Musikermedizin Patientenmotivation

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Musikermedizin Patientenmotivation
Musikphysiologie und Musikermedizin 2001, 8. Jg., Nr. 4
133
Musikermedizin
Patientenmotivation - unverzichtbare therapeutische Hilfe
bei Verletzungen professioneller Musiker1
M. Neuber, A. Joist und A. Probst, Münster
Zusammenfassung
Summary
Die Eigenmotivation, die ein Patient mit einer
verstümmelnden Handverletzung zur Rehabilitation mitbringt, ist entscheidend für die spätere Gebrauchsfähigkeit der Hand. Dies soll am
Fall eines Gitarrenlehrers dargestellt werden,
der nach subtotalen und totalen Fingeramputationen seiner Griffhand in seinen Beruf zurückgekehrt ist. Durch konsequente Übungen an
seinem Instrument glich er die funktionellen
Defizite der Hand aus und gewann eine gerichtliche Auseinandersetzung gegen seinen
Arbeitgeber, der ihm die physische Fähigkeit
absprach, die Gitarre klassisch spielen zu
können. Es wird deutlich, dass mehr denn je
der Eigenmotivation des Betroffenen die Mitverantwortlichkeit an der mehr oder weniger
vollständigen Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess zukommt. Wir beobachten nicht
selten, dass in einem System des „jobsharing„,
bei dem mehrere Glieder des Gesundheitssystems ineinandergreifen müssen (Operateur,
Physiotherapeut, Sozialarbeiter, Hausarzt), der
Patient - bringt er sich nicht selber ein - auf der
Strecke bleibt. Es soll gezeigt werden, wie
wichtig und erfolgversprechend es sein kann,
den Patienten bei seiner Absicht zur beruflichen Rückkehr zu unterstützen. Darüber hinaus wünschen wir uns, dass dieses Beispiel
als Antrieb für gleichfalls Betroffene dient.
Patient self-motivation - a crucial factor in
surgical therapy of musician’s injuries
Schlüsselwörter
Keywords
Eigenmotivation -Handverletzungen - Rehabilitation.
Self-motivation – Hand injuries - Rehabilitation
1
A deciding factor for the future functioning of a
hand with a mutilating hand injury is the selfmotivation that the patient brings with him to
rehabilitation. This is illustrated in the case of a
guitar teacher who returned to his career after
subtotal and total finger amputation of his left
hand (used for gripping chords). With consistent exercise on his instrument he compensated for the functional deficits of his hand and
won a law suit against his employer who denied that he had the physical ability to play the
classical guitar. It is more clear than ever that
an injured person is jointly responsible,
through self-motivation in the working process,
for more-or-less complete rehabilitation. It is
not uncommon in a system of job-sharing in
which several members of the health service
(surgeons, physiotherapists, social workers,
general practitioners) must co-ordinate their
work, for the patient - if he does not involve
himself - to fall by the wayside.
It is shown how inherent and rewarding it can
be to support the patient in his desire to return
to work. Apart from that, we hope that this
example will be an encouragement to those
similarly affected.
Dieser Beitrag erschien in ähnlicher Form bereits in der Zeitschrift DER CHIRURG (1998) 69:581584 im Springer-Verlag, Heidelberg
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M. Neuber et al. – Patientenmotivation – unverzichtbare therapeutische Hilfe
1. Einleitung
Schwere Verletzungen der Hand, einer der
wichtigsten Gebrauchseinheiten des aktiven
und am sozialen Leben teilhabenden Menschen, sind eine - das zeigt unsere tägliche
klinische Erfahrung – beachtenswerte Herausforderung. Nicht selten kommt dabei neben
dem Verlust an funktioneller oder kosmetischer
Integrität ein für den Betroffenen mithin noch
schwerwiegenderer Aspekt zum Tragen: die
psychische Akzeptanz des Ereignisses.
Grunert et al. [4] untersuchten 1992 im Rahmen einer Arbeit zur beruflichen Rehabilitation
ein 51 Patienten umfassendes Kollektiv nach
teils beträchtlich verstümmelnden Handverletzungen. Es zeigte sich, dass primär - ohne
Ausnahme - jeder der Patienten eine spätere
Rückkehr an seine Arbeitsstätte ausschloss.
Eine stufenweise Wiedereingliederung gelang
o. g. Gruppe überzeugend nach Ausarbeitung
eines auf Desensibilisierung setzenden Expositionsmodells. Daher überrascht es nicht,
dass – wenn überhaupt - Patienten mit überwiegend eingeschränkter Funktion eher in der
Lage sind, ihrer ursprünglichen Beschäftigung
nachzugehen als Patienten mit überwiegend
kosmetisch entstellenden Verletzungen [3].
