Unerwarteter Rechtsruck nach den Präsidentschaftswahlen in
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Unerwarteter Rechtsruck nach den Präsidentschaftswahlen in
Unerwarteter Rechtsruck nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich? Von: Benjamin Hoff/Florian von Alemann Am den Sonntagen des 21. April und des 5. Mai 2002 fanden in Frankreich die beiden Wahlgänge der Präsidentschaftswahlen statt. Erstmals seit 1969 stand dabei kein Kandidat der Linken in der Stichwahl. Die Alternative im zweiten Wahlgang bestand daher nur zwischen dem konservativen, gaullistischen Amtsinhaber Jaques Chirac und dem Parteivorsitzenden der rechtsextremen Front National, Jean-Marie Le Pen. Nachfolgend wollen wir einen Blick auf die französischen politischen Verhältnisse werfen und damit ein wenig mehr Einblick in die dortige Parteienlandschaft ermöglichen. Dabei wollen wir in mehreren Schritten vorgehen. Zuerst wollen wir auf die bisherigen Kräftekonstellationen eingehen und angesichts dieses Wahlergebnisses die Ausgangslage der einzelnen Parteien für die Parlamentswahlen, die am 9. und 16. Juni 2002 stattfinden werden, diskutieren. Im zweiten Teil werden wir auf die Entstehungsgeschichte und politische Entwicklung der Front National eingehen. Dabei vertreten wir die These, dass die beiden rechts extremen Parteien, die zur Präsidentenwahl antraten, über ein bedeutendes und stabiles rechtsextremes Wählerpotenzial verfügen. Angesichts der Schwäche der beiden Favoriten, Chirac und Jospin, war ein Erfolg von Le Pen demnach, wenn nicht absehbar, so doch nicht ausgeschlossen. Im Anhang geben wir außerdem einen Überblick über das französische Parteienspektrum. 1. Formwandel des politischen Systems in Frankreich Der Ausspruch »Man sieht sich im Leben immer zweimal« mag auch Chirac am Abend des ersten Wahlgangs durch den Kopf gegangen sein, als er hörte, dass er am 5. Mai gegen Le Pen antreten musste. Eben jene rechtsextreme Kraft, von der er sich 1988 als letztlich glückloser bürgerlicher Präsidentschaftskandidat gegen den Sozialisten Mitterand Stimmen erbat. Später hat er ein solches Treffen stets geleugnet. Der mittlerweile 69jährige Chirac, der auf eine mehr als dreißigjährige politische Karriere zurückblickt, war einziger Kandidat der Neogaullisten bei diesen Wahlen. Anders als vor sieben Jahren, als sein Parteifreund Balladur gegen ihn antrat und ihn beinahe die Mehrheit gekostet hätte, genoss Chirac den Bonus des Amtsinhaber. Nichtsdestotrotz nahmen es ihm viele übel, dass er als Staatspräsident zu zurückhaltend war, dass er Frankreichs Stimme in der Welt kein Gehör verschaffte und dass er mit der Parlamentsauflösung von 1997 den Linken an die Regierung verhalf. Außerdem gilt er politisch als profillos. Als er 1995 im zweiten Wahlgang gegen den Sozialdemokraten Lionel Jospin die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte, hinderte ihn sein Versprechen, „la fracture sociale“, den sozialen Bruch, Frankreichs zu heilen nicht daran, mit seinem Premierminister Juppé eine streng neoliberale Politik zu betreiben. Seit Jahren hängen ihm überdies verschiedene Affären aus seiner Zeit als Bürgermeister von Paris in den 80’er Jahren an, in denen es vor allem um dubiose Finanzierungen seiner Partei, der gaullistischen RPR geht. Nur sein Amt als Staatspräsident hat Chirac bisher davor bewahrt, vor Gericht erscheinen zu müssen. Fahrlässig in die Kohabitation In der Nationalversammlung, dem französischen Parlament, konnte Chirac nach 1995 auf eine satte Mehrheit der Abgeordnetensitze bauen, die durch die RPR sowie das konservativ-rechtsliberale Parteienbündnis UDF, gesichert wurden. Die restlichen Stimmen verteilten sich auf die parlamentarische Linke, die mehrheitlich durch die Sozialisten sowie die von ihnen unterstützte PRG und durch die Kommunisten besetzt wurden. Aufgrund des in Frankreich geltenden Mehrheitswahlrechts, war die FN trotz Wahlergebnissen von rund 8-10% nicht im Parlament vertreten. Ohne Not löste Chirac aber nur zwei Jahre nach seinem Amtsantritt die Nationalversammlung auf, um sich bis zum Ende seiner siebenjährigen Amtszeit einer stabile Mehrheit zu sichern. Damit beging er einen schwerwiegenden Fehler. Die vorgezogenen Neuwahlen im Juni 1997 bescherten Chirac eine dramatische Niederlage und Jospin, wohl auch zu dessen eigener Überraschung, die Regierungsmehrheit. Die Linke war damals, nach dem Abgang Mitterrands, geschwächt und auf einen offensiven Kampf um die Regierungsmacht nicht vorbereitet. Dennoch schuf er nach dem Wahlsieg aus dem Stand eine stabile Regierung aus Sozialisten, Kommunisten, Grünen sowie Linksnationalen und Linksliberalen. Darüber hinaus gelang ihm die strikte Abgrenzung zum korrupten Seite 1 von 12 Personal der Mitterrands-Ära. Die Erfolge der Regierung können sich durchaus sehen lassen. Im europäischen Vergleich steht die Regierung Jospin besser da als die Mehrheit der europäischen Nachbarn. Die gesamtwirtschaftliche Lage bezogen auf das vergangenen Jahr sah Frankreich mit 2,1% Wachstum des Bruttosozialprodukts weit vor Japan, den USA und der Bundesrepublik Deutschland. Die Rezession nach dem 11. September 2001 hat im letzten Quartal auch in Frankreich zu einem Null-Wachstum geführt. Die Einführung der 35-Stunden-Woche hat ca. 265.000 Arbeitsplätze geschaffen und durch die Eingliederungshilfen für Jugendliche konnten 350.000 Auszubildende zumindest befristet erwerbstätig beschäftigt werden. Es darf jedoch nicht unterschlagen werden, dass diese Beschäftigungsformen in der Regel im Niedriglohnsektor stattfinden und das Verbot von Nachtarbeit für Frauen wieder aufgehoben wurde. Außerdem hat die Regierung der „gauche plurielle“ ein Privatisierungsprogramm betrieben, das deutlich über ihre konservativen Vorgängerinnen hinausgeht. Tab. 1: Das Parteienspektrum in Frankreich Linke und grüne Regierungsparteien "La Gauche Plurielle" Bürgerliche Oppositionsparteien "La Droite" Rechtsextreme Linksradikale Parti Socialiste (PSF) Vorsitz: François Hollande Parti Communiste Français (PCF) Vorsitz: Marie-George Buffet Parti Radical de gauche (PRG) Vorsitz: