Fabrikzeitung Nr. 286

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The End
doorbell
Tony: «I went ahead and ordered some for the table.»
shady looking guy enters
the restroom in the back of Tony
a waitress serves a bowl
of onion rings.
don‘t stop believin‘
hold on to the feelin‘
Tony looks towards the door
meadow crosses the street
streetlights people
don‘t stop
black
The Sopranos — Made in America, Final Scene
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Neue Erzählweisen — Fabrikzeitung Nr. 286
Menschen lieben Geschichten. Eine spannend erzählte Geschichte
gewinnt Aufmerksamkeit und wer die Weisheit im Kern begreift,
der vergisst sie nicht so schnell wieder. Deshalb werden nicht nur
Fiktionen, sondern auch Gesellschaftskritiken und Nachrichtenmeldungen in Geschichten verpackt. Diese werden wiedergegeben
als mündliche Erzählung, als gedruckter Text, als digitale Datei,
auf Fotos oder in Filmen. Wie Geschichten aber erzählt werden
müssen, um maximale Aufmerksamkeit und einen möglichst
grossen Erkenntnisgewinn zu erzeugen, und wie Geschichten erzählt werden können, um das Publikum zu begeistern und süchtig
nach einer Fortsetzung zu machen, das verändert sich ebenso,
wie die Rezeptionsgewohnheiten der Leser und Zuschauer. Aufgrund der Beschleunigung unseres Alltags und unserer dadurch
schrumpfenden Aufmerksamkeitsspanne und natürlich aufgrund der globalen Umsturzmaschine Internet.
Die November Ausgabe der Fabrikzeitung begibt sich auf
die Spuren neuer Erzählweisen und narrativer Experimente in
Literatur, Fotojournalismus, Kunst und Fernsehen.
Was wir von
der Welt
wissen wollen
Dokumentarische Erzählungen in der digitalen Gegenöffentlichkeit: Das Online-Video-Archiv PAD.MA, gegründet
in Mumbai, stellt vielseitiges Rohmaterial kostenlos zur
Verfügung.
doorbell
Tony Soprano enters
Holstens Restaurant
all, all that you dream
comes through shinin silver lining
Tony takes a seat
clouds, clouds change the scene
rain starts washing all these cautions
Tony is looking at the Table-Jukebox
right into your life, makes you realize
doorbell
doorbell
Tony looks towards the door
Tony looks towards the door
woman enters Holstens
trucker guy enters Holstens
just what is true
Zwei Bilder aus Dharavi, einem Stadtteil in Mumbai, Maharashtra, Indien. Das erste entstammt dem Dokumentarfilm
«Dharavi, Slum for sale», einer Koproduktion des Schweizer
Fernsehens mit Arte France unter der Regie von Lutz Koenermann. Es zeigt einen Familienvater mit seinen beiden Kindern
im Arm auf dem Fußboden seiner Wohnung liegend. Alle drei
tragen Alltagskleidung, sie stellen sich schlafend. Als wollte er
sie trösten, streichelt der Vater der Tochter die Stirn. Durch
den direkt hinter der Gruppe befindlichen Türspalt fällt grellweisses Tageslicht auf die Fliesen. Orientalisierende Flötenmusik, eingespielt von den Filmmusikern «Duerbeck & Doh-
men», legt sich über die Szenerie. Schnitt. Das zweite Bild
entstammt dem Online-Archiv Pad.ma, der Name ist zugleich
URL und Akronym für Public Access Digital Media Archive.
Das gesamte hier archivierte Material wird in ein Netz aus
Geodaten, erklärenden Anmerkungen und Transkriptionen
der Gespräche eingebettet, die sich im Verlauf dem Videocontent entsprechend aktualisieren. Unter der Überschrift «Dharavi Papadwali: Livelihood and Development» zeigt ein ungefähr halbstündiges Video die traditionelle Herstellung des
indischen Brotes Papad und verhandelt in Interviews mit Arbeiterinnen die Bedingungen und Zukunftsaussichten ihrer
Beschäftigung. Von einer Nahaufnahme der Hände, die den
Teig mit einem Faden portionieren, schwenkt die Kamera auf
das Gesicht der in einem fliederfarbenen Sari am Boden kauernden Bäckerin. Abrupt vergrößert sich der Bildausschnitt.
Rechts im Bild ist ein Korb zu sehen, in dem die Flamme eines
Ofens die zum Backen benötigte Hitze produziert. Die gewalzten Teigfladen werden sowohl auf der Oberseite des Korbdeckels als auch um die Flamme im Inneren der Unterseite ausgelegt. Hinter der Bäckerin befindet sich eine Schlafstelle, auf
der mehrere Kinder Schularbeiten nachzugehen scheinen. Im
linksseitigen Off der Kamera halten sich weitere Arbeiterinnen
auf, ihre Arme kommen ins Bild, wenn sie Teig auf den Ofen
legen. Das aus ihrer Richtung ins Bild fallende Tageslicht deutet auf den Eingang zu diesem kombinierten Wohn- und Arbeitsraum hin. Das Gespräch findet auf Marathi statt, der
Sprache des Bundesstaates Maharasthra. In zwischen die Arbeitshandlungen gesprochenen Sätzen erzählt die Bäckerin der
Regisseurin von schlechten Erfahrungen mit von «Outsidern»
gemachten Foto- und Filmaufnahmen, die ihre Existenz in
doppelter Hinsicht gefährdeten, weil sie als Beleg für mangelnde Hygiene beim Brotbacken einerseits, für die «Unmensch-
Neue Erzählweisen — Fabrikzeitung Nr. 286
lichkeit» der Zustände in Dharavi andererseits instrumentalisiert würden. Ihre Arbeit gefalle ihr jedoch und die Struktur
von Dharavi erlaube eine Verbindung von Lohnerwerb und
Hausarbeit, die unter anderen Umständen verloren ginge.
Dass die Erzählung im Dokumentarfilm eine problematische
Figur ist, belegen beide Beispiele. Die gestellte Szene des
deutsch-schweizerischen Films versucht es unter einem emotionalisierenden Klangteppich zu verbergen; die Papadwali im
Online-Video bringt es selbst zur Sprache. Vorgefundene
Wirklichkeiten werden mit Kamera und Mikro beschrieben
und dadurch schon verändert, umgeschrieben, die Aufnahme
wirkt auf das Aufgenommene zurück. Erst durch Operationen
der Filmemacher und Filmemacherinnen, durch Formatierung, Inszenierung, Editierung werden sie erzählbar. Die Prozesse, in denen Filmemacher und Filmemacherinnen zu ihrem
Material kommen und wie sie dann in der Postproduktion damit verfahren, stehen im Zentrum jeder kritischen Auseinandersetzung mit Dokumentarfilmen. Historische Stile wie das
Direct Cinema bzw. Cinéma Vérité und ihre Darstellungscodes
wurden von diesen Diskursen so sehr grundiert, wie ihre Entstehung nicht vorstellbar wäre ohne die Entwicklung handlicher 16mm-Kameras mit Synchronton auf der einen und immensen Programmbedarf der in den fünfziger Jahren neu
gestarteten Fernsehsender auf der anderen Seite. Die «Ästhetik
der Ansicht» des frühen und zumeist kurzen dokumentarischen Films der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wich,
mit dem Aufkommen abendfüllender Filmlängen und der
Durchsetzung des Filmtheaters als Spielstätte, dem «dramatic
treatment of acutality» - wobei als erster dokumentarischer
Langfilm wohl nicht Robert Flaherty poetischer Inuit-Film
«Nanook of the North», sondern eher der britische Propaganda-Filmbericht «Die Schlacht an der Somme» aus dem Ersten
Weltkrieg zu gelten hat. In dokumentarischen Filmerzählungen wirken ästhetische, kulturelle, polit-ökonomische und
technische Umstände gleichermaßen auf die außerfilmische
Realität ein und bedingen ihre Darstellungsweise. Das gilt
nicht weniger für andere Medien, doch aufgrund der dem Genre eingeschriebenen dokumentierenden Bezugnahme auf das
Reale hat die Auseinandersetzung mit diesen eine spezifische
Relevanz. Was wir von der Welt wissen, hängt davon ab, wie
wir sie uns erzählen. Beide Bilder aus Dharavi sind motiviert
von einer Kritik an gewaltigen stadtplanerischen Vorgängen,
dem sogenannten Dharavi Redevelopment Plan. Dieser sieht
für das gesamte, zwei Quadratkilometer große und von rund
einer Million Einwohner bewohnte Gebiet Totalabriss und
anschließende Neubebauung mit Wohnhochhäusern, Wolkenkratzern und Shopping Malls vor. Einwohner, die nachweisen
können, mindestens seit 2000 hier ansässig zu sein, sollen eine
Neubauwohnung erhalten. Die spezifische Erwerbsstruktur,
die horizontale Organisation des Stadtteils wird von den Plänen nicht berücksichtigt. All jenen, die keine Wohnung erhalten oder ihr Gewerbe aufgeben müssen, droht eine noch krassere Marginalisierung.
Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen des deutschsprachigen
Raums ist von der langen Tradition des sozialkritischen Dokumentarfilms heute nur noch ein Rudiment geblieben. Die Ränder der Gesellschaft und ihre Subjekte sind weiterhin im Blick,
doch der Blick ist ein anderer geworden. Er zieht aus dem Sichtbaren keine Konsequenzen für eine systemische Analyse, er
schaut jetzt auf die Quote. Und weil sich in der Globalökonomie neue Randzonen ergeben, findet der Dokumentarismus
sogar zurück zum exotistischen Spektakel, zum Beispiel in
Dharavi. Interesse am Gegenstand hat sich in Kontrollwut und
Spekulation auf Wirtschaftlichkeit verwandelt. Das alte Direct-Cinema-Ethos einer möglichst ungestellten Aufnahme,
ohne Inszenierung, Drehbuch und vorher festgelegten Protagonisten ist in diesem Rahmen nicht mehr zu realisieren. Exposés, Treatments und Drehbücher werden verfasst, als handele es sich um Spielfilme. Die Durchsetzung des Digitalen
haben die Sender als kostensenkenden Ersatz für teurere analoge Filmtechnik (Produktion) oder als Konkurrenz (Reichweite) begriffen. Ihre öffentlich finanzierten Archive halten sie
unter Verschluss oder sourcen sie aus in Subunternehmen, die
mit horrenden Nutzungsgebühren versuchen Kapital daraus zu
schlagen und dementsprechend in Copyrightfragen mit der
Armada bürgerlicher Anwaltskanzleien mitsegeln. Dagegen ist
Pad.ma der radikale, zeitgenössische Vorschlag für eine globale, digitale Gegenöffentlichkeit. Die Entstehung von Pad.ma
verdankt sich dem Zusammenspiel der Videoarchive von Majlis, Point-of-View und Camp (alle in Mumbai), den CopyleftKonzepten des für den südasiatischen Raum wegweisenden
Alternative Law Forum (Bangalore) und einer ArchivierungsSoftware, die 2620 (Berlin) ursprünglich für die Filmdatenbank oxdb.org programmiert hatten; vor allem aber wohl dem
«multi-dysfunktionalen» Geist, der alle Beteiligten eint und
sich einseitigen, arbeitsteiligen Spezialisierungen tendenziell
widersetzt. Mittlerweile im fünften Jahr online und seit Februar 2012 mit der neuen Software Pan.do/ra, entwickelt sich
Pad.ma zu einem sozialen Netzwerk, das die Verbreitung von
audiovisuellen Informationen weder an Rundfunk-Gebühren
noch an Freundschaftsanfragen knüpft und wegweisend sein
könnte für eine dokumentarische Praxis, die unter digitalen
Bedingungen auf der Höhe des Diskurses stattfindet und sich
nicht von staatlicher Aufsicht, redaktioneller Kontrolle, kommerziellen Interessen oder individuellen Beschränktheiten einhegen lässt.
Zurück zu «Dharavi Papadwali: Livelihood and Development». In Pad.ma ist das Video unter «Godaam, Majlis/Dharavi Documentation Project» rubriziert. Godaam ist der Name
eines Projekts des Filmzentrums Majlis, das um die Jahrtausendwende begonnen wurde, um Archivmaterialien, angefangen mit Fotos aus dem Kaschmir-Konflikt, die auf der Rückseite mit Erklärungen annotiert waren, nach Abschluss der
Arbeit zu sammeln und lokal zugänglich zu machen. Mit der
wachsenden Anzahl von Ordnern und Festplatten entstand der
Wunsch, das Material auch Online zu veröffentlichen und ein
übergreifendes zeitgenössisches Filmarchiv zu schaffen. Nach
der Gründung von Pad.ma begann die Produktion von Videomaterial eigens für Godaam. Unter dem Eindruck der oben
angesprochenen Stadtplanungen wurde das (Arbeits-)Leben
im Dharavi der Gegenwart dokumentiert, besonders die Berufsgruppen der Bäckerinnen, Fischer, Ledermacherinnen und
Töpfern. Das hierbei entstehende Material wurde mit den entsprechen Anmerkungen und Transkriptionen versehen, was
die Videos für die Archiv-Suchmaschine indexikalisiert, dar-
Neue Erzählweisen — Fabrikzeitung Nr. 286
überhinaus in vollem Umfang, d.h. ungeschnitten bei Pad.ma
veröffentlicht. Was immer in dem Material zu sehen ist, was
immer in der Aufnahme geschieht, es wird zur Verfügung gestellt. Die ethische Implikation dieses Prozesses ist: Es gibt
nichts zu verbergen und alles ist möglicherweise aufschlussreich. Nicht nur depersonalisieren die Filmemacher und Filmemacherinnen damit ihr Material und überantworten es dem
kollektivistischen Netzwerk. Dadurch, dass nicht geschnitten
wird, tragen sie schon beim Dreh dafür Sorge, dass die dokumentarische Erzählung unter Bedingungen zu Stande kommt,
die hinterher nicht verschleiert werden müssen. Beschämende
Szenen wie den gestellten Fußbodenschlaf aus «Dharavi, Slum
for Sale» hätte eine solche Ethik wohl verhindert.
Media. Als Fotografen lieben wir es, Geschichten über Menschen zu erzählen. Die Nähe zu den Menschen, ist uns am
wichtigsten. Dafür muss man sich Zeit nehmen und die Protagonisten kennenlernen. Dann erkennt man ihre persönliche
Erzählweise und kann sie dabei unterstützen, ihre eigene Geschichte authentisch und nahbar zu erzählen. Wenn mir ein
Mensch leibhaftig gegenübersitzt und nicht nur mit seiner
Stimme, sondern mit vollem Körpereinsatz aus seinem Leben
erzählt: Dann beginnt bei mir im Kopf die Idee für sein Portrait
zu entstehen. Jetzt erst kann der Fokus darauf gelegt werden,
mit welchen Bildern sich eine nachfühlbare Szenerie aufbauen
lässt. Dann muss man die ausdrucksstärksten Fotografien auswählen, die bei den Aufnahmen entstanden sind.
gefügt werden, die in der Vergangenheit stattgefunden haben
oder einen Ausblick in die Zukunft geben. Begriffe wie Crossmedia oder interaktiv werden immer wichtiger. Doch multimedial ist mehr als ein bloßer Begriff. Foto, Video, Ton: Jedes
Medium muss gewissenhaft und mit hoher Qualität aufgenommen worden sein. Nur dann lassen sie sich in der Postproduktion optimal verweben. Das kann sich am Ende übrigens
rechnen: Denn wieso sollte eine Multimedia-Reportage nicht
auch in ihren Bestandteilen wieder in der Medienwelt auftauchen? Die Bilder lassen sich in einem Artikel auch nach der
Veröffentlichung des Filmes in einem Magazin oder einer Ausstellung unterbringen; die O-Töne können als Feature beim
Radio funktionieren.
Im zeitgenössischen Archiv werden historische Ereignisse
wortwörtlich festgehalten. Im Fall von Dharavi und einer
möglichen Planierung des Stadtteils und der hier gelebten Leben verschaffen die Bilder den Betroffenen im Hier und Jetzt
Gehör; und sie heben diese Stimmen auf, über die unmittelbare Gegenwart hinaus. Nicht nur bleiben Begebenheiten wie
z.B. der Leak der skandalösen Radia Tap(e)s - abgehörte Telefonate, die die Korruption der Regierenden Indiens in unerhörter Weise öffentlich machten, auch nach ihrem regulären Verschwinden aus der massenmedialen Aufmerksamkeit an der
Oberfläche. Bilder ganzer Berufsgruppen, wie jene der BarTänzerinnen, die nach dem Verbot der Dance-Bars komplett
aus der Stadt verschwunden sind, sind der Netz-Öffentlichkeit
erhalten. Die Idee der gemeinschaftlichen Postproduktion geht
davon aus, dass im Material mehr gespeichert ist, als eine einzelne Produzentin/ein einzelner Produzent im jeweiligen Moment überblicken kann. Alle User können das Material durch
Anmerkungen erweitern, mit der Editor-Funktion bearbeiten,
downloaden und mit eigenen Arbeiten neu kontextualisieren.
Die Vorraussetzung für das Hochladen eigener Videos ist ein
Minimum an Annotationen und Transkriptionen. Die Erzählungen in Pad.ma können so zumindest theoretisch unendlich
weiterlaufen, auf der Basis des im Archiv Vorhandenen kann
der Faden immer wieder von Neuem und anders aufgenommen
werden. Es geht nicht darum, etwas zu Ende zu bringen. Überall sind offene Anschlüsse. Pad.ma hält vergangene Ereignisse
für die Gegenwart bereit, um daran zu erinnern: Die Geschichte der Wirklichkeit ist keine abgeschlossene Erzählung, sondern ein offener Prozess, für den weder Autorschaft noch Urheberrecht reklamiert werden kann.
