Marcel Duchamp. Jahrhundertkünstler 1 Auf die Frage nach dem
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Marcel Duchamp. Jahrhundertkünstler 1 Auf die Frage nach dem
Marcel Duchamp. Jahrhundertkünstler Alice Wilke (M.A.) 28. Februar 2013 Auf die Frage nach dem einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts teilen sich die Expertenmeinungen grob genommen in zwei Lager. Viele unter ihnen krönen Pablo Picasso, Inbegriff und Personifizierung des geborenen Genies, Erfinder von Kubismus und Collage zum bedeutendsten Künstler unserer Tage – und das ist sicherlich auch nicht ganz ungerechtfertigt. Sein berühmtes Gemälde Les Demoiselles d' Avignon (1907) gilt im Allgemeinen als das Schlüsselbild der Moderne schlechthin. Doch für andere Experten wiederum gebührt einem Zeitgenossen Picassos der eigentliche Titel: Die Rede ist von Marcel Duchamp. Im Gegensatz zu Picasso ist der Name Duchamp viel wenigeren Menschen geläufig und dessen Werk zeigt sich auf Grund seiner Art und Konzeption nahezu resistent gegenüber einer Verbreitung und Vereinnahmung durch diverse kommerzielle Vermarktungstechniken. So wird man in Museumsshops zwischen PicassoTassen, -Taschen und sonstigem Tand nur schwerlich einen MerchandiseArtikel von Marcel Duchamp finden. Allerdings existiert wohl kaum ein anderes künstlerisches Œuvre, das noch grundlegender und nachhaltiger Einfluss auf die Kunst der Nachkriegszeit ausgeübt hat und bis in die Gegenwart hinein weiterhin ausübt. Duchamp gehört zu jenen Künstlern, die erst im fortgeschrittenen Alter und zudem in erster Linie von den Künstlerkollegen der nachfolgenden Generationen rezipiert und verehrt werden. Ganz am Anfang seiner Künstlerlaufbahn um das Jahr 1911 malt Duchamp im damals innerhalb der europäischen modernen Malerei vorherrschenden Stil des Kubismus. Doch bereits sein Gemälde Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 (1912) stellt bei genauer Betrachtung tatsächlich eine Überwindung der kubistischen Gestaltungsprinzipien dar. Die menschliche Figur auf dem Gemälde, beinahe bis zur Unkenntlichkeit in Fragmente zerlegt und von roboterhafter Gestalt, ist in einer sukzessiven Bewegung dargestellt. Die eigentliche Innovation hierbei: Der Faktor Zeit hält plötzlich Einzug in die Malerei. Die malerische Darstellung der Fragmentierung einer Bewegung im Raum, in unmittelbarer Anlehnung an die fotografischen Bewegungsstudien des britischen Foto-Pioniers Eadweard Muybridge, das 1 Marcel Duchamp. Jahrhundertkünstler Alice Wilke (M.A.) 28. Februar 2013 widerspricht tatsächlich ganz zutiefst dem Verfahren kubistischer Stilleben und Portraits, bei denen die Gegenstände in ihren multi-perspektivischen Ansichten geradezu eingefroren sind. Das besagte Gemälde wurde von Duchamp 1912 beim Salon des Indépendants eingereicht und nachdem es die Pariser Jury abgelehnt hatte, reiste das Bild direkt im Anschluss nach New York. Auf der Armory Show 1913 sorgte der „Akt“ für große Furore und machte seinen Schöpfer über Nacht zum Star innerhalb der New Yorker Kunstszene. Zeitgleich arbeitet Duchamp in seinem Atelier in eine ganz andere Richtung jenseits von Malerei. Es sollte sich mit einer Verzögerung von fast 5 Jahrzehnten zeigen, dass eben diese einstigen künstlerischen Experimente Duchamps sich absolut maßgeblich und wegweisend für die Entwicklung der Kunst ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erweisen. 1913 schuf Marcel Duchamp mit dem sogenannten Bicycle Weel (ein handelsübliches Fahrrad-Rad mitsamt der Vordergabel auf einen hölzernen Hocker montiert) das allererste seiner exklusiven Reihe von Objekten, die wenig später von ihm selbst auf den Namen Ready-mades getauft werden. Ein ganz bestimmtes Ready-made mit dem Titel Fountain (1917) geht auf Grund eines heimlich arrangierten Eklats in der Presse, dem berühmten „Fall Richard Mutt“, in die Kunstgeschichte ein und wird mittels der Fotografie von Stilrichtungen Alfred der Stieglitz schließlich Nachkriegszeit wie Pop zur Ikone. Art, Dominierende Minimal Art und Konzeptkunst sind in ihrer bekannten Form quasi undenkbar ohne das lapidare umgedrehte und mit dem Pseudonym „R. Mutt“ signierte Urinal von Marcel Duchamp. Revolutionär und um etliche Jahre seiner Zeit voraus zeigt sich diese avantgardistische Geste, welche Duchamp hier bereits 1917 vollzogen