Jean-Michel Baylet Mouvement des Citoyens (MDC) Vorsitz: Jean-Pierre Chevènement Les Verts – Grüne Vorsitz: Jean-Luc Bennahmias Rassemblement pour la République (RPR) Vorsitz: Michelle Alliot-Marie Rassemblement pour la France (RPF) Vorsitz: Charles Pasqua Union pour la Démocratie Française (UDF) Vorsitz: François Bayrou Démocratie Libérale (DL) Vorsitz: Alain Madelin Front National (FN) Vorsitz: Jean-Marie Le Pen Mouvement national républicain (MNR) Vorsitz: Bruno Mégret Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) Vorsitz: Alain Krivin Lutte Ouvrière (LO) - Arbeiterkampf Vorsitz: Arlette Laguiller Staatspolitisch wird die französische Politik seitdem von einer ‚Kohabitation’, also der Dualität von Präsidenten und Premierminister aus verschiedenen politischen Lagern geprägt. Seit der ersten Präsidentschaft von Mitterrand (1981) hat Frankreich schon dreimal, insgesamt neun Jahre, mit kohabitierenden Staatsspitzen leben müssen. Diese französische Form der großen Koalition prägt nicht nur die Präsidentschaften und die Regierungsarbeit, sie durchdringt auch das gesamte politische System. Damit wurden immer wieder Barrieren aufgebaut, zum Beispiel bei der Justizreform. Diese scheiterte letztlich am politisch motivierten Widerstand des Staatspräsidenten, der dem Kohabitationsgegner den Erfolg nicht gönnen mochte. Doch während politische Akteure und Beobachter darin übereinstimmen, dass die Kohabition dem Land nicht gut bekommt, schätzen die BürgerInnen diese französische Form der ‚checks and balances’ durchaus. Mit der Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten auf 5 Jahre, die vor dieser Wahl einführt wurde, wird die Amtszeit des Präsidenten an die Legislaturperiode des Parlamentes angepasst, in der Hoffnung dadurch die Kohabitation einzudämmen. Ähnlich wie bei großen Koalitionen in Deutschland lässt diese Konstellation das Profil der einzelnen Akteure tendenziell verschwimmen. Viele Franzosen konnten beispielsweise bei dieser Wahl keinen Unterschied zwischen Chirac und Jospin erkennen. Die Ausgangsbedingungen waren daher für die etablierten Parteien so schwer wie selten, denn schon seit Jahren verzeichnen sie erhebliche Erosionsprozesse in ihren Organisationsstrukturen aber auch insbesondere im Wählerinnen- und Wählerspektrum. Seite 2 von 12 Politikverdrossenheit in Frankreich Die Kommunalwahlen im vergangenen Jahr waren dafür beredtes Beispiel, denn von den unter 25jährigen gingen mehr als 50% nicht zur Wahl. Sie bestätigten damit ein Phänomen, nach dem sich im vergangenen Jahrzehnt dauerhaft mehr als 70% der Bevölkerung nicht durch eine Partei oder einen Politiker vertreten fühlten (Sander 2001b, 33). Dem geringen politischen Interesse und Engagement folgt eine radikal abnehmende Polarisierung der politischen Meinungen. Während sich 19% der politischen Linken und 11% der politischen Rechten zuordnen, bleibt die restliche überwiegende Mehrheit indifferent. 38% stehen keiner politischen Partei nahe, 21% wissen es nicht und 5% weigerten sich entsprechende Fragen zu beantworten (Sander 2001b, 37). Dieser Trend lässt sich darüber hinaus nicht nur bei den politischen, sondern auch bei den Sozialwahlen z.B. zu den Laien-Arbeitsrichtern usw. verfolgen. Die Ursachen hierfür sind sowohl hausgemacht, als auch in gesellschaftlichen Umwälzungen begründet, die sich der Steuerungsfähigkeit einzelner politischer Akteure entziehen. Die etablierten Parteien sind, wenn auch mit qualitativen Unterschieden, in Parteispenden- und andere Finanzskandale verstrickt und haben damit in hohem Maße moralischen Kredit eingebüßt. Während auf der Linken Jospin ab 1995 einen Bruch mit der skandalbelasteten Ära Mitterand und deren politischen Personals verkörperte, dürfte Chiracs Motivation, für eine weitere Amtszeit zu kandidieren, nicht zuletzt daher rühren, dass nach einem Auszug aus dem Elysée Palast die Staatsanwälte auf ihn warten würden. Die Skandale in der französischen Politik hängen auch mit der Auswahl des politischen Personals in Frankreich zusammen. Ein Großteil der französischen PolitikerInnen sind Absolventen der gleichen Eliteschulen, vor allem des Institut d’Etudes Politiques (Science Po) und der Ecole nationale d’administration (ENA). Aus dieser gemeinsamen Ausbildung resultieren nicht nur lange zurückreichende Seilschaften, sondern auch eine Art Klassenbewusstsein, das ein Unrechtsbewusstsein beim Umgang mit öffentlichen Geldern vielfach verhinderte. Auch in der Außenwahrnehmung durch die BürgerInnen wird die „classe politique“ dadurch häufig pauschal als korrupt und abgehoben wahrgenommen. Tab. 2: Vergleich der Stimmergebnisse für die Präsidentschaftswahl mit der Umfrage vom 11.04.02 KandidatInnen Jacques Chirac, Neo-Gaullist (RPR) Jean-Marie Le Pen, Rechtsextreme (FN) Lionel Jospin, Sozialist (PS) François Bayrou, Rechtsliberaler (UDF) Arlette Laguiller, Trotzkistin (LO) Jean-Pierre Chevènement, Linksnationalist (MDC) Noël Mamère, Grüner (Verts) Olivier Besancenot, Trotzkist (LCR) Jean Saint-Josse, Jägerpartei (CPNT) Alain Madelin, Liberaler (DL) Robert Hue, Kommunist (PCF) Bruno Mégret, Rechtsextremist (MNR) Christiane Taubira, Linksliberale (PRG) Corinne Lepage, Ökologin – Chirac nahestehend Christine Boutin, Konservative (UDF) Daniel Gluckstein, Trotzkist (PT) Ergebnis Umfrage vom 21.04.02 vom 11.04.02 19,67 % 20,0 % 17,02 % 12,0 % 16,07 % 20,0 % 6,89 % 5,0 % 5,77 % 11,0 % 5,36 % 6,0 % 5,27 % 6,5 % 4,29 % 1,0 % 4,28 % 3,5 % 3,92 % 3,5 % 3,41 % 5,0 % 2,36 % 3,0 % 2,15 % 1,0 % 1,89 % 1,5 % 1,19 % 0,5 % 0,47 % 0,5 % Quelle: Frankfurter Rundschau, 23.04.02 sowie Politischer Kurzbericht der KAS, Paris Erläuterung: Bei der UDF handelt es sich um ein konservativ-rechtsliberales Parteienbündnis Der Trend der „Politikverdrossenheit“, in Frankreich als „crise de la représentation“ diskutiert, hat seine Basis auch in der erheblichen Enttäuschung und Desillusionierung über die mangelnde Steuerungsfähigkeit der Linksregierungen der 80er Jahre. Der damalige Sieg der Linken, der mit den Worten des langjährigen sozialistischen Kulturministers, Jack Lang, „die Nacht vom Tag“ trennte, war verbunden mit einem ambitionierten keynesianischen Wirtschaftsprogramm. Entgegen dem neokonservativen Mainstream in den OECD-Staaten, insbesondere Großbritannien unter Thatcher und den Vereinigten Staaten unter Reagan, versuchte die Linksregierung den Strukturbrüchen seit der Wirtschaftskrise 1974/75 mit den Regulationsinstrumenten der Staatsintervention und der Verstaatlichung einzelner Industriezweige beizukommen. Diese versagten ebenso wie das System der staatlichen Beschäftigungsstrukturen und gerieten beide Seite 3 von 12 zunehmend unter Legitimationsdruck. Auch die Linksregierung unterwarf sich letztlich der „neoklassischen“ Vorstellung, dass die Selbstheilungskräfte des Marktes durch staatliche Intervention nur gestört werden. Gerade unter der Ägide von Sozialisten und Kommunisten, die mit einem dezidiert staatsorientierten Wirtschaftsprogramm angetreten waren, setzte sich die Erkenntnis durch, dass die „Grande Nation“ an nationalstaatlicher Steuerungskompetenz verliert. Durch die rasant zunehmende internationale Verflechtung der Wirtschaft und dem verstärkten Einfluss der internationalen Finanzmärkte, verringerte sich der direkte Spielraum des Staates in der Wirtschaftspolitik. Die zunehmende Europäische Integration schaffte zwar mögliche Kompensationen, reduzierte die direkten Einflussmöglichkeiten des einzelnen Staates aber weiter. Daraus resultierten Ohnmachts- und Entfremdungsgefühle, die gerade in der WählerInnenschaft der Front national eine wichtige Rolle spielen. Inszenierung des starken Staates Die etablierten französischen Parteien reagierten auf diese Entwicklung zögerlich lavierend und zugleich um öffentliche Inszenierung des starken Staates bemüht. Der Hintergrund liegt darin, dass sich mit dem Übergang vom fordistischen Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat die Legitimationsgrundlage der staatlichen Akteure wie auch der politischen Eliten entscheidend veränderten. Im Rahmen der Globalisierung von Wirtschaft, des Geld- und Warenverkehrs, sind Nationalstaaten immer weniger in der Lage regulierend in Wirtschaftsprozesse einzugreifen. Die keynesianische Regulation, mittels derer durch staatliche Steuerung Wachstum, soziale Sicherung und Vollbeschäftigung gewährleistet werden konnte, hat sich erschöpft. Die politischen Eliten können für sich immer weniger in Anspruch nehmen, soziale Notlagen abzufedern, statt dessen reagieren sie auf das Diktat der internationalen Standortkonkurrenz mit Sparmaßnahmen und der Privatisierung sozialer Risiken. Folglich werden korporative Verhandlungssysteme ausgebaut, die zwischen den Interessen von Staat, Kapital und Gewerkschaften vermitteln. Damit entziehen sich die politischen Eliten allerdings auch ihre eigene Legitimation. Materielle Verteilungspolitik wird zugunsten nationalistischer, autoritär-populistischer und rassistischer Politik aufgegeben, um die soziale Integration breiter Bevölkerungsmehrheiten und die Legitimation der eigenen politischen Klasse auch weiterhin zu gewährleisten. Mediale Kampagnen, die sich der Bekämpfung von „Kriminalität“ und Migration verschrieben haben, gewinnen dadurch einen immer stärkeren Stellenwert. Die Mobilisierung von Rassismus und Nationalismus verfügt über den Vorteil, durch langjährige Bearbeitung breite Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung zu finden und von ökonomischen / sozialen Problemen abzulenken. Der rassistisch untermauerte Sicherheitsdiskurs sichert die gesellschaftliche Integration trotz Sozialabbau und konstruiert Feindbilder („Kriminelle“, „Ausländer“ und „Sozialschmarotzer“), die die eigentliche „Gefährdung des Gemeinwohls“ darstellen. Mit der innerstaatlichen Aufrüstung eröffnet sich ein fast grenzenloses Feld staatlicher Aktivität, mit der die Bevölkerung nicht nur in Wahlkampfzeiten immer wieder neu mobilisiert werden kann. Vor dieser Inszenierung betrachten wir den Aufstieg des Front National nicht nur zum eigentlichen Gewinner der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, sondern zum etablierten Teil des französischen Parteienspektrums. 2. Aufstieg des Front National - Wie Phoenix aus der Asche? Mit dem Ergebnis des 1. Wahlgangs der Präsidentschaftswahl errang Le Pen seinen bislang größten Erfolg. Von einem unerwarteten Ergebnis zu sprechen ist jedoch verfehlt. Seit vielen Jahren ist die Front National eine stabile Größe im politischen System Frankreichs. Wir werden nachfolgend zuerst auf die Entstehungsgeschichte der FN, daran anschließend auf Programmatik und Ideologie, dann auf die Wählerschaft sowie abschließend auf die Mitverantwortung der französischen Parteien für den Erfolg der FN eingehen. Rechtsextreme Sammlungsbewegung Die Gründung der Front National wurde 1972 initiiert durch den Ordre Nouveau (ON), eine rechtsextreme Gruppe, die vor allem an den Universitäten aktiv war. Der ON war aus einer militanten rechtsextremen Gruppe namens Occident hervorgegangen, die ebenfalls im universitären Milieu verankert war und 1968 nach verschiedenen Übergriffen und Anschlägen auf linke Einrichtungen und Kulturstätten verboten wurde. Das Ziel der Gründung der FN war, eine Sammlungsbewegung der zersplitterten extremen Rechte zu erreichen. Seite 4 von 12 Klassischerweise kann man in der französischen Rechten drei traditionelle Strömungen unterscheiden, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert haben und zum Teil bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts überlebt haben. Die Richtung des Bonarpartismus, die Klassenkämpfe und Parteien im Namen des nationalen Interesses und der Größe der französischen Nation verdammt, wohingegen sich der Orléanismus eher auf eine bürgerlich-parlamentarische Politik konzentriert mit einer starken Betonung der wirtschaftlichen Freiheit und des Eigentums. Eine monarchistische Minderheit spricht sich für die Überwindung der parlamentarischen Demokratie und den Katholizismus als Staatsreligion aus (Sirenelli 1998, 7f). In der FN sammelte sich zum Einen eine Minderheit reaktionärer Katholiken, zum Teil traditionell geprägt und zum Teil der „Action française“ nahestehend, einer gegen Ende des 19. Jahrhunderst von Charles Maurras gegründeten faschistischen Gruppe, die die französische Revolution ablehnte und das Regime von Vichy inspiriert hatte. Zum anderen eine Mehrheit von Nationalisten, die aus dem ON hervorgingen. Im Jahr 1974 kamen die Nationalrevolutionäre um François Duprat hinzu, der harte neofaschistische Flügel der extremen Rechte, die verstärkten Geschichtsrevisionismus einbringen. Als Führungsfigur wird Jean-Marie Le Pen eingesetzt, der für den rechtsextremen Politiker Poujade in den 50’er Jahren schon einmal als jüngster Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung gesessen hatte. Von Beginn an gab es eine politische Nähe zwischen der FN und den italienischen Neofaschisten des Movimento Sociale Italiano – Destra Nationale (MSI-DN). Der MSI-DN schenkte der FN als Starthilfe Plakate und Propagandamaterial im Wert von 130 Millionen alten Francs. Im Gegenzug übernahm die FN mit der dreifarbigen Flamme in den Nationalfarben in das Parteiemblem die MSI-Symbolik. Diese Zusammenarbeit setzte sich später in den 80’er Jahren insbesondere im europäischen Parlament und in g emeinsamen Projekten fort. Obwohl in der Startphase keinesfalls erfolgreich, setzte die FN von jeher auf eine elektorale Strategie. Erst Anfang der 80’er Jahre, gut 10 Jahre nach der Parteigründung, konnte die FN erste Wahlerfolge verbuchen. Bei den Kantonswahlen 1982 erreichte sie in Dreux mit 12,62% ein furioses Ergebnis. Le Pen selber schaffte bei den Gemeindewahlen 1983 einen ersten persönlichen Wahlerfolg mit 11,26% im 20. Bezirk von Paris. Im September 1983 wurde wiederum in Dreux der erste Kandidat der FN nach der Fusion der Listen mit den Gaullisten mit einem Stimmanteil von 16,7% gewählt. Bei den Europawahlen von 1984 erreichte die FN ein Ergebnis von 10,95%. Damit war sie als politische Kraft in Frankreich etabliert. Obwohl dieses Ergebnisse landesweit Ausnahmen blieben, profitierte die FN in der ersten Hälfte der 80er Jahre generell von der Demoralisierung der bürgerlichen Parteien nach dem Wahldebakel von 1981, als die politische Linke erstmals nach 23 Jahren wieder an die Macht kam. Das allein kann den Wahlerfolg Le Pens bei den Präsidentschaftswahlen 1988, in denen er im ersten Wahlgang 14,4% erzielte, allerdings nicht erklären, wie wir unten zeigen werden. Obwohl die FN bei den anschließenden Parlamentswahlen „nur“ 9,7% erreichen konnte und damit leicht hinter ihr Ergebnis von 1986 zurück fiel, konnte sie bei den Europawahlen 1989 2,1 Millionen Wahlberechtigte gewinnen und kam damit auf 11,8%. Die Front National greift demnach seit fast zwanzig Jahren auf ein stabiles Wählerpotenzial von 10% zurück und kann ohne große Probleme bis zu 15% der Wählerstimmen auf sich vereinigen. Eine neue Qualität erreichten die Wahlerfolge der FN Mitte der 90’er Jahre, als sie es 1995 und 1997 schaffen, die Bürgermeisterposten in vier mittelgroßen französischen Städten zu erlangen (Toulon, Orange, Marignane 1995 und Vitrolles 1997). In diesen Städten wurden daraufhin linke Gruppen konsequent ausgegrenzt und MigrantInnen soweit wie möglich benachteiligt. Eine Geburtenprämie nur für französische Mütter wurde allerdings durch ein Gericht für illegal erklärt. Selbst die Spaltung, die vor drei Jahren stattgefunden hat, als der Stellvertreter und Schwiegersohn Le Pens, Bruno Mégret, nach heftigen Auseinandersetzungen versucht hatte, die Partei an sich zu reißen und schließlich mit einer großen Zahl an Funktionären eine neue politische Formation mit dem Namen Mouvement national républicain (MNR) gegründet hat, konnte die FN nicht dauerhaft schwächen. Stattdessen wurde diesmal das Wählerpotenzial entweder noch besser ausgeschöpft, als wenn die FN allein kandidiert hätte oder der Wahlerfolg Le Pens wäre noch höher gewesen. Rechnet man die auf Mégret entfallenen Stimmen hinzu, wäre Le Pen von Chirac ins Ziel gekommen. Mégret hat nach der Wahl seine Brüderfeindschaft vorläufig überwunden und zur Wahl seines Konkurrenten aufgerufen. Neben der eigentlichen Partei betreibt die Front national eine Reihe von Satellitenorganisationen, die das Ziel haben, ein eigenes Milieu zu schaffen. Dazu gehören die Jugendorganisation Front national de jeunesse (FNJ), die Studentengewerkschaft Renouveau étudiant (RE) sowie verschiedene gewerkschaftliche Organisationen unter dem Dach der „Entreprise moderne et libertés“, als auch andere Zirkel für Bauern, Auslandsfranzosen und traditionelle Katholiken. Die Polizeigewerkschaft FPIP steht der Front national zumindest nahe. Eine wichtige Rolle spielen auch die Comités d’action républicaine (CAR), eine Art Seite 5 von 12 Denkzirkel für die Front national, die von Bruno Mégret ins Leben gerufen wurden. Ein Sammelbecken für ehemalige Armeeangehörige und rechtsextreme Schläger der Organisation armée secrète (OAS), einer rechtsextremen Kampfgruppe aus den 60’er Jahren, ist der parteieigene Ordnerdienst Département Protection Sécurité (DPS), der wiederholt durch brutale Übergriffe auf Linke und AusländerInnen aufgefallen ist. Programmatisch autoritär, wertkonservativ und nationalistisch Ein einheitliches geschlossenes programmatisches Verständnis existiert innerhalb der FN aufgrund ihres Charakters als rechtsextreme Sammlungsbewegung nicht. Statt dessen bestehen mehrere weitgehend autonome ideologische Pole, bei denen der FN-Chef als Schiedsrichter entscheidet. Dies entspricht der starken Führerzentrierung in der Person Le Pens, der weitgehend unumschränkt und autoritär die FN leitet. Ähnlich wie bei den Republikanern in Deutschland betreibt die FN ein kluges Doppelspiel zwischen inszenierten offen antisemitischen und rassistischen ‚Ausfällen’ und der Bespielung der gesamten thematischen Klaviatur der Neuen Rechten. Während der ehemalige FN-Chefideologie Mégret für die Kontakte und den inhaltlichen Austausch mit dem rechten Rand der bürgerlichen Parteien zuständig war, gerät Le Pen immer wieder mit notorisch faschistischen Äußerungen in die Medien. Im Jahre 1988 äußerte er sich über den damaligen Verwaltungsminister Durafour mit den Worten „Durafour-Crématoire“. Es handelt sich dabei um ein antisemitisches Wortspiel, denn „four-crématoire“ ist die französische Vokabel für die Gaskammern in den deutschen Konzentrationslagen. Nur einige Jahre später äußerte er sich geschichtsrevisionistisch, in dem er den Holocaust als „ein Detail in der Geschichte des 2. Weltkrieges“ bezeichnete. Bezogen auf einzelne zentrale Themenfelder positioniert sich die FN als autoritäre, wertkonservative und nationalistische Partei mit neoliberalen wirtschaftspolitischen Positionen (Tab. 1). Tab. 3: Übersicht der programmatischen Aussagen der FN Themenfeld Außen- und Sicherheitspolitik Innenpolitik Wirtschaftspolitik Einwanderungspolitik Familienpolitik Positionen Schaffung eines starken, eigenständigen und handlungsfähigen militärischen Blocks; Austritt Frankreichs aus der EU Einführung der Todesstrafe; Aufrüstung der Polizei; Strengere und schnellere Bestrafung von Kriminalität Ultraliberale Politik gegen die „Steuerinquisition; Protektionismus gegen Globalisierung; Einschränkung von Gewerkschafts- und Arbeitnehmerrechten Ersetzung des Territorialprinzips durch das Blutprinzip; Aberkennung der französischen Staatsbürgerschaft für Einwanderer aus dem Maghreb oder Schwarzafrika; Abschottung gegenüber Asylsuchenden; Vorrang von Franzosen bei Arbeitsplätzen, Sozialleistungen usw..; Stärkung des Nationalstaates, Ausweisung von AusländerInnen. Rückbesinnung auf und Stärkung der Familie; Strenge Strafen für Abtreibung und Homosexualität Grundsätzlich lässt sich der programmatische Kitt der FN auf die drei zentralen Begrifflichkeiten „Identität“, „Stärke“ und „Ethnozentrismus“ bringen. Letzterer geht von einer „naturgegebenen Andersartigkeit“ aus und schlussfolgert daraus die Legitimität entsprechender Hierarchien. Diese Hierarchien können nur aufrecht erhalten bleiben, wenn die Nation ihre Identität behält. Die Notwendigkeit der Stärke begründete Mégret wie folgt: „Ohne Stärke gibt es kein Überleben, weil alle Nationen – wie jeder lebende Organismus – entweder wachsen oder schrumpfen“. Als roter Faden zieht sich durch die programmatischen Aussagen der Front national die rassistische „Préférence nationale“, die Bevorzugung von Franzosen bei staatlichen Leistungen. Da aufgrund des liberalen Staatsbürgerschaftsgesetz viele MigrantInnen allerdings einen französischen Pass haben, soll diese nationale Bevorzugung nur für die von der FN sogenannten „Français de souche“, die eingeborenen Franzosen, gelten. Generell wird die Immigration für fast sämtliche Probleme Frankreichs verantwortlich gemacht. Die Verbindung von Xenophobie und neoliberaler Wirtschaftspolitik verbindet die FN mit anderen rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien in Europa (Camus 2000, 5). Seite 6 von 12 Protestwahl oder struktureller Rechtsextremismus? Analysiert man die sozio-demographische Zusammensetzung der WählerInnenschaft der FN, so stellt man eine schichtenübergreifende Zusammensetzung fest. Die FN kann als „Volkspartei en miniature“ bezeichnet werden. Dennoch ist, wie bei fast allen rechtsextremen Parteien, der Anteil von jungen Mä nnern unter den WählerInnen besonders hoch. Im Vergleich zu allen anderen Parteien ist es der FN gelungen, die insbesondere auf der Linken, und dort vor allem bei der kommunistischen Partei (PCF), zunehmend abstinenten ArbeiterwählerInnen an sich zu binden. Bei der Präsidentschaftswahl 1995 war Le Pen im ersten Wahlgang die bei den ArbeiterInnen der erfolgreichste Kandidat. Das Votum für Le Pen wird insbesondere als Protestwahl gegen die etablierten Parteien interpretiert. Dies deckt sich mit dem Selbstverständnis Le Pens, der gegen die „la bande de quatre“ agitiert. Seiner Meinung nach sind die etablierten Parteien verantwortlich für Korruption und Misswirtschaft, die letztlich zu einer Implosion des erstarrten Systems führen würde. Sein „tous pourris“, alle gleich verdorben, fällt bei einer entpolitisierten und frustrierten Bevölkerungsschicht auf fruchtbaren Boden. Hinzu kommen Veränderungen in der Positionierung der vier großen französischen Parteien zur internationalen Einbindung Frankreichs. Die Anerkennung der „Internationalisierung“ der Zukunft und Gestaltungsmöglichkeiten der „grande nation“ in Bezug auf die europäische Währungspolitik und Abgabe von Kompetenzen u.a. an GATT und EU war, obwohl realistisch, Wasser auf die Mühlen des aggressiven Nationalismus von Le Pen. Den typischen Ohnmachtsgefühlen der rechtsextremen FN lieferte dies weitere Nahrung. Denn es muss unterschieden werden zwischen objektiv vorhandenen Indikatoren für gesellschaftlichen Statusverlust und einer relativen Deprivation, das heißt einer subjektiv wahrgenommenen und bereits eingetretenen oder drohenden Verschlechterung der eigenen Lebensverhältnisse. Allerdings ist es nicht ausreichend, die konstanten rechtsextremen Wahlerfolge schlicht als Proteststi mmen zu kennzeichnen. Entscheidendes Bindeglied der heterogenen FN-WählerInnen ist eine autoritäre Weltsicht und das Gefühl politischer Machtlosigkeit. Trotz konjunkturell variierenden Präferenzen herrscht in der FN-Anhängerschaft eine stabile Wertorientierung: innere Sicherheit. Abweichend von der Problemdefinition des Bevölkerungsdurchschnitts setzen die WählerInnen der FN die Themen der Immigration und Sicherheit auf Platz 1. Vor dem Hintergrund der FN-Programmatik kann diese Fixierung als autoritäre Variante der postmaterialistischen Sorge um Identität, demnach als Identitätsstabilisierung durch aggressive Abgrenzung verstanden werden. Tab. 4: WählerInnen des Front National (Nachwahlbefragungen) Jahr Votum für FN in % Beruf des Haushaltsvorstandes - Arbeiter - Angestellte (außer Führungskräfte) Persönlich berufliche Lage Lohnabhängig beschäftigt - im öffentlichen Sektor - im privaten Sektor Erwerbslos 1986 1992 1995 1997 10 14 15,5 15 11 15 17 17 23 24 23 18 19 15 21 25 16 12 19 19 Zusammengefasst, sprechen sich die FN-WählerInnen vor dem Hintergrund existentieller Verunsicherung für eine kulturelle und soziale Abschottung aus, und werden MigrantInnen als Bedrohung der Gemeinschaft von außen sowie liberale Freiheitsrechte als Dekadenz empfunden. Vor dem Hintergrund dieser Verunsicherung optieren sie für das, was Le Pen ihnen geschafft hat, als traditionelle französische Werte zu verkaufen. ImmigrantInnen spielen dabei die Rolle des Sündenbocks, der die französische Identität bedroht. 