Eine häufig gestellte Frage ist immer wieder das Verhältnis
zwischen Foto und Videoaufnahmen. Wenn man inmitten von
bewegten Bildern ein Foto platziert, überrascht das den Zuschauer und hat eine ungeheure Kraft. Diese Momente der
Ruhe geben uns die Möglichkeit, inne zu halten und tiefer in
die Geschichte einzutauchen. Damit wird die Zeit für die Dramaturgie kompensiert, die im Vergleich zu einem 90-Minüter
nicht zur Verfügung steht. Zusätzlich kann man animierte
Grafiken benutzen, um Hintergrundinformationen in die Geschichte einzubetten. Damit lässt sich die Geschichte des Protagonisten, die auf den Moment der Portraitierung begrenzt
ist, zeitlich erweitern. So können Aspekte der Geschichte ein-
Die ursprünglichen Medien des Fotojournalisten sind Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher; wer sie in der Hand hält,
nimmt sich Zeit, um einen Artikel zu lesen. Doch unser Rezeptionsverhalten hat sich stark verändert. So wie wir es kaum
abwarten können, ein Ergebnis bei Google und Co. angezeigt
zu bekommen, schauen wir uns Filme im Internet an. Ob ein
Dokumentarfilm oder das tausendste Kind auf youtube, dass
Faxen macht – bei Inhalten im Internet muss es schnell gehen
und auf den Punkt sein, sonst übersteht unsere Geschichte
keine 30 Sekunden im Kampf um die Aufmerksamkeit des
Rezipienten, der sich mit seiner Maus durch die Welt klickt.
Damit ist das große Geheimnis dieser Art von Filmen ihre
Alle Inhalte auf Pad.ma sind mit der Padang-Standard-License
als Copyleft für eine nicht-kommerzielle Weiterverwendung
lizensiert, auch die Software Pan.do/ra. Auf Pad.ma selbst werden in erster Linie Ereignisse archiviert, die den südasiatischen
Raum betreffen. Mit der Kopierbarkeit sämtlicher Tools und
Inhalte können aber überall auf der Welt, Internetzugang vorausgesetzt, neue Archive entstehen. Zur Zeit geschieht das
zum Beispiel in Kairo und Brüssel. Don‘t wait for the archive!
von Maximilian Linz
Maximilian Linz arbeitet als Regisseur und
Filmkritiker und lebt zurzeit in Mumbai.
VON offline
zu online
Es gibt Geschichten, die bleiben dir nur wenige Stunden. Andere begleiten dich jahrelang. Manche inspirieren dich, andere haben gerade mal die Kraft, dich ein Lächeln weit zu tragen. Es gibt noch vieles, was wir dieser Welt hinterlassen
können. Wir müssen es nur erzählen.
Angefangen hat alles im Jahr 2008 beim Lumixfestival für
jungen Fotojournalismus in Hannover. Dort begegneten mir
die Arbeiten von Brian Storm aus den Vereinigten Staaten.
Storm hielt einen Vortrag über seine Produktionsfirma «Media
Storm» und wir sahen eine seiner Multimediareportagen
«Love, in the first person», in der die Geschichte eines jungen
Liebespaares erzählt wird. Diese Arbeit faszinierte mich so
sehr, wie es keine reine Fotoarbeit jemals geschafft hatte. Die
Kombination aus bewegten Bildern, intimen O-Ton-Aufnahmen, Musik und Fotografien, zusammengefügt zu einem sehr
persönlichen Kurzfilm, schaffte eine für mich völlig neue emo-
tionale Erzählweise. Und das, ohne dabei aufdringlich zu sein.
Der Fotograf als Multimedia-Arbeiter – war das also die Zukunft für uns Fotografen, die wir bis dahin hauptsächlich für
Printmagazine gearbeitet hatten? Am gleichen Tag griff Thomas Höpker, ein Urgestein der Reportagefotografie und langjähriges Mitglied der berühmten Fotoagentur Magnum, den
Geist dieser neuen Erzählform auf. Während seines Vortrags
über die Zukunft des Fotojournalismus sagte er zu uns: «Das
Geld verschwindet nicht einfach vom Markt, sondern verlagert sich nur. In diesem Falle von offline zu online.»
Ich studierte damals noch in Hannover Fotojournalismus und
war neugierig. Da jeder klein anfängt, haben meine Kommilitonen und ich zunächst versucht, die herkömmliche PrintGeschichte zu erweitern. Also haben wir zusätzlich zu unseren
Fotografien O-Ton aufgenommen, Musik unterlegt und alles
nach dem Vorbild des guten alten Diavortrags zusammenge-
stellt. Fertig war unsere «Audio-Slide-Show». Das eine oder
andere Ergebnis konnte sich zwar sehen lassen, doch immer
wieder mussten wir uns die Kritik anhören, die Geschichten
seien noch nicht zu Ende erzählt; irgendetwas würde noch fehlen. Erst als wir anfingen, die multimediale Erzählform als eigenständiges Medium wahrzunehmen, konnten wir dies auch
bei ihrer Bearbeitung beachten. Wir begannen, umzudenken.
Nach und nach stellten wir fest: Die multimediale Erzählform
ist ein eigenständiges Medium. Aus der Shootingliste wurde
plötzlich ein halber Drehplan. Der Umgang mit dem Ton und
seinen Tücken wuchs zu einer großen Herausforderung, denn
ein schlechter Ton zerstört das beste Bild. Zum ersten Mal realisierten wir, wie schwierig es ist, mit unterschiedlichen Medien zu arbeiten. Bei Film und Fernsehen ist dies Alltag, doch
unser Ziel war es nicht, diese nachzuahmen, sondern ein alternatives Medium zu erschaffen. Ein knappes Jahr später gründeten drei Kommilitonen und ich die Produktionsfirma 2470
Kompaktheit. Ob drei oder 30 min – alles ist erlaubt, je nachdem wie lange es dauert, die Essenz der Geschichte zu erzählen. «Kill you darlings!», eine häufig zitierte Regel, an der
kaum ein Medienschaffender vorbeikommt, ist auch hier ausschlaggebend für die Länge.
Wir erzählen uns Geschichten, um Erfahrungen zu teilen, unsere Welt besser zu verstehen und uns mit anderen Menschen
zu verbinden. Das Internet ist schon lange nicht mehr nur dafür
da, eine diffuse Masse miteinander zu verbinden. Das Netz
ermöglicht auch die gezielte Kommunikation von einem Individuum zum nächsten. Mein Leitspruch für unsere Kunden bei
2470 Media war: «Information erzeugt Wissen, Geschichten
erzeugen Emotionen. Emotionen führen zu Handlungen». Diese Handlung kann manchmal nur ein Klick sein.
von Shooresh Fezoni
Shooresh Fezoni ist freiberuflicher Fotograf und Produzent
für Webreportagen und Animationsfilme. Er war Mitgründer
und Geschäftsführer der Berliner Produktionsfirma 2470
Media.
Meister
der
Unterhaltung
Im US-Fernsehen gilt viel konsequenter als in Europa das
Prinzip: Was nicht unterhält, fliegt raus. Weil politische Themen dabei aber nicht außen vor bleiben, konnten grosse Serien wie «The Wire» entstehen.
Bis 1997 lagen die Programmschwerpunkte des in keiner Hinsicht bemerkenswerten US-amerikanischen Pay-TV-Fernsehsenders HBO in der Übertragung von Boxkämpfen und in der
Weiterverwertung von Kinofilmen. In diesem Jahr begann
HBO aufwendig produzierte fiktionale Serien, Mini-Serien
und Fernsehfilme zu senden. Bei der Neuausrichtung des Senders ging es um nicht weniger als um einen neuen Blick auf das
eigene Land, der mit dem patriotischen Grundton des Fernsehens brach und ein ganzes Spektrum an kritischen und nachdenklichen Tönen etablierte. Eine Managerin sagte über die
HBO-Serie «The Sopranos», sie handele vom Gefühl, dass die
beste Zeit bereits vergangen sein könnte. Der Pilot der Sopranos lief exakt ein Jahr vor George W. Bushs Amtsantritt. Bush
scheiterte wie kein anderer Präsident vor ihm darin, eine Politik zu entwickeln, die von der Mehrheit der Bevölkerung getragen wurde. Im fiktionalen Programm von HBO ging es
weniger darum, eine verfehlte Politik zu denunzieren, sondern
um das Erstaunen, dass die amerikanischen Werte von Gleichheit, Freiheit und Leistungsfähigkeit für viele Amerikaner nicht
Wohlstand und Glück bedeuten, sondern Ausgrenzung und
Verzweiflung. Die Serien arbeiten einen Bereich nach dem anderen ab: So thematisiert «Oz» die Menschenverachtung im
Gefängnissystem», «Sex and the City» das Ringen darum,
Normen im Bezug auf Ehe und Familie zu erfüllen, «Deadwood» die Gewalttätigkeit und Amoralität des Amerika der
Vorväter, «Carnivàle» die Entwurzelung und die Zerstörung
der Familie, «Angels in America» die AIDS-Krise, «K Street»
die Manipulation der Regierungsarbeit durch Interessengruppen, «Generation Kill» die Absurdität der Kriegsführung im
Irak, «Unscripted», «Entourage» und «The Comeback» den
Verfall Hollywoods und die Absurditäten des Starsystems, «In
Treatment» die Widersprüche der bürgerlichen Psyche und der
Unmöglichkeit eines unbefangenen Blicks darauf, «Hung» den
Zerfall der Mittelschicht, «Six Feet Under» die Unfähigkeit der
amerikanischen Kultur, einen Umgang mit dem Tod zu entwickeln.
