Elsa Romfeld (2010): „Mission: Incredible
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Elsa Romfeld (2010): „Mission: Incredible
Elsa Romfeld, M.A. (Heidelberg) Mission: Incredible – Im Auftrag der Aufklärung? Erlösung dem Erlöser! „Ich bin Atheist, ABER…“1: Bekenntnisse statt Prolegomena Vermutlich gibt es für jeden Wissenschaftler Themen, die er unter „irgendwann einmal…“ auf der Agenda hat. „Atheismus“ steht seit langem auf meiner. Angesichts der Popularität, die der sogenannte „Neue Atheismus“2 erlangt hat, fühlte ich mich in letzter Zeit wieder verstärkt provoziert, meine unheiligen Gedanken zu Papier zu bringen, weshalb mir dieser Anlass sehr willkommen ist. Zunächst möchte ich mich kurz positionieren, damit der Leser ahnt, wer hier schreibt. Ich bin nicht getauft worden, wofür ich meinen Eltern dankbar bin. „Sie werden die Gnade der Taufe als Geschenk empfangen“, predigt The Man Formerly Known As Joseph Alois Ratzinger.3 – Sicher, jedes Geschenk ist eine (bisweilen unlösbare) Aufgabe, aber dieses hätte ich wahrscheinlich baldmöglichst retourniert; was es freilich bis dahin für Schaden angerichtet hätte – nun, man denke an die unglücklichen Trojaner … Unabhängig davon besuche ich gerne Kirchen, sofern sie mir architektonisch, musikalisch oder anderweitig etwas bieten. Mitunter belustigt mich auch der Wille zum rituellen Ernst der klerikalen Dienerschaft. Kurzum: Es trifft wohl zu, dass ich Atheistin oder zumindest, konzilianter, Agnostikerin bin. Mein Motto: Lasst ihr mir meine Ruhe, lass’ ich euch eure. So halte ich es mit allen Glaubensgemeinschaften. Apropos: In der Philosophie habe ich mich vor vielen Jahren mit dem naturalistischen Virus infiziert; die Beschwerden 238 sind mittlerweile abgeklungen bzw. haben sich zu einem Gefühl „enttäuschter Liebe“ (wie es ein Kantianer in einem Gespräch über die von mir behauptete Aussichtslosigkeit kognitivistischer Ethik auf den Punkt brachte) chronifiziert. Darüber hinaus habe ich einen Hang zu Epikur, Nietzsche und Benn, hege Sympathien für Aristoteles, Hume, Heidegger und Popper sowie Bewunderung für etliche andere Denker und Dichter, für die an dieser Stelle weder Raum noch Zeit ist. Was bedeutet das für die „Mission Aufklärung“, der sich die „Neuen Atheisten“ unüberhörbar verschrieben haben?4 Ich will es mal so zusammenfassen: Aufklärung empfinde ich überwiegend als sinnvolle Angelegenheit. Zuweilen ist es aber dennoch nötig, der Vernunft (erst recht ihrer Verkürzung, der Rationalität, doch mit solchen Finessen wollen wir uns nicht aufhalten) Einhalt zu gebieten. Wann und warum das der Fall ist, davon erzählt dieser kleine Text. 1. Das Credo der Neo-Aufklärer (Bright Light) Das Anliegen der Aufklärung ist – allgemein und im Bewusstsein gesprochen, dass diese verknappte Explikation problematisch ist (schon deshalb, weil es gilt, den Epochenbegriff vom systematischen Prozess- und Handlungsbegriff zu trennen)5 – bekanntlich die Emanzipation, die Befreiung des Menschen von unreflektierten Autoritäten, darunter zuvorderst von den Doktrinen der Kirche, mit dem Ziel der verständigen Selbstbestimmung des Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus Individuums („sapere aude“). Obwohl voller Kritik gegen seine Zeit, ist der aufklärerische Ansatz zugleich von großem Optimismus geprägt: von dem Glauben an die heilbringende Wirkung der Vernunft, an objektives Wissen, Wahrheit, Erkenntnisfortschritt und daran, dass dies alles, theoretisch