Georg Meggle VON RABEN UND MENSCHEN Raben sind überall

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Georg Meggle VON RABEN UND MENSCHEN Raben sind überall
Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung VON RABEN
Kornhauses Kempten, 1994.
UND
MENSCHEN von Marianne Manda im Börsensaal des
Georg Meggle
VON RABEN UND MENSCHEN
Raben sind überall: Es gibt sie in Tasmanien, bei den Papuas und im Chapuis-Park jenseits
der Iller. Raben gibt es schon immer - jedenfalls länger als unser kollektives Gedächtnis
reicht: Als Paradiesvögel bevölkern sie den Garten Eden; über der Arche Noah krächzen sie
auf der Suche nach Land; sie warten als Aasfresser auf das Fleisch der Gehenkten und
begleiten in unserer Vorstellung, mal böse mal hilfreich, noch heute die Hexen und Zauberer.
Was sehen wir, wenn wir die Raben sehen? Woran denken wir, wenn wir an Raben denken?
Was geschieht mit uns, wenn wir auf Raben treffen?
Das ist die allgemeine Frage. Ihr widmet sich, mal dies mal das beleuchtend, der folgende
PROLOG. Was dann kommt, wissen Sie: Ab heut Abend stehn Sie alle selbst vor ganz
speziellen Fragen, nämlich solchen:
Was sehe ich, wenn ich die Manda-Raben sehe? Was lösen Mandas Raben, Mandas
Menschen, Mandas Rabenmenschen oder Mandas Menschenraben in mir aus? Wie stehe ich
zu dieser schwarzen/weißen, fernen/nahen Raben/Menschen-Welt? Wie verhält sich diese
Manda-Welt, wie dieses oder jenes Ich von uns sie sehen mag, zu jener Welt, in der wir
wirklich leben?
Mit diesen Fragen lasse ich Sie dann, nach dem Prolog, allein. Denn dieser selbst, nur auf die
allgemeinen Raben/Menschen-Fragen zielend, hat einen andern Zweck. Er öffnet ein paar
Kisten der Erinnerung.
Zuvor jedoch, wie heute allerorten üblich, ein kühl-neutraler Blick auf das, was wir vom
Raben wissen. Was sagt die Vogelwissenschaft zu ihm?
So etwa dieses: Zu unterscheiden ist zwischen Raben im engeren und Raben im weiteren
Sinne. Zu den Raben im weiteren Sinne werden alle sogenannten rabenartigen Vögel
gerechnet, kurz alle Rabenvögel (lat. corvidae). Rabenvögel, die Korviden also, gehören zu
den Sperlingsvögeln und sind von diesen die größten. Unzweifelhaft gehören sie zu den
Singvögeln, vor allem wegen der einmaligen verwickelten Bauweise ihres Stimmorgans, der
Syrinx. Der älteste bislang bekannte Rabenvogel, ein Vertreter der ausgestorbenen Gattung
Miocorax, lebte vor vielen vielen Millionen Jahren im Gebiet des heutigen Frankreich. Zu
Ehren des Raben wird dort noch heute ein besonderer Wein hergestellt, der Corbeaux. Er
schmeckt nicht übel, wie Sie gleich noch selber kosten werden können.
Zurück zur Nüchternheit: Die Corviden umfassen sieben Gruppen: Häher, Elstern,
Wüstenhäher, Tannenhäher, Alpenkrähen und Alpendohlen, die Gruppe der Pipias und
schließlich, siebtens, die Raben im engeren Sinne. Des näheren wären etwa 20 bis 31
Gattungen mit 101-103 Arten und etwa 370 Unterarten zu unterscheiden. Das tue ich jetzt
aber nicht.
Wir beschränken uns auf die Gruppe der Raben im engeren Sinne. Die Gruppe der Raben und
Krähen enthält heute nur noch eine Gattung, zu der jetzt auch die früher in eine besondere
Gattung gestellte Dohle gerechnet wird. Als Krähen bezeichnet man eine Anzahl von Arten
mittelgroßer Rabenvögel, darunter u.a. die Saatkrähe (corvus frugilegus) und die Aaskrähe
(corvus corone), bei der wiederum sechs Unterarten zu unterscheiden sind, darunter die
Rabenkrähe (corvus corone corone) und die Nebelkrähe (corvus corone cornix). Das Urbild
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der Rabenvögel schlechthin (so Grzimeks Tierleben von 1970, S.505) ist jedoch der Edelbzw. der Kolkrabe (corvus corax). Von dieser Vogelart soll es (laut Grzimeks Tierleben,
S.506) im Gebiet der Bayerischen Alpen und in unserem Voralpengebiet noch etwa 150 bis
300 Brutpaare geben.
Raben sind gekennzeichnet (das Folgende nach Brehms Tierleben S. 24) durch einen großen,
aber verhältnismäßig kurzen, kaum gebogenen, an der Wurzel mit steifen Borstenhaaren
überdeckten schwarzen Schnabel, kräftige schwarze Füße, mittellange Flügel, die
zusammengelegt ungefähr das Ende des Schwanzes erreichen, und ein ziemlich reiches, mehr
oder minder glänzendes Gefieder von vorwaltend schwarzer Färbung. Die Flügelspannweite
des Kolkraben umfaßt etwa einhundertfünfundzwanzig cm.
Usw. Usw. Doch beim Raben – und das heißt in vielen Gegenden: in aller Teufels Namen:
Was ist es denn, was uns am Raben wirklich interessiert? Sein Gewicht? Oder: Wie, wo,
wann, wie oft, mit wem und mit wem nicht sich Raben paaren? Wie oft er brütet?
Ja sicher: All dies interessiert uns auch. Doch nur, so denke ich, wenn all dies halbwegs auch
etwas menschlich ist. Kurz: Uns Menschen interessiert: das Menschliche am Raben und das
Räbische am Menschen. Was ist dies? Was sind die Dinge, die wir Menschen mit den Raben
teilen?
Raben, so mein erster Satz, gibt es überall. Uns Menschen auch. Auch die Menschen haben
sich, den Raben gleich, über alle Kontinente der Erde verbreitet. Diese weltweite menschliche
Verbreitung ist durchaus kein Wunder Denn der Homo Sapiens, wie dieser selbst sich gern zu
nennen pflegt, hat mit Corvus, dem Raben, eine ganze Menge gemeinsam. Was für die Raben
gilt, gilt auch für die Menschen:
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Ihr Gehirn ist hoch entwickelt.