Alle Serien teilen einen bestimmten, für kommerzielles Fernsehen ungewöhnlichen Stil. Den satten, warmen Farben der
werbefinanzierten Sender NBC, ABC, CBS, Fox und The CW
setzte HBO neben einer matten, entsättigten Kolorierung und
einem verlangsamten Schnitttempo eine distanzierte Erzählperspektive entgegen. Gerade diese Distanz machte im nach
Empathie- und Identifikation lechzenden Fernsehen den
schärfesten Bruch aus. So setzte sich HBO nicht nur vom werbefinanzierten Fernsehen ab, sondern vom frechen, quirligen,
blumigen Erzählstil des Pay-TV-Konkurrenten Showtime.
Diese Ästhetik kam nicht aus dem Nichts. HBO nahm Impulse aus dem produktiven US-Independent-Kino der neunziger
Jahre auf, von dem hierzulande nur die herausragenden Positionen rezipiert wurden. Von dieser Cineasten-Generation
konnte sich nur eine Minderheit – Namen wie Quentin Tarantino, James Gray oder Wes Andersen - im Kino etablieren. Die
Studios mit ihren gigantischen Marketingsbudgets und den
Filmstarts mit tausenden von Kopien dominierten den Markt
zu sehr. HBO erkannte, dass das Privatfernsehen ein besseres
Forum für diesen neuen Blick auf Amerika war, der so hart
mit dem Patriotismus brach, und verpflichtete RegisseurInnen
wie Nicole Holofcenter, Lisa Cholodenko oder Nick Gomez
für die Regie von Serienfolgen.
HBO beendete damit eine medienhistorische Epoche. Die
Dümmlichkeit oder besser Weltverlorenheit des Großteils der
vor den neunziger Jahren produzierten, fiktionalen Serien
spiegelte die künstliche Harmonie der amerikanischen Vorstädte wieder, deren Existenz durch die gestiegenen Energiekosten und die Hypothekenkrise jetzt in Frage gestellt wird.
Für sie wurde in den fünfziger Jahren das Fernsehen als Medium erschaffen, weil der Weg in die Kinos der Innenstädte
zu weit war. Insofern sich diese Schutzräume nicht mehr bewohnen lassen, wird auch eine bestimmte Art von Fernsehen
obsolet. Fast alle Sender nahmen den welthaltigen Erzählstil
von HBO an. «Desperate Housewives» (ABC) oder «Weeds»
(Showtime) machten diese Orte zum Zentrum ihrer Geschichten und sind damit der Nachruf auf die Zeit der McMansions.
Zur Enttäuschung gerade seiner europäischen Fans wollte
HBO sich mit dem Erfolg ihrer Serien nicht zufrieden geben:
Mit «True Blood» und «Games of Thrones» preschte der Sender in den Mainstream vor. Diese Serien verorteten sich nicht
mehr im Kontext des Kinos, sondern reagieren eher auf den
Boom der Fantasy-Literatur. Als ginge es darum, zu beweisen,
dass es keine andere Perspektive als den Erfolg gibt, floppten
Serien im traditionellen HBO-Stil wie «Hung» oder «Bored To
Death» und wurden abgesetzt. Politisch brisante Serien werden
heute produziert von neuen, aufstrebenden Kabelsender wie
AMC («Breaking Bad», «Mad Men») oder Starz! («Boss»).
Höhepunkt der politischen Phase von HBO waren die ersten
beiden Staffeln der Krimiserie «The Wire». Sie erzählen von
der Drogenmafia in Baltimore, die das amerikanischen Ideal
des freien Unternehmertums pervertieren und ihre eigene, im
Drogenelend versinkende, afroamerikanische Community
ausbeuten. Während die dritte Staffel im Herbst 2004 lief,
wurde Barack Obama in den US-Senat gewählt und avancierte zum neuen Star der Demokratischen Partei. Am 27. Juli
2004 hielt er seine berühmte Grundsatzrede, in der er für eine
neue nationale Einheit plädierte. Natürlich konnten die WireMacher nicht Obamas Präsidentschaft oder auch nur dessen
Aufstieg in der demokratischen Partei antizipieren. Trotzdem
hat diese dritte Staffel im Gegensatz zu ihren extrem düsteren
Vorgängern einen anderen, optimistischeren Ton. Indem Major Howard «Bunny» Colvin den Drogenhandel in einem bestimmten, abgelegenen Ort toleriert, um ihn aus den Wohngebieten fernzuhalten, zeigt er einen möglichen Ausweg aus
der verfahrenen Drogenpolitik auf und schlägt damit einen
überraschend optimistischen Ton an. Dessen unrealistische,
naive Versöhnlichkeit erinnert eher an das Fernsehen, von
dem HBO sich absetzen wollte.
Dieser erstaunliche Perspektivwechsel von The Wire zeigt, wie
unmittelbar die Serie auf das politische Leben und die gesellschaftliche Debatte bezogen ist. Im deutschsprachigen Raum
werden herausragende Fernsehserien wie «Mad Men» oder
«The Wire» als für sich selbst stehende Kunstwerke gewürdigt.
In den USA werden sie zwar mit dem Fernsehpreis Emmy ausgezeichnet und mit diversen New-York-Times-Artikeln bedacht, trotzdem sind nur ein Teil eines gigantischen Unterhaltungsangebots. Sie sind keine für sich stehende Botschaft, reif
dafür in Dissertationen aufgearbeitet zu werden, sondern Input in die gesellschaftliche Debatte, die in den unterschiedlichsten Formaten geführt wird. Im Ganzen geht es nicht um
weniger als die Frage, ob Amerika als politisch-soziales Modell ausgedient hat und wenn nicht, wie es weitergeführt werden kann. So ringen die Serien um einen gesellschaftlichen
Konsens, der immer unvorstellbarer wird. Die Mehrheit der
Bevölkerung lehnt die Erschaffung eines Wohlfahrtsstaat
nach europäischen Vorbild ab. Eine entsprechende Umvertei-
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doorbell
AJ: «Mmm, onion rings.»
Tony: «Where‘s Googootz?»
Tony: «It‘s Carlo. He‘s gonna testify.»
Carmela: «He just called. He‘s on his way.»
Carmela: «Mead‘s coming separately.
She had to go to the doctor, switch birth control.»
Carmela: «Did you talk to Mink again?»
trucker guy gets a coffee
a singer in a smokey room
a smell of wine and cheap perfume
Tony: «Best in the state as far as I‘m concerned.»
Tony looks towards the door
for a smile they can share the night
it goes on and on and on and on
shady looking guy enters Holstens
(Chorus) strangers waiting, up and down the boulevard
their shadows searching in the night
behind him, AJ enters Holstens
shady looking guy sits beside the
bar looking towards Tony
Meadow tries to park the car
outside Holstens
streetlights people, living just to find emotion
siding, somewhere in the night.
Meadow drives backwards
for another try
sorking hard to get my fill,
everybody wants a thrill
shady looking guy looks toward Tony again
payin‘ anything to roll the dice,
just one more time
Neue Erzählweisen — Fabrikzeitung Nr. 286
lung würde die Freiheit der Wohlhabenden zu sehr beschränken. So verarmen und verwahrlosen breite Bevölkerungsschichten. Dabei geht es nicht darum, ob die Lebensbedingungen in den USA härter sind als in Europa, sondern
darum, dass die politischen Postionen in den USA im Gegensatz zu denen auf unserem Kontinent unvereinbarer sind. In
den europäischen Flächenstaaten ist eine Volkspartei, die die
gesetzliche Krankenversicherung abschaffen oder ganze Bundesministerien einsparen will, unvorstellbar. Die Finanzkrise
hat in Europa keine grundsätzlich neue Perspektive entstehen
lassen. Die Politiker und Demonstranten ringen nicht um die
Sozialdemokratie an sich, sondern nur um deren Modalitäten.