und prinzipiell, jedem Menschen zugänglich ist oder sein sollte. Die neo-aufklärerische Bewegung der „Neuen Atheisten“ zeichnet, neben der erwartungsgemäß gottlosen Grundausrichtung, sehr Ähnliches aus: Da wäre zuallererst ihr Rationalismus – der Ratio kommt das uneingeschränkte Primat zu; die Welt vom Irrationalen zu säubern, heißt, sie zu verbessern. Deshalb gehen sie mehr oder weniger massiv gegen alles vor, was sich in ihren Augen einem „Ideologieverdacht“ aussetzt (Stichwort „Säkularisierung“). Die Naturwissenschaften gelten ihnen dabei als Autorität (Stichwort: „Szientismus“)6 und die empirische Überprüfbarkeit von Aussagen spielt eine entscheidende Rolle für deren Akzeptanz (Stichwort „Positivismus“). Dass sie dabei stets der Wille zur Klarheit und zur fairen Argumentation leitet, versteht sich von selbst. „Neue Atheisten“ sind in der Regel „Naturalisten“. Naturalismus ist gewissermaßen die weltanschauliche Vollversion, bei dem man den „Baustein Atheismus“ im Paket mitkauft, was nicht nur konsequent, sondern auch höchst praktisch ist. Anders ausgedrückt: Der „Neue Atheismus“ ist „nur die religionskritische Spitze eines weltanschaulichen Eisberges“7; das demonstrieren Denkfabriken wie die „Giordano Bruno Stiftung“, die „Richard Dawkins Foundation for Reason and Science“ oder das „Project Reason“ des Ehepaars Harris eindrucksvoll.8 2. Warum ich Bremsen nicht leiden kann Aufklärung ist wert-voll. Auch ich bin, wie oben angedeutet, ein Kind des „siècle des lumières“ und lebe in der Überzeugung, dass sein Geist ein erhellender ist; schließlich lässt er uns – damals wie heute – Zusammenhänge begreifen, die andernfalls im sprichwörtlichen Dunkeln lägen. Deshalb erfreue ich mich sporadisch selbst daran, Unwissende aufzuklären. Es hat etwas erfrischend Destruktives, Andere ihrer Illusionen zu berauben und dabei so zu tun, als wolle man nur ihr Bestes (oder besser: zu glauben, Wohltäter an der Menschheit zu sein). Nichtsdestotrotz erspare ich es mir, hier sämtliche Vorteile der Aufklärung aufzuzählen, da ihre Anhänger diese ohnehin wie einen Schild vor sich her tragen oder vor sich her beten, und belasse es bei den engagierten Sätzen Thomas Manns, der sich dort gegen Nietzsche wendet und zugleich die Zuversicht in das Gelingen des Projekts „Aufklärung“ dämpft: „Als ob die geringste Gefahr bestünde, daß es je zu geistig zugehen könnte auf Erden! Die einfachste Generosität sollte dazu halten, das schwache Flämmchen der Vernunft des Geistes […] zu hüten und zu schützen“.9 Nein, insgesamt wird es unter Menschen niemals zu geistig zugehen, das steht fest. Dennoch geht es unter einigen Geistern zu unsensibel zu. Mit ihrem Übermaß an Vernünfteleien drangsalieren sie ihre Artgenossen zwar auf andere Weise, aber kaum weniger als diejenigen, denen es an Geist mangelt. Als Prototyp des Vernünftlers stoßen wir auf die Mensch gewordene Bremse Athens, auf Sokrates10 – laut Nietzsche „das Urbild des theoretischen Optimisten“11. Den blutsaugenden Zweiflügler habe ich mir Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 239 gerne geborgt, und werde im Folgenden darlegen, warum ich ihn nicht mag. 2.1 Spaßfaktor 0 Wir beginnen mit dem scheinbar harmlosesten Befund: Die selbsternannten Ritter des Lichtes sind echte Spaßbremsen, wenngleich sie gelegentlich unfreiwillig amüsieren, was ihnen kaum als Verdienst anzurechnen ist: „Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott“12 – ein Satz, bei