Kommunikation angesprochen werden können. Die Zurechnung hat die
Funktion, die Kommunikation zu zerlegen (wer sagt was?), So dass Kommunikation sich
selbst besser kommunikativ regulieren kann. Da aber Kommunikation an sich lediglich einen
Prozess darstellt, wird Kommunikation zu diesem Zweck als Handlung simplifiziert.
Wenn man Kommunikation so vereinfacht, kann man kommunikative Ereignisse als
Mitteilungsverhandlungen beobachten. Erst dadurch werden Personen (Ego und Alter
Ego) als Instanzen der Kommunikation adressierbar.
7 Personen sind Adressen, auf die Kommunikation zugerechnet wird, nicht aber die
Urheber von Kommunikation. Kommunikation ist in dieser Konzeption ein sich selbst
reproduzierender Prozess. Und so kann Luhmann zu seiner provokativen These kommen:
„Aber Menschen können nicht kommunizieren, nicht einmal ihre Gehirne können
kommunizieren, nicht einmal das Bewusstsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation
kann kommunizieren“.
Der Vorwurf des Inhumanismus ist hier aus verschiedenen Gründen verfehlt; denn zum
einen wird über Menschen gar nicht gesprochen, weil Kommunikation auf einer gänzlich
anderen Ebene modelliert wird, und zum anderen lässt sich aus diesem Anschluss auch eine
Rücksichtnahme gegenüber dem Menschen ableiten, die seine Komplexität eben nicht
theoretisch reduziert, sondern anerkennt und eben deswegen in die Umwelt von
Kommunikation auslagert.
An diese Kommunikationskonzeption schließen sich verschiedene medientheoretische
Angaben an, die allerdings von Luhmann niemals zu einer systematischen Medientheorie
ausgearbeitet wurden. Vielmehr finden sich bei ihnen verschiedenste Medienbegriffe
unverbunden nebeneinander. In jedem Fall aber haben Medien, in welchem
Aggregatszustand sie auch auftreten, die Aufgabe, die Unwahrscheinlichkeit der
Kommunikation zu verringern.
3
Die Funktion der Sprache wurde bereits genannt. Verbreitungsmedien (darunter sind
auch Massenmedien im landläufigen Sinn zu verstehen) erhöhen die Wahrscheinlichkeit,
dass Adressaten überhaupt erreicht werden. Besonderes Augenmerk widmet Luhmann
jenen kommunikativen Mechanismen, die die Wahrscheinlichkeit des Anschlusses erhöhen.
Diese Mechanismen nennt Luhmanns symbolisch generalisierte
Kommunikationsmedien bzw. auch Mediencodes. Sie geben eine Orientierung sowohl für
ego als auch alter ego in Bezug darauf vor, wie die Kommunikation ihre Anschlüsse
organisiert und so von vornherein die kommunikativ gebotenen Selektionsmöglichkeiten
reduziert. Beispiele sind: Wahrheit, Macht, Recht, Liebe, Kunst, Glaube, Wertbindungen.
Diese Kommunikationsmedien sind zumeist gesellschaftlichen Funktionssystemen
zugeordnet, zum Beispiel Wahrheit der Wissenschaft, macht der Politik, Recht der
Rechtsprechung usw.“Generalisierung“bedeutet, dass diese Medien bzw. Codes die je
einzelnen Kommunikationen transzendieren und potentiell unendlich zur Verfügung
stehen.“Codierung“ bedeutet, dass das Kommunikationsmedium eine binäre
Differenzierungen bzw. Disjunktion vorgibt. Symbolisch sind diese Anschlüsse, weil das
einzelne Medium bzw. der Code selbst als Wert für die Organisation kommunikativer
Anschlüsse in ihrem kommunikativen Einzugsgebiet stehen. Der Code bzw. das Medium
sind, so gesehen, ein Symbol zum Beispiel für die Wahrheit, die sie kommunikativ
organisieren. Wer also in der Wissenschaft – wissenschaftlich - kommuniziert, wird Wahrheit
als jenen positiven Wert ansehen, den auch sein gegenüber als solchen ansieht, so dass
Ego und Alter Ego darauf in ihren Selektionen kommunikativ festgelegt sind. Dies reduziert
die kommunikativen Anschlussmöglichkeiten erheblich und steigert die Wahrscheinlichkeit
der Kommunikation enorm.
Der Systemtheorie lässt sich eine zentrale Frage unterstellen: Wie ist soziale Ordnung
überhaupt möglich? Da soziale Systeme existieren, die kommunikativ gebildet und
prozessiert werden, kommt man nicht darum herum, die Frage mit: Kommunikation! zu
beantworten. Jede soziale Ordnung - und die gesellschaftliche Ordnung ist eine
kommunikative Ordnung - ist eine Ordnung in dem Maß und in der Form, indem und in der
Kommunikation Ordnung überhaupt ermöglicht. Ordnung ist sozusagen der Gegenbegriff
zu Kontingenz und zu Komplexität. Den Zusammenhang von Komplexität und Kontingenz
bezeichnet der Begriff der Selektion.
Selektion bedeutet den Zwang zur Differenzierungen und zur Entscheidung für das eine und
nicht für das andere. Selektion ist also eine prozessuale Entscheidung auf der Basis einer
Differenzierung sie kann immer auch anders ausfallen (daher ist sie kontingent) und
impliziert notwendigerweise einen Überschuss an Möglichkeiten, der nicht aktualisiert wird
(daher ist sie komplex). Soziale Ordnung ist nur möglich, wenn es gelingt, diese Kontingenz
und diese Komplexität zu bannen. Gebannt werden sie in der Form des Systems, das
System existiert aber wiederum nur, indem es sich kommunikativ vollzieht. Ein Beispiel dafür
ist das grundlegende Bezugsproblem sozialer Ordnung, nämlich doppelte Kontingenz.
Damit wird der Sachverhalt bezeichnet, dass sowohl Ego als auch Alter Ego ihre
Selektionsentscheidungen von denen des jeweils anderen abhängig machen. Eine solche
Situation blockiert soziale Ordnung. Sie ist gekennzeichnet von einer wechselseitigen
Unbestimmtheit, die nur aufgelöst werden kann, wenn beide Seiten, Ego und Alter Ego,
diese wechselseitige Unbestimmtheit in ihren Selektionen selbst noch einmal
berücksichtigen.
