Benzodiazepinabhängigkeit

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Benzodiazepinabhängigkeit
Benzodiazepinabhängigkeit
Rüdiger HOLZBACH
Zusammenfassung
Obwohl Benzodiazepinabhängige nach den Nikotin- und den Alkokolabhängigen die drittgrösste
Suchtgruppe darstellen, werden sie im Suchthilfesystem kaum behandelt. Benzodiazepinabhängige
fühlen sich nur selten abhängig , weil sie und auch die ÄrztInnen die Symptome einer langfristigen
Benzodiazepineinnahme nicht erkennen. Diese Symptome zeigen sich typischerweise in einer leichten
kognitiven Beeinträchtigung, einer fehlenden körperlichen Spannkraft und einem Mangel an einer
spürbaren gefühlsmässigen Beteiligung an ihrer Umwelt. Um den PatientInnen zu helfen, ihre
Situation zu erkennen und eine Entzugsmotivation aufzubauen, ist es wichtig, dass die behandelnden
ÄrztInnen ihnen die Symptome in Form von sachlichen Information spiegeln.
Benzodiazepine sind hoch wirksame Psychopharmaka. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass sie von
ÄrztInnen gerne und häufig abgegeben werden. Allein 1996 wurden in Deutschland ca. 660 Millionen
Tagesdosen verschrieben.
Die Schattenseite der Benzodiazepine liegt in ihrem hohen und noch immer unterschätzten
Suchtpotenzial. Alleine in der Bundesrepublik sind 1-1,2 Millionen Menschen benzodiazepinabhängig
(Glaeske, 1996). Im Vergleich dazu gibt es 2,5-3 Millionen Alkoholabhängige. Es wäre also zu
erwarten, dass auf zwei Alkoholentzüge etwa ein Benzodiazepinentzug kommt. Das tatsächliche
Verhältnis der Benzodiazepinentzüge ist jedoch deutlich niedriger: Auf 10 Alkoholentzüge kommt 1
Benzodiazeptinentzug.
Motivation zum Entzug von Benzodiazepinen
Benzodiazepinabhängige lassen sich in drei Untergruppen unterteilen, die nach ihrer Grösse
gegliedert sind:
•
•
•
Alkoholabhänge, die zusätzlich oder anstelle von Alkohol Benzodiazepine konsumieren
PatientInnen, die ausschliesslich von Benzodiazepinen abhängig sind
Polytoxikomane
Hauptsächlich den PatientInnen, die nur von Benzodiazepinen abhängig sind, fehlt das
suchtspezifische Krankheitskonzept. Deshalb sind sie nur selten für eine Entzugsbehandlung
motiviert. Sie erkennen ihre Abhängigkeit in der Regel nicht. Sie halten den Rückgang der
Benzodiazepinwirkung und die Entzugssymptome für eine Verschlechterung der Symptomatik, die
ursprünglich zur Einnahme führte. Die Verschreibung durch den Arzt/die Ärztin und die Einnahme als
Medikament lassen die Benzodiazepine zudem als Heilmittel erscheinen und versperren u.U. den
Blick auf die Abhängigkeit. Viele ÄrztInnen und Betroffene wissen nicht um die Folgen einer
langfristigen Benzodiazepineinnahme (Kasten 1). Sie halten den Benzodiazepinkonsum nur dann für
problematisch, wenn die Medikamente wahllos, d.h. ausserhalb der Verschreibung eingenommen
werden. Medikamentenabhängige haben jedoch oftmals schon seit Jahren einen suchtbedingten
Kontrollverlust, der aber durch die äussere feste Verschreibung (z.B. «Rezept muss für zwei Wochen
reichen») kontrolliert wird.
Da Tabletten «keine Fahne machen» und Intoxikationserscheinungen nicht erkannt werden, fallen
Benzodiazepinabhängige über Jahre nicht als Abhängige auf. Verändertes Verhalten wird nicht mit
einer Sucht in Verbindung gebracht, sondern den Betroffenen selber zugeschrieben. Im Gegensatz zu
Alkoholabhängigen werden Medikamentenabhängige deshalb kaum von ihrem Umfeld auf den
Suchtmittelkonsum angesprochen. Es werden ihnen deshalb auch keine negative Konsequenzen
angedroht (z.B. Trennung des Partners/die Partnerin, Kündigung).