dem man zweifelt, ob das selbstparodistische Element der beräderten Weltanschauungswerbung beabsichtigt ist. Mein Tipp: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht, die manierierte Formulierung war wohl eher eine Frage der Ehre (oder des Gesetzbuches?). Nicht, dass die gegnerischen Kirchenvertreter primär für ihren Humor und Unterhaltungswert berüchtigt wären, doch treibt man den Teufel erfolgreich mit dem Beelzebub aus? Entschuldigung! Nein, „Now Stop Worrying And Enjoy Your Life“13 ist keine „Fröhliche Wissenschaft“, sein Ressentiment lässt den Aufklärer à la Dawkins zum Antichristen statt zu Zarathustra werden. Der AufklärungsGestus – unwillkürlich denke ich an „Lehrer Lämpel“ – ist noch immer bevorzugt der erhobene Zeigefinger, was einmal mehr darauf verweist, dass das Bemühen der (in vielen Aspekten nicht allzu) neuen Krawall-Atheisten14 weder sonderlich originell noch bemerkenswert ist. Dessen ungeachtet wäre es, etwa als Hobby professoraler Pensionisten, durchaus tolerabel, so lange, und da liegt das Problem, sie nicht zu aufdringlich werden: Ähnlich wie ein Zeuge Jehovas mir in der Fußgängerzone lediglich stumm den „Wachtturm“ offerieren darf, sollten sie nicht mit ihrem „intellektuellen Cäsarenwahn“15 arglose 240 Passanten belästigen. Denn wem zur Hölle macht es Spaß, ständig nolens volens aufgeklärt, quasi zwangsentzaubert zu werden? Und bevor man mir jetzt, ganz sokratisch, etwas zu suggerieren sucht: Lästig-Sein ist kein Qualitätsmerkmal und Lautstärke weder ein ethisches noch ein ästhetisches Gütesiegel. In diesem Sinne etwas Lyrik für alle geschundenen Seelen: „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn, und das Ende ist dort. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um.“16 Voilà. 2.2 Selbstanwendung? Fehlanzeige Schwerer als das Spaßdefizit wiegt vielleicht der Mangel an Sehvermögen. Die „Aufklärer 2.0“17 sind „geblendet vom Feuer, das sie selber mit sich tragen“.18 Immer wieder „stellt[e] sich heraus, daß diese Aufklärung im Namen der Vernunft schnell die von ihr selbst postulierte Toleranz hinter sich [lässt]“.19 Ein hübsches Beispiel dafür gibt uns der Blog „feuerbringer.com“ des harmlos anmutenden Herrn Müller, seines Zeichens Fördermitglied der schon erwähnten Aufklärungstruppe „Giordano Bruno Stiftung“20 und bekennender Darwin-Fan. Wir lesen: „Es wird hier keine Beiträge geben von Impfgegnern, Aidsleugnern, religiösen Fanatikern, Politideologen und anderen Verrück- Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus ten. Dieser Blog dient der Aufklärung und nicht der Verbreitung von eurer Propaganda.“21 Wohlgemerkt: „eurer Propaganda“. Sie dient nämlich ausschließlich der Verbreitung seiner bzw. ihrer Propaganda, grob belabelt: der des Naturalismus. Braucht es eine derart fanatische Aufklärung, die das Ziel hat, durch „pädagogisch legitimierte Bevormundung“22 den Rest der Welt in den Naturalismus einzugemeinden? Muss man sie erdulden, zumal sie sich ihrer Voraussetzungen nicht mehr bewusst ist, Absolutheitsansprüche pflegt und sich damit, paradoxerweise, dem nähert, was sie eigentlich bekämpfen will: dem Irrationalen? Zweimal nein. Wir fragen weiter: Darf man am Wert der Aufklärung zweifeln, sich ihr gar entziehen, oder macht man sich, wenn man ihr Widerstand leistet, sofort verdächtig? „Aufklärung als Diktat […], unfähig gegenüber Vorurteilen duldsam zu sein, ihnen ihr Eigenrecht zu belassen – diese Aufklärung gerinnt schnell