Diese Unbestimmtheit ist die Keimzelle von sozialen Systemen. Soziale Systeme
regeln Erwartungen, aber auch Erwartungserwartungen,, also dasjenige, von dem
erwartet wird, dass es erwartet wird. Doppelte Kontingenz wird so zum Katalysator von
sozialen Systemen, weil damit der Zwang entsteht, Kontingenz abzubauen und Komplexität
zu reduzieren. Doch doppelte Kontingenz ist kein nur einmalig auftretendes Problem, dass
dann ein für alle Mal gelöst werden könnte. Jede Problemlösung führt im prozessualen Lauf
zu neuen Situationen der doppelten Kontingenz. Genau dies aber machen sich soziale
Systeme zu Nutze, um sich in der Lösung des Problems der doppelten Kontingenz selbst zu
4
reproduzieren: „Die Autokatalyse sozialer Systeme schafft sich ihren Katalysator, nämlich
das Problem der doppelten Kontingenz selbst.“(Soziale Systeme, S.171). Soziale Ordnung
ist also nicht etwas, das allmählich entsteht und von einem Zustand geringer zu einem
Zustand höherer Ordnung hinführt. Jede soziale Ordnung ist eine emergente Ordnung, die
schlagartig entsteht, wenn sich aus einem konstitutiven Anfangsproblem wie dem der
doppelten Kontingenz ein Mechanismus zur Problemhandhabung herauskristallisiert.
Soziale Ordnung ist darüber hinaus immer eine Ordnung des Sinns, besser gesagt: eine
Ordnung durch das Medium und im Medium des Sinns. Am Überschuss von
Selektionsmöglichkeiten wird Sinn beobachtbar. Wenn eine Selektion immer den
Zusammenhang von aktualisierten und nicht aktualisierten Möglichkeiten darstellt, dann ist
damit schon die Definition von Sinn gegeben. Sinn ist, so Luhmann, „ Die Einheit von
Aktualisierungen und Virtualisierung“ (Soziale System, S.100).
Sinn ist die Voraussetzung dafür, dass überhaupt differenziert werden kann, und diese
Differenzierungen im Selektionen einfließen können und dass die Einheit der Differenz
zwischen aktualisierten und nicht- aktualisierten und damit wir aktualisierten Möglichkeiten
ihrerseits für weitere Differenzierungsleistungen zur Verfügung steht.
Wenn soziale Systeme ihren Umweltkontakt dadurch regeln, dass sie die Systemgrenze
intern wiederholen, sind sie somit auch in der Lage, zwischen Selbstreferenz und
Fremdreferenz zu unterscheiden. Fremdreferenz ist der Bezug des Systems zur intern
wiederholten Umwelt. Damit aber überhaupt zwischen Selbst- und Fremdreferenz
unterschieden werden kann, ist Sinn unabdingbar vonnöten. Sinn unterscheidet zwei Seiten,
setzt die eine als aktual und die andere als potentiell und schafft so die Voraussetzung, dass
diese Differenz weiter prozessiert werden kann. Denn Sinn ist nichts anderes als Einheit
der Differenz.
Sinn ist selbst ein Prozess und gleichzeitig Grundlage eben dieses Prozesses. Deswegen
ist Sinn nicht hintergehbar, weil auch der Versuch, Sinn zu hintergehen, oder sogar der
Versuch, sind zu negieren, immer noch Sinn voraussetzt. Sinn ist die Voraussetzung für
Affirmation und Negation und damit selbst „eine unnegierbare, eine differenzlose Kategorie“
(SozSys. S.96) und Sinn ist zudem ein Prozess, der sich in drei Dimensionen entsprechend
den Dimensionen der an dem Prozess beteiligten Instanzen aufspalten lässt; Luhmann
spricht in diesem Zusammenhang von Sinndimensionen. Sie haben die Funktion, die
Differenzierungsleistung, die mit Sinn verbunden ist, in drei Verweisungshorizonte
einzubetten, die das Koordinatennetz sozialer Systeme auf spannen. Die Sozialdimension
unterscheidet dabei zwischen Ego und Alter Ego, die Sachdimension zwischen diesem und
anderen und schließlich die Zeitdimension zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Gesellschaft und gesellschaftliche Ausdifferenzierung
Vom Problem der doppelten Kontingents sind aber soziale Systeme nicht allein betroffen,
sondern auch Systeme, die sich notwendigerweise in der Umgebung von sozialen Systemen
befinden: gemeint sind psychische Systeme (Bewusstsein). So setzt das Problem der
doppelten Kontingents gerade psychische Systeme voraus, die nicht im sozialen Systemen
aufgehen, die also für Kommunikation unzugänglich sind (denn ohne diese würde das
Problem gar nicht entstehen). Und ebenso gilt die Differenzierungsleistung des Sinns nicht
nur für soziale, sondern eben auch für psychische Systeme. Ja, mehr noch: Sinn ist
überhaupt die Voraussetzung, dass soziale und psychische Systeme sich gerade auch
kategorial voneinander unterscheiden können.
Zunächst soll hier nun die Gesellschaft als soziales System behandelt werden, bevor das
Verhältnis von sozialen und psychischen Systemen betrachtet wird. Gesellschaft als System
zu definieren, beinhaltet in der Luhmannschen Systemtheorie eine doppelte, aber
unmittelbar zusammenhängende Implikation: Gesellschaft selbst ist „ Ein Sinn
5
konstituierendes System“ (Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 50), alle gesellschaftlichen
Operationen sind Operationen im Medium Sinn. Sinn wiederum ist die Voraussetzung für
Kommunikation - dies jedoch nicht in der normativen Sinn, dass Kommunikation immer auch
sinnvolle, Kommunikation meint. Sinn ist die Prozessvoraussetzungen, dass überhaupt
kommuniziert, dass selegiert (Information und Mitteilung) und das zwischen solchen
Selektionen differenziert werden kann (Verstehen).
Die Sinnkonstitution der Gesellschaft ist ein ausschließlich kommunikativer Prozess.
Damit vollzieht Luhmann einen radikalen Wechsel weg von der Vorstellung der
Gesellschaft, die sich aus Individuen zusammensetzt, hin zu einer Gesellschaft, die System
ist, dies aber nur insoweit, als sie sich als System selbst prozessiert: Und dieses Sich-selbstProzessieren der Gesellschaft ist Kommunikation. So heißt es bei Luhmann apodiktisch: „
Gesellschaft betreibt Kommunikation, und was immer Kommunikation betreibt, ist
Gesellschaft. Die Gesellschaft konstituiert die elementaren Einheiten (Kommunikationen),
aus denen sie besteht, und was immer so konstituiert wird, wird Gesellschaft, wird Moment
des Konstitutionsprozesses selbst.“(Soziale Systeme, S.555). Man kann folgern: so, wie
Menschen nicht kommunizieren, besteht auch die Gesellschaft nicht aus Menschen, sondern
aus dem, was kommuniziert, also aus Kommunikation.