Sie besitzen einen ausgeprägten Nachahmungstrieb.
Sie sind ziemlich neugierig und wißbegierig.
Sie spielen gern – und dies nicht nur in der Jugend.
Sie täuschen andere gern mit vielen schlauen Tricks. – Ihr Verhaltensrepertoire enthält
zielgerichtete Handlungsweisen; mit anderen Worten: Sie sind zumindest potentiell
mittel-zweck-rational und besitzen somit zweifelsohne so etwas wie einen Verstand.
Des weiteren ist ihr Verhaltensrepertoire äußerst flexibel – sie sind extrem
anpassungsfähig.
Sie essen bzw. fressen so gut wie alles.
Es gibt, was ihre Fortpflanzungsfähigkeit angeht, zwischen den verschiedenen Arten
keine allzu großen Barrieren – zumindest keine allzu großen genetischen: Die diversen
Arten können sich mischen – und tun das gelegentlich auch.
Sie entwickeln zudem so etwas wie Traditionen: Ihre diversen Gruppen und
Populationen können ihr Wissen und ihre Gepflogenheiten auch ohne Vererbung,
nämlich mittels Erziehung, an die Nachkommenschaft weitergeben.
Des weiteren – und das hängt natürlich mit dem Vorigen aufs engste zusammen– gilt
auch: Ein Mensch kommt selten allein. Ein Rabe auch nicht. Raben und Menschen
sind, jedenfalls im sogenannten Normalfall, soziale Wesen.
Und schließlich: Sie können sich mittels eines Systems verschiedener
Ausdrucksformen untereinander verständigen. Als Ausdrucksformen können dabei
sowohl einzelne Laute, Schreie, Gesten, Flügelschläge, Kopfbewegungen,
Impressionen im Sand, auf Stein wie solche in den Wolken fungieren, aber auch
beliebig komplexe Folgen solcher Schreie, Bewegungen oder Impressionen. Und die
Bedeutungen dieser einfachen oder komplexen Ausdrucksformen können von
Population zu Population wie auch von Situation zu Situation variieren – und insofern
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konventionell genannt werden. Kurz: Menschen wie Raben verfügen über jenes
ausgezeichnete Kommunikationsmittel, das man als Sprache bezeichnet.
Und wenn Sprache eine notwendige Voraussetzung für das sein sollte, was man
Denken nennt, so folgt daraus: Diese Voraussetzung wird von Menschen und Raben
gleichermaßen erfüllt.
Über einige dieser gemeinsamen Eigenschaften würde ich nun ganz gerne etwas ausführlicher
laut nachdenken: Was heißt es, wenn man vom Raben wie vom Menschen sagt, daß er
Vernunft hat? Was heißt es, wenn man sagt, daß Mensch wie Rabe mehr oder weniger gut
denken kann? Was heißt es, wenn man dem einen wie dem anderen Sprachfähigkeit
zuschreibt? Schreibt man bei diesen Zuschreibungen wirklich jedem dieser beiden Wesen das
Gleiche zu oder Verschiedenes? Und wenn Verschiedenes, wie sehr Verschiedenes? Wie
verschieden dürfen Menschensprache versus Rabensprache sein, damit man in beiden Fällen
noch von Sprache reden darf? Und was läßt sich alles zwar in der einen Sprache ausdrücken,
aber nicht in der anderen? Was in der Sprache des Menschen, aber nicht in der Sprache des
Raben? Oder noch schwieriger: Was in der Sprache des Raben, aber nicht in der Sprache des
Menschen? Können wir überhaupt sinnvoll so fragen? Wenn es etwas gibt, was sich in der
Rabensprache ausdrücken läßt, nicht aber in der Menschensprache – wie können wir uns dann
einbilden, auch über das, was wir in unserer Sprache gar nicht ausdrücken können, trotzdem
adäquat nachdenken zu können? Irgendwas stimmt hier doch nicht, oder?
Aber wenn es solche für uns allein schon aufgrund unserer sprachlichen Ausdrucksgrenzen
prinzipiell unzugänglichen Bereiche der Raben-Sprache und damit auch der Raben-Welt
tatsächlich geben sollte, wäre das nicht Grund genug, sich ernsthaft zu fragen, ob die Raben
bezüglich eben dieser Bereiche uns in dem gleichen Maße um ganze Dimensionen überlegen
sind, wie wir bezüglich anderer und vielleicht ja wirklich auch nur uns zugänglicher Bereiche
uns ihnen überlegen fühlen? Wie sollen wir einem Raben je klarmachen können, wie man sich
fühlt, wenn man erfährt, daß man im Toto sechs Richtige hat? Aber wissen wir denn, wie man
sich fühlt, wenn einem Raben nach 7435 vergeblichen Versuchen in einer Sturmböhe bei
untergehender Sonne das erste Mal ein fehlerfreier dreifacher Looping gelingt? Nun,
vielleicht weiß es der eine oder die andere von denen, die selber 10 Jahre lang nur für die
Teilnahme bei einer Olympiade trainiert haben. Dann zeigte das aber nur, daß dieses Beispiel
eben gerade nicht zu dem Bereich gehörte, von dem wir doch gerade sprechen wollten.
Genau welche Arten von gemeinsamen Erfahrungen stecken sowohl in der Raben- als auch in
der Menschensprache? Wie man sich fühlt, wenn eins unserer Kinder aufgrund eines
Brandbombenwurfs vor unseren Augen verbrennt – vielleicht ist das etwas, was so ähnliche
Empfindungen bei Raben wie bei Menschen auslöst. Vielleicht aber auch nicht. Ich glaube
eher letzteres. Ich brauch nur an Deutschland zu denken.
Welche Weltauffassungen sind in jeder der beiden Sprachtypen niedergelegt? Welche
Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit das eine Wesen überhaupt auch nur
ansatzweise in die Lage kommen kann, die Sprache des andern Wesens verstehen zu können?
Lassen sich vielleicht radikal unterschiedliche Lebensformen überhaupt nicht miteinander
vergleichen? Usw. und sofort.
Ich bin in meinem Beruf Philosoph; und daher nehme ich solche Fragen, so phantastisch sich
diese für Ihre Ohren auch anhören mögen, durchaus ernst. Im übrigen: So ungewöhnlich sind
derartige Fragen gar nicht. Es gibt jedenfalls ganze Forschungsprojekte, in denen solchen und
ähnlichen grundsätzlichen Fragen systematisch über Jahrzehnte hinweg nachgegangen wird.