zur Ideologie, die zum Terror greifen muss, um recht zu behalten“, mahnt Koselleck.23 Macht es unterm Strich einen Unterschied, ob die Gefahr vom religiösen Fundamentalismus ausgeht oder vom Dogma der Vernunft? Ungezwungenheit, Toleranz, na klar, aber innerhalb streng vorgegebener Grenzen – wie der deutsche Karneval, nur gefährlicher. Davon weiß auch der späte Heine ein Lied zu singen, dessen „aufgeklärte Freunde“ ihm verärgert sein „Zurückfallen in den alten Aberglauben“ vorwarfen.24 Im Übrigen hat die Giordano Bruno Stiftung ebenfalls ihre Heiligen auserkoren25, darunter den Namensgeber himself26 oder Darwin, dem zu Ehren man „Christi Himmelfahrt“ durch einen Evolutionsfeiertag ersetzen will.27 Weder die eine noch die andere Galionsfigur will ich ihnen madig machen, beide kann ich selbst recht gut leiden; indessen bleibt mir ein Rätsel, warum man ausgerechnet diese Gurus allen anderen vorziehen sollte, und bedenkenswert, ob die Argumentation, die mir das entschlüsselt, nicht munter die Conclusio bereits in eine der Prämissen schmuggelt. Hoppla, „Zirkularität“, „Inkonsistenz“, „Inkonsequenz“ – das ist doch eine Sprache, die der Naturalist versteht! So behauptet jeder Atheist, der Satz „Es gibt einen Gott“ sei falsch – Religion irrt oder lügt. Wie aber steht es mit der impliziten Annahme „Es gibt eine Wahrheit“? Ist sie beweisbar? Ist sie konsensfähig? Oder wenigstens kritisierbar?28 Wenn nicht, was folgt daraus? Ich vermute stark, es verhält sich mit der Aufklärung zuletzt wie mit dem kritischen Rationalismus: Selbstanwendung? Fehlanzeige.29 Konstruktiv formuliert: Ich bitte die Aufklärer darum, ihre selbstvergessenen Voraussetzungen offenzulegen, als das, was sie sind – Metaphysik30 , Mythos. Wen das nicht an die „Dialektik der Aufklärung“ erinnert …31 2.3 Der verflachte Mensch im Sein und Sollen32 Ob „Neuer Atheismus“, „Aufklärung 2.0“ oder „Neuer Humanismus“, der seit kurzem den destruktiv daherkommenden „Atheismus“ ablösen und das angeschlagene Image der Brunisten aufpolieren will33, es ist ein Ärgernis; denn unter welcher Flagge das Schiff auch segelt, es ist auf Irrfahrt. Inwiefern? Fragen wir einmal nicht, was für ein Mensch der Neue Humanist ist, sondern was der Mensch für den Neuen Humanisten ist. Oder: Ist der Neue Humanismus ein Reduktionismus? Ich bin überzeugt davon. Die Verkürzung des Menschlichen ist ihm Programm; insbesondere mit dem klassischen Humanis- Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 241 mus hat er, sieht man genauer hin, kaum etwas gemeinsam.34 Die inadäquate Simplifizierung manifestiert sich beispielsweise an der Willensfreiheitsdebatte, in der Vertreter des Neuen Humanismus beim Prinzip der alternativen Möglichkeiten als der notwendigen Bedingung von Willensfreiheit verharren.35 Dieser starke Willensfreiheits-Begriff ist bekanntermaßen umstritten, vielmehr lassen sich gute Gründe anführen, Willensfreiheit über andere, mit dem Determinismus zu vereinbarende Merkmale zu bestimmen.36 Trotzdem wird die Kompatibilismus-Diskussion zugunsten der Plakativität ausgeblendet. Ein ähnlicher Vorwurf trifft ihre Auffassungen von Moral und Ethik, auch dort begegnet uns binäres Denken. Es scheint so einfach: Zieht man (pseudo-)moralischen Phänomenen mithilfe der Soziobiologie die Maske ab, offenbaren sich „eigennützige Interessen“. Ein Pleonasmus?37 Der Neue Humanist glaubt jedenfalls an den universellen Egoismus und plädiert für eine interessenorientierte Ethik: „Aufgeklärte nackte Affen […] überprüfen […] menschliche Handlungsentscheidungen ganz nüchtern nach dem Kriterium, ob sie die Interessen anderer Personen hinreichend berücksichtigen oder nicht.