Manchmal bin ich ein Schafhirt, der frierend und einsam in der

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Manchmal bin ich ein Schafhirt, der frierend und einsam in der
Manchmal bin ich ein Schafhirt,
der frierend und einsam in der kalten Nacht ausharrt
und keinen Ruheplatz für sich findet,
der sich nach Geborgenheit sehnt,
nach Begegnungen,
nach einem Ort des tröstlichen Verweilens,
der spürt,
dass sich in seinem Leben etwas ändern muss,
der daher aufbricht
und sich auf den Weg macht.
Manchmal bin ich ein König,
dem sein Palast zu eng wird
und der sich eingesperrt und unfrei fühlt,
der sich nach Weite sehnt,
nach neuen Möglichkeiten,
nach einem Ort lebendigen Miteinanders,
der spürt,
dass sich in seinem Leben etwas ändern muss,
der daher aufbricht
und sich auf den Weg macht.
Manchmal bin ich Herodes,
der sich selbst nicht mag
und niemand neben sich duldet,
der sich sehnt,
nach was eigentlich?,
der spürt,
dass sich in seinem Leben nichts ändern darf
und daher bleibt, wo er ist.
Also sind Hirt und König unterwegs,
jeder für sich,
doch wohin?
Sie wissen es nicht,
sie spüren nur,
dass eine starke Sehnsucht sie antreibt,
unaufhörlich.
Sie wissen aber,
dass der Weg selbst nicht
– wie so oft behauptet –
das Ziel ist,
sondern dass der Weg immer ein Ziel hat,
auf das hin es sich lohnt,
ausgerichtet zu sein.
Sicher ist das Ziel nicht gleich um die Ecke,
es erfordert vielmehr Ausdauer und Wagemut,
den Weg immer neu in den Blick zu nehmen
und immer weiter zu gehen.
Da kommt der König an einem Palast vorbei,
so wie er ihn von zu Hause kennt.
Ist er jetzt am Ziel?
Nein, niemals will er seinen Palast mit diesem tauschen,
denn dann wäre er wieder am Anfang
und aller Aufbruch umsonst.
Da kommt der Schafhirt an einem Stall vorbei,
wie er ihn von zu Hause kennt.
Ist er am Ziel?
Nein, denkt er zunächst,
niemals will er seinen Stall mit diesem tauschen,
denn dann wäre er wieder am Anfang
und aller Aufbruch umsonst.
Ist er am Ziel?,
fragt er sich nochmals unsicher.
Doch, ja, sagt ihm eine innere Stimme
entgegen jeder Erwartung,
und der Hirt wähnt sich am Ziel.
Er tritt in den Stall ein,
nicht Worte, nicht eigenes Erkennen,
nicht Nachdenken, nicht Nachforschen,
nur der Anblick eines Kindes
in völliger Wortlosigkeit und im Nichtwissen
lässt ihn erkennen,
dass er hier findet, wonach er gesucht hat.
Dass dieser Ort ein heiliger Ort ist,
an dem sich Gott offenbart,
an dem er alle unaussprechlichen Geheimnisse mitteilt,
ist die Erfahrung eines Glaubenden,
zu dem der Hirt als Erster geworden ist.
Und zweiter Glaubender ist der König,
der diesen Ort auch bald danach gefunden hat.
Beide verweilen lange in der
ihr Leben verändernden göttlichen Gegenwart,
im wissenden Schweigen,
in der alle Erkenntnis übersteigenden Wirklichkeit.
Wer diesen Ort nicht gefunden hat,
ist Herodes,
natürlich,
der hat sich ja gar nicht auf den Weg gemacht,
weil er keine Veränderung wollte.
Manchmal bin ich ein Schafhirt,
manchmal ein König
und hoffentlich immer seltener Herodes.
(Text: Jürgen Chupik)