Beide Implikationen, die im Begriff der Gesellschaft als sinnkonstituierendes
Kommunikationssystem zusammenfallen, bilden die Voraussetzung für die gesellschaftsstrukturellen Entwicklungen, die Luhmann unter dem Begriff der "Ausdifferenzierung“
nachzeichnet. Dieser Prozess vollzieht sich im 18. Jahrhundert und ändert die Typik der
Gesellschaft grundlegend. Gesellschaft beginnt, stratifikatorische Ausdifferenzierung das hierarchisierte Schichtenmodell der Gesellschaft - abzustreifen und sich
stattdessen funktional auszudifferenzieren. Es entstehen - sozusagen quer liegend zu
den früheren Gesellschaftsschichten - parallele Subsysteme der Gesellschaft, die sich über
eine je eigene Funktion ausdifferenzieren: zum Beispiel die Wirtschaft, die Wissenschaft, das
Recht, die Religion, die Politik und nicht zuletzt die Kunst. Nicht dass es entsprechende
Organisationsformen nicht schon vorher gegeben hätte, nun aber gewinnen sie einen
eigenen Systemcharakter. Jedes System wird sowohl gegen die Gesamtgesellschaft als
auch gegen die anderen Systeme abgegrenzt; jedes System wird spezifiziert, gewinnt in
seinen Operationen Exklusivcharakter und kann sich so auf sich selbst beziehen. Damit
liegen drei Systemereferenzen vor, die, wie es der Begriff nahelegt, eben den
Systemcharakter der Gesamtgesellschaft als auch der Funktionssysteme voraussetzen.
Der Bezug des einzelnen Systems auf die Gesamtgesellschaft wird „Funktion“ genannt, der
Bezug auf andere Subsysteme „Leistung“ und schließlich der Bezug auf sich selbst
"Selbstreferenz“, wobei die Funktion dem Subsystem seine spezifische Prägung verleiht. So
hat Kunst Luhmann zufolge die Funktion, andere Wirklichkeitsversionen als die für die
Gesellschaft gängige herzustellen und diese mit diesen Versionen zu konfrontieren. Sie übt
damit eine Funktion aus, die eben kein anderes System übernehmen kann und die somit
auch die Leistung der Kunst gegenüber den anderen Systemen ausmacht. Der
Systemcharakter der Gesamtgesellschaft und der Systemcharakter der Funktionssysteme
bedingen sich wechselseitig. Ausdifferenzierung selbst ist eine Errungenschaft der
Gesellschaftsevolution, die darauf beruht, dass sich ein System von seiner Umwelt
differenziert, in dem es intern die System/Umwelt- Grenze wiederholt. „Ausdifferenzierung“
heißt erstens, dass sich die Systemdifferenzierungen im System wiederholt, und zweitens,
dass die dadurch entstehende Differenz der Binnensysteme zum Gesamtsystem
(Gesellschaft) Funktionalisierung und über die Funktion spezialisiert wird.
Als Funktionssysteme treten hier wiederum mehrfach jene Bereiche auf, die schon die
entsprechenden Codierungen für symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
abgegeben haben. In der Tat hängen diese Medien mit Funktionssystemen zum Teil
unmittelbar zusammen, wo nämlich ein solches Medium den Code für das
Entsprechendesystem abgibt. Die Systemdifferenzierung und damit die Funktionssysteme
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bestehen nur so lange, wie Sie diese Funktion erfüllen, also funktionsspezifisch operieren.
Und dazu trägt der Code bei. Der Code wie jeder andere Mediencode stellt eine binäre
Differenzierung zwischen zwei oppositionellen Werten dar (eine Ja/Nein- Codierung, Die
Gesellschaft der Gesellschaft, S.316), von denen der eine Wert im Hinblick auf die
Systemfunktion positiv, der andere negativ besetzt ist. Mit dem Code ist damit dem System
das Instrument gegeben, mit dem es immer eindeutig differenzieren kann, welche
Operationen zum System gehören und welche systemfremd sind.
So hat das Wirtschaftssystem den Code "Haben/Nicht-Haben“. Operationen, die nach
diesem Schema codiert werden können, gehören zum Wirtschaftssystem und bilden seine
Elemente, also Zahlungen. Es mag auch Ereignisse geben, die in mehreren
Funktionssystemen, aber jeweils spezifisch registriert werden. Zum Beispiel wird eine
Performance einer Ereignisse im Kunstsystem darstellen, sie kann aber auch ein Ereignis im
Wirtschaftssystem, wenn es darum geht, Künstler zu bezahlen, oder ein Ereignis im
Rechtssystem darstellen, wenn bei der Performance die Gesetze verletzt worden sind.
Damit solche Kodierungen einigermaßen stabil gehalten werden können, tritt zu ihnen ein
zweites Moment, das Programm. Es enthält die Ausführungsbestimmungen für die
Anwendung des Codes.
Als Code des Kunstsystems gibt Luhmann die Opposition „schön/hässlich“ vor. Dieser
Vorschlag ist auf zahlreiche Kritiker und Gegenvorschläge gestoßen. So hat Georg Jäger
den Code „mit“ vs.“ohne Geschmack“ vorgeschlagen; Geschmack dient dabei als
Interaktionsmedium der Kommunikation in und über Kunst, die nur noch die
Funktionslosigkeit der Kunst als ihre Funktion gelten lässt. Gerhardt Plumpe und Niels
Weber schlagen den Code „interessant“ vs. „langweilig“ unter der Funktion "Unterhaltung“
vor. Diese Diskussion hat schließlich dazu geführt, das Konzept der Kodierung prinzipiell
infrage zu stellen. Dabei merkt man schnell, dass das Konzept der Systemdifferenzierung
selbst und damit die gesamte Gesellschaftstheorie der Systemtheorie hinfällig zu werden
droht. Deshalb beharrte Luhmann auch auf der Kodierung: "aber wenn man diese
ehrwürdigen und ein bisschen angestaubten Bezeichnungen (schön- hässlich) nicht mehr
will, wäre gegen eine Absage nichts einzuwenden - sofern ein Eratz angeboten wird.“
Neuere konstruktivistische Entwicklungen in der Systemtheorie: Autopoiesis,
Beobachter, Medium und Form, Differenzkalkül
Seite 318 - 333
Stichwörter:
…Paradoxien der Beobachtung
…Konzept der Autopoiesis
…Konzept des Beobachters
…Medium/Form-Differenz
…Differenzkalkül
…Beobachtertheorem: Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.
