Gedichtinterpretation: „Kennst du das Land“

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Gedichtinterpretation: „Kennst du das Land“
Gedichtinterpretation: „Kennst du das Land“
aus Johann Wolfgang von Goethes „Wilhelm Meister“
von Dinah Sophie Fischer
Bei dem Gedicht „Kennst du das Land“ von Johann Wolfgang von Goethe handelt sich um ein Lied, das in
jedem der drei Teile seines „Wilhelm Meister“ zu finden ist. Da deren gleichnamiger Hauptfigur das Lied
von dem Mädchen Mignon vorgetragen wird, die Wilhelm auf seiner Reise zusammen mit einer Gruppe von
fahrenden Akrobaten kennen lernt, wird das Gedicht, sofern aus seinem literarischen Zusammenhang
gerissen, häufig mit „Mignon“ überschrieben.
Das genaue Entstehungsjahr des Gedichts ist nicht bekannt, muss jedoch vor Goethes Italienreise 1786
liegen, da Goethe mit seiner Arbeit an „Wilhelm Meisters theatralischer Sendung“ (dem„Ur-Meister“ und der
Grundlage für die „Lehr-“ und „Wanderjahre“) schon zuvor begonnen hatte und das Lied bereits in dieser
Fassung auftaucht. Geschätzt wird allerdings, dass es im Herbst 1782 entstanden ist.1
Da eine Interpretation des Gedichts vor dem inhaltlichen Hintergrund des Werkes, in das es eingebettet ist,
sinnvoller erscheint und auch das Verständnis erleichtert, soll im Folgenden zunächst auf die drei „WilhelmMeister“-Romane im Hinblick auf die Beziehung zwischen Mignon und Wilhelm eingegangen werden.
„Wilhelm Meisters theatralische Sendung“, der fragmentarische Vorlage für die anderen beiden
„Meister“-Romane, ist zwischen 1777 und 1785 entstanden und wurde 1911 veröffentlicht.
Titelfigur ist der junge Wilhelm Meister, der seit seiner Kindheit ein glühendes Interesse am Theater verspürt
und sich, anstatt mit dem Geschäft seines Vaters, lieber mit Theaterliteratur und -kritik auseinandersetzt.
Nach dem unglücklichen Ausgang seiner ersten Liebe zu Mariane schickt ihn sein Schwager, der ebenfalls
am Handelsgewerbe des Vaters beteiligt ist, auf Geschäftsreisen, um Schulden einzutreiben.
Auf einer seiner Reisen begegnet ihm eine Akrobatentruppe, der das Mädchen Mignon zugehört.
Sie fasziniert Wilhelm sofort aufgrund ihrer musenhaften Andersartigkeit. Rein äußerlich wird sie zwar als
eher unscheinbar beschrieben (geschätzt auf zwölf oder dreizehn Jahre, mit leicht jungenhaftem Körperbau
und bräunlicher Gesichtsfarbe), doch ist sie eine fähige Dichterin und Musikerin mit großem Talent zum
Auswendiglernen, komponiert Lieder und begleitet sich selbst auf der Zither. Von ihrer Herkunft ist nur
bekannt, dass die Direktrice der Gruppe, Madame de Retti, sie einer Seiltänzergruppe abgekauft hat, von der
sie misshandelt worden war. Wilhelm bleibt bei der Gruppe und fasst schnell eine väterliche Zuneigung zu
Mignon, die bis zum Ende des Romanfragments bestehen bleibt und zunächst auf Gegenseitigkeit beruht,
bevor sich Mignons Gefühle jedoch in leidenschaftlichere Anziehung verwandeln, die Wilhelm nicht
erwidern kann und die ihn bisweilen fast ängstigt. Er konzentriert sich stattdessen auf seine Theaterarbeit.