Oft wird bemängelt, dass das deutschsprachige Fernsehen
nicht Fiktionen von einer ähnlichen Qualität hervorbringt.
Eine Erklärung dafür könnte die Stabilität der politischen Verhältnisse sein. «Tatort» ist die erfolgreichste Reihe im hiesigen
TV, sie läuft seit 1970. Sie geht auf die amerikanische Serie
«Dragnet» (NBC) zurück. Vorläufer waren «Stahlnetz» und
«Der Kommissar». Es überrascht, wie wenig sich die Reihe in
ihrer einunddreißigjährigen Laufzeit verändert hat. Eine der
größten Erneuerungen lag in der Verschiebung der Figur des
Kommissars von der strengen, moralisch unangreifbaren Vaterfigur zu einer Identifikationsfigur, die genauso mit den Problemen der Kinderziehung und der Smartphone-Bedienung zu
kämpfen hat, wie der Zuschauer selbst. Der obligatorische
Mord am Anfang passiert, bevor Orte und Figuren etabliert
werden. Jeder Mensch, auch der Zuschauer, könnte dieser Gewalt ausgesetzt sein. Meistens gibt es einen Hinweis, der ermöglicht, diese schockierenden Bilder zum Teil einer Geschichte werden zu lassen. Die KommissarInnen lösen nicht
nur das Verbrechen auf, sondern etablieren auch ethisch-moralische Instanzen in einer bedrohlichen, undurchschaubaren
Welt. Diesen Luxus, die Außenwelt als bedrohlich und undurchschaubar wahrzunehmen, leisten sich die amerikani-
schen Serien nicht. Wie bei «The Wire» bleibt auch das Böse
eine gesellschaftliche Größe. «2 Broke Girls» (CBS) etwa
scheut sich vor keinem halbguten, anzüglichen Witz und thematisiert doch die Gentrifizierung im Brooklyn. Ein deutscher Fernsehredakteur würde immer sagen, dass lokale Verhältnisse in einer bestimmten Stadt für das gesamte deutsche
bzw. deutschsprachige Publikum zu speziell sind und auf die
Laune schlagen.
Wenn man eine nationale Kinematographie auf einen politischen Grundimpuls zusammenfassen will, ist es in Frankreich
das gleichberechtigte, gleichrangige Gespräch von Citoyen zu
Citoyen, das durch die Revolution von 1789 möglich wurde.
Dort herrscht weniger als in den USA der Zwang zu Unterhaltung, Verständlichkeit und Showmanship. Egal, ob es das
hysterische Geschnatter eines Louis de Funes ist, das Geprotze eines Jean-Paul Belmondo oder die Ausführungen zum
Pietismus in einem Film von Eric Rohmer: Jedem wird das
Recht gewährt, sich auszusprechen. So egalitär geht es im
deutschen Film und Fernsehen nicht zu. Erst die objektive
Relevanz einer Figur rechtfertigt, dass sie erzählt werden
muss. Einen solchen Status haben natürlich am stärksten historische Figuren und deshalb dominieren sie die deutsche
Film- und Fernsehlandschaft. Während die durchaus erfolgreichen Komödien von Til Schweiger oder Marcus H. Rosenmüller Einstellung für Einstellung die amerikanischen Vorbilder nacharbeiten, entwickelt der deutsche Geschichtsfilm in
der Highbrow-Version von Margarethe von Trotta und in der
Lowbrow-Variante von Roland Suso Richter einen eigenen
Stil. Historische Stoffe erzeugen eine Distanz zum Zuschauer.
Er ist durch seine Normalität zugleich ausgeschlossen und
geschützt. Im erfolgreichsten Genre des deutschen Fernsehens, dem Krimi, erfolgt der Erzählauftrag von staatlicher
Stelle: Es ist der polizeiliche Ermittlungsauftrag. Insofern das
öffentlich-rechtliche Fernsehen Teil des staatlichen Verwal-
Neue Erzählweisen — Fabrikzeitung Nr. 286
tungsapparats ist, dokumentiert hier ein Teil des Staates die
Arbeit eines anderen. Während es in der deutschsprachigen
Fiktion eher darum geht, sich der Gültigkeit des Status Quo
zu versichern, handelt das amerikanische Fernsehen von der
Flüssigkeit der Verhältnisse. Die Herausforderung liegt gerade
darin, zu zeigen, dass allen alles offen steht. Alexis de Tocqueville beobachtete schon 1848 die Leidenschaft der amerikanischen Bevölkerung für massenhafte Unterhaltung. Unterhaltsamkeit ist die Qualität, die sich durch Serien aller Niveaus
zieht. Was nicht unterhält, fliegt raus. Dem cinephilen Europäer fehlt da der Mut zur Konfrontation mit Bildern, die noch
nicht durch die Kurzweil gerechtfertigt sind, die sie mit sich
bringen. Die Hingabe mit der der Durchschnittsamerikaner
jeden Tag sechs Stunden vor dem Fernseher verbringt, ließ
David Foster Wallace in seinem Roman «Infinite Jest» phantasieren, dass ein absolut unterhaltsamer Film den Untergang
der USA bewirken könnte.
Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat auf seinen
Amerikareisen beobachtet, dass dort der Gegenstand und dessen Repräsentation identisch sind. Eine Sache geht in ihrem
Abbild auf. Vielleicht kann in dem gigantisch großen Land mit
seiner einzigartig heterogenen Bevölkerung nur der überleben,
der es vermag, ein Bild von sich zu erschaffen, das ihn für jeden
Amerikaner begreifbar macht.
von Alexis Waltz
Alexis Waltz ist Musikjournalist und Kulturwissenschaftler.
Er arbeitet für Spex, Groove und die Süddeutsche Zeitung
und lebt in Berlin.
Die Kunst
der Erzählung,
die Anekdote
1. — «Es war einmal …» – Erst das fünfte der Grimmschen
‹Kinder- und Hausmärchen› beginnt mit diesen berühmten
Worten; es ist das Märchen vom ‹Wolf und den sieben Geißlein›: «Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge
Geißlein, und hatte sie lieb, wie eine Mutter ihre Kinder lieb
hat.» Die Geschichte ist bekannt: Die Mutter besorgt im Wald
das Essen, die sieben Geißlein sind allein im Haus, der Wolf
verschafft sich mit einer List Einlass, frisst sechs der sieben
Geißlein, wird aber letztendlich gestellt, aufgeschlitzt, die
noch unverdauten Kinder werden gerettet, der Wolf allerdings
bekommt Steine in den Magen und ertrinkt im Brunnen. Beinahe noch am Anfang findet sich die Szene, wo der Wolf vom
Müller verlangt, er möge ihm die Pfote mit Mehl weiß machen.
Der Müller weigert sich, der Wolf droht, ihn zu fressen. «Da
fürchtete sich der Müller und machte ihm die Pfote weiß.» Und
dann heißt es, denkwürdig: «Ja, so sind die Menschen.»
Das Märchen erzählt. Es ist keine einfache Geschichte, sondern eine Fabel, das Erzählen im Märchen ein Fabulieren. Die
Tiere sind klug, der böse Wolf ebenso wie die sieben Geißlein,
erst recht die Mutter, die sogar chirurgisches Geschick beweist. Beinahe gelingt es, den Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden zu durchbrechen. Der Wolf ist böse, weil er
Wolf ist, die Geißlein gut, weil sie Geißlein sind. So ist es nun
einmal. Eingeführt als Nebenfiguren, erzählt das Märchen
von den Menschen: Sie sind – ganz anders als die Tiere –
gleichgültig, leichtgläubig und feige. Und ihre Gleichgültigkeit (Krämer), Leichtgläubigkeit (Bäcker) und Feigheit (Müller) gibt ihnen die Schuld am Geschehen: Hätten sie dem Wolf
nicht Kreide verkauft, die Pfote mit Teig und schließlich Mehl
bestrichen, der Wolf hätte keinen Erfolg gehabt. Das macht
die Erzählung des Märchens zur Anekdote: Die Menschen
sind nicht bloß Mittäter, sondern sie sind die eigentlichen Täter, die Schuldigen.
«‹Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch›,
sagt das Märchen. Das Märchen, das noch heute der erste
Ratgeber der Kinder ist, weil es einst der erste der Menschheit
gewesen ist, lebt insgeheim in der Erzählung fort. Der erste
wahre Erzähler ist und bleibt der von Märchen.» Walter Benjamin diagnostiziert, «dass es mit der Kunst des Erzählens zu
Ende geht». Erfahrung ist die Bedingung solcher Kunst. «Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der
alle Erzähler geschöpft haben.» Solche Erfahrung ist dem modernen Menschen zunehmend versperrt, ersetzt durch das
bloße Erlebnis oder vereitelt durch die alle Erfahrbarkeit übersteigende Gewalt der Geschichte. «Die Erfahrung ist im Kurse
gefallen … Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist.
Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, dass die Leute verstummt aus dem Felde kamen? Nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung.»