Die amerikanische Weltraumbehörde zum Beispiel pumpt Millionen von Dollars in Projekte,
in denen es darum geht, wie – genauer: mithilfe welcher wie leicht zu entschlüsselnden Codes
– wir am besten mit außerirdischen Intelligenzen Kontakt aufnehmen können. Oder nehmen
Sie ein näherliegendes Beispiel: Seit etwa 20 Jahren laufen Programme, die uns die
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Kommunikation von Delphinen und Walen, den intelligentesten im Wasser lebenden Säugern,
etwas durchsichtiger machen sollen. Und wenn Sie sich auch auf dieser Ebene tatsächlich für
Raben interessieren sollten: Der beste Forschungsbericht zum Thema Rabenkommunikation –
freilich nur auf die zwischen-räbische Kommunikation bezogen, nicht auf die zwischen
unseren beiden verschiedenen Gattungen (Mensch versus Rabe) – ist das 1989 erschienene
Buch von Bernhard Heinrich Ravens in Winter, das unter dem schönen wie auch treffenden
Titel Die Seele des Raben vor kurzem im List-Verlag auch schon auf Deutsch erschienen ist,
und dem Marianne Manda, wie ich weiß, zahlreiche Anregungen zu den hier gezeigten
Bildern verdankt. In diesem Buch kann man im übrigen auch sehen, wie spannend, aber auch
wie hart die wissenschaftliche Arbeit sein kann, die hinter jedem winzigen Schrittchen steckt,
das uns dem Ziel näherbringt, das wundervollste Tier auf Erden, wie Heinrich den Raben
nennt, auch nur ein bißchen besser verstehen zu lernen. Bloße Naturschwärmerei ist zwar
billiger, bringt uns aber auch dem Raben um keinen Deut näher.
Das wären also Fragen von genau der Art, wie sie zu meinem philosophischen Metier
gehören. Es sind zentrale Fragen der Kommunikationstheorie, der Sprachphilosophie, der
Anthropologie und der Kognitionstheorie. Aber ich fürchte: Auch mit der Untersuchung
dieser Fragen käme mein Prolog nicht gebührend zur heutigen Sache.
Ich beginne also lieber nochmals von vorn:
VON RABEN UND MENSCHEN handeln gar viele Geschichten: Märchen, Sagen,
Phantastische Erzählungen, Spukgeschichten, die wildesten Berichte voller Jägerlatein,
Ammenmärchen, von vorn bis hinten mit Lügen gespickt.
Aber VON RABEN UND MENSCHEN handeln auch unsere ältesten Geschichten, die
Mythen. Diese Geschichten muß man kennen, wenn man wissen will, was der Rabe für uns
Menschen wirklich bedeutet.
In den Mythen nahezu aller Völker kommt dem Raben kommt ein wichtiger Platz zu.
Zum Beispiel in den altorientalischen. Der – bzw. der eine lange Zeit maßgebende –
ägyptische Sonnengott war Re. Er hießt auch Ra. Einigen, wenngleich nicht unstrittigen
Deutungen zufolge soll bereits dieser Name auf den Raben verweisen. Der Name Ra sei
nichts anderes als eine lautmalerische Erinnerung an das "Raah – Raah", den Ruf des Raben
also und somit gleichen Ursprungs wie unser deutsches Wort "Rabe". Der Sonnengott Ra, und
dies würde zu dieser Deutung zumindest passen, soll einer der drei altägyptischen
Kosmogonien zufolge (nämlich der Kosmologie der Sonnenstadt = Heliopolis) aus einem
kosmischen Ur-Ei entstiegen sein. Ich brauche in diesen vorösterlichen Tagen, wo es von
Eiern ringsum nur so wimmelt, wohl nicht zu betonen, wie sehr uns die alten mythischen
Vorstellungen, die das Ei nicht nur als Ursprung des Lebens von Vögeln, sondern als
Ursprung des Lebens schlechthin, ja sogar des göttlichen Lebens, betrachten, auch heute noch
geläufig sind.
Waren auch die Menschen ursprünglich Götter oder doch göttergleich? Waren auch die Götter
ursprünglich Raben? War der oberste der Götter ein Rabe? Der Sonnengott Ra jedenfalls soll,
als er noch nicht geboren – pardon: noch nicht aus dem Ur-Ei geschlüpft – war, einer gewesen
sein.
Der Sonnengott Ra war natürlich auch den israelitischen Propheten kein ganz Unbekannter.
Aber die mochten ihn natürlich nicht so wie ihre ägyptischen Unterdrücker. Er rührte ja auch
keinen Finger, um sie aus ägyptischer Knechtschaft zu befreien. Trotzdem konnten selbst die
israelitischen Propheten nicht leugnen, daß ein gewisses Licht von diesem Ra ausging. Und es
mag sein, daß sich auch der eine oder andere Israelit – vielleicht ja auch die eine oder andere
Israelitin – von diesem Licht betören ließ. Dagegen mußten die Propheten natürlich etwas tun.
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Sie taten auch was. Nämlich dies: Sie sahen den Rabengott in einem neuen Licht: Ra, so ihre
Botschaft, ist gar nicht der Sonnengott, sondern das totale Gegenteil: Es ist der Gott der
Unterwelt. Das von ihm ausgehende Licht ist nicht das Licht der Sonne, sondern das
trügerische Licht des Mondes, das Licht, das in die Irre führt, und zwar nicht nur die Hirten
auf der Suche nach ihren Schafen, nein, auch das Volk Israel auf der Suche nach den Wegen
des Heils.
Aus dem Tag wird die Nacht; aus dem Licht Finsternis, aus Gut wird Böse.
Die mythisch-religiöse Bedeutung des Raben erfährt so erstmals – aber bei Gott (bzw. wie
man dafür im alten Ägypten natürlich auch wird gesagt haben können: beim Raben) nicht
zum letzten Mal – jene radikale Umdeutung, die für die ganze nachfolgende Raben-KulturGeschichte typisch sein sollte. Welche phantastischen Geschichten und Geschichtchen sich
um Rabe und Räbin auch immer des weiteren ranken mögen, die Spannung zwischen diesen
zueinander in radikaler Opposition stehenden beiden Grundbedeutungen ist und bleibt die
zentrale Konstante. Strahlender Sonnengott einerseits, Leitfigur der Finsternis andererseits –
diese extreme Polarität der Deutungen des Rabengottes Ra spiegelt bereits exakt jene ins
Extreme gesteigerte Deutungs-Ambivalenz wider, die sich in zahlreichen Kulturen
wiederfinden läßt. Genauer gesagt: In allen Mythen und Vorstellungswelten jener Kulturen,
die von einem zweipoligen Weltverständnis geprägt sind, in allen Kulturen also, in denen das
Reich des Guten mit dem Reich des Bösen im Kampf steht, insbesondere also auch in unserer
vom Manichäismus und vom seinerseits manichäistisch inspirierten Christentum geprägten
eigenen Kultur.