Dabei wird er von verschiedenen Frauen umgarnt – sehr zu Mignons Missfallen, das sich noch steigert, als
die Truppe einem Raubüberfall zum Opfer fällt, Wilhelm verletzt und von einer geheimnisvollen „Amazone“
gerettet wird, die ihm von da an nicht mehr aus dem Kopf geht. Doch gegenüber ihrer Liebe zu Wilhelm
sieht dieser in ihr gleich bleibend lediglich die kindliche Freundin und schätzt ihre musenhafte Inspiration,
ebenso wie die des Harfners, der unterwegs zu ihnen stößt. Mignon singt Wilhelm das Lied: „Kennst du das
Land“ vor2.
Das Fragment endet damit, dass Theaterdirektors Serlo, auf den Wilhelm in H. trifft, Wilhelm und seiner
Truppe anbietet, sie zu engagieren.
Italienreise
Im September 1786 brach Goethe, ohne den Wilhelm Meister beendet zu haben, zu seiner fast zweijährigen
Italienreise auf.
Hauptsächlich residierte er in Rom, wo er sich mit der Kunst und Architektur der Antike und der Renaissance
1
2
Lienhard, Johanna: Mignon und ihre Lieder, gespiegelt in den Wilhelm-Meister-Romanen. Zürich/München 1978
Siehe Anhang
1
beschäftigte. Des Weiteren arbeitete er an einigen seiner Werke und sammelte Lebenserfahrung, was ihn
dazu bewog, seinen Italienaufenthalt als „Wiedergeburt“ zu bezeichnen.
Vergleicht man die vor der Reise begonnene „Theatralische Sendung“ mit den späteren „Lehrjahren“ des
Wilhelm Meister, so lässt sich der Eindruck gewinnen, Goethe habe während seiner Zeit in Italien an
Rationalität gewonnen – gerade auch im Hinblick auf die Konzeption der Mignon-Figur.
„Wilhelm Meisters Lehrjahre“ ist die überarbeitete und vollendete zweite Fassung des „Ur-Meisters“, die
1795/96 erschien und sich als Bildungsroman bezeichnen lässt. Auch in den „Lehrjahren“ zerbricht
Wilhelms erste Liebe zu Mariane, er wird von seinem Vater und seinem Schwager auf Geschäftsreisen
geschickt und begegnet auf einer dieser Reisen einer Schaustellertruppe und damit dem Mädchen Mignon,
die er hier allerdings selbst dem Theaterdirektor abkauft, von dem sie misshandelt wurde. Es entwickelt sich
Zuneigung zwischen ihnen und Mignon ist eifersüchtig auf die Frauen in Wilhelms Gesellschaft, mit denen
er bereitwillig kokettiert. Der auch schon in der „Theatralischen Sendung“ vorkommende Harfner stößt zu
ihnen. Er und Mignon werden durch ihre Musik zu Wilhelms musenähnlichen Vertrauten. Mignon singt ihm
das Lied „Kennst du das Land“ vor, nun in leicht abgewandelter Form3. Der bereits erwähnte Raubüberfall
ereignet sich und Wilhelm wird auch hier von der mystischen Amazone gerettet, die fortan seine Gedanken
beschäftigt.
Wo jedoch die „Theatralische Sendung“ mit der Ankunft in H. und dem Treffen mit dem Theaterdirektor
Serlo endete, kommt die Truppe nun in H. unter, Wilhelm wird von Serlo für sein Theater engagiert und
schließlich in die „Turmgesellschaft“ um Baron Lothar eingeführt. Mignon, der es nicht gut geht, wird von
dessen Schwester Natalie gepflegt, die sich überraschenderweise und zu Wilhelms Freude als seine
geheimnisvolle Amazone herausstellt. Eine weitere Überraschung besteht in der Entdeckung, dass Wilhelm
einen Sohn hat, den ihm Mariane ohne sein Wissen geschenkt hatte und bei dessen Geburt sie gestorben war.