“38 Von grundsätzlichen Sein-Sollens-Erwägungen abgesehen – die Natur allein produziert keine gültigen Normen, ein tiefer Graben trennt „Was ist der Primat?“ und „Was soll der Primat sein?“ –, was implizieren die Begriffe „Interesse“, „Person“, „hinreichend“? Erfasst man ihre normative Aufladung nicht oder ignoriert man sie? Sei es, wie es ist, der theoretische Mensch ist eine gedankliche Fehlgeburt, ebenso der theoretische Affe – das Ergebnis, wenn sich die Diktatur der Rationalität mit dem Biologismus paart. Doch selbst wenn der neo242 humanistische Entwurf auf der Ebene der Deskription dem Homo sapiens angemessen wäre, würde das einen Liebhaber der Unvernunft nicht bekehren: Vernunft ist Geschmackssache und außer Stande, sich über das Individuum und den Dezisionismus hinaus eigenmächtig zu legitimieren. Wer sagt, ich müsse mich meines Verstandes bedienen, um mündig zu sein – ist nicht manchmal das ganze Gegenteil der Fall? So verteidigt Dostojewskijs Protagonist in „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ das Recht auf Freiheit gegen das Diktat einer alles beherrschenden Vernunft; er beschreibt dort den „vorteilhaftesten Vorteil“, um dessentwillen der Mensch alles aufgebe, sämtliche Gesetze breche und so handele, wie er wolle, nicht, wie die Vernunft es gebiete: „Sein eigenes uneingeschränktes und freies Wollen, seine eigene, selbst die allerausgefallenste Laune, seine Phantasie […] – das, gerade das ist ja jener übersehene allervorteilhafteste Vorteil, der sich nicht klassifizieren läßt“.39 Leben ist eben nicht nur Quadratwurzelziehen,40 und jede Reduktion geht zu Lasten unzähliger Facetten des vitalen Phänomens. Das aber mag den Rechnern unter uns gefallen; und so gehen einem Affen in Ritterrüstung natürlich auch gemäßigtere relativistische Strömungen als der Konstruktivismus oder Poststrukturalismus an den nackten Tatsachen vorbei. Das gehört für ihn zum guten Ton, Zwischentöne, „footnotes“, nicht.41 Ich halte also jeden Zweifel an der Rationalität als notwendig oberstem Prinzip, im Sein wie im Sollen, für gerechtfertigt und wünschenswert42: „Wir werden von Goethe auch heute noch lernen können, dass wir nicht zugunsten des einen Organs, der rationalen Analyse, alle anderen verkümmern lassen dürfen; dass es vielmehr dar- Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus auf ankommt, mit allen Organen, die uns gegeben sind, die Wirklichkeit zu ergreifen“43 , verleiht Heisenberg seiner Hoffnung Ausdruck. Genau diese übersteigerte Rationalität jedoch, die Präferenz für „harte Fakten der Naturwissenschaften“ sowie für säkulare Werte, den belehrenden Tenor – all das teilen die zu Beginn des Kapitels genannten Interessenverbände. Wem ist dann mit einer Umetikettierung vom „Neuen Atheismus“ zum „Neuen Humanismus“ gedient? Zunächst und immerhin den Neuen Humanisten selbst: Vor einem (vermeintlich) sanierten Humanismus warnt es sich noch deutlich unpopulärer als vor einem renovierten Atheismus. 3. Das Ende vom Lied Man möge nachsichtig mit mir sein. Es ist mir schlecht gelungen, jeglichen Spott zu vermeiden. Mea culpa. Programmatische Besserwisser- und Missioniererei gehen mir als Non-Kognitivistin mit entsprechenden Intuitionen nun einmal wider den guten, meinen!, Geschmack. Mit den Worten Degenhardts: „Die Oberlehrerhymnen bringen mich zum Kotzen.