In einer solchen Kultur trifft die Raben das Los, mit Gott und dem Bösen, dem Teufel,
zugleich in Verbindung gebracht zu werden.
Ist das der Grund, weshalb Schwester und Bruder Rabe für uns auch heute noch etwas derart
Faszinierendes an sich haben, etwas unheimlich Anziehendes und Abstoßendes zugleich?
Vielleicht. Das einer jeden Kultur zugrundeliegende kollektive Gedächtnis vergißt jedenfalls
so schnell nichts.
Bedeutungsvorstellungen sind nie ohne Folgen. Auch mythische, ja gerade mythische nicht.
Mythische Bedeutungszuschreibungen – und das heißt ja immer: über kulturelle Tiefen-Bilder
laufende Bedeutungszuschreibungen – sind keine bloßen Phantasien, die spurlos wieder
verschwinden könnten. Nein, solche Bedeutungszuschreibungen sind stets mit entsprechenden
tiefsitzenden Appetenz- wie Aversions-Einstellungen verknüpft, die sich ihrerseits
zwangsläufig wieder in entsprechenden Verhaltensweisen manifestieren, wobei die aversiven
Reaktionen infolge ihrer gruppenstabilisierenden Nebenfunktionen wegen in der Regel
besonders aktualisierungsfähig waren und sind.
Stellen Sie sich zum Beispiel nur einmal vor, wir hätten uns einige Generationen früher heute
Abend zu diesem Rabentreffen versammelt: Keine Frage, was mit uns allen passiert wäre:
Man hätte uns wegen pechschwarzer Götzendienerei in den nächsten Tagen auf mannigfache
Weise vor den Toren der Stadt – nun ja: den Raben zum Fraße vorgeworfen. Daß wir doch
lediglich neugierig gewesen sind, diese Ausrede hätte uns nicht viel geholfen. Die Tatsache
hingegen, daß es nach diesem Prolog, wie ich schon sagte, um diesen Rabenschrein herum gar
auch noch echten Corveaux, echten französischen Rabenwein, zum Trinken geben soll, ein
solcher Rabenkult hätte den städtischen oder fürstäbtlichen Untersuchungsrichtern den
Vorwurf der Blasphemie nur noch begründeter erscheinen lassen. Daß wir heute Abend
zumindest diese Angst nicht zu haben brauchen: Die Kunst machts möglich. Klar: Nicht nur
die Kunst.
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Wir waren soeben bei den Ägyptern und deren Sonnen-Rabengott Ra. Wenden wir uns jetzt
den nördlicheren Gefilden zu.
Kennen Sie Odin? Dieser nordische Gott spielt bei den Germanen seinen mythischen Part
unter dem auch hier im Allgäu von daher wohl besser bekannten Namen Wotan. Sei`s drum:
Auf den Schultern Odins sollen, so heißt es, zwei Raben gesessen haben: Huginn und Muninn.
Was diese beiden Vögel den Germanen bedeutet haben mögen? Wer weiß das schon. Wir
wissen aber immerhin, welche Bedeutung sie nach nordischem Glauben für Odin selbst
gehabt haben sollen. Ganz grob gesagt: Sie waren so etwas wie seine tägliche Zeitung. Beim
ersten Anbruch der Morgendämmerung schickte Odin seine beiden Raben bis ans Ende der
Welt zu Erkundungszwecken; bei Einbruch der Nacht kehren sie zurück und flüstern ihm die
Geheimnisse, die sie erfahren hatten, ins Ohr. Erst dann ließ sich Odin auf Beratungen mit
den anderen Göttern ein.
Man sieht ganz klar: Odin war in mehrfacher Hinsicht recht schlau. Hinsicht 1: Daß er seine
tägliche Rabenzeitung abonniert hatte, sicherte Odin gegenüber seinen Kollegen einen
deutlichen Informationsvorsprung – woraus auch schon ein urnordisches Kind geschlossen
haben durfte, daß seine Götter (im Unterschied etwa zu unserem moderneren christlichen)
keineswegs vollinformiert, erst recht also nicht allwissend waren, was insbesondere bedeutet,
daß sich diese Kinder nicht, wie unsere moderneren christlichen, bei allem, was sie getan oder
nicht getan haben mögen, klammheimlich beobachtet fühlen mußten. Punkt 2: Odin hätte
keine besseren Kuriere losschicken können: Kein Vogel fliegt so gut über weite
Entfernungen, keiner ist so scharfäugig wie der Rabe. Und keiner derartig redselig. Punkt 3:
Odin konnte sich, so wie dessen Kollegen gebaut waren, dank seines Informationsvorsprungs
zudem einen großen Überlebensvorteil ausrechnen. Und wie man an Odins langer
Wirkungsdauer ersehen kann, ging diese Rechnung auch auf. Und da schließlich auch die
alten Nordfrauen und Männer nicht dumm waren, werden diese die hinter diesem mythischen
Versatzstück steckende Lehre wohl auch begriffen haben: Lies die Zeitung! Informier Dich
vorher, ehe Du urteilst! Entscheide nicht blind! Hör auf die Raben!
Diese altnordische Raben-Botschaft zieht im übrigen auch heute noch. Ein Beispiel dafür
hatten Sie alle heute Abend bereits deutlichst vor Augen. Aber ich bin mir sicher, daß es keine
und keiner von Ihnen bemerkt hat. Sie haben doch sicher das über dem Eingangstor zu dieser
Ausstellung hängende Rabenplakat zur Kenntnis genommen. Sie mußten es sehen. Es kommt
von einer Werbeagentur, nämlich von der des KURIERS, einer in ganz Österreich
verbreiteten Wiener Tageszeitung. Wo jetzt MANDA steht, steht sonst KURIER. (Seien Sie
unbesorgt: Der KURIER hat das eigens erlaubt.) Die Message des Kurier-Plakats ist nichts
anderes als eine Spezifizierung der eben gerade skizzierten: Lies den Kurier! Odins
Wiederkehr in der Werbebranche.
Merke also: Mythen brauchen, um zu wirken, nicht als Mythen erkannt werden. Die von
unseren Mythen implantierten Verknüpfungen schalten auch so. In der Regel schalten sie
sogar unerkannt besser.