Die Verwirrung ist perfekt, als Wilhelm das Fräulein Therese heiraten will, die zunächst einwilligt, obwohl
sie eigentlich Lothar liebt. Als Mignon – ohnehin geschwächt von ihrem Kummer über ihre unglückliche
Liebe zu Wilhelm und der Sehnsucht nach ihrer Heimat Italien – davon erfährt, stirbt sie an gebrochenem
Herzen. Zu ihrer Beerdigung reist ihr Onkel aus Italien an und Wilhelm erfährt Mignons Familiengeschichte:
Wie sich herausstellt, ist Mignon die Tochter des Harfners, der sich in ein Mädchen namens Sperata
verliebte, unwissend, dass sie seine eigene Schwester war. Als Mignon geboren wurde, nahm man ihnen das
Baby weg, woraufhin Sperata starb. Mignon wuchs bei einer Familie am Lago Maggiore auf, bis sie von dem
Theaterdirektor entführt wurde und bei der Schaustellertruppe landete. Der Harfner nimmt sich nach dieser
Enthüllung das Leben.
Die „Lehrjahre“ enden damit, dass Therese nun doch Lothar heiraten will und Wilhelm endlich zu seiner
Amazone Natalie findet.
„Wilhelm Meisters Wanderjahre“ erschien in der vollständigen Fassung erstmals 1829 und stellt die
Fortsetzung der Meisterschen „Lehrjahre“ dar. Nach Mignons Tod in den „Lehrjahren“ kommt sie in den
„Wanderjahren“ nur noch in der Erinnerung Wilhelms vor, als dieser mit seinem Sohn Felix auf Italienreise
ist, an den Lago Maggiore, Mignons Heimatort, kommt und ihrer dort gedenkt.
Mignon
Für einen Vergleich der Mignonfigur würden sich, den obigen Ausführungen entsprechend, also „Wilhelm
Meisters Theatralische Sendung“ und „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ anbieten.
Die Figur der Mignon ist bereits in den unterschiedlichsten Varianten gedeutet worden. (Die Suche nach
realen oder literarischen Vorbildern soll hier ausgeklammert werden (vgl. dazu Flashar 19294).
Angefangen mit ihrer Interpretation als androgynes Mischwesen, die sich darauf stützt, dass der Name
3
4
Siehe Anhang
Flashar, Dorothea: Bedeutung, Entwicklung und literarische Nachwirkung von Goethes Mignongestalt. (Germanische
Studien, hrsg. von Emil Ebening, Heft 65), Berlin 1929
2
„Mignon“, der im Französischen so viel bedeutet wie „Liebling“ oder „Herzchen“, eigentlich die männliche
Form dieses Kosenamens darstellt (die weibliche Form wäre „mignonne“), ebenso wie auf die Tatsache, dass
Mignon Jungenkleidung vorzieht, woraufhin Wilhelm sich bei ihrer ersten Begegnung nicht sicher ist, ob es
sich bei ihr um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Zudem wird Mignon in der berühmten
„Eiertanzszene“ der „Theatralischen Sendung“ des Öfteren das männliche Personalpronomen „er“
zugeordnet, was die Frage nach ihrem Geschlecht erneut aufwirft.
Eine an diese Beobachtung anknüpfende Deutung interpretiert Mignon als Verkörperung des Übergangs
zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit bzw. als geschlechtslos und sieht in ihr die Darstellung einer
musenartigen Verkörperung von Wilhelms Genie oder Seelenleben5. Diese Deutung scheint allerdings
vornehmlich der Mignonfigur in der „Theatralischen Sendung“ zugeordnet, in der sie Wilhelm als
freigeistiges, doch gegen die Welt verschlossenes Wesen erscheint, das nur für seine Kunst – die Musik – lebt
und sich ausschließlich in künstlerischer Form – in ihrem Zitherspiel und ihrem Gesang – ausdrückt. Sie
erscheint ihm zunächst eher absonderlich in ihrer ganzen Person, angefangen von ihrem Aussehen über ihren
Ausdruck, bis hin zu ihrem Benehmen. Diese Absonderlichkeit wird in der „Eiertanzszene“ auf die Spitze
getrieben, in der sie Wilhelm beinahe dämonisch erscheint. Unterstützt wird diese fast unheimlich zu
nennende Andersartigkeit noch durch körperliche Gebrechlichkeit, die sich in äußeren Missbildungen zeigt
und bisweilen in krampfartigen Anfällen von unkontrollierten Zuckungen ausdrückt. Dies wird in der
„Theatralischen Sendung“ mitunter als Tribut für ihr vielseitig künstlerisches und intensives Seelenleben
verstanden, in den „Lehrjahren“ – deutlich rationaler – auf ihre inzestuöse Familiengeschichte
zurückgeführt.6
Auch darf das Verhältnis von Mignon zu Wilhelm Meister nicht außer Acht gelassen werden. Wird Letzterer
in der „Theatralischen Sendung“ noch als „Ebenbild“ Goethes verstanden, darf man darauf schließen, dass
Wilhelms Zuneigung zu Mignon eher väterlicher Natur und auf Goethes pädagogische Neigung
zurückzuführen ist (siehe beispielsweise Goethes zeitweise Schwäche für die jüngere Bettina Brentano bzw.
