Bundesverwaltung: Typen und Zuständigkeiten Streit um den

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Bundesverwaltung: Typen und Zuständigkeiten Streit um den
Repetitorium Staatsorganisationsrecht SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf Bundesverwaltung: Typen und Zuständigkeiten Streit um den richtigen Atomausstieg Zu den Reformvorhaben der im Oktober 1998 vom Deutschen Bundestag neu gewählten Bundesregierung zählte die Beendigung der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Die sie tragenden Parteien hatten in der Koalitionsvereinbarung beschlossen, den „Ausstieg aus der Kernenergie umfassend und unumkehrbar“ gesetzlich zu regeln. Zu diesem Zweck verhan‐
delte die Bundesregierung zwei Jahre mit den Betreibern der 19 deutschen Kernkraftwerke, um die Laufzeiten der Anlagen zu befristen und sicherzustellen, dass das jüngste Atomkraft‐
werk spätestens 2021 abgeschaltet würde. An diesen Verhandlungen waren die Länder, wel‐
che für den Vollzug des Atomgesetzes zuständig sind, nicht beteiligt worden. Am 14. Juni 2000 unterschrieben Vertreter der Energieversorgungsunternehmen, der Chef des Bundes‐
kanzleramtes und zwei Staatssekretäre die als „Atomkonsens“ bekanntgewordene „Verein‐
barung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen“. Darin wurde hinsichtlich des im Land B gelegenen Kernkraftwerks K vereinbart: „Die Aufsichtsbehörde des Landes B hat am … nachträgliche Auflagen zur sicherheitstechni‐
schen Nachrüstung von K erlassen. Das Bundesumweltministerium bekräftigt seine Auffas‐
sung, dass für einen mehrjährigen Weiterbetrieb weitere Nachrüstungen und ein neues Not‐
standssystem notwendig sind. Das Bundesumweltministerium prüft derzeit, inwieweit ein sicherer Betrieb von K. bis zur Realisierung bestimmter Nachrüstungen gewährleistet ist. Das Ergebnis wird dem Betreiber bis spätestens … mitgeteilt. Diese Vereinbarung sieht vor, dass K ab 1.1.2000 bis zur Stillegung maximal … produzieren darf. Das Bundesumweltministerium wird bis spätestens Ende August 2000 gegenüber der Aufsichtsbehörde des Landes B Maß‐
nahmen für das Genehmigungsverfahren treffen.“ Nach der Unterzeichnung der Vereinbarung vom 14. Juni 2000 verhandelte das Bundesum‐
weltministerium im Juli und August 2000 mehrmals mit dem Energieversorgungsunterneh‐
men über das weitere Vorgehen bei der Nachrüstung von K. Das Land B wurde davon weder in Kenntnis gesetzt noch an den Gesprächen beteiligt, sondern erfuhr hiervon erst bei einer Besprechung mit dem Energieversorgungsunternehmen Ende August 2000. Am 29. August 2000 gab das Bundesumweltministerium gegenüber dem Energieversor‐
gungsunternehmen eine detaillierte Erklärung über die einzelnen, vom Bund für erforderlich gehaltenen Nachrüstungsmaßnahmen ab. Diese Erklärung wurde vom Bundesumweltminis‐
terium zeitgleich dem Land B zugeleitet; zugleich wurden B einzelne Maßnahmen zum Ver‐
waltungsverfahren mit K aufgegeben (Anträge, Vorlage von Unterlagen, Zeitpunkt der Ent‐
scheidung). Zu einer förmlichen Weisung gegenüber B kam es nicht. Das Land B sieht im Vorgehen des Bundes eine Verletzung seiner Verwaltungskompetenzen aus Art. 83 ff. GG und einen Verstoß gegen den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens. Es sei dem Bund nicht erlaubt, über den Kopf der Länder hinweg – die das Atomgesetz zu vollziehen hätten – mit den Energieversorgungsunternehmen über Einzelheiten des Geset‐