Begriff der Form
“Strukturelle Kopplung“: Bewusstsein und Kommunikation
wechselseitig füreinander konstitutive Umwelt sind.
…Sinnsysteme
…Begriff der Interpenetration
…Differenz von Bewusstsein und Kommunikation, „Ur-Differenz“ der Systemtheorie
…Differentialität
7
Die Funktionssysteme der Gesellschaft können sich wechselseitig Umwelt sein. Aber was ist
die Umwelt der Gesellschaft? Dieser Blick auf die Gesellschaft eröffnet zunächst den Blick
auf jene Paradoxien, die damit verbunden sind, wenn aus der Gesellschaft heraus
Gesellschaft selbst beobachtet wird.
Gesellschaft ist das umfassendste Kommunikationssystem selbst; das bedeutet,
Gesellschaft hat keine kommunikative oder soziale Umwelt mehr; Gesellschaft selbst ist in
der Weise ein sozialer sowie kommunikativer Letzthorizont, wie Welt ein Letzthorizont
allen Sinnes ist (Soziale Systeme, S.105). Die Gesellschaft ist damit für gesellschaftliche,
also kommunikative Operationen unerreichbar geworden (Peter Fuchs: Die Erreichbarkeit
der Gesellschaft), weil keine Operation den archimedischen Punkt. außerhalb der
Gesellschaft einnehmen kann. Jeder Versuch, Gesellschaft zu erreichen, sei es zum Beispiel
wissenschaftlich oder soziologisch, vollzieht Gesellschaft zwangsweise mit und führt so zu
Paradoxien der Beobachtung.
Die Systemtheorie zeichnet sich gerade durch das explizite Bewusstsein dieser Tatsache
aus. Überblickt man ihre Entwicklung, so kann man erkennen, dass in der Entfaltung von
Paradoxie von Anfang an ein Potenzial der Theorieentfaltung lag, das sich in den späteren
Arbeiten immer deutlicher aktualisiert hat. Zum einen geraten damit die späte immer klarer in
den Vordergrund tretenden konstruktivistischen Übernahmen in die Systemtheorie und zum
anderen die verstärkte Autoreflexierung der Theorie in den Blickpunkt. Beide Sphären
hängen insofern zusammen, als die konstruktivistischen Übernahmen zu Theorieelementen
zusammengefasst werden, mit deren Hilfe es möglich ist, die Paradoxien, wie sie mit der
Autoreflexierung immer deutlicher zu Tage treten, selbst noch theoretisch handhaben zu
können.
Die Übernahmen betreffen (1) das Konzept der Autopoiesis und (2) das Konzept des
Beobachters aus der konstruktivistische orientierten Biologie (Matura, Varela), ebenso wie
(3) die Übernahme der Medium/Ding-Differenz als Medium/Form-Differenz, von Fritz Heider
und (4) die Übernahme des Differenzkalküls von George Spencer Brown.
Bereits im Konzept der Autopoiesis ist diese paradoxale Selbstreferenz angelegt.
„Autopoiesis“ bezeichnet zunächst Selbstreproduktionsmechanismen von Lebewesen, der
Begriff wird aber von Luhmann modifiziert und als konstitutives Kennzeichen sozialer
Systeme verstanden. Soziale Systeme sind autopoietische Systeme, und ein
autopoietisches System - so eine griffige Definition - ist ein „System das sich mittels der
Reproduktion seine Elemente, aus denen es besteht, durch die Elemente, aus denen es
besteht, reproduziert“ (Dirk Baecker). Gesellschaft als das umfassendste Sinn- und
Kommunikationssystem ist daher auch „das autopoietische System par excellance (Soziale
Systeme, S.555). Mit dem Autopoiesis-Konzept wird noch einmal der enge Zusammenhang
zwischen Kommunikation und Sinn unterstrichen. Autopoiesis kann sich nur vollziehen,
wenn zugleich Sinn vorliegt. Und insofern kann man systemtheoretisch sagen, dass Sinn
das Medium der Autopoiesis ist. Autopoiesis ist somit die Form, in der Sinnsysteme
prozessieren. Dasselbe gilt umgekehrt: Sinnsysteme prozessieren autopoietisch!
Jede Kommunikation ist Vollzug von Autopoiesis und mithin Vollzug von Gesellschaft. An der
Autopoiesis wird die Autoreflexivität der Gesellschaft in ihren Operationen offenbar. Das
daraus entspringende epistemologische Problem, wie denn überhaupt Autopoiesis erkannt
werden kann, wenn das Erkennen der Autopoiesis selbst schon autopoietische ist, wird
mittels des Beobachtertheorems abgearbeitet. Zugleich führt die Idee der Autopoiesis nicht
nur der Gesellschaft und der Sinnsysteme, sondern auch die Spezifikationen ihres Vollzugs,
die man funktional als Wissenschaft, philosophisch als Erkennen oder schlichtweg als
Theorie bezeichnen kann, in das Zentrum konstruktivistischen Denkens: Erkenntnis, die
sich selbst aus sich selbst heraus hervorbringt.
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Die Leitidee des Beobachtertheorems besagt, dass alles, was gesagt wird, von einem
Beobachter gesagt wird. Wenn das, was gesagt wird, als kommunikative Beschreibung der
Gesellschaft bzw. als sinnhafte Beschreibung der Welt identifiziert wird, so kann man diese
Leitidee zu einem puren Konstruktivismus verkürzen: Alles, was ist, ist nur, weil es
beobachtet wird.
Damit verschwinden ontologische Prämissen von der Vorrangigkeit des Beobachteten
vor der Beobachtung; und gleichzeitig leitet Luhmann daraus einen methodologischen
Grundsatz der Systemtheorie ab: sie wechselt von der Beobachtung des Was zur
Beobachtung des Wie (vgl. z.B. „Die Wissenschaft der Gesellschaft“, S.95).
Mit dem Beobachter wird es möglich, ein Paradox, wie es sich im Spannungsverhältnis von
Gegenstand und Theorie ausdrückt, nicht nur zu beschreiben, sondern zugleich produktiv für
eben die Beobachtung fruchtbar zu machen. Ein Beobachter kann alles sehen (sowie eine
Theorie jeden möglichen oder sogar alle möglichen Gegenständefokussierung kann), er
kann nur sich selbst nicht sehen.
Der Beobachter bzw. die Operation des Beobachtens ist für sich selbst blind. Diese
Unbeobachtbarkeit nennt man den "blinden Fleck“, gegen jede Beobachtung auszeichnet.