Benjamin schreibt das 1936. In Europa reagiert bereits der
faschistische, nationalsozialistische Terror, von der Sowjetunion ist keine Weltrevolution mehr zu erwarten, die spanische Revolution bleibt ein kurzer Sommer der Anarchie, der
nächste Weltkrieg bahnt sich an. Im Deutschen Reich ist die
Welt zu Gast bei den Olympischen Spielen. Mittlerweile ist die
alte Erzählkunst längst auch durch die neuen Kulturtechniken
ausgehebelt, die nun, in den dreißiger Jahren, erstmals als
Massenmedien benannt werden und als solche umfassend den
Alltag bestimmen: Rundfunk, Illustrierte und Magazine, Tonträger, das Kino – inwiefern auch hierbei eine kollektive Erfahrung, die der alten Kunst des Erzählens zugrunde liegt,
kontaminiert wird, beschreibt Benjamin in seinem Essay ‹Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit›, ebenfalls 1936 veröffentlicht, wie auch sein Text über
das Werk Nikolai Lesskow ‹Der Erzähler›.
2. — Verloren hätten wir, so Benjamin, «das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen». Das gilt allemal, seitdem narrative
Strukturen, in Schrift und Bild, in technologische Medien
überführt wurden. Der Austausch über gesellschaftliches Leben und Erleben vollzieht sich heute vollends als Kommunikation. «Erfahrung» ist durch «Information» ersetzt, «Information» wird konsumiert. Hatte das Kino der Kunst des Erzählens
noch ein Reservat gewährt, besiegelt das Fernsehen endgültig
das Verschwinden eben jener Erzählkunst, in der einmal kollektive Erfahrung beziehungsweise die Erfahrung des Kollektivs sich ausdrückte. Das Fernsehen beliefert uns mit der
«Welt», womit Erfahrung überflüssig wird, wie Günther Anders 1956 in der ‹Antiquiertheit des Menschen› konstatiert.
Die Welt, mit der wir beliefert werden, ist in konsumierbare
Informationen unterteilt, die als Waren funktionieren wie
jede andere Ware im Kapitalismus auch. Und im Gegensatz
zum Kino liefern Fernsehen und Radio diese Waren nun nicht
nur ins Haus, sondern es werden zugleich die notwendigen
Geräte als Waren mitverkauft – und zur Grundausstattung
des Individuums.
Es kommt nicht von ungefähr, dass postmoderne Theorien in
den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen ähnlichen Befund wie Anders bieten: Jean Baudrillard spricht 1972 von der Scheinwelt der Simulation und 1976
vom symbolischen Tausch, von der «totalen Austauschbarkeit
der Elemente»; Jean-François Lyotard analysiert 1979 die Ersetzung des Wissens durch Information, diagnostiziert in ‹La
Condition postmoderne› ein Ende der Großen Erzählung bzw.
der Metageschichte. Denn ab den späten Sechzigern und vor
allem dann frühen Siebzigern vollzieht sich eine Technologisierung des Lebens, die auch für den Niedergang der alten
Erzählkunst signifikant ist: Sukzessive werden die Entwicklungen von Farbfernsehen, Privatfernsehen, Heimvideo, Hi-
Fi, Compact Cassette, Digitalisierung (CompactDisc), «Ghettoblaster»,
Walkman,
Personal
Computer,
Satellitenübertragung, Funktechnik, Mobiltelefone, Internet
etc. nicht bloß in den Alltag implementiert, sondern konstituieren die Welt und Weltverhältnis.
rung und Computerisierung verliert sich diese «Medienspezifität» dieser Narrative, und es wird tendenziell gleichgültig,
ob man einen Film – und das gilt gerade für solche des klassischen Erzählkinos – auf der Großbildleinwand, im Fernsehen
oder als Online-Stream auf dem Computer sieht.
Benjamin nannte die Erzählung «eine gleichsam handwerkliche Form der Mitteilung. Sie legt es nicht darauf an, das pure
‹an sich› der Sache zu überliefern wie eine Information oder
ein Rapport. Sie senkt die Sache in das Leben des Berichtenden
ein, um sie wieder aus ihm hervorzuholen. So haftet an der
Erzählung die Spur des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale.» Freilich verlieren sich diese Spuren
im fortgeschritten Informationszeitalter (als technischer Ausdruck des Globalkapitalismus) gänzlich: die zur Kommunikation erhobenen technifizierten Formen der Narration beschränken sich nunmehr auf das «pure ‹an sich› der Sache»,
wie Benjamin meinte; übrig bleiben allein die «Narrative»,
akademisch sezierte Kadaverreste des alten Erzählens. Aus der
«handwerklichen Form der Mitteilung» wurde Design.
Seit einigen Jahren lassen sich allerdings Gegenbewegungen
beobachten, wonach es scheinbar Bemühungen gibt, die Medienspezifität von Kino und Fernsehen wieder zu stärken; freilich geht es dabei vorrangig, wenn nicht ausschließlich, um
ökonomische Interessen: In der sich ergänzenden Konkurrenz
sollen die einzelnen Sparten rentabel bleiben und zugleich den
Medienverbund stärken. Bei Benjamin heißt es: «Wer einer
Geschichte zuhört, der ist in der Gesellschaft des Erzählers;
selbst wer leist, hat an dieser Gesellschaft teil.» Wo die Erzählung durch die von Kommunikation und Information vorgegeben Narrative liquidiert ist, gehört es schlechterdings zum
Marketing, den Konsumenten in die Gesellschaft der so genannten Produzenten zu bringen: für die echten Fans, die FanGemeinde, gibt es die Special Edition DVD-Box, inklusive
Making-off, deleted Scenes plus irgendwelcher Gimmicks.
Das Narrative wird vom Produkt entkoppelt und über die Gesamtproduktion verstreut. Gerade das Special-Effect-Kino
verlagert die narrative Stringenz mehr und mehr aus den Filmen in die vielen Geschichten über technische Tricks und Probleme, die in Kommentaren und Interviews verraten werden
(exemplarisch dafür: der 3D-Film ‹Avatar›).
3. — Erzählen heißt, Zeit zu verwandeln. Das Kino adaptiert
dies. Schon Méliès bemühte sich, «Leinwandzeit (Dauer der
Projektion des Films auf die Leinwand) und die Realzeit (tatsächliche Dauer der dargestellten Ereignisse) zu trennen. Damit schuf er die Grundlage des narrativen Spielfilms», nämlich
das realistische Erzählkino, wie es für die Hochzeit Hollywoods bestimmend wurde. In der Nachkriegszeit verdrängt
das Fernsehen das realistische Erzählkino, löst es auf in einem
ideologischen Kino des mit Stereotypen illustrierten Naturalismus einerseits und mit Kitsch überladenen Illusionismus
andererseits. Anders gesagt: das Kino nähert sich dem Fernsehen an – es verwandelt die Zeit nicht mehr qualitativ, sondern
rein quantitativ (durchs TV wird Zeit zerlegt, in ProgrammEinheiten von Fakten und Fiktionen zergliedert). Gleichwohl
bringt diese Entwicklung ihre neuen Narrative hervor, deren
Typen für Film und Fernsehen Ende der siebziger Jahre paradigmatisch werden: Fürs Kino ist es die Renaissance des
Blockbusters (‹Star Wars›, aber auch Filme wie ‹Superman›,
‹Rocky›, ‹Saturday Night Fever›, etc.); fürs Fernsehen ist es die
Serie als Saga (‹Dallas›, ‹Dynasty›, auch ‹Roots› und ‹Holocaust›). Für diese je schon technifizierten Narrativ-Typen ist
allerdings noch bis in die neunziger Jahre hinein wesentlich,
dass sie auf entweder den Kinofilm oder das Fernsehen konzentriert bleiben – und in dieser Konzentration gleichsam ihre
narrative Kraft schöpfen. Erst mit zunehmender Digitalisie-
Auch das angeblich neue, so genannte «Quality TV», das mit
‹Sopranos› oder ‹Lost› vermeintlich «narrativ komplexe Serienformate» etabliert hat, kommt ohne funktionierenden Medienverbund und vernetzte Fan-Konsumenten nicht mehr aus:
Blogs und Wikis übernehmen dabei nicht nur die notwendige
Komplexitätsreduktion, sondern beleben die Serie in ihrem
Verlauf mit narrativen Beiwerk, überprüfen den Handlungsverlauf auf Kontinuität, registrieren Ungereimtheiten, sammeln Obskures, spekulieren über höheren oder tieferen Sinn
einzelner Episoden oder der ganzen Serie, oder erklären einfach bündig für Späteinsteiger, was bisher passierte.