1 Repetitorium Staatsorganisationsrecht SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf zesvollzugs zu verhandeln und Vereinbarungen über eine Nachrüstung der Kernkraftwerke zu treffen; das Verfassungsgebot der Bundestreue gebiete es zumindest, das Land vor sol‐
chen Verhandlungen zu unterrichten. Der Bund kann in seinem Vorgehen keinen Verfas‐
sungsverstoß erkennen. B will diesen Streit verfassungsgerichtlich klären lassen. Wie und mit welchem Erfolg? 2 Repetitorium Staatsorganisationsrecht SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf Lösung Verfassungsgerichtliche Klärung des Streits zwischen dem Land B und dem Bund über die Vereinbarungen und Verhandlungen des Bundes mit dem zuständigen Energieversorgungs‐
unternehmen (EVU) über das Kernkraftwerk K und seinen weiteren Betrieb A. Sachurteilsvoraussetzungen –> Bund‐Länder‐Streit I. Zuständigkeit des BVerfG: Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, §§ 13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG II. Parteifähigkeit und Antragsteller und –gegner, § 68 BVerfGG: BReg. für den Bund, LReg. von B für das Land B; dabei sind Partei die jur. Personen, deren Regierungen als Vertreter auftreten III. Streitgegenstand, Art. 93 I Nr. 3 GG: Rechte und Pflichten aus dem GG; hier aus dem Bund‐Länder‐Rechtsverhältnis im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung nach Art. 87c GG i.V.m. § 24 AtG; muss dabei konkrete rechtserhebliche Maßnahmen bzw. ein bestimmtes Unterlassen des Bundes betreffen, nicht schon allgemeines Verhalten ‐ ist vorliegend im Verhandeln des Bundes mit dem EVU über den weiteren Betrieb von K zu sehen, durch den das Land B seine Rechte aus Art. 85 GG verletzt sieht IV. Antragsbefugnis des Landes B, § 69 i.V.m. § 64 Abs. 1 BVerfGG; dabei fordert BVerfGG mehr (Möglichkeit der Verletzung oder unmittelbaren Gefährdung) als das GG („Meinungs‐
verschiedenheiten“): – Geltend gemachtes Recht des Landes B muss bestehen; hier: entweder Rechte als Verwaltungsträger im Rahmen der Auftragsverwaltung (Art. 85 Abs. 1 GG) oder aber Rechte aus dem Bund‐Länder‐Verhältnis, d.h. aus dem Grundsatz bundes‐ bzw. län‐
derfreundlichen Verhaltens („Bundestreue“); beide Rechtspositionen (+) • Beachte: Land kann nur eine eigene, nachgewiesene Rechtsposition geltend machen, daher z.B. nicht drohende Verletzung von Grundrechten oder Verlet‐
zung sonstigen Rechts durch den Bund, das keinen Bezug zum Land B hat – Geltend gemachtes Recht muss dem Land B tatsächlich zustehen; beide Rechtsposi‐
tionen berechtigen das Land gegenüber dem Bund (+) – Geltend gemachtes Recht muss möglicherweise verletzt sein; Möglichkeit besteht, wenn der Bund nicht mit dem EVU über den konkreten Verwaltungsvorgang wegen K direkt verhandeln darf (+) V. Form, Frist und Verfahrensvorschriften – Form, § 23 I 1, § 69 i.V.m. § 64 Abs. 2 BVerfGG (+) 3 Repetitorium Staatsorganisationsrecht SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf – Frist, § 69 i.V.m. § 64 Abs. 3 GG: sechs Monate ab Bekanntwerden der Maßnahme (oder des Unterlassens) des Bundes; hier: 14.6.2000 – offizielle Vereinbarung des Bundes mit den EVU über „Atomausstieg“ und detaillierte Vereinbarungen zu einzelnen Kernkraftwerken, darunter auch K; Ende August 2000 Bekanntwerden weiterer Verhandlungen des Bundes mit dem EVU über Fortbetrieb von K; am 29.8.2000 förmliche Erklärung über erforderliche Nach‐