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Zeichen einer chronischen Benzodiazepin-Einnahme
Kasten 1
•
•
•
•
•
•
•
affektive Indifferenz
dysphorische Verstimmungszustände
Überforderung bzw. Vermeidung von neuen oder belastenden Situationen
Kritikschwäche
Appetitlosigkeit
Vergesslichkeit und psychische Leistungsminderung
muskuläre Schwäche, ggf. mit Reflexverlust
Faust, Baumhauer, 1998
Typische Symptome der Benzodiazepinabhängigkeit
«Typische Benzodiazepinabhängige» erscheinen kognitiv leicht beeinträchtigt, ohne körperliche
Spannkraft und spürbare gefühlsmässige Beteiligung an ihrer Umwelt. Diese Veränderungen bewirken
bei den Abhängigen keinen spürbaren Leidensdruck, weil sie die Symptome nicht richtig zuordnen
können.
Erkennen ÄrztInnen die Benzodiazepinabhängigkeit beim Erstkontakt oder im Verlauf einer
Behandlung, so ist es wichtig, die PatientInnen darauf anzusprechen. Gerade die Spiegelung der
Symptome kann den PatientInnen helfen, eine Entscheidung gegen die weitere
Medikamenteneinnahme zu treffen.
Es ist wichtig, diese Spiegelung in Form von sachlichen Informationen (statt von Vorwürfen) zu führen.
Die Informationen beinhalten die Einschätzung der Abhängigkeitsdiagnose und die Darstellung der
Folgen einer langfristigen Benzodiazepineinnahme (Kasten 1). Damit die PatientInnen das Motiv der
Konfrontation erkennen können, ist es wichtig, dass die ÄrztInnen ihre Besorgnis deutlich
aussprechen. Wenn die PatientInnen als Folge der Spiegelung die Beschwerden mit dem
Benzodiazepin-Konsum in Zusammenhang bringen, kann ein Leidensdruck entstehen, der wiederum
zu einer Entzugsmotivation führen kann.
Sind die PatientInnen für einen Entzug motiviert, sollte der Arzt/die Ärztin ihre
Behandlungsvorstellungen und ihre Selbsteinschätzung kennen lernen, bevor das weitere Vorgehen
geplant werden kann.
Erst dann ist es Zeit, um einen Gesamtbehandlungsplan zu entwerfen, in dem die Vorstellungen der
PatientInnen berücksichtigt werden. Im offenen Gespräch zeigen Fragen und mögliche Bedenken zum
Behandlungsplan schnell, wie gross die Motivation zum Entzug und zu einer weiterführenden
Behandlung ist. Es ist wichtig, dass die Entzugsmotivation stark ist, denn die Phase des Entzuges
stellt für die PatientInnen oftmals eine schwere Belastung dar. Sie müssen über die zu erwartenden
Schwierigkeiten beim Entzug ohne Beschönigung aufgeklärt werden, damit sie wissen, worauf sie sich
einlassen. Ein abgebrochener Entzug verzögert die Dauer bis zum nächsten Entzug mehr als eine
längere Überlegungsphase.
Der Benzodiazepinentzug
Einige Autoren zweifeln an der Existenz einer Benzodiazepinabhängigkeit (Überblick bei Ashton,
1984). Sie werten die Entzugserscheinungen als ein Wiederauftreten der Beschwerden, die
ursprünglich zur Einnahme der Benzodiazepine geführt haben. Klar gegen diese These spricht aber
das Auftreten von Entzugssymptomen, welche die PatientInnen vor der Benzodiazepineinnahme nicht
gekannt haben (z.B. Sehstörungen, epileptische Anfälle). Winokur et al. (1980) konnten diese
Symptome in einer Doppelblindstudie auch für die Niedrigdosis-Abhängigkeit (<20mg Diazepam)
nachweisen.
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Je nach Halbwertszeit der Substanz muss zwei bis fünf Tage nach der Reduktion mit dem Beginn
deutlicher Entzugssymptome gerechnet werden. Der Benzodiazepinentzug dauert in der Regel
wesentlich länger und hat ein anderes Entzugssymptomspektrum (Tabelle 1) als der Alkoholentzug.