Der blinde Fleck ist gerade die konstitutive Voraussetzung, die conditio sine qua non der
Beobachtung. Darin liegt die Paradoxie des Beobachtens begründet, die, wenn man sie
positiv wendet, zu einer Tautologie gerinnt: der Beobachter sieht nur, was er sieht, und sieht
nicht, was er nicht sieht. Beobachten ist eine Operation, die eine Unterscheidung trifft und
nur die eine, nicht die andere Seite der Unterscheidung bezeichnet. Damit befindet sich der
Beobachter selbst auf der bezeichneten Seite; er kann nicht mehr die Einheit der Differenz
sehen, die ein höhererstufiger Beobachter sehen könnte; ein solcher, sieht, was ein
Beobachter sieht, und zugleich, was dieser nicht sieht. Wenn man bedenkt, dass die Einheit
der Differenz zugleich die Sinnformel darstellt, so ist die Beobachtung an dem
Übergangsmoment situiert, an dem Sinn autopoietisch entsteht.
Beobachtung ist selbst ein paradoxaler Prozess. Beobachtung ist immer die Einheit der
Differenz und die Differenz zugleich; Beobachtung ist unterscheiden und bezeichnen bzw.
Beobachtung und Operation. Genau dieser letzte Differenz ist aber in der Lage, die
Paradoxie aufzulösen, so dass Beobachtung trotz des paradoxalen Charakters produktiv
werden kann. Man kann Beobachtung nämlich selbst beobachten und erzeugt damit
zunächst das Paradox der Identität von Identität und Differenz. Die Aporie wird aber
produktiv umgangen, weil diese Beobachtung ihrerseits einen Unterschied macht, nämlich
denen zwischen Beobachtung und Operation. Die Beobachtung ist eine Operation, die als
Operation für sich selbst unbeobachtbar bleibt. Aber ein anderer Beobachter kann diese
Operation beobachten. Entweder schließt sich an die Beobachtung eine weitere
Beobachtungen an, oder aber ein anderer Beobachter beobachtet den Beobachter beim
Beobachten. Aber auch solche Beobachtungen unterstehen derselben Paradoxie, die nur
durch weitere Beobachtungen umgangen werden kann und so ad infinitum. Beobachter
dürfen dabei nicht personal interpretiert werden. Beobachter ist jede Instanz, die zu
unterscheiden und zu bezeichnen in der Lage ist.
Jedes soziale System kann Beobachter sein, aber auch jede Theorie ist zwangsweise
ein Beobachter. Und die Systemtheorie ist eine Theorie, die nicht etwas beobachtet,
sondern beobachtet, wie beobachtet wird und insbesondere auch, wie sie selbst
beobachtet. Die Autoreflexierung der Systemtheorie wird durch die Ausarbeitung des
Beobachtertheorems nicht nur begleitet, sondern vorangetrieben.
Die beiden anderen Übernahmen von Theorieelementen aus dem Konstruktivismus hängen
unmittelbar damit zusammen und verdichten sich im Begriff der Form. Von Spencer Brown
übernimmt Luhmann die Idee, dass eine Unterscheidung nicht nur eine Differenz erzeugt,
sondern dass diese Differenz immer auch als Form interpretiert werden kann. Form ist
Unterscheidung. Sie wiederholt damit die Paradoxie, die schon in der Beobachtung mit der
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Differenz von Beobachtung und Operation gegeben war. Sichtbar wird diese Paradoxie,
wenn man danach fragt, welche Form denn die Form hat. Entsprechend der Beobachtung,
die die eine Seite, die andere aber nicht bezeichnet, hat die Form zwei Seiten, eine
Innenseite und eine Außenseite. Form entsteht durch Beobachtung: die Innenseite ist
die bezeichnete Seite.
Dieser Formbegriff erfährt eine weitere theoretische Untermauerung durch die Differenz von
Medium und Form, mit der Luhmann gerade in späteren Arbeiten insbesondere auch
Phänomene der Autopoiesis von Sinnsystemen behandelt. Medium und Form sind differente,
aber zugleich relationale Begriffe: Wenn x eine Form von y ist, ist y ein Medium für x. Mithilfe
diese Differenz wird es möglich, die bereits mehrfach benannte Paradoxie auf dem höchsten
Abstraktionsniveau prozessual umzulegen.
Medium und Form unterscheiden sich nicht substantiell; das Medium setzt eine Menge von
von Elementen voraus, die lose gekoppelt sind; die Form wiederum stellt lediglich eine
rigidere Kopplung von Elementen vor. Man kann sich dies als eine Spur im Sand denken:
Untergrund (Medium) und Spur (Form) selbst bestehen aus Sand (Medium), und dieser ist
wiederum nur eine Menge von kleineren Elementen. Deshalb kann man mit dieser Differenz
zugleich eine Differenz und insbesondere die Einheit eben dieser Differenz bezeichnen, also
wiederum in eine Differenz einordnen. Damit bietet die Medium/Form-Differenz die
Möglichkeit Sinn selbst greifbar zu machen. Wo Sinn als Medium bezeichnet wird, kann
dieser Medienbegriff mit der Medium/Form-Differenz überlagert werden. Sinn ist Medium
und Form und auch in dieser Hinsichts Einheit der Differenz. Noch präziser gesagt: wenn
Sinn die Einheit der Differenz ist, dann kann man diese Einheit der Differenz durch eben jene
Einheit bezeichnen, die die Einheit von Medium und Form ist.
Strukturelle Kopplung
Wenn Gesellschaft keine kommunikative Umwelt mehr besitzt, dann muss sie eine
kategorial andere Umwelt besitzen. Auf der Basis des Autopoiesiskonzepts und des
Sinnbegriffs lässt sich eine Differenz beobachten, die nicht allein als System/Umwelt,
sondern als wechselseitige Systemdifferenz zu verstehen ist. Luhmann selbst hat diese
Differenz als Differenz von sozialen und psychischen Systemen begrifflich gefasst und dafür
auch die Begriffe „Bewusstsein“ und „Kommunikation“ verwendet. Ausgangsfrage ist: Warum
wird aber Sinn überhaupt prozessiert? Oder anders: Warum gibt es überhaupt soziale
Systeme? Das ist eine der letzten Grundsatzfragen der Systemtheorie. Die Antwort lautet:
Weil das soziale System an sich mit einem kategorial anderen System in seiner Umwelt
strukturell gekoppelt ist, das die Voraussetzungen für die strukturelle Kopplung bietet.