rüstungsmaßnahmen. Frist beginnt somit am 14.6.2000, wenn Land B diesen Vorgang an‐
greifen will, sonst in jedem Fall am 29.8.2000 ☞ Fristproblem, wenn zunächst verwaltungsrechtliche Streitigkeit i.S.v. § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zugrunde gelegt wird und dann BVerfG im Rahmen von § 50 Abs. 3 VwGO verfas‐
sungsrechtliche Streitigkeit feststellt –> Voraussetzung für obige Fristwahrung, dass BVerwG innerhalb von sechs Monaten angerufen wird (§§ 69, 64 Abs. 2 BVerfGG analog); – Verfahrensvorschriften? Nur bei Bundesaufsicht förmliches Vorverfahren nach Art. 84 Abs. 4 GG erforderlich, bei Bundesauftragsverwaltung nicht einschlägig Zwischenergebnis: Die Klage des Landes B ist zulässig. B. Begründetheit der Klage Klage ist begründet, wenn der Bund durch die Vereinbarungen und Verhandlungen mit dem EVU über Betrieb von K Rechte von B verletzt hat –> denkbar entweder hinsichtlich der Aus‐
gestaltung der Bundesauftragsverwaltung oder aber des Grundsatzes länderfreundlichen Verhaltens I. Verletzung von Rechten des Landes B im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung 1. Struktur der Bundesauftragsverwaltung • Land ist beauftragte Verwaltung i.S.v. Art. 85 Abs. 1 GG, nimmt also ihm zugewie‐
sene administrative Aufgaben (Materien nach GG, hier Art. 87c GG: Vollzug des AtG – soweit in den §§ 22–23b AtG nicht dem Bund selbst zugewiesen ) als eigene wahr und entscheidet über Organisation, Verfahren und Vollzug des Bundesrechts im Einzel‐
nen, einschließlich evtl. Beurteilungsspielräume und Ermessensbetätigung = formal Landesverwaltung • Organisationsgewalt, Verfahrenshoheit und inhaltliche Ausgestaltung liegt zwar beim Land; Besonderheit aber gegenüber Art. 84 GG: * Wahrnehmungskompetenz = Handeln nach außen, gegenüber den Adressa‐
ten des AtG, liegt unentziehbar beim Land * Sachkompetenz = Entscheidung über den Gesetzesvollzug gegenüber dem Anlagenbetreiber (Handhabung des AtG) liegt zunächst ebenfalls beim Land, kann aber ohne weitere inhaltliche Voraussetzungen vom Bund an sich gezo‐
gen werden 4 Repetitorium Staatsorganisationsrecht SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf –> Hierfür gesteigerte Einwirkungsrechte des Bundes auf das „Wie“ der Aufgabenerfüllung: • Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG: Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften durch den Bund mit Zustimmung des Bundesrates • Art. 85 Abs. 2 S. 2 GG: Einheitliche Ausbildung des Fachpersonals • Art. 85 Abs. 2 S. 3 GG: Bestellung der Leiter der Mittelbehörden unter maßgeblicher Mitwirkung des Bundes • Art. 85 Abs. 3 GG: Weisungsrecht der zuständigen obersten Bundesbehörden (Mi‐
nisterium) mit Vollzugsverpflichtung durch die obersten Landesbehörden (Ministeri‐
um); dabei wegen Zustimmungsvorbehalt in Art. 85 Abs. 1 Satz 1 GG Abgrenzung zu Verwaltungsvorschriften erforderlich –> Weisung muss immer auf konkretes Verwal‐
tungshandeln bezogen sein • Art. 85 Abs. 4 GG: umfassende Zweckmäßigkeitsaufsicht, die durch Weisungen ge‐
steuert werden kann Zweck: Unterordnung der Länder unter den Bund bei der Aufgabenerfüllung mit dem Ziel, dass sich Wille des Bundes gegenüber dem Land im Einzelfall beim Gesetzesvoll‐
zug immer durchsetzen kann –> Bundesauftragsverwaltung ist funktional (!) Bundes‐
verwaltung, die den administrativen Apparat des Landes in eine hierarchische Abhän‐