DI: tangentiale
Daumenbeerenverletzung.
DII: III.-gradig offene Mittelgliedfraktur
mit Durchtrennung der Streckaponeurose, z.T. knöchernem Verlust
der DIP-Gelenkkapsel sowie Fingerbeerenweichteilverletzung mit Nagelbeteiligung.
DIII: Traumatische Amputation knapp
distal des PIP-Gelenkes mit Zertrümmerung des Mittelgliedes bei
erheblichen Weichteilzerreissungen.
DIV: Traumatische Amputation mit komplexer Zerstörung des Fingers.
DV: Verlust des dorsalen Drittels der Mittelgliedbasis, Durchtrennung der
Streckaponeurose in Höhe des DIPGelenkes und Weichteilverletzungen
auf der ulnaren Endgliedseite.
Spongiöser Defekt.
Auch unser Patientengut lehrt uns beständig,
wie langwierig dieser Reintegrationsprozess
sein kann. Bleibt die psychische Akzeptanz
jedoch aus, so wird es für die Therapeuten
schwierig, geeignete Wege zur beruflichen
(und damit auch sozialen) Reintegration zu
finden. Gelingt es dem Verletzten jedoch, sich
mit seiner Behinderung den Herausforderungen des täglichen Lebens anzupassen, so wird
er sich selber trotz seiner körperlichen Behinderung als gesund bezeichnen (G. Hegemann:
„Anpassung ist Gesundheit„).
Es soll ein ungewöhnlicher Fall vorgestellt
werden, bei dem die Eigenmotivation entscheidend dazu beigetragen hat, die eigenen
körperlichen Unzulänglichkeiten und Widrigkeiten bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz zu
überwinden.
2. Falldarstellung
Herr E., 40jährig und seit ca. 20 Jahren an der
hiesigen Jugendmusikschule als Pädagoge
tätig, geriet im August 1996 mit der linken
Hand bei privaten Arbeiten in die laufende
Fräsmaschine. Die operative Erstversorgung
erfolgte umgehend in unserer Klinik. Nach
Exploration der Wundfläche bot sich folgendes
Verletzungsmuster (Abb.1, 2):
Abb. 1 und 2: Fräsverletzung der linken Hand
eines 40jährigen Musiklehrers
Die Schnitte verliefen von schräg radiodorsal
nach beugeseitig ulnar. Die Weichteilwunden
des Daumens wurden genäht. An dem Zeigefinger wurde die Mittelgliedfraktur durch
Schrauben stabilisiert und die rekonstruierte
Streckaponeurose durch eine temporäre
Kirschnerdraht-Blockierung des DIP-Gelenkes
geschützt. An Mittel- und Ringfinger war eine
Replantation aufgrund der erheblichen Weichteilverletzungen nicht möglich.
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Abb. 3: Postoperative Röntgenaufnahmen
Die Fingerstümpfe wurden deshalb débridiert
und durch belastungsfähige Weichteile verschlossen. Am Kleinfinger wurde der knöcherne Defekt des Mittelgliedes mit autologer
Spongiosa aus dem Mittelfinger aufgefüllt, der
Streckerapparat rekonstruiert und das PIPGelenk temporär mit einem Kirschner-Draht
blockiert (Abb.3).
Postoperativ wurde der Unterarm und die
Hand in einer Gipsschiene ruhiggestellt und
die antibiotische Therapie eingeleitet. Der
postoperative Verlauf gestaltete sich unauffällig. Die Wunden heilten primär. Die Fingerbewegung wurde früh aktiv und passiv freigegeben. Bereits nach 4 Wochen verfügte er über
ein erstaunliches Bewegungsausmaß. Die
eingebrachten Drähte an DII und DV konnten
in der 6. postoperativen Woche entfernt werden. Die Mittelgliedfraktur des Mittelfingers
wurde ohne Komplikationen fest, wobei die
Rollen des Mittelgliedköpfchens deutlich abgeflacht waren. Auch die Mittelgliedfraktur des
Kleinfingers heilte knöchern aus (Abb.4).
Das zerstörte Mittelgelenk des Kleinfingers
dagegen wurde über eine Pseudarthrose in
eingeschränktem Umfang beweglich. Nach 8
Wochen war die Fingerbeweglichkeit deutlich
verbessert, 6 Wochen später war diese fast
frei. Zu diesem Zeitpunkt unterrichtete Herr E.
bereits wieder seit 3 Wochen an der Musikschule. Dieses beinhaltete auch den Einsatz
seines Schwerpunktinstrumentes, der klassischen Gitarre (Abb.5).