von Arnim). Er achtet ihre Menschlichkeit, ihre Loyalität und ihre selbstlose Liebe und bewundert ihre
Kunstfertigkeit, auch wenn er Letzterer gegenüber kein vollkommenes Verständnis erlangt. Mignons Gefühle
für Wilhelm sind hingegen leidenschaftlicherer Natur. Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass sie in ihm
ebenfalls eine Vater- und Beschützerfigur sieht, doch gehen ihre Gefühle, insbesondere in den „Lehrjahren“,
darüber hinaus: Sie verzehrt sich durch ihre eigene Leidenschaft und stirbt schließlich an gebrochenem
Herzen, als Goethe ihr eine andere Frau vorzieht.7
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich in der Mignonfigur ausgehend von der „Theatralischen
Sendung“ über die „Lehrjahre“ bis hin zu den „Meisterjahren“ eine Wandlung vollzieht. Lässt sie sich in der
„Theatralischen Sendung“ noch als geschlechtslose, leicht überirdische Symbolgestalt oder Verkörperung
von Wilhelms Innenleben deuten, gewinnt sie in den „Lehrjahren“, allein schon durch ihre dort auftauchende
Familiengeschichte, an Menschlichkeit und Körperlichkeit. Hier wird sie als Frau – wenn auch als
jungfräulich – dargestellt, ihre Liebe zu Wilhelm gewinnt einen menschlicheren, leidenschaftlicheren,
leidenderen Charakter, der sich in ihrem Tod aus unerfüllter Liebe steigert und sie zu einer tragischen
Persönlichkeit macht. In den „Wanderjahren“ wird ihrer nur noch erinnerungsselig gedacht.8
Allen Interpretationen und Deutungen ist jedoch gemeinsam, dass Mignon für Goethes Italiensehnsucht
steht. Nicht nur wurde sie dort geboren und sehnt sich in ihren Liedern dahin zurück, sie (und auch der
Harfner) steht in ihrer weltabgeschiedenen Kunstfertigkeit für eine ferne Vergangenheit, die oftmals der
Antike zu gedeutet wird, deren Apotheose in der (Weimarer) Klassik auch Goethe berührte und faszinierte.9
In diesem Hinblick ist das „Italienlied“ Mignons zu interpretieren.
5
Ebd., S. 58
Ebd., S. 63
7
Ebd., S. 102
8
Ebd., S. 109
9
Keppel-Kriems, Karin: Mignon und der Harfner in Goethes „Wilhelm Meister“.Eine geschichtsphilosophische und
kunsttheoretische Untersuchung zu Begriff und Gestaltung des Naiven. (Marburger Germanistische Studien, hrsg.
von Dieter Bänsch, Bd. 7), Frankfurt a.M. (u.a.) 1986
6
3
Italienlied: „Kennst du das Land?“
Das Lied „Kennst du das Land“, das Mignon Wilhelm sowohl in der „Theatralischen Sendung“ als auch – in
leicht abgewandelter Form – in den „Lehrjahren“ des „Wilhelm Meister“ vorsingt, kann als das „Hohelied
der Italiensehnsucht“10 bezeichnet werden. Die folgende Interpretation bezieht sich auf die spätere Fassung
aus den „Lehrjahren“11. Auf Abweichungen zum Vorläufer in der „Theatralischen Sendung“ wird im
Anschluss eingegangen.