gigkeit bringt und sich so einen eigenen Vollzugsapparat erspart; aber Kostenlast für Bund, Art. 104a Abs. 2 GG 2. Insbesondere: Ausgestaltung des Weisungsrechts nach Art. 85 Abs. 3 S. 1 GG • Weisungsrecht des Bundes ist grundsätzlich unbeschränkt und direkt aus der Ver‐
fassung abzuleiten (BVerfG: „stets verfassungsrechtliche Qualität“), bedarf also kei‐
ner spezialgesetzlichen Regelung (AtG enthält solche auch nicht) –> Begründung ei‐
nes verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnisses mit Rechtswegzuweisung an BVerfG; demzufolge kaum Streitfälle denkbar, die im einfachen Recht gründen –> dann Rechtsweg zum BVerwG, §§ 40 Abs. 1, 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO • Weisung instruiert die oberste Landesbehörde, trifft aber selbst keine Regelung ge‐
genüber Dritten (Anlagenbetreibern); Weisungsrecht enthält auch kein Selbstein‐
trittsrecht oder keine Ersatzvornahmebefugnis des Bundes • Weisungsrecht ist administrativ‐hierarchiesicherndes Instrument, um das Funktio‐
nieren der Auftragsverwaltung im Sinne des Bundes sicherzustellen, der insoweit „Gemeinwohl“ autonom definiert –> hängt in seiner Wirksamkeit und Verbindlichkeit für das Land nicht davon ab, ob die Weisung inhaltlich mit dem einfachen (Atom‐
)Recht übereinstimmt, ob also konkret die §§ 7 ff. AtG eingehalten werden –> Land B kann durch Weisung des Bundes nicht in einem seiner Rechte verletzt sein, selbst 5 Repetitorium Staatsorganisationsrecht SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf wenn Bund eine inhaltlich rechtswidrige Weisung erlassen sollte, gegen die dann das Land verklagt werden kann • Daher kein subjektives öffentliches Recht des Landes B auf inhaltliche Richtigkeit bundesaufsichtlichen Vorgehens, das vom Bund verletzt werden könnte 3. Voraussetzungen für eine Verletzung von Rechten des Landes aus Bundesauftragsverwal‐
tung: Land kann in seinen Rechten verletzt sein, wenn Weisung des Bundes nicht mit dem GG vereinbar ist, d.h. wenn Erlass einer „Weisung“ i.S.v. Art. 85 Abs. 3 GG als solche gegen die Verfassung verstößt ‐ Wann denkbar? • Fallgruppe I: Bund hält allgemeine verfahrensrechtliche Anforderungen der Bun‐
desauftragsverwaltung nicht ein, vor allem die Verpflichtung, dem Land B vor der Er‐
teilung einer Weisung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und seinen gegentei‐
ligen Standpunkt zu prüfen. Vor der Weisung hat – abgesehen von Eilfällen oder ent‐
schiedener allgemeiner Weigerung des Landes – regelmäßig eine Bitte im Sinn von Ersuchen zu erfolgen. Hier: Da keine Weisung ergangen ist, nicht relevant • Fallgruppe II: Land muss Weisung nicht befolgen und handelt verfassungsmäßig, wenn Verlangen des Bundes nicht (mehr) Weisung i.S.d. Bundesauftragsverwaltung (AtG) darstellt, wenn Art. 85 Abs. 3 GG also nicht (mehr) einschlägig ist; kann der Fall sein, wenn 1. Gegenstand der Weisung überhaupt nicht zur Bundesauftragsverwaltung gehört, d.h. dem Kontext nach der Landesverwaltung nach Art. 84 GG oder der Bundesverwaltung nach Art. 86 ff. GG zuzurechnen ist (z.B. bei §§ 22–23b AtG) 2. Gegenstand der Weisung zwar zum Thema der Bundesauftragsverwaltung gehört, aber nach seinem konkreten Inhalt nicht mehr vom Kompetenzbereich des Bundes (hier Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG) gedeckt wird. Rechtsgedanke des allgemeinen Grundsatzes: Bundesverwaltungskompetenz ist durch Bundesge‐