3. Von der V. in die VI. Republik Reaktion der etablierten Parteien auf die FN Wie bereits mehrfach dargestellt, profitierte die FN zum Beginn der 80er Jahre von der Schwäche der bürgerlichen Parteien nach dem Wahlsieg der Linken 1981. Nachdem die Linksregierung der Sozialisten Seite 7 von 12 (PS) und Kommunisten (PCF) mit dem Versprechen „changer la vie“ an die Macht gekommen war, jedoch bald den wirtschaftlichen Reformkurs verließ und eine gewaltige Desillusionierung unter den Franzosen erzeugte, konnte die FN auf der Welle der Politikverdrossenheit reiten. Le Pens Agitation gegen die „Viererbande“ verknüpfte sich mit aggressivem Nationalismus und der Thematisierung der Immigration. Insbesondere dem sozialistischen Präsidenten Mitterand wird vorgeworfen, aus wahltaktischen Gründen die FN durch die Einführung des Verhältniswahlrechts für die Parlamentswahlen von 1986 diskret gefördert zu haben, um auf diese Weise die bürgerliche Rechts zu spalten. Um der extremen Rechten das Wasser abzugraben und sich von ihnen im öffentlichen Diskurs nicht treiben zu lassen, haben insbesondere die bürgerlichen Parteien aber auch die Parteien der Linken in den 90’ern immer wieder versucht eine restriktive Migrationspolitik und eine Verschärfung der innenpolitischen Debatte zu forcieren. Alle drei jüngsten französischen Regierungen, Juppé, Baladur, Jospin, haben innenpolitisch mehr oder weniger offensiv Ausgrenzungsdiskurse befördert. Bezeichnendes Beispiel war die Verhaftung von über 200 Afrikanern in einer Pariser Kirche auf Anweisung des bürgerlichen Premierministers Juppé im Juni 1996, die als Medienspektakel inszeniert wurde. Das Ziel, mit diesen Maßnahmen einen Damm gegen die extreme Rechte zu errichten, ist nicht nur nicht erreicht, sondern es sind quasi die Tore weit geöffnet worden. Hinzu kommt, dass über Jahre hinweg lokale und regionale Bündnisse der bürgerlichen Rechtsparteien mit FN-PolitikerInnen völlige Normalität waren und erst ab 1992 konsequent unterbunden wurden. Vielmehr popularisierten die etablierten Parteien die nationalistischen Positionen der FN und trugen so nicht unwesentlich dazu bei, dass nach Le Monde bei einer einschlägigen Umfrage rund 30% der Bevölkerung den Positionen Le Pens bei den Themen Immigration und Sicherheit sowie „Verteidigung der nationalen Werte“ zustimmten. Zusammengefasst resultierte der Aufstieg der FN sowohl aus durch die etablierten Parteien nicht steuerbaren Entwicklungen aber auch offensichtlichem Fehlverhalten der vier großen Parteien. Zu dem für letztere nicht oder nur bedingt steuerbaren Mobilisierungsursachen der FN gehören die wiederholten Regierungswechsel der 80er Jahre, das Versagen aller großen Parteien bei der Erwerbslosigkeit, die hohe Organisationskapazität der FN und ihr charismatischer Führer. Verantwortlich sind sie jedoch für die Etablierung eines Ausgrenzungsdiskurses der für sie eine doppelte Funktion hatte: Zum einen als Damm gegen den nationalistischen Populismus Le Pens sowie als Ersatzdiskurs angesichts von abnehmenden Regulierungsmöglichkeiten auf nationalstaatlicher Ebene in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Die Politik der „Gauche plurielle“ Für die Jospin-Regierung war eine Rückkehr zur Programmatik der Linksregierung in den 80er Jahren von vornherein ausgeschlossen. Ein solcher Kurs wäre weder nach außen vermittelbar gewesen, noch hätte sich innerhalb der beteiligten Parteien dafür eine Mehrheit gefunden. Selbst in der transformationsgeschädigten Kommunistischen Partei (PC) Frankreichs laufen die Uhren mittlerweile anders. Sie ist in besonderem Maße von Mitglieder- und Wählerschwund geplagt, laufen ihre WählerInnen doch in Scharen zu den linksradikalen Alternativen LCR und LO. Nach den Kommunalwahlen im vergangenen Frühjahr regierte die KP von ehemals 41 Städten mit über 30.000 EinwohnerInnen nur noch 29. Programmatisch war die Regierung geprägt durch Profilierungskämpfe der kleinen Koalitionspartner und einer programmatischen und machtpolitischen Vorherrschaft von Jospins Sozialisten. Im Präsidentschaftswahlkampf versuchten diese, analog zu ihren sozialdemokratischen Schwesterparteien, die politische Mitte zu repräsentieren. Daher thematisierten sie in ihrem Wahlprogramm in langen Passagen fast wortgleichen zu den Wahlaussagen der bürgerlichen Rechtsparteien das Thema Kriminalität und Immigration – ohne wirkliche Lösungsangebote zu unterbreiten. Die Grünen lieferten sich einen Strauß mit dem Seniorpartner über die Zukunft der Atomkraft, während der aus Protest gegen die europafreundliche Haltung aus der PS und wegen der Korsikapolitik aus der Regierung ausgetretene Chévenement einen strikt europaskeptischen Kurs verfolgt. Die Kommunisten hingegen müssen sich der Abwanderung ihrer Mitglieder und WählerInnen nach links erwehren und aus diesem Grunde die Konfrontation in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik suchen. Nachdem alle politischen Kräfte außer der trotzkistischen Lutte Ouvrière mehr oder weniger verklausuliert zur Wahl von Chirac im zweiten Wahlgang aufgerufen haben, wird sich die Auseinandersetzung auf die Parlamentswahlen im Juni konzentrieren. Seite 8 von 12 Szenarien für die Parlamentswahlen Chirac hat den zweiten Wahlgang erwartungsgemäß haushoch gewonnen. Welche Szenarien sind nun für die Wahlen zur Nationalversammlung zu erwarten? Wir wollen kurz die Ausgangslagen der einzelnen politischen Kräfte vorstellen und einige Prognosen wagen. a.) Sozialisten Noch am Wahlabend hat Lionel Jospin erklärt, dass er nur noch bis zum Tag der zweiten Runde der Präsidentenwahlen (5. Mai) im Amt bleiben wird (wohl auf Bitten von Chirac) und sich dann aus der Politik zurückziehen wird. Der PS steht somit ohne Führung da. Offen ist, wer das interne Rennen um die Nac hfolge macht, François Hollande, Dominique