hat. Fountain ist wahrlich ein Meilenstein der Kunstgeschichte, denn sowohl die Rolle des Künstlers, als auch die Bedingungen unter welchen Kunst produziert, präsentiert und rezipiert wird, müssen ab dato komplett neu gedacht werden. Mit Duchamp bricht sich das traditionelle Verständnis vom Künstlerdasein auf und erweitert sich um völlig neue Facetten. Keine terpentingetränkten Lappen, keine mit Ölfarben verschmierten Hände, kein Hämmern oder Meißeln – ein Kunstwerk ersteht: 2 Marcel Duchamp. Jahrhundertkünstler Alice Wilke (M.A.) 28. Februar 2013 a) mit der ästhetisch begründeten Wahl des Objekts durch den Künstler, b) durch seine Präsentation innerhalb des entsprechenden institutionellen Kontextes und c) mittels seiner Betrachtung durch das Publikum. Was ein Kunstwerk ausmacht, ist nun nicht mehr ausschließlich nur anhand der handwerklich vollendeten Meisterschaft des Künstlers und dessen individueller Handschrift festzumachen. Marcel Duchamp selbst hat sich in Interviews über die sprichwörtliche Dummheit in der Malerei geäußert, eine Kunst die nach seinem Verständnis in erster Linie ein rein manuelles Können verlangt und damit nur unzureichend den Intellekt fordert. Bei seinen Werken gibt es in der Tat ungleich mehr zu denken als zu sehen. Der ideelle Gehalt steht weit über der materiellen Ausführung. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Duchamps eigentliches Hauptwerk, das Große Glas nach jahrelanger Arbeit vom Künstler schließlich bewusst unvollendet belassen wurde. Es ist ein ungeheuerliches Kunstwerk, schon der kryptische Titel vermag einen leichten Schwindel zu erzeugen: La mariée mise à nu par ces célibataires, même (1915-23). Tatsächlich zu sehen ist der Vorgang der Entblößung der Braut durch ihre Junggesellen aber nicht. Das Werk ist ein Zwitterwesen aus Bild und Objekt. Bemaltes Glas im Raum freistehend, so kann der Betrachter es umlaufen, der Blick bleibt an den Figuren haften und gleitet im nächsten Augenblick hinweg, durch die Oberfläche hindurch ins Leere. Sein Inhalt ein bleibendes Rätsel, ewig lockend, fordernd verführt es stets aufs Neue zur Interpretation. Nur so viel wird klar, das Werk verhandelt jenen Themenkomplex, der sich als leuchtend roter Faden durch das gesamte Œuvre von Marcel Duchamp zieht. Maschinenästhetik gepaart mit sexueller Symbolik – Mechanik und Erotik sind allgegenwärtig als die beiden wesentlichen Triebfedern menschlicher Existenz. Das übermannhohe Bild aus Glas ist nicht der einzige Zugang in jene hermetische Vorstellungswelt des Monsieur Duchamp. Das Werk ist die im eigentlichen Sinne die Sichtbarmachung eines komplexen Ideengebäudes und konsequenterweise hat daher auch alles mit einer Reihe an Notizen, Skizzen und Entwürfen begonnen, die Marcel Duchamp gesammelt und als Grüne Schachtel betitelt in Ergänzung zum eigentlichen Bild in geringer Auflage 3 Marcel Duchamp. Jahrhundertkünstler Alice Wilke (M.A.) 28. Februar 2013 herausgegeben hat. Bild und Text sind komplementär, verweisen in endlosen Schleifen aufeinander, jedoch ohne sich dabei endgültig dem Verständnis des Betrachters preis zu geben. Das Werk ist eine Sphinx, sein Erfinder hüllt sich in tiefgründiges Schweigen und erreicht damit, dass der Zauber seiner Werke ungebrochen bleibt. 1963 findet die erste große Duchamp- Retrospektive im Passadena Art Museum statt, eine Ausstellung die seinen Status als dem geistigen Vorbild vieler großer Künstler und als Vorreiter aktueller Kunstrichtungen in das Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung rückt. Ein Jahr darauf führt Joseph Beuys eine Aktion durch, die mit dem folgenden Satz in die Kunstgeschichte eingehen wird: „Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet.“ Hinter dieser Aussage verbirgt sich keinesfalls eine Geringschätzung oder Abwertung von dessen Person oder Werk. Gerade Joseph Beuys, Meister in der mythischen Aufladung des eigenen künstlerischen Schaffens, war gezwungen, sich in dieser Richtung gegen etwaige geistige Väterfiguren aufzulehnen. Einmal mehr hat sich gezeigt: Marcel Duchamp polarisiert zwar, aber übergehen kann ihn keiner. „Im Übrigen sind es immer die anderen, die sterben“ lautet der Spruch auf Duchamps Grabstein. Sein Werk ist selbst nach 100 Jahren noch äußerst lebendig, was man auch am heutigen Theaterabend sehen konnte. 4