setzgebungskompetenz absolut begrenzt und kann nie weiter gehen als die Kompetenz des Bundesgesetzgebers. 3. Anwendung auf den vorliegenden Fall: Da keine Weisung des Bundes er‐
gangen ist, können Rechte des Landes nur dadurch verletzt worden sein, dass der Bund die Wahrnehmungskompetenz des Landes verletzt hat, und zwar durch direkte Vereinbarungen und Verhandlungen mit dem EVU über den Be‐
trieb von K im Zusammenhang und nach dem „Atomausstieg“. • Umfang der Wahrnehmungskompetenz des Landes: Zuständigkeit zu allen Maß‐
nahmen beim Vollzug des AtG gegenüber den Anlagenbetreibern. Umfasst grundsätz‐
lich jede zulässige Handlungsform des Verwaltungsrechts (VA, Vertrag, informelles Verwaltungshandeln und Realakte [z.B. Messungen], Verhandlungen etc.). Demnach 6 Repetitorium Staatsorganisationsrecht SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf fallen auch Gespräche, Verhandlungen und Vereinbarungen mit dem EVU über K in die Wahrnehmungszuständigkeit des Landes, soweit sie dem Vollzug des AtG i.S.v. Ausführung der Bundesgesetze (Überschrift des VIII. Abschnitts des GG) dienen. • Bund ist hier gegenüber den EVU in doppelter Weise vorgegangen: – Bund hat mit den EVU zunächst über einen „Atomausstieg“ verhandelt, und zwar einerseits mit dem politischen Ziel, die friedliche Nutzung der Kernenergie zu Strom‐
erzeugungszwecken (§ 1 Nr. 1 AtG) in absehbarer Zeit zu beenden und die Betriebs‐
genehmigungen für die 19 vorhandenen Kernkraftwerke auslaufen zu lassen (und da‐
bei etwaige Entschädigungsforderungen der EVU nach Staatshaftungsgrundsätzen auszuschließen); andererseits wurde mit den EVU über den weiteren Betrieb der ein‐
zelnen Kernkraftwerke verhandelt und die Nachrüstung bestimmter technischer Standards bis zum Auslaufen der Betriebsgenehmigungen – nach Sachverhalt spätes‐
tens 2021 – vereinbart. Diese Verhandlungen wurden am 14.6.2000 durch die „Ver‐
einbarung“ förmlich abgeschlossen. Das Land B war hieran nicht beteiligt worden. – Bund hat dann mit dem EVU über die konkrete Nachrüstung von K, wie sie nach seiner Meinung erforderlich war, verhandelt und hierüber am 29.8.2000 eine förmli‐
che Erklärung abgegeben. Diese wurde zeitgleich auch dem Land B bekanntgegeben. = beides könnte die Wahrnehmungskompetenz des Landes B verletzt haben. • Eine Verletzung dieser Wahrnehmungskompetenz wäre jedenfalls dann eingetre‐
ten, wenn der Bund gegenüber dem EVU Regelungen im Vollzug des AtG getroffen, d.h. mit Rechtswirkung gegenüber dem Anlagenbetreiber gehandelt hätte (durch VA oder Vertrag). Die alleinige Wahrnehmungskompetenz des Landes verbietet dem Bund jeden außenwirksamen Gesetzesvollzug gegenüber Dritten; auch Weisungen können immer nur direkt gegenüber dem Land ergehen – Eine solche Regelung i.S.v. rechtsverbindlicher Festlegung (§ 35 Abs. 1 VwVfG) ist in der förmlichen Vereinbarung vom 14.6.2000 nicht zu sehen. Es handelt sich um eine gemeinsame politische Erklärung zwischen der Bundes‐
regierung und den EVU, die zur Vorbereitung einer Gesetzesinitiative im Bun‐
destag (Art. 76 Abs. 1 GG) abgegeben wurde und das grundsätzliche Einver‐
ständnis der EVU („Selbstverpflichtung“) mit dem „Atomausstieg“ dokumen‐
tieren sollte. Ihr fehlt zum einen der rechtliche Bindungswille (der Bundesre‐
gierung und der EVU): das Ministerium „bekräftigt“ nur seine Rechtsauffas‐