“44 Halten wir fest: Auf der einen Seite ist der ambitionierte Gebrauch des Verstandes als regulative Idee zu befürworten, führt uns die instrumentelle Vernunft oft zum Ziel, auf der anderen Seite kann man daraus keinerlei Letztbegründungen ableiten, ist der rationale Zugang zur Welt einer unter vielen. Ob man ihn privilegiert, hängt von arbiträren 45 Voraus-Setzungen ab. Aus dem gleichen Grund sind enttäuschte Aufklärer nicht gut beraten, völlig in die Empfindsamkeit oder Romantik abzudriften – das hieße bloß ein Dogma gegen ein anderes austauschen. Ich möchte stattdessen dafür werben, nach einem gangbaren Weg zu suchen, der es uns erlaubt, so- wohl die eigene Metaphysik zu realisieren als auch die fremde anzuerkennen. Einen Wegweiser finden wir in Franz Reichles verdienstvollem Film „Monte Grande“, der das Leben und Werk des Philosophen und Neurowissenschaftlers Francisco Varela dokumentiert. Varela gelingt es bei all seiner Liebe zur Wissenschaft, ihren verbissenen Ernst abzumildern sowie seine Rolle innerhalb der Community zu relativieren: „Wissenschaft ist in ihrem Kern, in ihrem aktiven, lebendigen Kern, reine Kontemplation. Sie hat wenig oder nichts zu tun mit Manipulation. […] Und die beste Wissenschaft wird immer mit dieser Art von Vergnügen und Freude am Geheimnis betrieben. […] Wenn ich zu Konferenzen reise, weißt Du, wie ich mich da fühle? Ich fühle mich eher wie ein Troubadour im Mittelalter. Ich lebe vom Vortragen meines Liedchens. Dafür kriege ich Essen und Unterkunft, dann geh ich wieder meines Weges“46. – Ein Künstler mit Botschaft statt ein Prophet im Kleide des Wissenschaftlers. Sein Bestreben ist „weniger der Erzieher der Menschheit zu sein als ihr Schüler, weniger die anderen zu bessern als sich selbst […]. Er ist kein Mensch, der pflanzt & sät; er ist ein Mensch, der sammelt & sieht“47 , so einst Diderot über den Eklektiker, dessen tendenzielle Abwertung allein nachvollziehbar wird, wenn man Konsequenz bis zur Dogmatik für eine Tugend hält und rechthaberisches Gebaren für ein Zeichen von Weisheit. Warum nicht häufiger mit einem Urteil aussetzen (Varela: „suspend judgement“)? Warum nicht Widerspruch und Zweifel – ob im Schönen, Guten oder Wahren – zulassen und kultivieren? Warum sich nicht der Maxime verschreiben, „lieber an einer richtigen Sache zu zweifeln, als […] eine falsche Sache anzuer- Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 243 kennen“?48 Fragen statt antworten? Einzig „eine Wunde, die man zeigt, kann geheilt werden“49 oder kann in der Offenbarung des Defizits ihrerseits eine heilsame Wirkung entfalten. Einen leicht abweichenden Vorschlag mache ich in einem früheren Text, der sich mit dem „kritischen Abbruch“ – im Einzelnen: der Reflexion, Explikation und offenen Diskussion des jeweiligen Anfangs – beschäftigt.50 Hier spart man das Urteil zwar nicht aus, markiert es aber als metaphysisch eingefärbt. Damit verbunden ist eine Vorsicht, zu ver-urteilen, eine Bescheidenheit, auch und vor allem der Rationalität. Denn weltanschauliche Fundamente hat jeder (nicht zuletzt der Nihilist), aber diejenigen, die, in wessen Namen auch immer, nicht zur Unfundiertheit ihrer Basis stehen wollen oder können, klären nicht nur nicht aufrichtig auf, sondern sind oft selbst nicht aufgeklärt. Was davon für einen „Neuen Atheisten“ schlimmer sein mag? Anmerkungen: Richard Dawkins zur Freude, der in seinem Nachwort zu Der Gotteswahn (Berlin: Ullstein 2008) angestrengt versucht, sich gegen Kritik aus den eigenen Reihen zu immunisieren (S. 522f.). 