Vegetative Symptome spielen eine untergeordnete Rolle. Die PatientInnen leiden unter affektiven
Schwankungen, sind unausgeglichen und reizbar, können kurzzeitig aber auch euphorisch sein. Sie
nehmen ihre Umwelt und ihren Körper z.T. verändert wahr, was wiederum ihre Affektivität belastet.
Tabelle 1
Entzugssymptome und ihre Häufigkeit
Unspezifische Symptome
Schlafstörungen
Angst
Dysphorie
Muskelschmerzen/Zuckungen
Tremor/Zittern
Zephalgien/Kopfschmerzen
Nausea/Brechreiz/Appetit- u. Gewichtsverlust
Schwitzen
Verschwommenes Sehen
Perzeptionsstörungen
Überempfindlichkeit
• gegen Geräusche
• gegen Licht
• gegen Geruch
• gegen Berührung
Unterempfindlichkeit
• gegen Geruchsreize
• gegen Geschmacksreize
Qualitative Veränderung
• Kinästhetisch
• Optisch
• Gustatorisch
• Akustisch
• Olfaktorisch
Sonstige
Depersonalisation/Derealisation
Komplikationen
Psychosen
Epileptische Anfälle
Häufigkeit in %
71
56
49
49
38
38
36
22
20
38
24
15
7
15
4
>24
>13
13
2
2
24
7
4
Schöpf, 1983, Laux, 1995
Eine weitere Besonderheit des Benzodiazepinentzuges sind die sogenannten prolongierten
Entzugssymptome. Über Wochen bis Monate leiden die PatientInnen an Phasen, in denen die
Entzugssymptome wieder auftreten, wobei die Frequenz und Intensität der Symptome langsam
abnimmt. Es handelt sich dabei vermutlich um ein ähnliches Phänomen, wie dem «Suchtdruck» bei
Alkoholabhängigen.
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Auch bei der Niedrigdosis-Abhängigkeit treten sowohl Entzugssymptome (Covi et al., 1973) als auch
prolongierte Entzugssymptome (Schöpf, 1981; Ashton, 1987) auf.
Die Entzugsbehandlung
Wegen des Risikos für einen cerebralen Entzugs-Krampfanfall und sehr starker
Entzugserscheinungen sollten Benzodiazepine nicht schlagartig abgesetzt, sondern langsam
ausgeschlichen werden. Lange Zeit galt es als Standard, die Dosis alle drei Tage zu halbieren. Heute
gibt es eine Vielfalt weiterer Methoden, z.B. eine Reduktion von täglich 5mg oder 10%, oder eine
Reduktion nach Wunsch der PatientInnen.
Es ist empfehlenswert, kurz wirksame Benzodiazepine für den Entzug durch lang wirksame zu
ersetzen (Tabelle 2). So können Schwankungen des Plasmaspiegels vermindert werden und die
Abbruch-Quote und die frühe Rückfallrate sinkt (Murphy u. Tyrer, 1991; Rickels et al., 1990).
Tabelle 2
Halbwertszeiten und Metabolite
I.
Lange Halbwertszeit und lang wirksame aktive Metabolite
Diazepam (20-40 h)
Nordiazepam (36-200 h)
Chlordiazepoxid (5-30 h)
Oxazepam (4-15 h)
Demoxepam (ca. 45 h)
Nordiazepam (36-200 h)
Dikaliumchlorazepat (1-2 h)
Oxazepam (4-15 h)
Nordiazepam (36-200 h)
Metaclazepam (ca. 7-23 h)
Oxazepam (4-15 h)
Desmethylmetaclazepam (ca. 10-35 h)
Prazepam (ca. 1,5 h)
Nordiazepam (36-200 h)
Clobazam (12-60 h)
Oxazepam (4-15 h)
Desmethylclobazam (50-100 h)
II.
Mittlere bis kurze Halbwertszeit und aktive Metabolite
Alprazolam (10-15 h)
Bromazepam (10-20 h)
Clotiazepam (3-15 h)
Hydroxyalprazolam (12-15 h)
Hydroxybromazepam (kurz)
Desmethylclotiazepam
Hydroxyclotiazepam (ca. 18 h)
III.