Abb. 4: Röntgenbefund der linken Hand nach
einem Jahr
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Abb. 5: Ein Jahr nach dem Unfall: Demonstration der Fingerbeweglichkeit an der akustischen Gitarre
Allerdings befand ihn sein Arbeitgeber hier
bereits für nicht mehr fähig, seiner Lehrtätigkeit
nachzugehen, so dass die Kündigung des
Arbeitsvertrages ausgesprochen wurde. Die
Entscheidung gelangte vor das Arbeitsgericht
Münster, da Herr E. ganz im Gegenteil davon
überzeugt war, sowohl seinen theoretischen
als auch praktischen Lehrpflichten voll gerecht
werden zu können.
Ein unabhängiger Gutachter (A. E.), Musikdozent an der Universität Köln, wurde vom Gericht berufen. Ein Jahr nach dem Unfall trug E.
dem Gutachter ein instrumentelles Soloprogramm von mehr als einer Stunde vor2. Dieses
schloss auch die Demonstration unterrichtsrelevanter Techniken ein. Der Gutachter gelangt
zu dem Ergebnis, E. sei in vollem Umfang in
der Lage, die Unterrichtsliteratur vom Anfangsunterricht bis in die Mittelstufe auch
klanglich zu präsentieren. Die Amputationsverletzung sei darüber hinaus durch Aneignung
individuellster Techniken, die für A.E. selbst in
dieser Konstellation als einmalig zu bezeich-
2
1 F. Tarrega (Lagrima), M.Williams (Classical
Gas), M. Giuliani (Etüde Nr.18 aus op. 48), G. Sanz
(Canarios), D. Qualey (Bearb. aus „Jesu meine
Freude“ der Kantate 147 von J. S. Bach)
nen waren, in erstaunlichster Weise kompensiert worden.
In einer zusätzlichen außergerichtlichen Stellungnahme (Prof. Dr. D., Kirchenmusikdirektor,
Universität Münster), hieß es aufgrund einer
weiteren klanglichen Darbietung des Herrn E.:
„Die Darbietung legte Zeugnis ab vom hohen
Niveau, das nicht ahnen ließ, mit welchem
Handicap der Interpret sein Instrument meistert. (. . .) . . . aus Respekt vor einer Leistung,
die aus dem „Dennoch“ heraus motiviert ist,
vermag - dessen bin ich mir sicher - auf Seiten
der Schülerinnen und Schüler sogar höherer
Ansporn zu erwachsen.“
Es kam zum außergerichtlichen Vergleich. E.
erhielt eine finanzielle Abfindung und die Kündigung wurde zurückgenommen.
3. Diskussion
„The spirit of man can rise above the evils that
can harm the body. (. . .) The hand is not only
the symbol of man's power and the instrument
of his perception; it is also the mirror of his
emotion.“ [6] Ähnliche Beschreibungen wie
diese lassen sich, da in der Regel anderen
Umständen entspringend, nur beschränkt zum
Vergleich heranziehen.
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Allerdings wiesen Paterson and Burke [5] 1995
auf den eindrucksvollen Fall eines jungen Polizisten mit bilateralen Amputationen der oberen
Extremitäten hin. Dieser holte zunächst den
höheren Bildungsabschluss nach, schlug daraufhin die akademische Laufbahn ein, graduierte mit Prädikat in Fachbereich Psychologie
und fand schließlich eine Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität. Im
Rahmen des Diskussionsbeitrages skizzierten
die Autoren die typischen, auf den akuten Verlust eines Körperteiles folgenden Stressbewältigungsmechanismen: Tatsachenverkennung,
Beklemmung, Kapitulation und schließlich
Aufarbeitung des Geschehens. Diese müssen
weder zeitlich begrenzt sein, noch in einer
kausalen Folge zueinander stehen. Grunert et
al. legten 1992 [4] ihrer Arbeit die im angloamerikanischen Raum anerkannte Einteilung
des „posttraumatic stress disorder“ (PTSD)
(der American Psychiatric Association in der
Fassung von 1987) und seiner Symptome
zugrunde3. Diese sollen nicht selten umfassende Handtraumatisierungen stigmatisieren.
Thematisch verwandt ist eine Untersuchung
von 1982 [1], eine Retrospektivstudie eines
183 Personen umfassenden Kollektives, das
ausschließlich aus chirurgisch tätigen Kollegen
bestand. Ihre Verletzungen resultierten in unilateralen Fingergliedverlusten bis zur kompletten Unterarmamputation. In 8 Fällen verordnete man sich die sofortige berufliche Exposition
als Rehabilitationsprogramm, 4 Patienten
nahmen ihre Tätigkeit nach einer Woche auf,
keiner der untersuchten Personen fiel über den
dritten posttraumatischen Monat hinaus aus.