2 Zur Geschichte und Problematik dieses Neologismus siehe den Beitrag von Thomas Zenk im vorliegenden Heft. Allerdings teile ich seine Bedenken nur partiell, zumal begriffliche Unschärfen und Fremdbezeichnungen weder in der Geschichte der Sprachen Ausnahme-Phänomene sind noch zwangsläufig unüberwindbare Hürden für das Glücken von Kommunikation darstellen. 3 So geschehen in der Sixtinischen Kapelle am 10.01.2010. 4 Siehe z.B. Christopher Hitchens in Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet. München: Heyne 2009, Kapitel 19: Die Notwendigkeit einer neuen Aufklärung. 5 Wer es präziser braucht, der siehe Horst Stuke: Aufklärung. In: Otto Brunner et al. (Hrsg.): Ge1 244 schichtliche Grundbegriffe. Band 1. Stuttgart: Klett 1972, S. 243-342. 6 Vgl. z.B. Hitchens 2009 (wie Anm. 4), S. 15: „Allerdings misstrauen wir allem, was Wissenschaft und Vernunft widerspricht.“ 7 Michael Schmidt-Salomon: Vom neuen Atheismus zum neuen Humanismus? 2008, S. 5. URL: http://www.schmidt-salomon.de/neuhuman1.pdf 8 URLs: http://www.giordano-bruno-stiftung.de/ bzw. http://richarddawkinsfoundation.org/ bzw. http:/ /www.project-reason.org/ 9 Thomas Mann: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Berlin: Suhrkamp 1948, S. 32. 10 Platon: Apologie des Sokrates, 30e. Auch wenn man „µυωψ“ mit „Sporn“ übersetzt, bleibt die wesentliche Aussage erhalten. 11 KSA 1, S. 100. Zu Nietzsches Sokrates-Bild lesenswert: Florian Roth: Sokrates als Problem – der Angriff Nietzsches. München 2005. URL: http:/ /www.florian-roth.com/texte/pdfs/Nietzsche%20 und%20Sokrates.pdf 12 Atheist Bus Campaign 2009 in Deutschland. 13 Die gleiche Werbekampagne in Großbritannien (2008 initiiert von der britischen Journalistin Ariane Sherine). 14 Vgl. Joachim Kahl: Weder Gotteswahn noch Atheismuswahn. Eine Kritik des „neuen Atheismus“ aus der Sicht eines Vertreters des „alten Atheismus“, S. 2. URL: http://www.kahl-marburg. privat.t-online.de/Dawkinskritik.pdf 15 Ebd., S. 1. Seine beiden Merkmale sind „triumphalistische Selbstüberschätzung und abgründige Realitätsblindheit“, Letztere kommt in 2.3 zur Sprache. 16 Rainer Maria Rilke: Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort, 1897. 17 Andreas Müller: Aufklärung 2.0 – Eine Oase der Vernunft. URL: http://feuerbringer.com/ 18 Friedrich Nietzsche, KSA 2, S. 333. 19 Reinhart Koselleck: Über den Stellenwert der Aufklärung in der deutschen Geschichte. In: Hans Joas, Klaus Wiegandt (Hrsg.): Die kulturellen Werte Europas. 2. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer 2005, S. 361. 20 Giordano Bruno Stiftung: Aufklärung im 21. Jahrhundert. URL: http://www.giordano-brunostiftung.de/Archiv/imagebrosch09.pdf 21 URL: http://feuerbringer.com/about/ 22 Koselleck 2005 (wie Anm. 19), S. 362. 23 Ebd., S. 364. Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus „Andere, in ihrer Intoleranz, äußerten sich noch herber. Der gesamte hohe Klerus des Atheismus hat sein Anathema über mich ausgesprochen, und es gibt fanatische Pfaffen des Unglaubens, die mich gerne auf die Folter spannten, damit ich meine Ketzereien bekenne“. Heinrich Heine: Nachwort zum „Romanzero“ von 1851, heute so aktuell wie damals. URL: http://www.textlog.de/heine-gedichte-nachwort. html 25 Vgl. z.B. Thomas Thiel: Auch der Atheismus pflegt seine Heiligen. FAZ vom 05.03.2008. URL: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Presse-PDF/ bruno_faz_5-3-08.pdf 26 Ein Miss-Verständnis? Zu einer anderen Sicht auf Bruno siehe den Beitrag von Wolfgang Buschlinger im vorliegenden Heft, der ihn eher als Metaphysiker denn als Aufklärer und Atheisten rezipiert. (Mir wiederum geht es, jenseits dieser Dichotomie, um die Aufklärungsmetaphysik.) 