Strauss-Kahn, Laurent Fabius oder Martine Aubry. Heftige interne Auseinandersetzungen um die Führung des PS sind für die nächste Zeit nicht ausgeschlossen. Keine gute Ausgangsbasis für die folgenden Parlamentswahlen. [...] b.) Kommunisten Da der Kandidat der PCF, Robert Hue, unter 5% geblieben ist, wird die Partei keine Wahlkampfkostenrückerstattung erhalten. Das wird die finanzielle Krise der verschuldeten Partei, die über einen traditionell großen Parteiapparat verfügt, noch verschärfen. Mit welchen Mitteln sie den Wahlkampf zur Nationalversammlung bestreiten möchte ist ungewiss. [...] c.) Grüne Bei den Grünen gibt es Begehrlichkeiten, das gute Abschneiden ihres Kandidaten im ersten Wahlgang zu nutzen, um ihr Gewicht in der Linken zu erhöhen. [...] d.) sonstige Linke PRG, MDC, LO, LCR [...] e.) Gaullisten Union pour la majorité présidentielle UMP [...] f.) restliche bürgerliche Rechte Bayrou und Madelin [...] g.) FN und MNR Überwindung der Spaltung ?, Legitimierung der FN, Zuwachs an Mitgliedern [...] Zusammenfassung [...] 3. Zusammenfassung Das Abschneiden von Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen ist nicht vom Himmel gefallen. Der aufhaltsame Aufstieg des Monsieur Le Pen ist schon seit 20 Jahren im Gange. [...] Anhang: Die politischen Parteien Frankreichs im Überblick a.) Rechtsliberale (UDF), Neo-Gaullisten (RPR sowie RPF) und Liberale (DL) Zeichnet sich das bürgerlich-konservative Spektrum in der Bundesrepublik Deutschland durch außerordentliche organisatorische Stabilität aus, wechselte das Brückenpersonal der französischen Schwesterparteien seit der einschneidenden Niederlage bei den Parlamentswahlen 1997 stetig und zerfaserte das bürgerliche Spektrum. Die neo-gaullistische RPR bildete knapp ein Vierteljahrhundert den bürgerlichen Kern des fordistischen Klassenkompromisses. [...] b.) Sozialisten (PS), Linksnationalisten (MDC) und radikale Linke (PRG) Die erste Hälfte der neunziger Jahre war für die Sozialisten geprägt durch den Abnabelungsprozess von der omnipräsenten Person des langjährigen Francoise Mitterand. Nach erheblichen Krisen und der immer wieder an die Oberfläche kommenden Verstrickungen in die diversen Parteienfinanzierungsskandale von sozialistischen und bürgerlichen PolitikerInnen gelang den Sozialisten unter Jospin im Frühsommer 1997 Seite 9 von 12 der überraschende Wahlsieg gegen die Rechtsliberalen und Neogaullisten aus UDF und RPR. Die Linksregierung, bestehend aus PS, PRG, Verts und PCF, steht unter erheblichem Druck und legt seit einigen Monaten eine mehr als dürftige Performance an den Tag. Nach der Niederlage von Jospin wurde bereits am Montag in einer kurzen Vorstandssitzung den Parteivorsitzende Françoise Hollande zum Spitzenkandidaten für die Parlamentswahl. Dies ist nicht überraschend und wäre wohl auch bei einem erfolgreichen Abschneiden von Jospin in der Stichwahl erfolgt. Von seinem Wahlergebnis, knapp über 5% dürfte der Linksnationalist Chevenement, ehemaliger Minister der Regierung Jospin, enttäuscht gewesen sein. Nach einem glänzenden Start galt er lange Zeit als dritter Mann, der insbesondere Jospin schaden könnte. Seit der Kandidaturerklärung von Chirac und Jospin fiel er jedoch stetig in den Umfragen zurück. Ob seine Organisation eine Wahlkampftruppe oder ernsthafte Partei werden könnte, ist derzeit nicht abschätzbar. c.) Grüne (Verts) Den Grünen ist es im Vergleich zur Präsidentschaftswahl 1995 gelungen, ihr Wahlergebnis von 3,3% auf 5,27% zu erhöhen. Dies ist durchaus überraschend, denn im Gegensatz zum ehernen Wahlkampfgesetz – im Rennen nie die Pferde zu wechseln – haben die Grünen ihren ursprünglich nominierten Präsidentschaftskandidaten Alain Lipietz nach absinkenden Bewertungen in den Umfragen mitten im Wahlkampf auf einem Sonderparteitag wieder abgewählt und durch Noël Mamère ersetzt. Im Unterschied zum ökonomisch versierten und durch regulationstheoretische Schriften bekannten linken Mitglied des EuropaParlaments, Liepietz, gilt Mamére als nach allen Seiten offener Pragmatiker. Die Grünen verfügen in Frankreich über eine fast gleich lange Entwicklung wie ihr deutsches Pendant, doch ist ihre Geschichte geprägt durch sinuskurvenartig verlaufende Wahlerfolge und –niederlagen. Bei den Parlamentswahlen 1997 gelang den Verts, die gemeinsam mit den Ökologen angetreten waren, aufgrund der, wegen des Verhältniswahlrechts notwendigen, Wahlabsprachen mit den Sozialdemokraten der Einzug in die Nationalversammlung mit acht Abgeordneten. Mit der Ernennung von Dominique Voynets zur Ministerin für Umwelt und Raumordnung verblieben sieben Abgeordnete im Parlament. d.) Trotzkisten (LO) und Revolutionär-Marxisten (LCR) Für viele externe Beobachter überraschend ist die europaweit wohl einmalige Stärke der beiden wichtigsten Gruppen der französischen radikalen Linken - links von der Kommunistischen Partei: der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und Lutte Ouvrière (LO - "Arbeiterkampf"). Beide Formationen gehören dem weiten Feld des Trotzkismus an; in ihnen sind jeweils grob 1.500 bis 2.000 Aktive organisiert (Schmid: ak 425/1999). Beide Organisationen gehören dem weiten Feld trotzkistischer Organisationen an und können auf eine längere Geschichte zurückblicken, wobei sie sich in ihren inhaltlichen Aussagen und Handlungsweisen deutlich unterscheiden. Die LCR unter dem heute 57jährigen Alain Krivine, der 1965 wegen "Linksabweichlertums" aus der Studentenorganisation der französischen KP ausgeschlossen wurde und zu einem der Initiatoren des Pariser Mai 1968 gehörte, entstand direkt aus dem Mai 1968 und den Bewegungen von Studierenden und Jugen dlichen und ist auf einer Vielzahl politischer und sozialer Felder - Feminismus, Antirassismus, Antifaschismus - aktiv. Von LO wurden solche Aktivitäten außerhalb des Klassenkampfs im engen, ökonomischen Sinne lange Zeit als "kleinbürgerlicher" Luxus abgetan. LO ging in den frühen 40er Jahren aus einer Abspaltung von anderen trotzkistischen Gruppen hervor. Angesichts der damaligen Hegemonie der stalinistisch geprägten KP über die Arbeiterklasse schlussfolgerten die LO-Gründer, die