sung, es „prüft“ die Voraussetzungen eines sicheren Betriebs, und es „wird … Maßnahmen … treffen“; eine Verpflichtung zu einem bestimmten Handeln geht die Exekutive nicht ein. Der „Vereinbarung“ fehlt zum anderen auch die Fähigkeit, rechtsverbindlich Festlegungen über Gegenstände der Gesetzge‐
bung (AtG‐Reform) und die Entscheidung des Gesetzgebers zu treffen. 7 Repetitorium Staatsorganisationsrecht SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf – Auch die Erklärung des Bundesministeriums vom 29.8.2000 enthält keine Regelung mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen. Sie dokumentiert nach ihrem objektiven Erklärungsgehalt die für erforderlich gehaltenen Nach‐
rüstungsmaßnahmen, ordnet diese aber nicht an. Zu diesem Zweck wird viel‐
mehr die Erklärung an das Land B und damit an die außenzuständigen Verwal‐
tungsbehörden weitergeleitet und dem Land Maßnahmen zum Verwaltungs‐
verfahren aufgegeben, die dann von B gegenüber dem Anlagenbetreiber vor‐
zunehmen sind. Nur letztere sind rechtsverbindlich, nicht aber liegt in der de‐
taillierten Erklärung gegenüber K. eine Verfügung i.S.v. § 35 Satz 1 VwVfG. • Eine Verletzung der Wahrnehmungskompetenz könnte demnach nur dann vorlie‐
gen, wenn man schon das informelle Verwaltungshandeln des Bundes gegenüber K, also Einholen von Informationen, Gespräch über Sach‐ und Rechtsfragen und im poli‐
tischen Raum verbleibende Vereinbarungen als Verstoß gegen das außenwirksame Zuständigkeitsmonopol des Landes B ansehen wollte ‐ gehört auch informelles Ver‐
waltungshandeln des Bundes, das im Vorfeld einer etwaigen späteren Äußerung oder gar Weisung an B stattfindet, zur ausschließlichen Wahrnehmungszuständigkeit des Landes? Dies ist streitig und hängt davon ab, welche verwaltungsrechtlichen Hand‐
lungsformen man zur „Ausführung der Bundesgesetze“ i.S.d. Bundesauftragsverwal‐
tung zählt. Dazu verschiedene Meinungen: – Unter „Ausführung der Bundesgesetze“ ist nur förmliches, rechtsverbindliches Handeln nach außen zu verstehen, also hoheitliche Maßnahmen i.S.v. § 25 Satz 1 VwVfG oder der Abschluss eines öffentlich‐rechtlichen Vertrags im Rahmen des Ge‐
setzesvollzugs (AtG). Informelles Verwaltungshandeln, d.h. der tatsächliche Kontakt zum Anlagenbetreiber, zählt nicht hierzu –> Abstellen auf Formelemente des Verwal‐
tungshandelns. Hier: Kontakt Bund – K kann Wahrnehmungszuständigkeit des Landes nicht verletzen, weil sich diese nur auf einen rechtsverbindlichen Vollzug des AtG bezieht; dabei allerdings Ein‐
schränkungen: 1. Ist nur im konkreten Fall zulässig, nicht generell als allgemeines Verhalten des Bun‐
des –> Verbot des Aufbaus einer „Schattenverwaltung“. Hier: auf K bezogen (+) 2. Bund muss deshalb gegenüber Land deutlich erkennbar werden lassen, dass er die – ihm ja zustehende – Sachkompetenz an sich zieht (Empfängerhorizont; konkludente Erklärung durch nach außen erkennbare Beschäftigung mit einem Vollzugsfall soll ausreichen). Hier: jedenfalls für Erklärung vom 29.8.2000 gegeben; für vorhergehen‐
de Vereinbarung vom 14.6.2000 unklar, wohl aber ausreichend, dass über „Atomaus‐
stieg“ und Folgewirkungen für den Betrieb der einzelnen Kernkraftwerke über zwei Jahre öffentlichkeitswirksam verhandelt wurde. 8 Repetitorium Staatsorganisationsrecht SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf Ist dies der Fall, soll Bund berechtigt sein, sich „in jeder von ihm für zweckmäßig ge‐