Ein Punkt an der Odin-Story ist noch zu klären: Warum schickte Odin zwei Raben statt
einem? Etwa weil auch er mit uns der Auffassung war, daß vier Augen besser sehen als zwei?
Falsch geraten. Odin wußte, daß schon ein Rabe allein, wenn es nur auf das Sehen ankommen
würde, genug gewesen wäre. Nein, Odin war moderner als die Nachfahren der Germanen
heute von ihm für möglich halten würden. Er setzte bereits auf das Prinzip der Arbeitsteilung.
Die beiden Raben hatten nämlich verschiedene Funktionen: Huginn, das bedeutet soviel wie
Denken; Muninn soviel wie Gedächtnis.
Wir würden das heute etwas präziser ausdrücken. Muninns Stärke lag in seiner enormen
Speicherkapazität; Huginns Stärke beruhte auf seiner enormen Schlußfolgerungsfähigkeit.
Kurz: Die Software von Odins räbischem Beratungsbüro war ganz schön auf Zack.
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Natürlich hätte ich ein bißchen altmodischer die Sache auch so ausdrücken können: Die Lehre
des ganzen Odinschen Rabenmythos ist kurz und bündig diese: Erstens: Ignoriere, ehe Du
Urteile bzw. Entscheidungen triffst, nicht Deine bisherigen Erfahrungen. (Das ist das HuginnPrinzip.) Und zweitens: Ziehe aus der Fülle Deiner Erfahrungen gerade die Schlüsse, die für
die vorliegende Situation relevant sind. (Das ist das Muninn-Prinzip.) Erst beide Prinzipien
zusammen ergeben das, was wir heutzutage rationale Entscheidungen nennen.
So ist das also mit Odin und seinen Raben. Ich weiß, daß diejenigen, die auch heute noch
(bzw. heute zunehmend wieder) Odins Rückkehr erwarten, sich den ganzen Odin- und
Odinrabenzauber schon etwas anders vorstellen. Und da dem so ist, bin ich, damit es um
diesen Rabenkeller hier auch ja keine Mißverständnisse geben wird, ehrlich gesagt heilfroh,
daß keiner der hier rumhängenden Vögel den Namen Huginn oder Muninn erhalten hat.
Vernunft, auch wenn sie sich auf ein noch so ausgeklügeltes Huginn-Muninn-Prinzip stützt,
läßt sich, das wissen wir inzwischen ja auch in Hinsicht auf unsere hypermodernsten
Wissenschaften, freilich zu den verschiedensten Zwecken einsetzen. Einen der Hauptzwecke
Odins kennen wir – und eben das macht einen erneuten Einsatz dieser mythischen Figur recht
gefährlich: Es ist der Krieg mit seinem sogenannten Heldentod.
Raben bedeuten in den nordischen Mythen – aber auch vielerorten sonst auf der Welt – somit
auch dies: Krieg. Allgemeiner: Raben zeigen den Tod an. Raben sind Todesvögel.
Diese Bedeutung hat zweifellos einen realistischen Kern. Raben fressen fast alles. Auch Aas
und Leichenfleisch. Das gab und gibt es in Kriegen stets zur Genüge. Der großzügigste
Fleischlieferant für den Raben war schon immer der Mensch.
Schon aus den Zeiten der Wikinger stammen Berichte, wonach sich, sobald sich ein
Kriegsheer zum Aufbruch rüstet, auch die Raben versammeln. Auch das ist kein Wunder. Sie
wurden in ihren Erwartungen nur selten enttäuscht. Die Bauern wie die im Feindesland
eingesetzten Spione wußten also, was die Stunde geschlagen hat, wenn sie die Raben sich
sammeln sahen. Und da sich auch diese Einschätzungen oft und oft als richtig herausgestellt
haben dürften, stand zumindest zu früheren Zeiten, als Kriege noch auf offenem Felde
stattfanden und die militärische Bestattungsindustrie noch nicht so gut funktionierte, hinter
der Verknüpfung zwischen Raben einerseits und Krieg andererseits tatsächlich so etwas wie
eine verläßliche empirische Korrelation. Kurz: Raben waren tatsächlich verläßliche
Anzeichen für bevorstehendes Schlachten.
Die Wikinger machten sich übrigens genau diese Verknüpfung zunutze: Sie machten Raben
zu ihrem Wappenbanner – und verbreiteten damit Schrecken und Panik. Der Rabe auf dem
Rabenbanner – ein schon früh eingesetztes Mittel der psychologischen Kriegsführung.
Seitdem ist der Rabe auch ein konventionelles Zeichen für Krieg und Tod.
Wer tötet und mordet, drückt das selber meist etwas anders aus: die Raben füttern, dem Raben
was zu fressen geben, oder noch indirekter und freundlicher klingend: dem Raben Freude
machen – das waren die einschlägigen Sprüche der damaligen Zeit. Wiederum kennen wir
auch diese Sprüche noch heute. Denken Sie nur an den Hoppe-Hoppe-Reiter-Reim: und fällt
er in den Graben, so fressen ihn die Raben.
Klar, zur allgemeinen Beliebtheit der Raben dürfte diese Entwicklung nicht gerade
beigetragen haben. Hinzu kam als weiterer Faktor sicher auch damals schon der zu allen
Zeiten beliebte Fehlschluß des sogenannten: Post hoc ergo propter hoc: Nach etwas – also
wegen ihm. Allgemeiner besagt dieser Schluß: Nach dem Ereignis A tritt das Ereignis B ein;
also war A die Ursache von B. Konkreter: Wir haben die Raben sich sammeln sehen;
daraufhin kam es zum Krieg. Also: Die Raben sind schuld an dem Krieg.
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Ich möchte nicht wissen, wie viele Abertausende von Raben und andere mit Vernunft begabte
Lebewesen auf unserer Erde seit Menschen denken, denken zu können, diesem Fehlschluß
zum Opfer gefallen sind. Es ist der Fehlschluß, mit dem kulturübergreifend und somit
weltweit sich am leichtesten Sündenböcke kreieren lassen. Auf eine ganz bestimmte Art von
Rabenvolk hat dieser Fehlschluß auch bei uns bis in unsere Tage hinein beliebteste
Anwendung: Auf die früher so genannten Zigeuner, das Volk der Roma und der Sinti also –
die sich im übrigen selbst als Raben bezeichnen. Es ist zu vermuten, daß dieser Stammesname
bis auf die vorhistorische Zeit des Totemismus zurückgeht. Der Rabe wird das Totemtier
dieser Völker gewesen sein.