Mittlere bis kurze Halbwertszeit ohne aktive Metabolite
Lorazepam (8-24 h)
Oxazepam (4-15 h)
Triazolam (1,5-5 h)
Mod. nach Benkert, Hippius, 1995
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Zur Hilfe beim Entzug hat sich die Abgabe von Carbamazepin bewährt (Klein et al., 1986). In einigen
Studien wurden unter Carbamazepin-Schutz die Benzodiazepine z.T. schlagartig abgesetzt (Ries et
al., 1989 u. 1991, Schweizer et al., 1991, Di Costanzo et al., 1992; Kaendler et al., 1996), was eine
signifikante Senkung der Entzugserscheinungen bewirkte.
Eher in den Bereich der Glaubensfragen gehört die Diskussion um die Vorteile des «verdeckten» oder
«offenen» Entzugs. Damit die PatientInnen weniger Angst vor Entzugserscheinungen haben und sie
die ÄrztInnen nicht in Diskussionen um die Dosis verwickeln, erfahren sie beim «verdeckten Entzug»
ihre aktuelle Dosierung nicht Allerdings setzt dies ein «blindes Vertrauen» der PatientInnen zu den
BehandlerInnen voraus. Auch entfällt ohne Diskussion um die Dosis die Möglichkeit einer Spiegelung
des süchtigen Verhaltens. Dagegen können die ÄrztInnen die Erwartungsangst und das «Feilschen
um die Dosis» beim «offenen Entzug» therapeutisch nutzen. Die PatientInnen können ihre
abhängigen Verhaltensweisen leichter erkennen und bearbeiten. Der «offene Entzug» sollte deshalb
nur im Rahmen von qualifizierten Entzugs-Einrichtungen erfolgen. (In unsererm Stations-Team gab es
heftige Diskussionen, bevor wir versuchsweise von einem verdeckten auf einen offenen Entzug
umstellten. Der tatsächliche Unterschied im Umgang mit den PatientInnen erwies sich allerdings als
gering.)
Nur wenn sich die PatientInnen einen ambulanten Entzug zutrauen und nur wenn eine engmaschige
Betreuung der PatientInnen möglich ist, kann ein ambulanter Entzug ins Auge gefasst werden. Eine
ambulante Entzugsgruppe ist dabei von grosser Hilfe, da sich die PatientInnen gegenseitig
unterstützen können. Grundsätzlich sollte die Benzodiazepin-Reduktion ambulant langsam erfolgen.
Als Richtlinie können die Reduktionsschritte aus Kasten 3 dienen. Allerdings sollte der Abstand der
Reduktion auf drei bis sieben Tage gestreckt werden.
Die Behandlung Benzodiazepinabhängiger an der Universität Hamburg
Von 1979 bis 1984 behandelten wir Alkohol- und Medikamentenabhängige in einer PsychotherapieStation an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Hamburg. Seit 1985 werden
die Alkohol- und Medikamentenabhängigen auf einer speziellen Station mit 21 Betten
zusammengefasst. 1998 entzogen bei uns 345 PatientInnen. Davon waren 280 ausschliesslich
alkoholabhängig, 41 alkohol- und benzodiazepinabhängig und 24 ausschliesslich
benzodiazepinabhängig. Von Seiten der Krankenkassen ist die Aufenthaltsdauer für Alkoholabhängige
im Regelfall auf drei, für Medikamentenabhängige auf sechs Wochen begrenzt.
Für 8-12 PatientInnen mit Doppeldiagnose (Sucht und weitere psychiatrische Störung) boten wir bis
1995 eine zehnwöchige Therapie an. Wegen Schwierigkeiten mit den Kostenträgern mussten wir
dieses Therapieangebot einstellen.
Im Sommer 1999 gründeten wir unsere Institutsambulanz für Alkohol- und Medikamentenabhängige.
