Zurück zum Spaß
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Seite 34 F Samstag, 8. August 2015 Nürnberg SPORT Zurück zum Spaß Sport-Professor Matthias Lochmann möchte den Jugendfußball reformieren. Viel zu lange, findet er, haben Erwachsene auf dem Platz geschimpft und gebrüllt. Herr Professor Lochmann, haben Sie ein traumatisches JugendfußballErlebnis hinter sich, oder warum wollen Sie das ganze System reformieren? Professor Matthias Lochmann: Ich selbst zum Glück nicht, aber viele Tausend Kinder in Deutschland, die niemand fragt, schon. Ich war lange Trainer, habe selbst Fußball gespielt. Mir war immer klar, dass im Jugendbereich einiges verkehrt läuft. Aber erleiden muss ich es erst, seitdem mein kleiner Sohn Fußball spielt. Aber Sie sind doch selbst sein Trainer. Lochmann: Es geht mir um alle Fußball spielende Kinder. Hier haben mir wenige Spiele genügt um zu erkennen, dass es so nicht weitergehen darf: Ein Wettkampfsystem, indem Trainer die Kinder wüst schimpfen, wenn sie Fehler machen, aber auch Kinder, die nur herumstehen auf dem Platz und ständig Anweisung von außen bekommen, was sie jetzt zu tun haben. War das nicht schon immer so? Lochmann: Ja, und das ist das eigentlich Unfassbare daran. Diese nicht gewollten Verhaltensweisen von Kindern, Trainern und Eltern werden durch die bestehenden Wettspielformen regelrecht provoziert, das Gewinnenwollen schon in kleinsten Jahrgangsstufen unterläuft massiv die Bemühungen von Tausenden engagierten Menschen. Es ist aus meiner Sicht der stärkste Bremsklotz für die Weiterentwicklung des Fußballs in Deutschland überhaupt. Wo wollen Sie also anpacken? Lochmann: Wir müssen die Wettspielformen grundlegend reformieren. Die Toranzahl, die Feldgröße, die Spieleranzahl, die Wechselsystematik, die Spielregeln und die Organisationsformen der Wettkämpfe müssen wir auf ein altersgemäßes, kindgerechtes Maß bringen. Wettkämpfe müssen zu einer optimalen Entwicklung der Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder führen. Aber Beckenbauer, Matthäus, Cristiano Ronaldo, Messi – alle wurden im bestehenden, wettkampforientierten System zu Superstars. So schlecht kann das also nicht sein . . . Lochmann: All diese Spieler haben sich nicht wegen dieses Systems, sondern trotz des Systems entwickelt. Sie hatten Freiräume, die Kinder heute kaum noch haben. Es waren Straßenfußballer, die den ganzen Tag Fußball spielten. Heute sind die Kinder sehr lange in und mit der Schule beschäftigt. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt, der gegen diesen Vergleich spricht. Ein Fußballplatz, irgendwo in der Provinz. Zwei Kinder stehen vor dem Kleinfeldtor herum, der Torwart hat die Anweisung, auf der Linie zu bleiben, dass ja kein Gegentor fällt. Trainiert hat diese Mannschaft der Fünf- bis Siebenjährigen gezielt hohe Bälle – weil die Gegner ja meistens auch klein sind. So fallen bestimmt viele Tore. Das Ziel des Trainers ist das Siegerbild in der Zeitung, dafür sitzen die Schwächeren auf der Bank oder durften sich gar nicht erst umziehen. Der Trainer brüllt Anweisungen — unterläuft ein Fehler, wird das Kind geschimpft oder gleich ausgewechselt. „Ist das der Fußball, den wir unseren Kindern beibringen wollen?“, fragt Professor Dr. Dr. Matthias Lochmann. Der Erlanger Sport-Professor, der einst die Einführung der Nachwuchsleistungzentren mitgestaltete, möchte jetzt das verkrustete JugendfußballSystem reformieren, „Funino“ heißt die zu einem Spiel fahren, aber nur auf der Bank sitzen. Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, wie sich dieses Nicht-gut-genug-sein auf die charakterliche Entwicklung der Kinder auswirkt. Was haben wir für ein Und das funktioniert damit, dass Menschenbild, wenn wir dieses Sysder Leistungsgedanke vom Fußball- tem, dessen Fehler wir kennen, weiter verfolgen? feld verschwindet? Lochmann: Das tut er ja gar nicht. Was passiert mit schwächeren KinDie Anforderungen von „Funino“ liegen mehrfach höher als in einem übli- dern bei Funino? Lochmann: Hier können auch zwanchen Jugendfußballspiel. Nach sechs, sieben Minuten sind alle Kinder erst zig Spieler aller Leistungsstärken miteinmal ausgepowert – weil kein Einzi- machen, aber auch nur kleine Dorfverger rumstehen musste obwohl kein eine mit nur vier Kindern, die bisher Trainer auch nur einmal gebrüllt hat. auf Spielgemeinschaften angewiesen Weil grundsätzlich bei Funino auf waren – und alle bekommen die gleivier Tore gespielt wird, müssen Kin- che Einsatzzeit, weil nach jedem Tor der ständig den Kopf hochnehmen beide Mannschaften durchrotieren. Je und ein alternatives Ziel mit dem Ball nach Alter und Entwicklungsstand am Fuß suchen. Das schult bereits in werden die Felder größer oder kleiner, jungen Jahren viel intensiver als bis- die Spieleranzahl nimmt zu oder ab, die Tore werden diagonal bespielt, umher die Handlungsschnelligkeit. gedreht oder müssen durch Rückpässe erzielt werden. die Aufgaben werden „Es werden so viele komplexer. Der Fußball wächst mit den Kindern, systematisch. Messis sein wie noch nie“ mäßig und altersgerecht fördern — dann werden wir Beckenbauers und Messis in einer Anzahl in Deutschland erhalten, wie es das Land noch nicht erlebt hat. Dann ist die Professionalisierung der Förderung im Nachwuchsleistungszentrum verkehrt? Ihnen verdanken wir doch die Wiederauferstehung des deutschen Fußballs . . . Lochmann: Da sind wir wieder bei der Aussortierung. Die kommt zu früh. Bei den 13-Jährigen etwa entscheidet oft die körperliche Entwicklung gegenüber Gleichaltrigen über ihren Verbleib im Leistungszentrum und nicht ihr technisch-taktisches Fertigkeitsniveau. Deshalb werden vor allem die Großgewachsenen früh überdurchschnittlich gefördert, dabei sind sie meistens nur früher im Jahr geboren und deshalb noch überlegen. Da frage ich Sie: Hat Gott nur den Frühgeborenen Fußballtalent geschenkt? Aber schafft man sich so nicht eine Blase, eine heile Jugendfußballwelt, die so neben allen anderen modernen Anforderungen existiert? Lochmann: Das ist keine Blase, sondern eine ideale Plattform, um mit mehr Action, mehr Toren ein Höchstmaß an Selbstwirksamkeitserfahrung zu erleben. Alle Kinder können Tore schießen und sich so Selbstvertrauen holen, sie werden fitter, können schneller laufen, nehmen ab, verbes- das Projekt. Es wäre laut Lochmann das „modernste Wettspielsystem für Nachwuchsfußball der Welt“. Alle Kinder sollen gefördert werden, niemand wird aussortiert, Trainer und Eltern moderieren gemeinsam und konfliktfrei. Den 1. FC Nürnberg und die Spielvereinigung Greuther Fürth hat er bereits überzeugt, jetzt sucht er weitere Jugendmannschaften, die mitmachen. „Wir tun es doch für unsere Kinder“, sagt Lochmann. Ein Interview. dann ein Funino-Festival veranstaltet – jetzt sind wir am nächsten Schritt, die Leute in der Region aufzusammeln, die diesen Weg mit uns gemeinsam gehen wollen. Deshalb laden wir sie zu einem Funino-Workshop an der Uni Erlangen ein, wo wir die vielen guten Ideen der engagierten Trainer, Eltern und Betreuer aus der Region aufgreifen werden, um das System weiter zu verbessern. Braucht man für Funino eine spezielle Ausbildung? Lochmann: Einer der großen Vorteile von Funino ist, dass es mit wenigen Handgriffen, ohne Vorerfahrungen, angewendet werden kann. Wir haben Grundschullehrerinnen, die nach dreißig Minuten ein Kinderfußballtraining anbieten können, das die Kinder lieben und das obendrein zu einer optimalen Förderung der Sechs- bis Zehnjährigen führt. sern radikal ihre Wahrnehmungsfähigkeit und lernen selbst richtige Entscheidungen zu treffen. Es macht sie zu Höchstleistern – und nicht zu Verlierern. Sie werden besser, obwohl niemand Zwang oder Druck ausübt. Es ist im Grunde ähnlich wie mit dem