Eine tatsächlich empirische Verbindung zwischen Raben einerseits und Tod andererseits
bestand in Europa mit Sicherheit auch zu den Zeiten der schwarzen Pest. Zu dem eben
skizzierten Sündenbockfehlschluß kam nunmehr ein weiterer Aspekt hinzu, der für alle
magischen Glaubenssysteme – und damit wohl mehr oder weniger auch für unsere gesamten
alltagsweltlich wirksamen Lebens- und Weltauffassungen – charakteristisch ist. Ich meine die
Auffassung, wonach Gleiches stets Gleiches bewirkt und Gleiches stets von Gleichem bewirkt
wird. Und was gibt es auf Erden Schwärzeres als den pechschwarzen Raben? Für Tod standen
Raben ohnehin schon. Nun erst recht für den schwarzen.
Entgegen landläufiger Ansicht bin ich der Meinung, daß sich abergläubische
Glaubenssysteme relativ leicht verstehen lassen. Es braucht in der Regel nur wenige
Prämissen, um diese Systeme als intern völlig logisch stimmig – und so in diesem Sinne als
rational – zu erkennen.
Es ist auch für uns Heutige leicht einzusehen, wie sich das bislang hier von mir ausgebreitete
Bedeutungskonglomerat mit der ja ebenfalls bereits etablierten satanischen Raben-Semantik
geradezu aufladen mußte. Die Größe des Übels der Pest verlangte, was deren Ursache angeht,
nach einer entsprechenden Größe. Je größer die Ursache, desto größer die Wirkung – und
umgekehrt. So denken wir ja weitestgehend selbst heute noch. Ergo war klar: Raben können
die Pest nur deshalb verursachen, weil durch sie der Teufel selbst wirkt. Und da nicht
bezweifelt wurde, daß Raben die Pest (zumindest mit-) verursachten, stand damit auch fest,
daß zutrifft, was zutreffen muß, damit diese Erklärung funktioniert: Raben sind
Teufelsgehilfen.
Wir sind dabei, uns die Prämissen zu erarbeiten, die man kennen muß, wenn man die
magischen Glaubensüberzeugungen und Praktiken des Mittelalters, aber auch anderer
weitestgehend auf einem konsequenten Analogiedenken beruhenden Glaubenssysteme
verstehen möchte. Kennt man diese Prämissen, gewinnt vieles von dem, was uns bis dahin
fremd und unverständlich erschien, plötzlich so etwas wie eine innere Plausibilität.
Sogenannte Systeme des Aberglaubens können, was ihre innere Kohärenz angeht, genauso
stringent sein wie die ausgefeiltesten Theorien in unseren entwickeltsten Wissenschaften.
Magisches Denken ist weitestgehend ein Denken in übergeneralisierten Analogiebeziehungen.
Zu den charakteristischen Prämissen eines solchen Denkens gehört auch die, wonach das, was
ein Übel oder eine Krankheit verursacht, das Übel bzw. die Krankheit auch wieder
verschwinden lassen kann. Und richtig angewandt, soll das, was als Ursache für das Eintreten
der Krankheit wirken kann, dieselbe sogar verhindern können.
Manchmal ist das wirklich so: Wir schützen uns gegen gewisse Viren dadurch, daß wir uns
mit genau denselben Viren impfen lassen. Dem magischen Denken zufolge gelten solche
Zusammenhänge jedoch immer. Was das für unsere schwarzen Rabenvögel bedeutet, ist –
und auch dies ist ganz korrekt logisch geschlossen – genau dies: Raben können den Tod, die
Pest und andere Krankheiten verursachen; also können sie all diese Übel auch verhindern.
Und wer ihr Geheimnis kennt, kann das auch.
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Und schon sind wir mitten drin in der Magie, der Zauberei und der Hexerei, in der schwarzen
Kunst, ja – in der Kunst.
Hauptsache gesund – das wünschten sich die Menschen schon immer. Und so ist es kein
Wunder, daß es auch schon immer Experten für dieses hohe menschliche Gut gegeben hat.
Und wenn sich Ursachen von Gesundheit und Krankheiten einerseits und Gesundheit und
Krankheiten selbst andererseits analog zueinander verhalten und wenn zudem bereits außer
Frage stand, daß Raben als Krankheitsursachen zumindest in Frage kommen – was hätten
diese damaligen Gesundheitsexperten denn anderes tun sollen als sich eingehendst auch mit
den Raben einzulassen? Wäre ich damals Schwarzkünstler, d.h. Gesundheitsexperte, gewesen,
ich hätte mit Sicherheit genau das getan: Auch ich hätte mir Raben als Assistenten gesucht.
Wie man es am besten schafft, den Raben ihr geheimes Wissen zu entlocken, darüber enthält
jeder Rabe – denn so heißt jetzt jedes einschlägige Zauberbuch – die verschiedensten
ausgeklügelten Rezepte. Eines der bekanntesten lautet: Man entwinde dem Raben – und das
ist jetzt wieder der Vogel – den Rabenstein. Wie man das macht, dafür lese ich Ihnen jetzt die
entsprechenden Anweisungen aus dem 1o-bändigen Handwörterbuch des deutschen
Aberglaubens vor, jenem Wörterbuch, aus dem im übrigen vor Marianne Manda auch schon
deren Kollege Joseph Beuys gelegentlich gewisse Anregungen entnommen haben soll.
Noch heute ist der einst weitverbreitete Aberglaube nicht völlig ausgestorben,
daß der Rabe einen Stein kennt, der unsichtbar macht. Will man sich einen
solchen Stein verschaffen, so muß man zu dem Neste eines hundertjährigen
Raben hinaufsteigen, einen jungen, höchstens sechs Wochen alten Raben töten
und sich genau merken, wo er sich befindet; man kann, um das zu erreichen, ihm
an den Fuß eine lange rote Schnur binden, die, wenn der alte Rabe ihn
unsichtbar macht, nicht mit verschwindet. Oder man nimmt aus dem Neste ein
Ei, kocht es und legt es wieder hinein. In beiden Fällen fliegt der Rabe sofort an
das Meer, holt dorther den unsichtbar machenden Stein, steckt ihn dem toten
Jungen in den Schnabel, "um den Jammer nicht zu sehen", oder berührt damit
das gesottene Ei, das alsbald wieder roh wird. Baum, Nest und Junges werden
durch die Kraft des Steines unsichtbar; hat man sich aber die Stelle genau
gemerkt, so kann man ihn herausnehmen. ... Es ist ein glatter, runder, wie ein
Karfunkel feurigroter Stein, der alles erhellt, während sein Träger unsichtbar
bleibt. ... Wer ihn in den Mund nimmt, versteht die Sprache aller Vögel. ... –
Dem R. haftet etwas Dämonisch-Teuflisches an" (S. 458).