Sie nimmt verschiedene Aufgaben wahr, wie diagnostische Abklärung, Motivation, Vorbereitung des
Entzuges, Durchführung des ambulanten Entzuges, Überbrückung von Wartezeiten auf
weiterführende stationäre Therapien nach dem Entzug sowie ambulante Therapie bei chronisch
mehrfach beeinträchtigten Alkohol- und Medikamentenabhängigen. Bisher haben wir ambulant etwa
50 Benzodiazipinentzüge durchgeführt.
Ziel der Behandlung
Neben einem schonenden und komplikationslosen Entzug legen wir den Schwerpunkt der stationären
Behandlung auf die Motivation unserer PatientInnen für weiterführende Behandlungsschritte. Wir
wollen im Rahmen des qualifizierten Entzuges die Krankheitseinsicht über eine Auseinandersetzung
mit der Sucht stärken. Zudem informieren wir die PatientInnen über weiterführende
Behandlungsmöglichkeiten. Das verbindliche Stationsprogramm umfasst verhaltenstherapeutisch und
psychoedukativ orientierte Gruppensitzungen, Einzelgespräche, Informationsvermittlung über Sucht
und deren Behandlungsmöglichkeiten, Entspannungstechniken, Ergotherapie, Physiotherapie,
Selbsthilfegruppen und die selbstorganisierten Bereiche des Stationsalltages. So wollen wir einerseits
helfen, die Angst vor einer Therapie abzubauen, andererseits werden erste oder auch weiterführende
Theapieschritte schon in der Zeit des Entzuges möglich. Wir möchten die PatientInnen anhand dieser
Erfahrungen und umfangreicher Informationen in die Lage versetzen zu entscheiden, welche
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Veränderungen sie vornehmen wollen (z.B. das Schaffen einer suchtmittelfreien Zone oder das offene
Ansprechen der Sucht im Umfeld). Aber wir wollen die PatientInnen auch bei der Entscheidung
unterstützen, Hilfestellungen für das zukünftige suchtmittelfreien Leben zu planen, z.B. den Kontakt zu
einer Vorsorgeeinrichtung, Selbsthilfegruppe, ambulanten Therapie aufzunehmen, etc.).
Zielgruppen und Aufnahme
Wir nehmen PatientInnen über 18 Jahre auf, die von Alkohol und/oder Medikamenten abhängig sind
und davon entziehen wollen. In den letzten drei Monaten vor dem Entzug darf kein Missbrauch oder
keine Abhängigkeit von illegalen Drogen (ausser Cannabinoiden) bestanden haben. Die
Voraussetzung für eine Aufnahme ist der Wunsch nach Abstinenz (auch von Cannabinoiden).
Die Aufnahme erfolgt auf drei Arten. Einige PatientInnen melden sich telephonisch an (Kasten 2),
andere stellen sich persönlich in der klinikeigenen Institutsambulanz vor und die Dritten kommen als
Notfall über die zentrale Notfallambulanz zu uns. Ausser in Notfällen kann es zu Wartezeiten von bis
zu einer Woche kommen.
Kasten 2
Telephon-Check Aufnahme (leicht verkürzt)
Was müssen wir wissen?
• Welche Suchtmittel (Alkohol, Tabletten, weiche und harte Drogen) aktuell und früher?
• Wie oft stationär entzogen?
• Schon mal hier entzogen, falls ja – wann?
• Wann und wo letzter Entzug?
• Warum jetzt Entzug?
• Komplikationen in vorausgegangenen Entzügen?
>
>
Bei Zweifel an Angaben oder Indikation an die Ambulanz zur
persönlichen Beratung verweisen
Anmeldungen von Beratungsstellen direkt auf Warteliste oder ggf.
direkt aufnehmen
Was müssen die PatientInnen wissen?
•
Regelbehandlung 3 bzw. 6 Wochen
•
Mind. 1 Woche kein Ausgang
•
Gruppen-Gespräche (qualifizierter Entzug)
•
•
2-3 Bett-Zimmer
möglichst wenig Promille/Tabletten
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Motivation und Behandlung
Ein oder zwei ambulante Vorgespräche dienen der Anamneseerhebung, Diagnostik,
Motivationsprüfung und Behandlungsplanung. Für PatientInnen, die sich noch nicht für einen Entzug
entscheiden können, weil sie z.B. mehr Informationen brauchen oder ambulant entziehen wollen,
haben wir seit diesem Jahr auch ein ambulantes Gruppenangebot aufgebaut. In der 6-wöchigen
offenen Gruppe, die wöchentlich 90 Minuten beansprucht, werden Informationen zu sechs
Themenbereichen vermittelt:
1. Therapeutischer Einsatz von Benzodiazepinen; Zeichen und Folgen langfristiger BenzodiazepinEinnahme
2. Zusammenwirken von Abhängigkeit, Angst und Depression
3. Süchtiges Verhalten und mögliche Bewältigungsstrategien
4. Andere Medikamente mit Suchtpotential
5. Entzugssymptome
6. Informationen über Psychotherapie und Entwöhnungstherapie.
Während der ersten halben Stunde geben wir Informationen zu den verschiedenen Themen. Diese
dienen als Ausgangsbasis für die PatientInnen, sich im Gruppengespräch mit der eigenen Situation
auseinander zu setzen und Rat und Unterstützung von anderen Betroffenen zu erhalten.