„Kennst du das Land?“ setzt sich aus drei Strophen zu jeweils sechs Versen, inklusive einer Art immer
wiederkehrendem Refrain (jeweils der sechste und siebte Vers der Strophe) zusammen, was den
Liedcharakter unterstützt. Es hat einen harmonischen, regelmäßigen Aufbau: Das Metrum ist ein
durchgehender fünfhebiger Jambus („Kennst du das Land wo die Zitronen blühn [...]“), der nur im jeweils
fünften Vers einer jeden Strophe durch einen vierhebigen ersetzt wird („Kennst du es wohl? Dahin! Dahin“),
wobei die Versendungen ausnahmslos männlich, also betont, sind.
Das Reimschema setzt sich aus Paarreimen zusammen („blühn“ – glühn“, „weht“ – steht“), wobei:
„Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin“
als ein einziger durch einen Umbruch zäsierter Vers zu sehen ist und einige Reime unreiner Art sind: „Dahin“
– „ziehn“, „Dach“ – „Gemach“.
Die erste Strophe beginnt, wie auch die anderen beiden, mit einer Frage: „Kennst du das Land, wo die
Zitronen blühn / Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn / Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht /
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,“ (Str. 1, V. 1-4). Das Land von dem hier die Rede ist, kann durch
die in dieser ersten Strophe beschriebenen Natur allein nicht als Italien identifiziert ist werden – auch wenn
die erwähnten Zitrusfrüchte und der blaue Himmel bereits als Hinweis gelten können – doch gibt Mignon
selbst darüber Aufschluss, dass es sich in dem Lied um ihr Heimatland handelt: „'...es muß wohl Italien
gemeint sein', versetzte Wilhelm... 'Italien!' sagte Mignon bedeutend.“12
Umfassend drückt die erste Strophe des Liedes durch die harmonische Stimmung sowie die positiven Verben
und Adjektive wie „blühn“, „glühn“, „sanft“ und „still“ die Sehnsucht Mignons nach dem Land ihrer
Herkunft aus, nach „Abgeschiedenheit und Geborgenheit in einer arkadischen Ideallandschaft“13. Doch
verweisen die immergrünen Gewächse (in die der ewige Frühling in Italien hineingedeutet werden kann14)
Myrte und Lorbeer schon auf Mignons späteres Schicksal. Beide finden ihre Bedeutung in der griechischen
Mythologie und während die Myrte für die Liebe über den Tod hinaus steht15, symbolisiert der Lorbeer die
unerwiderte Liebe.16
Die Eingangsfrage wird in verkürzter und drängenderer Form im fünften Vers der Strophe noch einmal
wiederholt: „Kennst du es wohl?“ Daraufhin folgt eine durch einen Zeilensprung gekennzeichnete Zäsur, die
den Vers in die eben zitierte Frage und die darauf folgende Antwort „Dahin! Dahin“ teilt, die durch die
Wiederholung an Ausdruckskraft gewinnt und im sechsten Vers zu einem Wunsch vollendet wird: „Möcht
ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.“ Hierin spiegelt sich nicht nur Mignons Italiensehnsucht, sondern auch
ihre Sehnsucht nach Wilhelm, der mit „mein Geliebter“ gemeint ist. Mit ihm möchte sie in das Land ihrer
Heimat ziehen und auf diese Art ihre beiden Sehnsüchte miteinander verbinden.
10
Ebd., S. 147
Siehe Anhang
12
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Bd. 4, Kp. 1
13
Keppel-Kriems: Mignon und der Harfner. S. 145
14
Lienhard: Mignon und ihre Lieder
15
http://www.aeternitas.de/inhalt/grabgestaltung/medien/dateien/symbolik.pdf;
http://www.myrtus-communis.de/extras/geschichte.html
16
http://www.die-goetter.de/apoll-und-daphne
11
4
Die zweite Strophe beginnt anaphorisch ebenfalls mit einer Frage: „Kennst du das Haus?“ (V. 1 der 2. Str.).