Arzt zu sein, soll auch heute, falls etwas schiefgeht, nicht ganz ungefährlich sein. Aber selbst
wenn es stimmen sollte, daß auch heute noch Ärzte, wie zumindest diese selbst nicht ungern
behaupten, mit einem Bein immer schon im Gefängnis stehen – so ist das doch nichts im
Vergleich zu früher. Schwarzkünstler waren meist Schwarzkünstlerinnen. Es waren ja vor
allem Frauen, die sich auf die Geheimnisse des Lebens, vor allem auf die des Gebärens und
des Kindervermeidens, verstanden haben. Und für eine Schwarzkünstlerin gab es damals noch
keinerlei Haftungsversicherung; aber auch keinerlei sonstigen Schutz. Im Gegenteil: Das
Risiko der Frauen aus dieser Berufsgruppe, auf dem Scheiterhaufen zu enden, war nicht
gerade gering. Tja, ein bißchen mehr zu wissen als andere, kann, wenn man nicht gerade ein
Gott oder ein Mann wie Odin ist, auch leicht ins Gegenteil umschlagen. Auf die Raben hören,
das kann, wie wir wissen, nicht nur heißen: Gut informiert sein; es kann auch ganz schnell
heißen: Mit dem Teufel im Bunde stehen.
Sie wissen, daß man keineswegs tatsächlich Schwarzkünstlerin zu sein brauchte, um einer
solchen Beziehung verdächtigt zu werden; daß eine Frau mit einem schwarzen Raben, einer
schwarzen Katze oder einem schwarzen Hund auch nur gesehen wurde, konnte unter
gewissen Bedingungen schon als Beleg dafür genügen, daß die betreffende Person mit dem
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Teufel Verkehr hatte – und in dieser Ausdrucksweise zeigt sich auch schon eine weitere
Bedeutungskomponente, die in dem hier geschilderten Umkreis der Farbe Schwarz – vor
allem im Kontext von Tieren – zukam: verdrängte und daher stets latente Aggressionen
evozierende Sexualität. Auch hiergegen gehört das Gegengift dem gleichen Bereich an: Sie
wissen sicher selbst, was gegen schwarze Messen am besten helfen soll: schwarze Madonnen.
Auf genau diese Bedeutungskomponente stößt man im übrigen, wenn man sich die
zahlreichen Geschichten näher ansieht, in denen erklärt werden soll, wie es denn kommt, daß
die Raben, die ja ursprünglich strahlend weiß gewesen sein sollen, gar so schwarz sind. Da ist
allemal Sex im Spiel, und zwar entweder unter den Vögeln selbst oder bei irgendeinem der
üblichen Ehebrüche bei oder zwischen Menschen und Göttern. Wer über letzteres mehr
wissen will, ich habe auch hier eine heiße Empfehlung: Lesen Sie einfach das Buch der
Wandlungen, die Metamorphosen des römischen Dichters Ovid. Zur 1. Variante. Sex bei
Vögeln: Den alten Israeliten zufolge sollen die Rabenvögel auf der Arche Noah mehrfach
gegen das dort geltende Paarungsverbot verstoßen haben – mehrfach! Ihre schwarze Farbe
erklären sie als Folge der daraus resultierenden Verwünschung durch Noah bzw. durch Gott.
Also nicht nur: Black is beautiful; sondern auch: Schwarz ist geil. Und schon wäre von einer
Betrachtung unserer Raben-Vorurteile zu einer Betrachtung über die diversen Quellen von
Rassenvorurteilen nur ein ganz kleiner Schritt.
Zu den wichtigsten Indizien, aus denen man aus dem Verhalten von Raben etwas erschließen
kann, zählt seit uralten Zeiten der Rabenflug. Auch in diesem Glauben dürften sich
jahrtausendealte Erfahrungen spiegeln. Die Wikinger sollen in Form von auf ihren Schiffen
mitgeführten Raben bereits ein nahezu perfektes Navigationssystem besessen haben. Leider
ist das entsprechende Wissen darum, wie dieses System genau funktioniert, längst wieder
verloren gegangen. Für die Römer waren Raben neben den Adlern die wichtigsten Tiere bei
ihren Wetter- und Kriegsprognosen. Und die Schlüsse, die man noch vor kurzem in unserer
Gegend hier aus dem Flug der Raben gezogen hat, waren immerhin so differenziert, daß sie in
der Frage, ob eine bestimmte Flugrichtung Glück oder Unglück bringt, sogar von Ortschaft zu
Ortschaft variierten. In Übereinstimmung mit der auch sonst üblichen Zuschreibung von Gut
zur Rechten und Böse zur Linken galt freilich im allgemeinen: Anflug von rechts bringt
Glück, Anflug von links Unglück. Dieser Rabenschrein zu meiner Linken brächte also Ihnen,
da von Ihnen aus gesehen die in ihm enthaltenen sechs Raben von rechts anfliegen, Glück.
Erscheinen Raben freilich in Scharen, gibt's Unglück. Und jetzt sollten Sie sich vielleicht
fragen: Sind sechs Raben bereits eine Schar oder nicht? Na, wie hätten's Sie's denn gerne?
Empfehlenswert wäre aber auf jeden Fall ein Leben in einem arabischen Land. Denn dort gilt
der Rabe als glückbedeutend, falls er paarweise fliegt. Und das tut er ja fast immer.
Bisher war nur von den Raben in der Kulturgeschichte der Alten Welt die Rede. Die
allergrößte Bedeutung kommt den Raben jedoch in den Mythen der nordamerikanischen
Indianer und der Eskimo zu. Indianische Rabenmythen sind Legion. Nach dem Glauben der
Eskimo haben Raben das Licht erschaffen, indem sie glitzernde Silberstückchen in den
Himmel warfen. Nach einer dieser Mythen ist es der Rabengott, der unsere Welt erschaffen
hat; nachdem die Schöpfung bereits abgeschlossen war, hat er den Menschen noch
hinzugefügt. Warum? Nun, einfach so, weil der Rabengott eben sein Vergnügen daran hatte.