4. — Die Anekdote ist ursprünglich, von griech. an-ék-dota =
«noch nicht Herausgegebenes», der Titel einer aus dem Nachlass eines byzantinischen Geschichtsschreibers herausgegebenen Schrift; im 17. Jahrhundert etabliert sich das Wort in Europa, findet sich zunächst in der französischen Sprache
(‹anecdote›). Die Anekdote gehört mit zu den Textformen (wie
Meditation, Essay, Bericht, Artikel etc.), die das Zeitalter der
Aufklärung vorbereiten. Gleichwohl lässt sich die Anekdote
im Sinne eines «Unveröffentlichten» auch kritisch als das deuten, was sich der Öffentlichkeit entzieht. Anekdoten sind
wirkliche oder mögliche Begebenheiten, können diskret oder
indiskret sein. Sie registrieren das Periphere der Geschichte,
erkennen das aber als ihre eigentliche Kraft.
Noch einmal Benjamin: Für die Figuren in einem Roman –
Benjamin stellt den Roman der Erzählung entgegen –, gelte,
«dass sich der ‹Sinn von ihrem Leben nur erst von ihrem Tode
her erschließt». Für die Figuren einer Erzählung ist es umgekehrt: ihr «Sinn des Lebens» erschließt sich aus ihrer Lebendigkeit selbst. Auf solche Lebendigkeit rekurriert die Anekdote. Insofern vermag sie noch heute zu bewahren, was einmal
die Erzählung begründete: Es ist die «große profane Auseinandersetzung mit dem Mythos», nämlich der – verzweifelte,
aber nicht ohnmächtige – Versuch des Menschen, «sich von
dem Leiden zu befreien».
Von diesem Versuch der Befreiung handelt die Anekdote: Sie
korrigiert das Verhältnis von Nebenfiguren und Hauptfiguren,
Nebensachen und Hauptsachen. Damit aktualisiert sie, dass
ursprünglich Geschichten und Geschichte, kleine Erzählung
und große Erzählung, Märchen und Historie ungeschieden
sind und eine Einheit darstellen, nämlich eine Einheit, in der
Bild und Begriff identisch sein könnten, als wirkliche Idee.
von Roger Behrens
Roger Behrens ist Autor und lebt in Hamburg,
gerne aber auch in Belo Horizonte.
Abseits der Modalitäten der technifizierten Narrative wird
damit allerdings ein Moment der alten Erzählkunst rehabilitiert: das Anekdotische. Und in der Anekdote spiegelt sich,
auch wenn sie hier technisch verschleiert ist, immerhin die
Rettung der Kunst des Erzählens: Sie weckt die verlorene Erfahrung, zumindest die Erinnerung an diese.
Das Ende
der
Geschichten
«Der Erzähler ist die Gestalt, in welcher Pierre Menard sich
selbst begegnet.» (Walter Benjamin: Der Erzähler)
I — Das Ende des Romans
In der vierten Ausgabe des n + I-Magazins reflektierte Benjamin Kunkel den Status des gegenwärtigen Romans: «Die meisten Romanautoren stehen in einer formalen Tradition, die
derart konservativ ist, dass sie sich anfühlt, als sei sie in Fleisch
und Blut übergegangen, und das Schreiben von Romanen (…)
hat sich im Vergleich zur Malerei und Bildhauerei, sowohl zur
populären als auch klassischen Musik, zur Lyrik und sogar
zum Theater, ganz zu schweigen von den jungen Künsten Fotografie und Film, auffallend wenig verändert.» Wo Kunkel
mit seiner Beobachtung, die meisten RomanautorInnen seien
einer konservativen oder zumindest traditionellen Ästhetik,
mithin einem (bürgerlichen) Realismus mit linearen Erzählmustern, einem respektierlichen Personal und noch possierlicheren Themen verpflichtet, vollkommen recht hat, da gilt es
diese Beobachtung doch auch auf die zum Vergleich herangezogenen künstlerischen Sphären auszuweiten, die sich ebenso
seit geraumer Zeit eines »rasenden Stillstandes« erfreuen.
Ganz zu schweigen von den Feldern, die Kunkel vergisst: Der
permanent beschworene, eklatante kulturelle Wandel hat mit
diesen neuen Medien («was habt ihr heute zu Hause / im Internet / beim Yoga so erlebt«-Foren, «das hab ich heute in der
Realität / in der Hyperrealität / beim Chiropraktiker so
erlebt»-Blogs, «das hab ich gerade in einem Forum / auf einem
Blog / in einem Tweet gelesen»-Twitter, «ich stelle einen Scan
dieses vintage, weil: analogen Fotos von dieser Nicht-Erfahrbarkeit / dieser Alltäglichkeit / diesem kaputten Mobilfunktelefon auf»-Flickr, «ich bin/war/werde gleich da (gewesen
sein)»-SMS, «da ist jemand ganz krass mit dem Skateboard /
dem Yogalehrer / dem Internet zusammengeprallt»-YouTubeVideos, «dieses Metagespräch über die Nichtfunktionalität
dieses Gadgets raubt mir die Zeit für meinen Blog/Twitter/
Flickr»-Skype, «kannst du mir den Link zu diesem Forum/
Blog/Briefroman noch mal schicken»-Email etc.) zwar zahlreiche vermeintlich neue Genres, jedoch nur wenig neue nichtbanale und nicht längst abgeschrittene Erzählformen und
-wege hervorgebracht. Und auch umgekehrt ist es im Roman
bisher weder Rainald Goetz noch Dietmar Dath oder sonstwem ansatzweise gelungen, Emails, SMS, Blogs, Twitter etc.
in Anlehnung an wahlweise den Briefroman oder Fotolovestorys zu einer stimmigen Erzählung zu verdichten. Wo, wie im
Falle des alltäglichen Horrors in der Scream-Reihe – um wahllos ein Beispiel, das nicht Tatort heißt, zu nennen – die je ak-
tuellste technische mobiltelefonische Erfindung dem Killer
zuspielt und so die (klassische, weil: lineare und vorhersehbare) Handlung vorantreibt, oder wie im Falle des nicht-alltäglichen Horrors von Möchtegern-Kafka-Imitatoren wie Thomas Glavinic oder Daniel Kehlmann die Technik in ihrem
inhärenten Versagen generell zu einer Bedrohung wird, da
wird diese bloße Erfahrung der Technik zu einem reaktionären Kulturpessimismus umgemünzt.
II — Das Ende der Erfahrung
Walter Benjamin bemerkte in seinem Essay über den Erzähler,
wie sehr die «Mitteilbarkeit der Erfahrung abnimmt. Infolge
davon wissen wir uns und andern keinen Rat.» Während einmal die Funktion der Erzählung im Rat-wissen und Rat-geben
lag, hat sich gegenwärtig eine formale Leere, ein Rückfall in
vermeintlich epische, serielle, vor allem aber zutiefst bürgerliche Erzählweisen breit gemacht, der von einer völligen Ratlosigkeit zeugt. Und diese wiederum von einer immer geringeren
unmittelbaren Erfahrung. Wo die Erfahrung sich auf das Lesen von Blogs über arabische Revolutionen, Bürgerkriege im
Nahen Osten und Foreneinträgen über YogalehrerInnen beschränkt, da haben die ErzählerInnen keine Erfahrung mehr,
aus der sie schöpfen könnten. Walter Benjamin beschreibt das
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Neue Erzählweisen — Fabrikzeitung Nr. 286
analog für die bürgerlichen Wurzeln des Romans: «Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr
exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und
keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben heißt, in der
Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable
auf die Spitze treiben. Mitten in der Fülle des Lebens und
durch die Darstellung dieser Fülle bekundet der Roman die
tiefe Ratlosigkeit des Lebenden.» Dies trifft freilich nicht bloß
auf Romane zu, sondern leider ebenso auf Serien und Filme,
Musik oder die kürzesten, da qua Medium beschränkten Formen der erzählerischen Mitteilung, SMS und Tweets – «Diese
neue Form der Mitteilung ist die Information» heißt es bei
Benjamin. Wie letztere, die vermeintlich Informationen verdichten, die gar keine mehr sind, sondern bloß noch ein permanenter Datenschleier, der in seiner Gänze nicht mehr durchblickt werden kann, ergeht sich auch die Musik (zumindest in
der Popkultur) in einer permanenten Wiederholung, einer Retrofizierung aus Samples, Remixen und Reissues, die nur noch
von jenen Techniken wie Pastiche, Collage, Persiflage, Remake, Parodie, Reenactment etc. übertroffen werden, die in
Literatur und filmischen Medien analog zur Popmusik die
Geisteshaltung der «Recreativity» bestimmen, der Simon Reynolds attestiert, dass «[d]ie Idee von Originalität und Innovativität (…) nicht nur obsolet, sondern schon immer nichts anderes als ein Mythos gewesen» sei.