Regelschulsystem. Auch das zwingt Lehrer, Eltern und Kinder zu Verhaltensweisen, die sie im Grunde selbst Kennen Sie Trainer, die Funino tief verachten. Ich halte es daher ebenso reformbedürftig. ablehnen? Lochmann: Es gibt natürlich einige Trainer, die sich für sehr wirksam hal„Es geht um mehr als eine ten. Die bekommen in unserem Konzept ein Problem mit ihrem Selbstverfußballerische Ausbildung“ ständnis, wenn sie plötzlich in eine Erhoffen Sie sich durch Funino moderierende Rolle schlüpfen sollen. auch gleich, das ganze Schulsystem Das ist dann eine Frage der Souveränimitzureformieren? tät und der Eitelkeit. Aber arbeiten Lochmann: Na ja, die negativen Fol- diese Personen für sich – oder für die gen sind ähnlich: durch Überforde- Kinder? rung erleiden Kinder Burn-out. Durch Bewegungsmangel werden sie Brauchen Kinder keine Anleitung? motorisch schwach, werden übergeLochmann: Natürlich. Aber wir wolwichtig. Hinzu kommt massiver len ihnen die Möglichkeit geben, auf Stress, weil sie – anders als im Fußball dem Fußballplatz eigene Kompeten– nicht einfach aufhören können, son- zen fürs Leben zu erwerben. Wir woldern über Jahre in der Situation gefan- len die Kinder fit machen für unsere gen bleiben. Aber das ist ein anderes Welt. Auf dem Platz geht es um mehr Thema. als nur eine fußballerische Ausbildung. Wir wollen ihnen einen EntfalWarum? Es gibt ja bereits Grund- tungsraum geben, in dem sie Handschulen, die Funino in den Sportunter- lungsalternativen kennenlernen und richt integrieren wollen. die bestmögliche Lösung selbst heLochmann: Ich finde, die Leute sol- rausfinden müssen – die Lösungswege len sich selbst davon überzeugen, wie müssen aber altersgerecht sein. Das Funino auf sie wirkt. Wir haben auch sind sie derzeit nicht. im Kleinen in der G-Jugend begonnen, sind dann in den Verein, dann Spüren Sie schon erste Erfolge? in die Grundschule gegangen, haben Lochmann: In der Jugend von Mainz 05 haben die Jungs nach sechs Monaten gespielt wie die Teufel, bis zur Halbsaison 117 Tore geschossen, das war unglaublich. Bei der G- Jugend meines Sohnes gibt es nur meine subjektiven Eindrücke. Hier spüre ich, dass ich ein echter Freund der Eltern und der Kinder geworden bin. Es gibt keinen, ob Mädchen oder Junge, ob klein oder groß, guter oder schlechterer Fußballer, der nicht gern „Hallo“ zu mir sagt. Sicher nicht. Lochmann: Eben. Die Prognose, ob jemand Profi wird oder nicht entscheidet sich doch nicht in der C-Jugend. Das Aussortieren in der bestehenden Art und Weise ist daher schädlich für den gesamten Profifußball. Wie viele gute Fußballer verlieren wir, nur weil Welchen? sie sich erst ein wenig später entwiLochmann: Suchen wir immer nur ckeln? Es sind Tausende. nach Beckenbauers und Messis? Ist das der einzige Antrieb, unsere KinGehört es aber nicht auch zur gesunder Fußball spielen zu lassen? Und den Entwicklung fürs Leben im Sport selbst wenn es so wäre, wird der Pool zu lernen, dass man sich auch mal an Nachwuchskickern aufgrund der durchbeißen muss? geburtenschwachen Jahrgänge immer Lochmann: Natürlich. Aber wenn kleiner. Das Potential zum Profi hät- ein kleiner Junge zehnmal gesagt beten vielleicht viele, die aber in jungen kommt, dass er am Wochenende nicht Jahren durch irgendein Raster eines dabei sein kann, weil der Kader schon Trainers aufgrund der bestehenden voll ist, dann wird er bald enttäuscht Wettkampfordnung gefallen sind – aufhören mit Fußball. Auch gibt es und deshalb aufgehört haben mit Fuß- eine latente Spannung zwischen dem ball. Wir müssen endlich alle gleich- Trainer und den Eltern der Kinder, „Die spielen wie die Teufel“: Matthias Lochmann inmitten seiner G-Jugend. Fotos: Huber/Zink Z Der shop Funino-Workfindet am Dienstag, 18. August, ab 18 Uhr im Institut für Sportwissenschaften und Sport in der Gebbertstraße 123 in Erlangen statt. Anmeldung: www. fussball4punkt0.de