Unabhängig davon, ob der Entzug stationär oder ambulant erfolgt, werden die PatientInnen bei einer
Hochdosis-Abhängigkeit (>20mg Diazepam-Äquivalenz-Dosis) auf Carbamezepin eingestellt, bei
Unverträglichkeit auf Valproat (Kasten 3). Das gewohnte Benzodiazepin wird mit Diazepam ersetzt
(Diazepam-Äquivalente s. Tabelle 3).
Tabelle 3
Äquivalenztabelle für Benzodiazepine
Wirkstoff
Diazepam
Alprazolam
Bromazepam
Brotizolam
Chlordiazepoxid
Clobazam
Clonazepam
Clotiazepam
Diazepam
Dikaliumclorazepat
Flunitrazepam
Flurazepam
Loprazolam
2/2000 SFA / A+S
1,5mg
6mg
0,5mg
20mg
20mg
2mg
5mg
10mg
20mg
0,75mg
30mg
1,5mg
Lorazepam
2mg
Lormetazepam
1,5mg
Medazepam
20mg
Midazolam
7,5mg
Nitrazepam
5mg
Nordazepam
20mg
Oxazepam
50mg
Prazepam
20mg
Temazepam
20mg
Tetrazepam
50mg
0,5mg
Triazolam
*Die angegebene Dosis entspricht etwa 10mg Diazepam
Poser, Poser, 1996
Auf unserer Station bestehen zwei Behandlungsgruppen à 10-12 PatientInnen. Alle
Medikamentenabhängigen werden gemeinsam in der selben Gruppe behandelt. In der Regel werden
so mindestens zwei bis drei benzodiazepinabhängige PatientInnen gleichzeitig entzogen.
Die PatientInnen nehmen ab dem zweiten Behandlungstag an dem oben skizzierten
Behandlungsprogramm Teil. Unter Carbamazepin-Schutz reduzieren wir ab dem dritten
Behandlungstag die Benzodiazepin-Dosis (Kasten 3).
Kasten 3
Stationäre Benzodiazepin-Entzugsbehandlung im Überblick*
Umstellung auf Diazepam
Die ersten zwei Tage bisherige Menge (in Diazepam-Äquivalent) in Diazepam weitergeben
(Umstellung auf Diazepam, weil längere Halbwertszeit (= Absinken des Spiegels über 24 Std.
gleichmässiger) – ggf. «realistischere» Einstufung, max. aber 60mg.
Reduktionsschema Diazepam ab 3. Tag
•
•
•
Bei Dosierung über 20mg tägliche Reduktion um 10mg
Ab 20mg in täglichen 5mg-Schritten
Ab 10mg tägliche Reduzierung um 2,5mg
2,5
2,5
2,5
0
2,5
0
0
2,5
2,5
2,5
0
0
2,5mg
2,5mg
2,5mg
0mg
Carbamazempin-Schutz bei High dose dependency
(>20 mg Diazepam-Äquivalenzdosis)
Ab Aufnahmetag Einstellung auf Carbamazepin (Ziel 4-8µg/ml Serumspiegel nach A Wo.)
1. Tag
2. Tag
Ab 3. Tag
0
200
200
0
0
0
0
0
200mg Tegratel® ret
200mg Tegratel® ret
400mg Tegratel® ret
Alternativ (bei Unverträglichkeit) Valproat (Ziel 50-100µg/ml Serumspiegel nach 2 Tagen)
2/2000 SFA / A+S
1.Tag
2.Tag
3.Tag
0
300
600
0
0
0
300
0
0
300mg Orfiril® ret
600mg Orfiril® ret
900mg Orfiril® ret
Falls nicht mittel-/langfristige Behandlung mit Carbamazepin bzw. Valproat geplant ist, nach letzter
Diazepamgabe EEG und bei unauffälligem Befund schrittweise Reduktion alle 2 Tage um 200mg
Carbamazepin bzw. 300mg Valproat. Nach letzter Carbamazepin- bzw. Valproat-Gabe erneutes
EEG.