Die folgenden Verse beinhalten die Beschreibung des Hauses: „Auf Säulen ruht sein Dach / Es glänzt der
Saal, es schimmert das Gemach / Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:“ (V. 1 – 3) Bemerkenswert ist
die in diesen Zeilen enthaltene Ambivalenz: Zum einen steht das Haus symbolisch meist für Schutz und
Geborgenheit, was in dem „ruhenden Dach“ auch anklingt. Doch wirken die „stehenden Marmorbilder“ die
Mignon „ansehen“ eher bedrohlich, denn beschützend. Obwohl es sich um leblose Skulpturen handelt,
personifiziert Mignon sie, in dem Gefühl von ihnen beobachtet zu werden, durch den Reim „stehn und sehn
mich an“.
Dies mag als Vorausdeutung auf den sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Sicht zentralen Vers des
Liedes gedeutet werden, der direkt darauf folgt: „Was hat man dir, du armes Kind getan?“ (V. 4) In Johanna
Lienhards Interpretation, nach der das Gedicht aus einundzwanzig Versen besteht, da sie den zäsierten
fünften Vers als zwei Verse interpretiert, stellt der eben zitierte Vers genau die Mitte, nämlich Vers elf dar, der
von jeweils zehn Versen gerahmt wird, was dessen inhaltlichen Wert unterstütze.17
Doch abgesehen von dieser Interpretation gibt es weitere Besonderheiten an diesem Vers. Er ist der einzige
innerhalb des gesamten Liedes, in dem Mignon direkt angesprochen wird. Lienhard deutet es als
Selbstansprache, in der sich Mignon selbst duzt18. Eine andere Sichtweise wäre, die Frage den
personifizierten Marmorbildern in den Mund zu legen, von denen Mignon sich im vorhergehenden Vers
beobachtet fühlt. Welche Interpretation auch zutreffend sein mag, gewiss ist, dass diese Frage in Bezug auf
Mignons tragische Kindheit gestellt wird und auf ihre inzestuöse Familiengeschichte sowie auf ihren Raub
durch den Theaterdirektor anspielt, dem Wilhelm sie später in den „Lehrjahren“ wieder abkauft.
Im Folgenden wird der Refrain wiederholt: „Kennst du es wohl? Dahin! Dahin / Möcht ich mit dir, o mein
Beschützer ziehn.“ (V. 5 – 6) Der Unterschied zum ersten Refrain liegt hier in der Umschreibung Wilhelms
als „Beschützer“, nicht mehr als „Geliebter“ wie in der ersten Strophe. Dieser Terminus passt zum Thema
der zweiten Strophe – zu dem ebenfalls beschützenden Haus.
Auch in der zweiten Strophe ist zwischen den Zeilen Italien auszumachen: insbesondere in den „Säulen“
(V. 1) und den „Marmorbildern“ (V. 3), die typisch für einen antiken italienischen Palazzo sind. Darüber
hinaus unterstützt die Festlichkeit, die in den Verben „glänzt“ und „schimmert“ (V. 2) liegt, das in dieser
Strophe enthaltene Bild. Lienhard verweist in diesem Bezug auf Mignons Vaterhaus, einen italienischen
Palast im Sinne des Architekten Palladio, den Goethe verehrte.19
Alles in allem konkretisiert die zweite Strophe die allgemein schwärmerische Italienbeschreibung der ersten
Strophe im Hinblick auf Mignons eigene (familiäre) Vergangenheit.