27 Vgl. Michael Schmidt-Salomon: Evolutionstag statt Christi Himmelfahrt! URL: http://www.darwinjahr.de/e-day 28 Sowohl Dawkins (wie Anm. 1, S. 392f.) als auch Hitchens (wie Anm. 4, S. 15) behaupten das. Leicht gesagt; ich halte das für ein Lippenbekenntnis. Mögen sie diese These falsifizieren. 29 Das gilt für den Kritischen Rationalismus im Sozialen wie im Epistemischen. 30 Metaphysik wird hier verstanden als Bereich, der sich kritischer Prüfung entzieht. 31 …der lese nach: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. 18. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer 2009. 32 Der verflachte Mensch ist nicht notwendig der „eindimensionale Mensch“ (Buchtitel von Herbert Marcuse, 1967), hat aber die Tendenz, es zu werden. 33 Vgl. Michael Schmidt-Salomon: Vom neuen Atheismus zum neuen Humanismus? (wie Anm. 7). 34 Vgl. Franz-Josef Wetz: Rettung der Selbstachtung. Vom alten zum neuen Humanismus. URL: http://www.turmdersinne.de/welthumanistentag/ vortragsfolien/Wetz.pdf 35 Vgl. Michael Schmidt-Salomon: Ethik für nackte Affen. Vom neuen Atheismus zum neuen Humanismus. URL: http://www.turmdersinne.de/ welthumanistentag/vortragsfolien/MSS.pdf 36 Siehe z.B. Michael Pauens Konzeption der „personalen Freiheit“ in: Ders.: Freiheit und Verantwortung. Wille, Determinismus und der Begriff der 24 Person. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 26 (2001), S. 23-44. 37 Siehe dazu Elsa Romfeld: Wie viel Altruismus kann man von uns erwarten? Magisterarbeit, TU Braunschweig 2004, Kapitel 2 (noch unveröffentlicht). 38 Michael Schmidt-Salomon: Ethik für nackte Affen (wie Anm. 35). 39 Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Übersetzung von Swetlana Geier. Stuttgart: Reclam 2007, S. 28. 40 Vgl. ebd., S. 31. 41 Einen vielversprechenden Versuch, zumindest „den ganzen Menschen im Blick zu halten“, liefert das Konzept der „Integralen Aufklärung“. URL: http://www.glossar.zukunfts-zentrum.de/02_infoblaetter/PDF/AP_00_05-G.pdf 42 Solch ein Zweifel kann gänzlich a-vernünftig sein, die Vernunft kann sich jedoch auch selbst begrenzen oder aufheben. 43 Werner Heisenberg: Das Naturbild Goethes und die technisch-naturwissenschaftliche Welt, 1967: URL: http://www.gedichte.vu/heisenberg.html 44 Franz Josef Degenhardt: Adieu Kumpanen. Polydor 1966. 45 Arbitrarität schließt nicht zwingend Bewusstheit ein. 46 Francisco Varela in: Franz Reichle: Monte Grande – Was ist Leben? Dokumentarfilm über Francisco Varela. Schweiz 2004, Kapitel 05: Wissenschaftskern. 47 Denis Diderot: Eklektizismus. In: Anette Selg, Rainer Wieland (Hrsg.): Die Welt der Encyclopédie. Band 1. Frankfurt/Main: Eichborn 2001, S. 53. 48 Ebd. 49 Joseph Beuys zu seiner Installation Zeige deine Wunde,1974-75, Süddeutsche Zeitung vom 26./ 27.01.1980. 50 Elsa Romfeld: Vom dogmatischen zum kritischen Abbruch: Zum Umgang mit Hintergrundmetaphysiken in der Ethik. In: Martina Fürst et al. (Hrsg.): Analysen, Argumente, Ansätze. Frankfurt/ Main: Ontos 2008, S. 383-388. Alle URLs sind auf dem Stand vom 06.09.2010. Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 245