“Strukturelle Kopplung“ ist der Name dafür, das Bewusstsein und Kommunikation
wechselseitig füreinander konstitutive Umwelt sind.
Die strukturelle Kopplung ist ausschließlich möglich zwischen Systemen (nicht zwischen
Entitäten, Gegenständen, Zuständen oder Phänomenen als solchen) Strukturell gekoppelt
sind Systeme, die sich selbst prozessieren, also Systeme, die sich in der Zeit vollziehen
und daher ereignisbasiert sind. Es handelt sich zudem um Systeme, die sich auch selbst
reproduzieren und somit in diesem Selbstvollzug operativ geschlossen sind, somit
überschneidungsfrei operieren, also autopoietische Systeme respektive Sinnsysteme sind.
Strukturell gekoppelt sind Systeme, die - im Grunde genommen eine tautologisch der
Formulierung - die Prozessualisierung des anderen Systems unabdingbar für ihre eigene
Prozessualisierung voraussetzen. In diesem Sinne präzisiert und radikalisiert das Konzept
der strukturellen Kopplung den Begriff der Interpenetration. Wo diese definiert wird als
Inanspruchnahme fremder Komplexität zum Aufbau eigener Komplexität in einem System,
zeigt dieses Konzept der strukturellen Kopplung, dass die Inanspruchnahme selbst
wiederum prozessual vonstatten gehen muss. Strukturell gekoppelt sind Systeme, die
sich durch eine wechselseitige Ko-Produktion von Ereignissen auszeichnen. So
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werden in einem System Ereignisse so produziert, dass diese im anderen System wiederum
jeweils systemspezifisch ko-produziert werden. Strukturelle Kopplung ist, wo sie auftritt,
notwendig und konstitutiv. Strukturell gekoppelt zu sein ist keine akzidentielle, sondern eine
substantielle Systemeigenschaft, eine conditio sine qua non.
Für die strukturelle Kopplung bekommen nur zwei Systeme infrage: psychische und soziale
Systeme, da sie allein paradigmatisch Autopoiesis konstituieren und realisieren können.
Strukturell gekoppelte Systeme sind wechselseitig aufeinander angewiesen: „Ohne
Bewusstsein keine Kommunikation und ohne Kommunikation kein Bewusstsein.“ (Die
Wissenschaft der Gesellschaft, S. 38) Das lässt den Schluss zu:
Bewusstsein und Kommunikation stellen eine ausgezeichnete strukturelle Kopplung
dar, sie sind notwendig, unabdingbar und konstitutiv miteinander strukturell
gekoppelt.
Im Aufbau der Systemtheorie ist Bewusstsein immer der Basiskategorie der Kommunikation
systematisch nachgeordnet, was auch ihre soziologischen Ausrichtung auf soziale Systeme
entspricht und so gesehen, tritt Bewusstsein erst ins Blickfeld, wenn man sich fragt: „Wie ist
Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?“ Diese Frage lässt sich auch genau andersherum
stellen, und jedes Mal muss die Antwort lauten, dass das andere System in der strukturellen
Kopplungs Impulse liefert, ohne die die Selbstreproduktion des einen Systems zum Erliegen
käme. Als Metapher könnte man sich das Ticken zweier nebeneinanderstehender Uhren
vorstellen, von denen jeder so ausgestattet ist, dass sie nur selber tickt, wenn sie über einen
Sensor das Ticken der jeweils anderen Uhr wahrnimmt.
Bewusstsein hat die Funktion, Kommunikation irritieren, anregen oder auch bestätigen zu
können - und zu müssen! Peter Fuchs hat die entgegengesetzte Blickrichtung gewählt,
er führt Kommunikation über das Bewusstsein ein.
Er startet dabei mit dem Basistheorem von der Intransparenz des Bewusstseins. An die
Seite der These von der Unerreichbarkeit der Gesellschaft stellt er die Unerreichbarkeit
des Bewusstseins und verweist damit auf die Symmetrie in der Differenz von
Kommunikation und Bewusstsein (Peter Fuchs Die Erreichbarkeit der Gesellschaft).
Bewusstsein kann weder ein anderes Bewusstsein erreichen, noch kann es, aufgrund seiner
Systemeigenschaften im Rahmen dieser Konzeptualisierung, irgend ein anderes System
erreichen, natürlich auch Kommunikation nicht. Das gilt auch vicee versa. Beide Systeme
operieren völlig überschneidungsfrei. Diese fehlende Überschneidung ist das
katalysatorische Initialmoment für die Emergenz und Konstitution von
Kommunikation:
„Die Intransparenz eines Bewusstseins für ein anderes (die Undurchsichtigkeit der
Schädelkalotten, die vollkommene Geschlossenheit psychische Systeme) ist das
katalytische Problem, an dem Kommunikation ihre Form gewinnt: als Rekonstitution der
Unterscheidung von Kommunikation und Bewusstsein in Kommunikationen mithilfe der
Selektionstriade Information, Mitteilung, Verstehen.“(Peter Fuchs Moderne Kommunikation,
S.135)
(Die Emergenz von) Kommunikation ist also nichts anderes als eine aus der
Intransparenz des Bewusstseins resultierende Lückenkonfiguration. Bewusstsein
gewinnt seine post-hoc-Identität durch Differenz zur kommunikativen Umwelt gleichzeitig mit
der Kommunikation, die ihre post-hoc-Identität durch Differenz zur bewussten Umwelt
gleichzeitig mit dem Bewusstsein gewinnt.
Die Differenz von Bewusstsein und Kommunikation ist nicht nur eine Konkretisierung der
System/Umwelt- Differenz, die wiederum die Differenz von Identität und Differenz
exemplifiziert; es verhält sich vielmehr - und das ist die Pointe - genau umgekehrt.
Welche Systeme sind denn überhaupt in der Lage, zwischen System und Umwelt und mithin
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zwischen Identität und Differenz zu differenzieren? Diese Fähigkeit setzt konstitutive
Charakteristika voraus, die konstitutiv nur Bewusstsein einerseits und Kommunikation
andererseits zukommen. Sie erzeugen Identität und Differenz von System und Umwelt,
in dem sie sich in struktureller Kopplung wechselseitig differenzieren. Ihren
Systemstatus gewinnen sie erst auf der Basis dieser Differenzierungsleistung. An diesem
Punkt wird die Differenz von Bewusstsein und Kommunikation schlagartig zum
Fundament der Systemtheorie; man könnte sie fast als „Ur-Differenz“ der Systemtheorie
ansehen. Mit der Differenz von Bewusstsein und Kommunikation kommt die Systemtheorie
überhaupt erst eigentlich zu sich; sie ist die Startdifferenz von Systemtheorie insofern, als die
Systemtheorie dieser Differenz als Startdifferenz jeglicher Theoriebildung, jeglicher
Bewusstseins und Kommunikationsprozesse ansetzen muss.