29 der Befragten „profitierten“ geradezu von
ihrer Verletzung, so z. B. seien Körperhöhlen
der digitalen Untersuchung leichter zugänglich.
Ein handamputierter Augenarzt bemerkte
„Handicap is a state of mind, not a state of
fact.“, ein weiterer Kollege fasste das Ergebnis
seiner persönlichen Traumabewältigung mit
den Worten „The important thing is what I left
and what I can do – not what I have lost and
what I cannot do.“ zusammen. Bemerkenswerterweise wurde nicht selten trotz baldiger
beruflicher Rekonvaleszenz die verbliebende
eingeschränkte Gebrauchsfähigkeit eines Musikinstrumentes als das entscheidende private
Handicap angegeben. Die tägliche Arbeit am
Patienten zeigt uns, wie eng umschrieben die
3
1. Wiederholte und sich aufdrängende Erinnerungen an das Ereignis (Flashbacks und Alpträume);
2. Unruhe/angstvolles Verhalten;
3. spontane Gefühlserfahrungen des wiederkehrenden Ereignisses;
4. intensives psychisches Leid bei Konfrontation mit
den das Ereignis symbolisierenden Stimuli
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Möglichkeiten des (nicht nur chirurgisch tätigen) Arztes sind.
Im Klinikbetrieb gilt für den betreuenden Kollegen nicht selten, dass er während und nach
der Beendigung des stationären Aufenthalts
die nicht operative Betreuung des Patienten in
die Hände eines anderen (Physiotherapeuten,
Sozialarbeiter und Hausarzt) gibt, nicht zuletzt
auch als Folge der expandierenden poststationären Therapiemöglichkeiten. Die Vorstellung
des omnipotenten Arztes, der den Patienten
vom Auftreten der ersten Krankheitssymptome
(und/oder vom Unfalltag an) bis zur abschliessenden sozialen Reintegration betreut, gehören vielerorts der Vergangenheit an. In diesem
System des „job-sharing“ ist die Gefahr der
unzulänglichen Organisation hoch - zu Lasten
des Patienten.
Die neue Rolle des Patienten ändert sich
nunmehr vielerorts vom Betreuten zum mitverantwortlich Handelnden. Wird er dieser ihm
abverlangten Anforderung nicht gerecht, bleibt
oftmals trotz anfänglich vielversprechender
Therapieerfolge die vollständige Rückkehr in
die Gesellschaft aus. Berufliche und soziale
Rehabilitation hängen mehr den je von der
persönlichen Einstellung und vom Genesungswillen ab. Das spricht dem behandelnden Arzt natürlich keinesfalls die Mitverantwortlichkeit bei diesem Prozess ab; Cone [2]
brachte es 1974 in griffiger Form auf den
Punkt: „An unresponsive surgeon will find that
he has an unresponsive patient.“
Man muss sich darüber im Klaren bleiben,
dass jede schwerere Beeinträchtigung der
körperlichen Integrität den Patienten in eine
Situation der Abhängigkeit, oft auch der Hilflosigkeit stürzt. Ihn zu der Einsicht zu bringen,
dass er diesem Zustand nur mit eigenem Dazutun entkommen kann, bleibt die Aufgabe des
behandelnden Arztes.
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M. Neuber et al. – Patientenmotivation – unverzichtbare therapeutische Hilfe
4. Literatur
Anschrift des Autors:
1. Brown PW (1982) Less than ten – Surgeons
with amputated fingers. J Hand Surg Am 7: 31
Dr. M. Neuber
Klinik und Poliklinik für Unfall- und Handchirurgie der WestfälischenWilhelms-Universität
Waldeyerstrasse 1
D-48129 Münster
2. Cone J, Hueston JT (1974) Psychological
aspects of hand injury. Med J Austr 1: 104
3. Grunert BK, Devine CA, Matloub HS,
Sanger JR, Yousif NJ (1988) Flashbacks after
traumatic hand injuries: Prognostic indicators.
J Hand Surg Am 13: 125
4. Grunert BK, Devine CA, Smith CJ, Matloub
HS, et al (1992) Graded work exposure to
promote work return after severe hand trauma:
a replicated study. Ann Plast Surg 29: 532
5. Paterson MC, Burke FD (1995) Psychosocial consequences of upper limb injury. J Hand
Surg [Br] 20: 776
6. Pulvertaft RG (1975) Psychological aspects
of hand injuries. Hand 7: 93