Die dritte Strophe verklärt diese Konkretisierung wiederum durch ihre mystische Metaphorik. Auch sie
beginnt mit der anaphorischen Frage: „Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?“ (V.1 der 3. Str.) Laut
Lienhard ist mit dem Berg und dem Steg die Alpenbarriere zwischen Italien und Deutschland gemeint, über
die Mignon kam.20 Die Metapher „Wolkensteg“ mythisiert diesen Übergang, ebenso wie der Nebel in Vers 2
(„Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg;“), der für Verschleierung und Uneindeutigkeit steht. Maultiere
waren in den Alpen kein seltener Anblick, dienten sie doch als zuverlässige Lastentiere. In der Antike
wurden sie zudem als edle Tiere angesehen.
Weiter heißt es in Vers 3: „In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;“. Dieser Vers entzieht sich in seiner
Mystik einer eindeutigen Interpretation. Lienhard bezieht sich auf alte Sagen und Legenden über Drachen,
die in den Bergen ihre Schätze hüten, von denen Mignon auf ihrer Reise durch das Gebirge gehört haben
mag.21
17
Vgl. ebd., S. 27
Vgl. ebd., S. 37
19
Ebd., S. 36
20
Ebd., S. 38
21
Ebd., S. 39
18
5
Besonders metaphorisch aufgeladen ist auch der folgende Vers: „Es stürzt der Fels und über ihn die Flut -“
(V. 4). Das Stürzen der alliterarischen „Felsen“ und „Fluten“ mag für Mignons Haltlosigkeit in der
diesseitigen Welt stehen und gegebenenfalls schon ihren Tod voraus deuten. Lienhard weist in ihrer
Interpretation auf stürzende Wasser als ein barockes Todessymbol hin22.
Darauf folgt zum letzten Mal der Refrain: „Kennst du ihn wohl? Dahin! Dahin / Geht unser Weg! O Vater,
laß uns ziehn!“ (V. 5 – 6). Dieser unterscheidet sich nun etwas gravierender von den ersten beiden Varianten.
Auch hier wird Wilhelm wieder eine andere Rolle in der Beziehung zu Mignon zu erklärt. Sie bezeichnet ihn
als „Vater“ (V. 6), was Wilhelms Gefühlen ihr gegenüber am nächsten kommt. Zudem verwandelt sie ihren
Wunsch: „Dahin / Möcht ich [...] ziehn.“ in eine konkrete Aufforderung: „o Vater, laß uns ziehn!“, was ihr
Drängen noch einmal steigert.
Das gesamte Gedicht stellt sich als eine Geschichte Mignons im Hinblick auf ihre Sehnsucht nach Italien dar.
Beschreibt sie Italien in der ersten Strophe noch sehr allgemein, fast klischeehaft, schränkt sie es in der
zweiten Strophe auf ihr Elternhaus ein, konkretisiert das allgemeine Italien auf ihr Italien im Hinblick auf
ihre Vergangenheit.
In der dritten Strophe deutet sie verklärend ihren Tod voraus: Der „Wolkensteg“ stellt nicht nur den Weg
nach Italien, sondern im metaphorischer Sicht auch den Weg vom Diesseits ins Jenseits, gleichsam den Weg
von einer für Mignon verschlossenen Welt in ihr persönliches Paradies dar, was durch den geheimnisvollen
„Nebel“ noch unterstützt wird. Ihr immer stärker zum Ausdruck kommendes Verlangen, diesen Weg zu
beschreiten („o Vater, laß uns ziehn!“), kann in diesem Sinne als eine Art Todessehnsucht Mignons gedeutet
werden, ihre einzige Möglichkeit, der diesseitigen Welt und ihrer unerwiderten Liebe zu Wilhelm zu
entfliehen.
Zudem sind die von Strophe zu Strophe wechselnden Bezeichnungen für Wilhelm bemerkenswert. Sie
können sowohl als negative wie auch als positive Steigerung interpretiert werden. Die negative Steigerung
findet in der Intensität ihrer Gefühle statt: Nennt sie Wilhelm in der ersten Strophe noch leidenschaftlich
ihren „Geliebten“, bezeichnet sie ihn in der zweiten Strophe schon deutlich abgeklärter als „Beschützer“ und
resigniert schließlich in der dritten Strophe, indem sie sich seinen Gefühlen ihr gegenüber anpasst und ihn
„Vater“ nennt.