Wie sähe die Welt aus, wenn das der Grundmythos unserer Weltkultur geworden wäre?
Anders als in unserer Glaubenswelt gäbe es jedenfalls keine überirdische Rechtfertigung für
die für uns so charakteristische menschliche Überlegenheitsvorstellung.
Wir hatten einen kurzen Blick auf einige Raben-Mythen und deren wichtigste Folgen im
Rahmen eines magisch-analogistischen Denkens geworfen. In zahlreichen Varianten finden
sich Spuren dieser Mythen natürlich auch in den verschiedensten Sagen und Märchen der
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späteren Zeiten; aber auch in den vielfältigsten Relikten der Magie, im sogenannten
Aberglauben und in den von diesem geprägten Verhaltensweisen bis hinein in unsere Tage.
Alle Aspekte, denen wir auf unserem Streifzug durch die Geschichte der Raben in der
Vorstellung der Menschen begegnet sind, begegnen uns wieder in den gewiß nicht zufällig
beliebtesten Kinderbüchern sowie in anderen wichtigen Kunstwerken. Natürlich hat auch Die
Kleine Hexe von Otfried Preußler einen übergescheiten vorlauten Raben an ihrer Seite- mit
dem wiederum keineswegs zufällig altiranisch-manichäischen Namen "Abraxas", der sich
über ihre anfängliche Unkenntnis in punkto Zauberei heftigst mokiert. Natürlich ist Der Rabe
Alfons klüger als der Zauberer, der mit ihm die Identität tauscht und dann Probleme mit seiner
Rückverwandlung bekommt – und natürlich ist Der Rabe das berühmteste aller Gedichte von
E.A.Poe, mit dem dieser auf einen Schlag weltberühmt wurde. Und natürlich ist unter den
berühmtesten Bildern Picassos auch das mit dem Titel "Das Mädchen und der Rabe", bei
dessen Betrachtung der in Rabendingen Bewanderte sofort sieht, daß sich der Rabe in der
Vorstellung des Mädchens schon längst in ihren Traumprinzen verwandelt hat usw. usw. Sie
wissen jetzt ja, was Raben bei uns Menschen so alles bedeuten können.
Nein, noch nicht ganz: Ein wichtiger Punkt fehlt noch. Vielleicht sogar der wichtigste Aspekt
überhaupt. Um diesen zu erfassen, müßten wir jedoch noch weiter und tiefer in die Geschichte
der menschlichen Kultur hinabsteigen. Indem wir die Geschichte des Raben mit den Mythen
beginnen ließen, blickten wir zurück auf das sogenannte Zeitalter der Helden und der ersten
Götter. Davor liegen jedoch noch, wie schon vorher kurz angedeutet, das Zeitalter des
primitiven Menschen und dann das sogenannte Totemistische Zeitalter.
Es ist das letztere, das Zeitalter der Totemistischen Stammesgesellschaften, auf das ich Ihre
Aufmerksamkeit noch kurz lenken möchte.
Wir kommen damit auch zum Beginn dieser Ausstellung, zu den Schattenkörpern, jenen halbweiß-schwarzen Vogel/Mensch-Figuren, durch die hindurch Sie Ihren eigenen Weg in diesen
Raum erst selbst zu finden hatten. Schon im Vorraum stießen sie auf eine versunkene Welt,
auf eine, wie Sigmund Freud (in Totem und Tabu) meinte, vielleicht ja nur scheinbar
versunkene Welt.
"Will man den Begriff des Totemismus möglichst kurz definieren", so heißt es in Wilhelm
Wundts Elemente der Völkerpsychologie, (Leipzig, 1912, S.8), "so läßt er sich wohl als eine
Vorstellungswelt bezeichnen, innerhalb deren das Tier zum Menschen die entgegengesetzte
Stellung einnimmt wie in der heutigen Kultur. Im totemistischen Zeitalter herrscht nicht der
Mensch über das Tier, sondern das Tier über den Menschen. Es erregt durch sein Tun und
Treiben Erstaunen, Furcht und Verehrung. Denn: Die Seelen der Verstorbenen wohnen in
ihm: so wird es zum Ahnen des Menschen. Sein Fleisch ist den Angehörigen der Sippe, die
sich nach ihm nennt, verboten. ... Nur spärliche Reste reichen aus dem Gedankenkreis dieser
Periode in die spätere Zeit: so in den heiligen Tieren der Babylonier, Ägypter und der anderen
alten Kulturvölker, in den Vorbedeutungen, die den Eigenschaften oder Handlungen der Tiere
beigemessen werden und in anderen an einzelne Tiere geknüpften magischen Vorstellungen."
Das Totem ist die Verkörperung einer Seele. Das Tier begegnet uns als das Objekt, das nach
dem Tode des Menschen der Träger seiner Seele werden kann. Freilich ist nicht jedes Tier
dazu in gleichem Grad geeignet. Seelentiere sind vornehmlich Tiere, die entweder durch ihre
schnelle Beweglichkeit, durch den Flug in der Luft oder durch andere, Überraschung oder
unheimliches Grauen erregende Eigenschaften sich auszeichnen. So gehören noch im
heutigen Volksglauben neben den Vögeln besonders die Schlange (und) die Eidechse ... zu
den Seelentieren.
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Schlange und Eidechse – diese beiden Totemtiere sind den Kennern der Bilderwelt Mandas
schon aus deren früheren Ausstellungen her vertraut. Das Totemtier Rabe kommt in dieser
Ausstellung zu dem ihm gebührenden Recht.
In der totemistischen Vorstellungswelt werden aus Raben Menschen und Menschen wieder zu
Raben. Speziesüberschreitungen waren zu Beginn der menschlichen Reflexion über das TierMensch-Verhältnis
notwendige Voraussetzungen dafür, sich selbst als Träger einer Seele denken zu können.
Solcherart Extrem-Metamorphosen waren keineswegs Auflösungserscheinungen: Sie waren
notwendige Bedingungen für Identität.
Wenn das kein Thema für die Schwarz-Weiß-Künstlerin MANDA ist!
Was sehen wir, wenn wir den Raben sehen? Woran denken wir, wenn wir an Raben denken?
Was geschieht mit uns, wenn wir auf Raben treffen? – Das war das Thema des PROLOGs.
Was sehen Sie, wenn Sie die Manda-Raben sehen? Was lösen Mandas Raben, Mandas
Menschen, Mandas Rabenmenschen oder Menschenraben im Betrachter aus? – Das sind die
Fragen für Sie selbst.

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