III — Das Ende der Fiktion
Diese Verfahren der Imitation sind jedoch mitnichten neu. Als
Ausdruck einer literarischen und künstlerischen Avantgarde
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmten maschinelle Textproduktion, Copy&Paste / Cut-Ups und andere Eingriffe und Umformungen des Vorgefundenen die Werke z. B.
der SurrealistInnen, von Gertrude Stein und William S. Burroughs, der Pop Art, schließlich der Appropriation Art und
zahlreicher anderer KünstlerInnen und Kunstrichtungen, die
dem Zweifel der Subjekte an der «Realität» und erst recht der
Vermittelbarkeit und Mitteilbarkeit selbiger geschuldet waren. Absurderweise geriert sich hier die Originalität der Unoriginärität zur Unorginalität der Unoriginärität – das Kopieren wird endlos kopiert. Aus dem Gefühl der Verspätung – es
sei schon alles dagewesen und die angemessene Reaktion läge
in der verzweifelten Wiederholung dieses immer wiederholten
Dagewesenen –, wird die unendlich perennierende wiederholte Wiederholung des schon-Dagewesenen. Doch wo die erste
Wiederholung noch einen postmodernen Experimentiergeist
evozierte, bricht sich in der permanenten Wiederholung die
völlige Kapitulation zugunsten von Un-Originalität und UnKreativität Bahn. Vermeintlich originelle Erzählungen wie die
Serien The Wire, Deadwood, Game of Thrones oder The Walking Dead entlarven sich wahlweise als Comic-, Roman- oder
Bericht-Adaption. Selbst im Falle von Battlestar Galactica,
eine Serie, die wie keine andere gesellschaftspolitische und
religiös motivierte Konflikte, Kriege, Rassismus-Diskurse,
Arbeitskämpfe und ethische Fragen und Fragen der Kybernetik verhandelt, entpuppt sich als Remake bzw. als Re-Aktualisierung. (Lost oder Twin Peaks werden hier dem Argument
zuliebe, nicht aus persönlichen Präferenzen, geflissentlich ignoriert.) Beeinflussung oder Bezugnahme selbst, als Mimesis
dringlicher Teil der künstlerischen Produktion, ist für sich genommen freilich nicht verwerflich. All diesen Beispielen ist
jedoch gemein, dass sie auf der erzählerischen Makroebene
(von der Mikroebene einzelner Episoden abgesehen), um die
für das serielle Erzählen erforderliche epische Ausmaß zu erreichen, sich gänzlich etablierter, ja wieder: konservativer
oder im (bürgerlichen) Realismus verhafteter Erzählmuster
bedienen. (Es stellt keinen Widerspruch dar, dass sie als Science Fiction oder Fantasy «die Realität» negieren, wo sie in
ihrem narrativen Universum völlig kohärent, eben: realistisch,
erzählt sind.)
IV — Das Ende meiner kleinen Welt
Der Kulturpessimist in mir muss zugeben, dass auch die im
Brainstorming für dieses Essay erhofften Gegenspiele nicht als
Gegenbeispiele taugen. Die ausufernden Erzählungen (die
schiere Länge ist ein Affront gegen die Schnelllebigkeit und
verkürzte Aufmerksamkeitsspanne «der modernen Welt») von
Thomas Pynchon, Roberto Bolaño, Mark Z. Danielewski
oder David Foster Wallace bestechen zwar wahlweise durch
(Sprach)Witz, Raffinesse, Verweise/Zitate/Pastiches, Reflexionen über mindestens das eigene Medium, Identifikationspotenzial dank Nicht-Identifikation mit der post-postmodernen
Welt, absurde und reichlich originelle Figuren und dringliche,
unliebsame, (alt)kluge Themen und Beobachtungen, aber
auch wie alles zuvor genannte: gerade nicht durch auffallend
neue und zeitgemäße (das heißt: den medialen Möglichkeiten
gerecht werdende) und so nie dagewesene Erzählformen. Drei
der vier genannten Männer sind ohnehin zu alt oder tot (no
ageism intended). Mindestens genauso alt und tot wie Adorno,
der jedoch die durchweg aktuelle Forderung stellte: «Will der
Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie
es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der,
indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft.» Und im selben Text über den «Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman» fährt er fort:
«Kein modernes Kunstwerk, das etwas taugte und nicht an der
Dissonanz und dem Losgelassenen auch seine Lust hätte.» Für
Adorno war das Paradebeispiel dieser Dissonanz bekanntermaßen Beckett, dessen Originalität in dramatischen wie epischen Erzählungen sich zu guten Teilen auch aus sich Verweisen und Vorbildern speist – erstaunlicherweise finden in der
Gegenwart keine mir bekannten Beispiele, die im endlosen
Kopieren wenigstens Becketts Projekt der Absurdität und Ausgeliefertheit aufgreifen oder ähnlich versiert zu verhandeln (d.
h.: erzählen) versuchen.
V — Der Tod in der Erzählung
Auf einem in diesem formlosen Essay noch nicht genannten
digitalen Poesiealbum habe ich kürzlich die Information mitgeteilt, meine Katze sei gestorben. Die aus Bild und Text bestehende, autobiografische Kurz-Erzählung hat mir keine
«Likes» gebracht. Stattdessen wurde die vermeintliche NichtErfahrbarkeit von Trauer plötzlich medial und hyperreal vermittelt. Hier entlarven sich erneut die Leere und die Grenzen
der Vermittelbarkeit von Erfahrung, die sich auf eine bloße
Information reduziert, die auf nicht als auf sich selbst verweist. Zumindest für die westliche Welt hat Benjamin das Verschwinden des Todes bereits als Ausdruck dieser fortschreitenden Verarmung an Erfahrung und Mitteilbarkeit ausgemacht:
«Der Gedanke der Ewigkeit hat von jeher seine stärkste Quelle im Tod gehabt. Wenn dieser Gedanke schwindet, so folgern
wir, muß das Gesicht des Todes ein anderes geworden sein. Es
erweist sich, daß diese Veränderung die gleiche ist, die die Mitteilbarkeit der Erfahrung in dem Grade vermindert hat, als es
mit der Kunst des Erzählens zu Ende ging.»
VI — Endlose Appropriation
Sehr geehrter Pierre Menard, haben Sie sich je gefragt, ob die
Literatur einen anderen Weg eingeschlagen hätte, wenn sie mit
ihrer Re-Aktualisierung des «Don Quixote» nicht der Appropriation Art Tür und Tor geöffnet und damit der Unoriginalität einen Freibrief überreicht hätten? Mit freundlichen Grüßen, Chris Wilpert
VII — Appropriation nach dem Ende
Lieber Herr Wilpert, vielen Dank für Ihre Mail. Tatsächlich
spiele ich mit dem Gedanken, Kathy Ackers «Don Quixote»
neu zu schreiben, da sich, wie seinerzeit mit dem Cervantes‘
Text, den Benjamin zurecht als «[d]as erste große Buch der
Gattung» Roman identifiziert hat, auch in den ca. 30 Jahren
seit Ackers Text, das Zeichensystem soweit verändert hat, dass
ich es für legitim und «neu» halte, diesen Text noch einmal zu
schreiben – und sei es nur, damit er wieder gelesen wird. Herzliche Grüße, Ihr Pierre Menard
VIII — Nachsatz
«Haben Sie bemerkt, daß der Autor in diesem ‹Essay› durchaus nicht handeln darf, daß er einzig dazu verurteilt ist, zu
gehen, nachzudenken, zu fragen und zu antworten?» (Osip
Mandelstam: Entwürfe zum «Gespräch über Chris Wilpert»
(Notizbuch))
von Chris Wilpert
Chris Wilpert ist Literaturwissenschaftler
und promoviert über Thomas Harlan
FIN
doorbell
Tony puts coins in the Jukebox
Tony looks towards the door
Carmela enters Holstens
Tony: «Hey»
Tony puts two menus on the table
Carmela joins Tony
Carmela: «Hey»
just a small town girl, livin‘ in a lonely world
she took the midnight train goin‘ anywhere
Tony looks at the menu
Carmela looks at the menu
Tony: «I don‘t know»
Carmela: «What looks
good tonight?»
just a city boy, born and raised in south Detroit
he took the midnight train goin‘ anywhere
03:10
03:15
03:20
AJ: «All I‘m doing is getting coffee
and placing endless phone calls.»
AJ: «Right, focus
on the good times.»
Tony: «It‘s an entry-level job. So buck up.»
Carmela: «How was work today?»
03:25
03:30
03:35
AJ: «Isn‘t that what you said one time....
Try to remember the times that were good?»
Tony: «Don‘t be sarcastic.»
Tony: «I did?»
03:40
03:45
03:50
AJ: «Yeah»
Tony: «Well, it‘s true, I guess.»
Tony looks towards the shady looking guy
Carmela: «You may not realize it but
you are making contacts.»
shady looking guy walks towards Tony
Some will win, some will lose
Some were born to sing the blues
Oh, the movie never ends
It goes on and on and on and on
(Chorus) Strangers waiting, up and down the boulevard
Their shadows searching in the night
shady looking guy walks
to the restroom
Streetlights people, living just to find emotion
Hiding, somewhere in the night.
03:

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