Wenn man diese Umstellung der Begründungsstruktur mitmacht und die strukturelle
Kopplung als Basisdifferenz begreift, wird es möglich, den Medien- und Sinnbegriff neu
zu konzeptualisieren. Beide Begriffe haben in der konstruktivistischen Wende der
Systemtheorie den problematischen Charakter von Letztbegriffen angenommen, die nicht
mehr hintergehbar und nicht mehr negierbar sind, „Sinn“ ist die Antwort auf die Frage, wie es
überhaupt zur strukturellen Kopplung kommt, obschon beide Systeme überschneidungsfrei
operieren, denn er ermöglicht systemtranszendent die Koproduktion von systemspezifischen
Ereignissen. Bei Luhmann heißt es: “Das allgemeinste Medium, das psychische und
soziale Systeme ermöglicht und für sie unhintergehbar ist, kann mit dem Begriff
"Sinn“bezeichnet werden.“ (Die Kunst der Gesellschaft, S. 173)
Man kann deswegen eine zumindest imaginäre oder virtuelle dritte Position annehmen,
die die Ereignisse hier wie dort vermittelt und aufeinander beziehbar macht. Diese
Position nenne ich "Medium“, das damit die strukturelle Kopplung von Bewusstsein und
Kommunikation leistet.
Auf dieser Basis lässt sich das Medium wiederum mit Sinn identifizieren, da Sinn das
notwendige Korrelat der operativen Schließung darstellt. Sinn ist die Einheit der
Differenz und die „ Differenz der Einheit von Bewusstsein und Kommunikation“;
Sinn ist somit das Supermedium für beide Systemtypen. Nur mithilfe von Sinn können die
sinnkonstituierenden Systeme Bewusstsein und Kommunikation ein re-entry vollziehen und
in sich selbst zwischen sich und dem anderen System, also zwischen Selbst- und
Fremdreferenz unterscheiden und somit überhaupt erst die strukturelle Kopplung vollziehen.
Dieser Medienbegriff ist an die Medium/Form-Differenz direkt anschliessbar. Strukturelle
Kopplung ist systemsspezifische Formbildung im Medium Sinn. Wenn man also
strukturelle Kopplung beobachtet, so beobachtet man die Konstitution von Sinn als Form im
Medium Sinn. Sinn ist somit sowohl Medium als auch Form, Ausgangspunkt und Produkt
struktureller Kopplung.
Sinn ist Medium insofern, als es Formbildungen in einem System erlaubt und erzwingt, die
durch das Prozessieren des anderen Systems ausgelöst wurden. Medien leisten die
strukturelle Kopplung so, dass Sinn aus struktureller Kopplung und aus dieser
wiederum Sinn hervorgeht. Im Mediums Sinn erscheint ein direkter Zugriff von
Kommunikation auf Bewusstsein und umgekehrt möglich. Jedes der beiden Systeme aber
greift rekursiv, angestoßen durch das andere, nur auf sich selbst zu, prozessiert und
reproduziert nur sich selbst.
Da aber beide Systeme die Differenz zwischen Kommunikation und Bewusstsein, in der sie
stehen, über eine Re-entry Figur intern noch einmal reproduzieren und an diesem re-entry
die eigene Selbstproduktion katalysatorisch initiieren, erscheint das eine System dem
anderen jeweils als Medium. Kommunikation ist so Medium für Bewusstsein, Bewusstsein
Medium für Kommunikation.
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Autoreflexierung der Theorie, Systemtheorie und Dekonstruktion als Supertheorien
Die Autoreflexierung geht darauf zurück, dass die Systemtheorie zugleich ihr eigener
Gegenstand sein muss, weil die Systemtheorie das vollzieht, wovon sie spricht, sei es
Gesellschaft, sei es Bewusstsein oder überhaupt strukturelle Koppelung. Die spätere
Systemtheorie begnügt sich nicht damit, dieses Faktum als paradoxales Problem ihrer
eigenen Erkenntnis bewusst zu halten, immer wird dieses Problem selbst zum Problem der
Theorie. Damit ist eine Tendenz vorgezeichnet, die die Systemtheorie selbst zum
vorherrschenden Gegenstand der Systemtheorie werden ließ.
Diese Tendenz war nicht nur implizit angelegt, sondern wurde auch im
Universalitätsanspruch explizit ausgesprochen. Die Systemtheorie hat sich seit ihrer
methodologischen Grundlegung als Supertheorie verstanden (vgl. Soziale Systeme,
S.19ff.). Der Universalitätsanspruch einer Theorie wie der Systemtheorie besteht darin, dass
sie die Welt, also all das, was potentiell ihren gesamten Gegenstandsbereich ausmachen
könnte, mit ihren Beobachtungs Instrumenten abdecken kann. Der Universalitätsanspruch
von Supertheorien wird erst dort theoretisch relevant, wo im universalen Ausgriff der Theorie
sie selbst in ihren eigenen Fokus gerät, wo die Theorie also autoreflexiv wird. Das trifft auf
die Systemtheorie in mehrfacher Hinsicht zu. Als Theorie ist sie erstens ein System,
zweitens vollzieht sie Kommunikation, und drittens ist sie schließlich auch ein Beobachter.
Damit bekommen Supertheorien wie die Systemtheorie eine paradoxale Struktur, die sich als
Selbstbegründungsproblem auswirkt. Wenn Supertheorien zugleich Theorie und Gegenstand
sind, stellt sich die Frage, wo dann das Fundament ihrer Selbst-)Begründung liegt?
Begründung und Begründendes fallen wie Theorie und Gegenstands zusammen.
Die Systemtheorie befindet sich in der klassisch paradoxalen Situation der
Selbstbeobachtung. Wie für jede Beobachtung müsste daher für die Systemtheorie ein
blinder Fleck konstitutiv sein; wie es für die systemtheoretische Auffassung dieses Theorems
charakteristisch ist, müsste sich aber dieses Paradox ebenso prozessual umlegen lassen.