haltenen Weise Informationen zu beschaffen“, also auch beim Anlagenbetreiber di‐
rekt. Hier: (+) 3. Wahrnehmungskompetenz ist verletzt, wenn Bund informelle Erklärungen abgibt, die rechtsverbindlicher Entscheidung gleichkommen ‐ hier weder „Vereinbarung“ noch nachfolgende Erklärung über Nachrüstung verbindlich: „Vereinbarung“ betraf Vorbereitung gesetzlicher Regelung und kann daher Rechte des Landes B aus Art. 85 GG in keinem Fall verletzen, da insoweit keine Kompetenz; Erklärung vom 29.8.2000 hatte ebenfalls rein politischen Inhalt. – Von der Wahrnehmungskompetenz ist auch das Staatshandeln erfasst, das außenwirksam ergeht und darauf gerichtet ist, die Regelungsziele des Geset‐
zes zu verwirklichen. Unter „Ausführung der Bundesgesetze“ ist jedenfalls dann auch formelles Verwaltungshandeln zu verstehen, wenn Staat zielgerich‐
tet und unmittelbar auf einzelne Private einwirkt, um diese zu einem be‐
stimmten Verhalten zu bewegen und dabei massive eigene, faktisch‐politische Bindungen eingeht (Grundsatz des „do ut des“). Nur reine Informationsbe‐
schaffung („Wissen“), etwa im Vorfeld einer etwaigen Weisung des Bundes gegenüber dem Land, zählt noch nicht zur außenwirksamen Wahrnehmungs‐
kompetenz. Hier: „Vereinbarung“ = aufwendige öffentlichkeitswirksame politische Ver‐
ständigung mit offizieller „Unterzeichnung“ über „Atomausstieg“, d.h. festge‐
legter langer Restlaufzeit der einzelnen Anlagen gegen Verzicht der EVU, Ent‐
schädigungsforderungen nach Staatshaftungsgrundsätzen zu erheben; außer‐
dem politisch wegen der Konsequenzen bei anderem Verhalten bindende Vereinbarung darüber, wie Betreiber seine Betriebsgenehmigung künftig aus‐
üben kann und welche Nachrüstungsmaßnahmen Bund künftig verlangen bzw. nicht verlangen und mittels Sachkompetenz gegenüber dem Land sicher‐
stellen bzw. durchsetzen wird. Bund und EVU stehen hier jeweils gegenseitig im Wort und würden das Gesicht verlieren, wenn nach zweijährigen Verhand‐
lungen Kompromiss nicht eingehalten wird. Dies kommt funktional rechtsver‐
bindlicher Festlegung künftigen Gesetzesvollzugs gleich und gehört daher zur Wahrnehmungszuständigkeit des Landes. Zwischenergebnis: „Vereinbarung“ und „detaillierte Erklärung“ verletzen die Wahrneh‐
mungszuständigkeit des Landes B. nicht (a.A. sehr gut vertretbar). 9 Repetitorium Staatsorganisationsrecht SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf II. Verletzung von Rechten des Landes B aus dem Grundsatz der Bundestreue („Bündnis‐
treue“) 1. Inhalt des Gebots bundes‐ bzw. länderfreundlichen Verhaltens • Verpflichtung von Bund und Ländern zu wechselseitiger Rücksichtnahme im Rahmen der bundesstaatlichen Ordnung, vor allem bei Ausübung der eigenen Befugnisse; tritt neben die jeweiligen Kompetenzen und wirkt modal auf deren Inanspruchnahme ein, gibt Beteiligten aber keine neuen Befugnisse. Fallkonstellationen des Grundsatzes bundestreuen = richtiger‐
weise bündnistreuen (weil auch Länder berechtigenden und verpflichtenden) Verhaltens: • Kompetenzausübungsschranke: Inanspruchnahme von Gesetzgebungs‐ oder Ver‐
waltungsbefugnissen darf nicht ohne Rücksicht auf die im föderalen System andere Ebene erfolgen. Gilt insbesondere bei Sachverhalten, die die Zuständigkeit eines Lan‐
des oder mehrerer Länder übersteigen (z.B. Rundfunk, Schulrecht etc.) • Verfahrenspflichten: Bund muss sich bei Sachverhalten, die auch die Länder betref‐