seit Mitte der 30er Jahre in Frankreich bestehenden trotzkistischen Zirkel müssten dringend ihren intellektuellen Charakter ablegen und die absolute Priorität auf die Verankerung in der Arbeiterschaft legen (Schmid: ebd.). Gleichwohl gelingt des LO und nicht der LCR bei den Wahlen die größeren Erfolge zu erzielen. Bei der Präsidentschaftswahl 1995, für die, wie seit Jahren traditionell Madame Laguiller, als „Arlette“ mittlerweile zur Institution geworden, kandidierte, errang LO 5,3 % (und 1,6 Millionen Stimmen). Bei den Regionalparlamentswahlen stimmten im Durchschnitt 4,7% für LO. „Arlette“ steht mit ihren seit 25 Jahren gleichen Slogans ("Gegen die Entlassungen, die Arbeitslosigkeit und das Elend", "Arbeiterinnen, Arbeiter, man belügt euch, man bestiehlt euch") haben sich, so die übereinstimmende Meinung von Analysen, die LO-GenossInnen in Teilen der Bevölkerung Anerkennung erworben als "jene, die zu ihren Ansichten stehen und keinen Opportunismus betreiben" (FR, 10.04.2002). Die LCR hingegen war häufig entweder bei den Wahlen nicht präsent - da sie an Bündniskandidaturen bastelte, die nicht zustande kamen - oder Seite 10 von 12 trat unter anderen, vermeintlich ein breiteres Publikum ansprechenden Namen an, die häufig genug nichtssagend blieben (z.B. "100 Prozent links"). e.) Kommunisten (PCF) Die beiden kleinen revolutionär-marxistischen Organisationen profitieren zweifellos von den Schwierigkeiten der kommunistischen Partei. Lange Zeit treu an der Seite der Sowjetunion, wurde sie von den Umwälzungen 1989 hart getroffen. Seitdem doktert die KPF-Führung an einer Überarbeitung von Programmatik, Performance und Arbeitsweise. Personell steht für diesen Übergang der Nachfolger des langjährigen PCF-Sekretär George Marchais, der heutige Parteichef Robert Hue. Exemplarisch für diese Veränderungen ist der Verzicht auf traditionelle kommunistische Symbolik, wie z.B. beim Parteimagazin „L'Humanité“. Seit dem 18. März 1999 sind Hammer und Sichel vom Titel der traditionsreichen Zeitung verschwunden. Sie nennt sich auch nicht länger „Zeitung (bzw. vor 1994: Zentralorgan) der Französischen Kommunistischen Partei“. Ebenfalls geändert wurden Format und Lay-out (Schmid: ak 436/1999). Die seit Oktober 2001 geltenden Statuten der seitdem „Neuen Kommunistischen Partei“ sehen eine Doppelspitze aus dem Präsidenten (Hue) und einer Vorsitzenden des Nationalrates (der beliebten Sportministerin Marie-George Gasset) sowie die Auflösung der Zellen vor (Sander: 2002, S. 48). Organisatorisch leidet die KPF unter einem Mitgliederschwund von jährlich ca. 4-5% und knapper werdenden Finanzen. Programmatisch versucht die KPF sowohl eine Öffnung der Partei in Richtung sozialer Gruppen, der Wiedergewinnung von Mitgliedern und WählerInnen, die zu LCR und LO abgewandert sind sowie der Sicherung ihrer Regierungsfähigkeit. Diese Ambivalenz spiegelte sich in der KP-Liste zur vergangenen Europawahl wieder, die eine doppelte Parität aufwies. Einerseits jeweils 50% Männer und Frauen sowie andererseits KommunistInnen und Nicht-KP-Mitglieder. Letztere Gruppe war bunt gemischt und bestand u.a. aus der damaligen „interministeriellen Beauftragten zur Gleichstellung der Frauen“ der JospinRegierung, Geneviève Fraisse; dem früheren Chef der regierungsnahen Gruppe SOS Racisme, Fodé Sylla, der für seine Nähe zum linken Flügel der Sozialdemokratie und Einwanderungsquoten bekannt ist; sowie dem mittlerweile sozialliberalen ehemaligen KP-Mitglied und -Chefökonom, Philippe Herzog. Das schlechte Abschneiden von Robert Hue am 21.04.2002 wird innerhalb der KP zweifellos als herbe Enttäuschung wahrgenommen und in der Analyse der Regierungsbeteiligung zu einer Radikalisierung der Positionen bei gleichzeitigem Festhalten an der Regierungsoption führen. Zur öffentlichen Darstellung wird durch die KPF insbesondere bis zu den Parlamentswahlen im Juni die Abwehrung der anti-sozialen Forderungen des Arbeitgeberverbandes (MEDEF), der die Rücknahme der 35-Stunden-Woche, die Privatisierung des Gesundheitssystems usw. fordert, genutzt werden. d.) Andere [...] Literatur: Hans Gerd Jaschke (1990), Frankreich, in: Franz Gress/Hans Gerd Jaschke/Klaus Schnönekäs, Neue Rechte und Rechtsextremismus in Europa. Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Opladen, S. 17-104 André Osterhoff (1997), Die Euro-Rechte. Zur Bedeutung des europäischen Parlaments bei der Vernetzung der extremen Rechten, Münster Pascal Perrineau (1997), Le symptôme Le Pen – Radiographie des électeurs du Front national, Paris 1997 ders. (1998), L’exception française, in L’extrême droite en Europe, Pouvoirs 87 (1998), S. 35-42 Jean-François Sirenelli, L’extrême droite vient de loin, in L’extrême droite en Europe, Pouvoirs 87 (1998), S. 5-19 Sabine Ruß/Jochen Schmidt (1998), Herausforderungen von links und rechts. Wertewandel und Veränderungen in den Parteiensystemen in Deutschland und Frankreich, in: Renate Köcher/Joachim Schild (Hrsg.), Wertewandel in Deutschland und Frankreich, Opladen, S, 265-288 Jean-Yves Camus, L’extrêmes droites européennes entre radicalité et respectabilité, in Le Monde diplomatique, März 2000, S. 4-5 Bernhard Sander (2000a), Frankreichs Rechte findet kein Konzept, in: Sozialismus 9/2000, S. 53-54 ders. (2000b), Frankreich: Linksregierung in der Zange, in: ebd. 10/2000, S. 51 ders. (2001a), Frankreich vor dem Zyklus, in: ebd. 3/2001, S. 41-44 Seite 11 von 12 ders. (2001b), Krise der Repräsentanz. Umwälzungen in der französischen Gesellschaft und Parteienlandschaft, in: ebd. 7-8/2001, S. 33-37 ders. (2002), Frankreich: Chirac oder Jospin. Richtungswahl in kleinen Schritten, in: ebd. 2/2002, S. 46-48 Norbert Wagner, Befreiung aus der selbst herbeigeführten Blockade, in: Frankfurter Rundschau vom 13.02.2002 ders., Frankreich. Chirac und Jospin Kopf an Kopf, Politischer Kurzbericht der Außenstelle der KonradAdenauer-Stiftung Paris, Paris März 2002 ders., Vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich: kein eindeutiger Trend erkennbar, Politischer Kurzbericht der Außenstelle der Konrad-Adenauer-Stiftung Paris, Paris April 2002 Seite 12 von 12