Bei vorzeitigem Entlassungswunsch entweder gesicherte ärztliche Weiterbehandlung oder Entlassung
gegen ärztlichen Rat.
*ambulant deutlich langsamer reduzieren, orientiert an Möglichkeiten des PatientInnen
Insbesondere bei den letzten zwei Reduktionsschritten treten am meisten Entzugserscheinungen auf.
Wir legen Wert darauf, nicht nur den Betroffenen die Besonderheiten des Benzodiazepinentzuges zu
erklären, sondern auch den «nur» alkoholabhängigen MitpatientInnen, da diese aufgrund der
«Dünnhäutigkeit» und Gereitzheit ihrer MitpatientInnen im Medikamente-Entzug mit diesen in Konflikt
geraten können.
Die Begleitung des Entzugs mit Carbamazepin hat sich bewährt. Wir haben bisher keine
Zusatzmedikation wegen Unruhe oder Schlafstörungen gebraucht.
Häufige Kontakte während des Entzugs
Eine Überwachung der psychovegetativen Entzugserscheinungen führen wir weniger aus
medizinischer Notwendigkeit durch, sondern nehmen sie vielmehr zum Anlass für einen mehrfachen
täglichen Kontakt. Wir beobachten die besonderen Symptome des Benzodiazepinentzuges sorgfältig,
um mit den PatientInnen entsprechend einfühlsam umgehen zu können.
Wir schleichen das Carbamazepin nach dem eigentlichen Entzug rasch aus, bevor eine langfristige
Gewöhnung an die Substanz vorliegt. Falls sich die Symptome des prolongierten Entzuges dabei
verstärken sollten, geben wir das Carbamazepin im Einzelfall bis zu einem Jahr weiter.
Nach dem völligen Absetzen der Benzodiazepine untersuchen wir die PatientInnen zunächst noch
engmaschig weiter, weil die Halbwertszeit der langwirksamen Benzodiazepine bis zu über einer
Woche dauert und weil es zudem zur Freisetzung von Benzodiazepinen aus «Fett-Depots» kommen
kann. Um neben dem klinischen Eindruck ein Rational zur Beurteilung zu haben, ziehen wir ein EEG
zur Beurteilung bei. Untersuchungen der Urin-Konzentration haben sich bei uns nicht bewährt, da die
Werte durch mehrere Faktoren wie Sport, Trinkmenge, Körpergewicht etc. beeinflusst werden.
In den ersten zwei Wochen nach Absetzen der Benzodiazepine zeigen die PatientInnen häufig eine
deutliche Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit und der affektiven Schwingungsfähigkeit.
Bei stationären Entzügen halten wir die PatientInnen in dieser Zeit noch in stationärer Behandlung,
damit sie sich in Bezug auf ihre subjektiv veränderten Wahrnehmungen und Empfindungen ohne
Benzodiazepine neu orientieren können.
Bei ambulanten Entzügen reduzieren wir die Benzodiazepine langsamer. Wir bestellen die
PatientInnen mindestens zweimal wöchentlich zur ärztlichen Untersuchung und verbinden diese mit
einem Gespräch.
Besteht gleichzeitig zu der Benzodiazepinabhängigkeit eine Abhängigkeit von Alkohol, so empfehlen
wir den PatientInnen, zunächst den Alkohol abrupt abzusetzen, jedoch die Benzodiazepin-Dosis
unverändert zu lassen oder sogar leicht zu erhöhen. In der Regel fangen wir dadurch die
Entzugssymptome ausreichend ab, lediglich Blutdruck-Erhöhungen machen manchmal eine
entsprechende internistische Medikation notwendig. Wir raten dringend von einer Kombination von
Benzodiazepin und Clomethiazol (Distraneurin®) ab, da beide sedierend und in höheren Dosen
atemdepressiv wirken und sich so Nebenwirkungsrisiken unkalkulierbar summieren können. Nach
dem Alkoholentzug fahren wir mit dem Benzodiazepin-Entzug wie oben beschrieben fort.