fen, mit diesen abstimmen, sie rechtzeitig über eigene Maßnahmen unterrichten, die Länderbefugnisse beeinträchtigen können, die Länder grundsätzlich gleich behandeln etc. Bei Art. 85 Abs. 3 GG ist die dort mitgeschrieben Anhörungs‐ und Verständi‐
gungspflicht des Bundes vor der Erteilung von Weisungen ebenfalls Ausdruck länder‐
freundlichen Verhaltens. • Pflicht zur Wahrnehmung berechtigter Interessen: Jede Ebene im Bundesstaat hat bei Regelungen mit Dritten (etwa auswärtigen Staaten, Internationalen Organisatio‐
nen usw.) die berechtigten Interessen der anderen bundesstaatlichen Ebene, die an dem Rechtsverhältnis nicht beteiligt ist, zu wahren und geltend zu machen (vgl. nun‐
mehr Art. 23 Abs. 2, 4–6 GG). 2. Anwendung des Gebots länderfreundlichen Verhaltens auf den vorliegenden Fall • Bund könnte gegen Gebot der Ländertreue verstoßen haben, indem er (1.) ohne Einbezie‐
hung der Länder am 14.6.2000 mit den EVU eine „Vereinbarung“ über den „Atomausstieg“ und die Folgen für den weiteren Bestand der Betriebsgenehmigungen einschl. deren Inan‐
spruchnahme durch die Anlagenbetreiber getroffen hat, (2) mit dem EVU über die erforder‐
liche Nachrüstung von K, verhandelt und sich dazu am 29.8.2000 erklärt hat. Hier zu unterscheiden: 1. „Atomausstieg“ ist, für sich genommen, Vorregelung einer Änderung des AtG und damit Vorbereitung der Gesetzgebung des Bundes. Durch „Vereinbarung“ keine Rechte der Länder beeinträchtigt, da diese über Bundesrat (Art. 50 GG) mitwirken konnten (Art. 77 GG). Außer‐
dem politisches Programm und Einzelheiten der „Vereinbarung“ öffentlichkeitswirksam be‐
kanntgegeben; Länder konnten nicht überrascht oder überrumpelt sein. 10 Repetitorium Staatsorganisationsrecht SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf 2. Absprache über Restlaufzeiten der Kernkraftwerke und Sicherheitsstand einschl. eventuel‐
ler Nachrüstungsmaßnahmen in „Vereinbarung“ stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit „Atomausstieg“ und sind Teil des politischen Konzepts. Auswirkungen auf etwa bereits laufende Verwaltungsverfahren, die K betreffen, sind nach ihrem Schwerpunkt der „Verein‐
barung“ zuzurechnen und überlagern Verfahren zwischen dem Land B und dem EVU (Gebot ganzheitlicher Betrachtung des Vorgangs und Unmöglichkeit der Abgrenzung der Sphären von Bund und Ländern, auf diesen Gegenstand bezogen). A.A. (Sondervotum): keine verfas‐
sungsrelevante Überlagerung mit „Heilung“ möglich, da auch Inanspruchnahme der Zustän‐
digkeit des Bundes zur Gesetzgebung die berechtigten Interessen der Länder im Bereich der Bundesauftragsverwaltung zu berücksichtigen hat –> Beteiligung des Landes B – und damit aller Länder mit eigenen Kernkraftwerksstandorten – erforderlich; da nicht geschehen, Ver‐
letzung des Gebots länderfreundlichen Verhaltens gegenüber B 3. Weitere Verhandlungen über Einzelheiten der erforderlichen Nachrüstungsmaßnahmen bei K kann Bund ohne Einbeziehung der Länder vornehmen, da insoweit keine Pflichten aus Rechtsverhältnis der Bundesauftragsverwaltung beeinträchtigt (keine rechtsverbindlichen Festlegungen; keine Vorbereitung einer konkreten Weisung gegenüber B) –> wiederum Ge‐
bot einheitlicher rechtlicher Betrachtungsweise; a.A. Sondervotum. Zwischenergebnis: Bund hat Gebot länderfreundlichen Verhaltens gegenüber B nicht ver‐
letzt III. Ergebnis: Die Klage des Landes B gegen den Bund ist unbegründet. 11