D.h.: Systemtheorie begründet sich nicht im Rekurs auf irgendwelche metaphysischen
Wahrheiten, sie begründet sich durch ihren eigenen Vollzug; sie schöpft ihre
Legitimation aus ihrer Praxis und erweist sich eben gerade dadurch als das,
was sie ist: ein prozessierendes kommunikatives, beobachtendes Sinnsystem. Die
konstruktivistische Wende hat in der Systemtheorie gerade das Beobachtertheorem in den
Vordergrund gerückt: Sie hat sich selbst als Beobachter entworfen und damit ihr eigenes
Beobachterparadox eingeholt, d.h.: sie hat sich selbst eingeholt.
Damit wird die Systemtheorie mit der Dekonstruktion von Jacques Derrida vergleichbar.
Auch die Dekonstruktion kann als Supertheorie beobachtet werden, obschon oder besser:
gerade weil sie sich selbst weigert, sich als Theorie anzuerkennen. Wo die Dekonstruktion
über Zeichenordnungen und ihre differentielle Auflösung spricht, kommt sie
zwangsweise als eigene Zeichenordnung in den Blick. Die Folge davon ist, dass die
Dekonstruktion in aller erster Linie von dem betroffen ist, was sie aussagt. Da nach
dekonstruktivistischer Auffassung Zeichenordnungen nicht stabilisierbar sind, ist sie selbst
als Theorie hinfällig. Deswegen versteht sie sich auch als Praxis, die immer wieder neu
ansetzt, indem sie Zeichenordnungen rekonstruiert (konstruktiver Aspekt) und zugleich diese
in ihrer Auflösung zeigt (destruktiver Aspekt).
Systemtheorie und Dekonstruktion sind, strukturell gesehen, mit dem selben Phänomen
konfrontiert, nämlich mit dem der Differentialität. Beide Theorien verabschieden die
metaphysische Vorstellung, dass Theorien, ja dass das Denken überhaupt auf ein
unerschütterliches Fundament, wie es noch Descartes vorschwebte, gestellt werden könnte.
Beide Theorien sind Differenztheorien; auch für die Dekonstruktion gilt, was Luhmann für
die Systemtheorie - und somit für das Denken selbst - konstatiert: „Am Anfang steht also
nicht Identität, sondern Differenz.“ (Soziale Systeme, S.112).
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Diese ursprüngliche Differenz ist als Identität nicht mehr einzuholen und zeugt sich in den
Zeichenordnungen, Kommunikationen und Bewusstseinsvorgängen prozessual als
Differentialität fort.
„Differentialität“ meint, dass erstens nichts durch die Identität mit sich selbst ist, sondern
Identität immer nur aus der Differenz zum anderen entsteht, das aber zweitens die Differenz
nicht irgendwann an ein Ende kommt, sondern potentiell unendlich ist. Das Phänomen der
Differentialittät stellt somit eine doppelte Provokation für Supertheorien dar: zum einen
deshalb, weil sie sich dem identifikatorischen Zugriff der Theorie verweigert, zum anderen,
weil an der Differentialit offenbar wird, dass die Theorie eben genau demselben Prinzip
unterliegt.
Systemtheorie und Dekonstruktion haben nun symptomatisch unterschiedliche Verfahren
entwickelt, mit dem Phänomen zurechtzukommen. Deswegen ist der Vergleich zwischen
beiden Supertheorien für beide Theorien äußerst aufschlussreich. Da die Dekonstruktion
kein Instrumentarium entwickelt hat, um aufgrund der Differentialit die Hinfälligkeit der
Zeichenordnungen selbst noch einmal in eine Zeichenordnung zu bannen, ergibt sich aus ihr
eine final- aporetische Tendenz ihrer Theorieentwicklung. Dekonstruktion tendiert zur
Selbstaufhebung, ihr Weg führt in eine theoretische Sackgasse, der sich die Dekonstruktion
sehr wohl bewusst ist. Wo sie sich überhaupt noch vollzieht, vollzieht sie sich nicht als das,
was sie angetreten ist, nämlich als Theorie, sondern eben nur als deren Negation bzw. als
deren Dekonstruktion, also als Praxis oder als Spiel. Dekonstruktion ist immer auch AutoDekonstruktion.
Genau diese Selbstaufhebungstendenz besitzt die Systemtheorie nicht. Da die Beobachtung
der Beobachtung (die Beobachtung zweiter Ordnung), aus der Differentialittät heraus
erwachsen, immer noch Beobachtung ist, kann sich auch die Selbstbeobachtung der Theorie
immer noch als Theorie vollziehen. Im Gegensatz zur Dekonstruktion kann die
Systemtheorie ihren Theorieanspruch und Wissenschaftscharakter beibehalten, auch
nachdem sie den Durchgang durch die Autoreflexierung gegangen ist. Ja, mehr noch:
Systemtheorie kann dort zur Supertheorie werden, wo sie sich als Supertheorie ins
Verhältnis gerade mit der Dekonstruktion einlässt. Die Differenz zwischen Systemtheorie und
Dekonstruktion wird aber systemtheoretisch konzeptualisiert. Wenn man so will: bei diesem
Vergleich fungiert die Systemtheorie als Einheit der Differenz von Systemtheorie und
Dekonstruktion.
Es nimmt daher nicht wunder, dass jenes Instrument, mit der die Systemtheorie dieser
Entparadoxierung bewerkstelligt dasselbe ist, mit dem sie die Dekonstruktion rekonstruiert:
das Beobachtertheorem.
Für die Systemtheorie selbst hat die Autoreflexierung einen unbestreitbaren Wert: sie sichert
ihr weiterprozessieren als Theorie. Zugegebenermaßen sind die soziologischen
Rekonzeptualisierungen in den Hintergrund getreten (und dies selbst im letzten großen, von
Luhmann publizierten Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft). Denn auch hier geht es nicht
um die empirische Gesellschaft, sondern darum, wie Gesellschaft als sozialer Letzthorizont
noch einmal in der Gesellschaft erscheinen kann. Systemtheorie konzipiert damit die
Gesellschaft in die Gesellschaft hinein. Daher vollzieht die Systemtheorie an der
Gesellschaft das, was ihrem eigenen Vollzug zugrundeliegt: Autoreflexierung, die aber nicht
in die Aporie der Paradoxie, sondern in den sich selbst vollziehenden Prozess durch
Entparadoxierung mündet.
Deswegen ist die Systemtheorie heute zum Paradigma von Theorie selbst geworden:
Theorie als exemplarische und paradigmatische Kommunikation, als Prozessieren von
Sinn, als Beobachtung. Und somit wird Systemtheorie zum Paradigma für das Denken
schlechthin, also für die Fähigkeit des Menschen (nicht der Kommunikation!), sich
überhaupt denkend auf die Welt einzulassen, besser gesagt: Welt zu entwerfen, zu
organisieren und zu gestalten.
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