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Mit Abschluss des qualifizierten Entzuges darf die Behandlung nicht aufhören. Selbsthilfegruppen,
Nachsorge-Gruppen, Entwöhnugstherapie oder eine Einzeltherapie sind die
Hauptbehandlungsmöglichkeiten. Pharmakologisch orientiert sich die Behandlung an den klinischen
Symptomen und einer allfälligen weiteren psychiatrischen Erkrankung. Eine spezifische Ersatz- oder
Rückfallschutz-Substanz gibt es nicht. Die Zahl der Medikamentenabhängigen in unserer Einrichtung
steigt. Wir führen dies auf unsere Schwerpunktsetzung in der Behandlung von
Medikamentenabhängigen zurück.
Summary
Benzodiazepine dependency
Although benzodiazepine-dependent individuals represent the third largest group of addicts after those
dependent on nicotine and alcohol, they receive almost no treatment in the addiction support system.
Benzodiazepine dependents rarely see themselves as addicted, because neither they nor their
doctors recognise the symptoms of long-term benzodiazepine use. These symptoms typically include
mild cognitive impairment, lack of physical resilience and a lack of perceptible emotional involvement
in their surroundings. In order to help these patients to recognise their situation and build up
motivation for withdrawal, it is important for the general practitioner to reflect their symptoms to them in
the form of factual information.
At the Hamburg University Hospital we provide treatment both in the community and in hospital for
benzodiazepine dependents motivated to withdraw. Inpatient withdrawal is conducted as part of the
qualified withdrawal programme. Unlike purely physical withdrawal, this involves reinforcement of
insight into the illness by coming to terms with the addiction. Inpatient benzodiazepine withdrawal
takes place in the Department for alcohol and drug dependency according to a fixed plan with
carbamazepine cover. Treatment on an outpatient basis is attempted only if the patient is confident
that he or she is able to take this far from easy step and then only if we are able to provide close
monitoring and support. An outpatient withdrawal group is helpful, providing the patients with mutual
support.
Résumé
Dépendance aux benzodiazépines
Alors que le nombre des personnes dépendantes des benzodiazépines est à peine inférieur à celui
des personnes qui le sont de la nicotine et de l’alcool, le système d’aide aux toxicomanes ne leur
propose guère de traitement. Ces personnes se considèrent d’ailleurs rarement comme dépendantes,
car ni elles ni les médecins ne savent reconnaître les symptômes provoqués par la prise de
benzodiazépines sur une longue durée. Ces symptômes se manifestent par un léger trouble de la
faculté cognitive, une baisse du tonus musculaire et un manque de participation affective à
l’environnement. S’ils veulent aider ces patient-es à prendre conscience de leur situation et les motiver
en vue d’un sevrage, leurs médecins traitants doivent leur donner une description objective de ces
symptômes.
A la Clinique universitaire de Hambourg, nous proposons un sevrage ambulatoire ou résidentiel aux
personnes dépendantes des benzodiazépines et motivées à s’en sortir. Le sevrage résidentiel ne se
limite pas au sevrage physique; il consiste également à inciter la personne à prendre conscience de
sa maladie en abordant la question de la dépendance. Ce sevrage résidentiel, réalisé dans le cadre
d’un service destiné aux personnes dépendantes de l’alcool et de médicaments, se déroule selon un
schéma thérapeutique fixe incluant la prescription de carbamazépine. Le traitement ambulatoire
implique que les patient-es se sentent en mesure de faire cette démarche qui n’a rien de facile et que
nous puissions leur assurer un réseau solide pour les accompagner. Un groupe de sevrage
ambulatoire peut être utile en ce sens que les patient-es peuvent s’apporter un soutien réciproque.
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Literaturverzeichnis
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Covi, L., Lipmann, R.S., Pattison, J.H., Derogatis, L.R., Uhlenhuth, E.H., 1973: Length of treatment
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Di Costanzo, E., Rovea, A., 1992: The prophylaxis of benzodiazepine withdrawal syndrome in the
elderly: the effectiveness of carbamazepine. Double-blind study vs. placebo. Minerva Psichiatrica,
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Korrespondenzadresse
Dr. med. Rüdiger Holzbach, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Hamburg,
Martinistrasse 52, D-20246 Hamburg
2/2000 SFA / A+S