Die positive Steigerung besteht in einer Verklärung bzw. Überhöhung Wilhelms durch Mignon.
Ist er in der ersten Strophe noch ihr „Geliebter“, unterwirft sie sich ihm in der zweiten Strophe als ihrem
„Beschützer“ und verklärt ihn in der letzten Strophe zu ihrem „Vater“; angesichts der allgemeinen
metaphorischen Verklärung der Strophe und der Vorausdeutung ihres Todes eventuell sogar im Sinne von
„Gott“.
Abschließend soll noch auf die Unterschiede des Liedes zu seiner ursprünglichen Form in der
„Theatralischen Sendung“ eingegangen werden.23 Neben zwei eher unbedeutenden Adjektiv-Abweichungen,
die der „Lehrjahre“-Version eine etwas gedämpftere Stimmung verleihen („grünes Laub“ statt „dunkles
Laub“, Str. 1, V. 2 und „froh“ anstatt „hoch stehenden Lorbeers“, Str. 1, V.4), unterscheiden sich die
Umschreibungen Wilhelms im jeweils letzten Vers aller Strophen: Statt „Geliebter“, „Beschützer“ und
„Vater“ findet sich hier in allen drei Versen die Bezeichnung „Gebieter“. Einige Interpretationen führen dies
auf einen Abschreibefehler zurück24, da es mehrere Abschriften gibt, die sich in dieser Beziehung
voneinander unterscheiden und in denen es auch in der ersten Strophe des Liedes in den „Lehrjahren“
„Gebieter“, nicht „Geliebter“ heißt25. Doch ist Mignons Liebe zu Wilhelm inhaltlich hinreichend belegt, um
die Bezeichnung „Geliebter“ zu rechtfertigen, wie es auch Johanna Lienhard interpretiert hat.26
22
Ebd., S. 40
Vgl. Anhang
24
Flashar: Goethes Mignongestalt, S. 87
25
Keppel-Kriems: Mignon und der Harfner, S. 151
26
Lienhard: Mignon und ihre Lieder, S. 35
23
6
Doch beide Deutungen beschneiden das Lied Mignons nicht in seinem eigentlichen Sinne: dem Ausdruck der
Sehnsucht einer jungen, empfindsamen Frau nach ihrer Heimat und einem Mann, die für sie in beider
Hinsicht ungestillt bleibt und somit lediglich in ihrer eigenen verschlossenen Gedankenwelt Erfüllung und
Ausdruck nur durch ihre Kunst findet.
7
Anhang:
„Kennst du das Land“ in der „Theatralischen Sendung“ und in den „Lehrjahren“
Theatralische Sendung
Lehrjahre
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im grünen Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und froh der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Gebieter, ziehn!
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.
Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Mamorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Gebieter, ziehn!
Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein
Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Mamorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg;
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg! Gebieter, laß uns ziehn!
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg;
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg! o Vater, laß uns ziehn!
Verwendete Literatur:
Flashar, Dorothea: Bedeutung, Entwicklung und literarische Nachwirkung von Goethes Mignongestalt. (Germanisch
Studien, hrsg. von Emil Ebening, Heft 65), Berlin 1929
Keppel-Kriems, Karin: Mignon und der Harfner in Goethes „Wilhelm Meister“. Eine geschichtsphilosophische und
kunsttheoretische Untersuchung zu Begriff und Gestaltung des Naiven. (Marburger Germanistische Studien, hrsg.
von Dieter Bänsch, Bd. 7), Frankfurt a.M. (u.a.) 1986
Lienhard, Johanna: Mignon und ihre Lieder, gespiegelt in den Wilhelm-Meister-Romanen. Zürich/München 1978
http://www.aeternitas.de/inhalt/grabgestaltung/medien/dateien/symbolik.pdf;
http://www.die-goetter.de/apoll-und-daphne
http://www.myrtus-communis.de/extras/geschichte.html
8