Auswirkungen der Legasthenie und Dyskalkulie im Erwachsenenalter

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Auswirkungen der Legasthenie und Dyskalkulie im Erwachsenenalter
Auswirkungen der
Legasthenie und Dyskalkulie
im Erwachsenenalter
-Diagnose / GutachtenProf. Dr. med. Tiemo Grimm
Zentrum Medizinische Genetik
Universität Würzburg
Legasthenie in der Familie
ca. 40 % der Kinder werden psychisch krank
ca. 25 % der Kinder werden straffällig
(nach Warnke u. Wewetzer, 1997; Esser u. Schmidt, 1993)
Was ist Legasthenie?
• Legasthenie = Leserechtschreibstörung
• Eine Störung des Erlernens des Lesens und
Rechtschreibens, entwicklungsbiologisch und
zentralnervös begründet
• Legasthenie besteht trotz normaler oder auch
überdurchschnittlicher Intelligenz und trotz
normaler familiärer und schulischer Lernanregungen
• = Teilleistungsstörung/Entwicklungsstörung
(ICD10 F81.0)
 Legasthenie (Lese-Rechtschreibstörung)
 Lese-Rechtschreibschwäche (LRS)
 LRS bei allgemeiner Minderbegabung
 schlechte Lese-Rechtschreibleistung
Legasthenie
(Lese-Rechtschreibstörung)
(ICD10: F81.0)
4 - 5% aller Schüler
LeseRechtschreibschwäche (LRS)
LRS bei allgemeiner Minderbegabung
vorübergehend
7 - 10% aller Schüler
≈ 3 % aller Schüler
Sonderpäd. Förderbedarf
Zerebrale
Schädigung
Organische
Ursachen
(z.B. Unfall,
Schizophrenie)
(z.B. Sehen,
Hören)
schlechte LeseRechtschreibleistung
≈10 % aller Schüler
Soziale oder
schulische
Faktoren
(nach Marwege, 2006)
Diagostik / Gutachten im
Erwachsenenalter
Probleme:
• FÄ für Psychiatrie (bei Erwachsenen) haben
in der Regel keine besondere Erfahrung mit
Legasthenie, da in der Regel FÄ für KJP die
Diagnostik durchführen.
• Es gibt kaum standardisierte Testverfahren für
Rechtschreibung und Lesen bei
Erwachsenen.
Diagostik / Gutachten im
Erwachsenenalter
Lösungen:
• wenn ältere Gutachten aus der Schulzeit vor
liegen und
• wenn weitere Personen in der Familie
ebenfalls betroffen sind.
• Gutachten durch FA für Humangenetik
Diagostik / Gutachten im
Erwachsenenalter
Warum können FÄ für Humangenetik
ein Gutachten erstellen?
1.Legasthenie hat starke genetische
Ursachen (Übersicht: Grimm T: Genetik der Legasthenie.
Sprache Stimme Gehör 2011; 35:58-66).
2.Legasthenie besteht lebenslang:
„Einmal Legi, immer Legi!“
3. Legasthenie ist eine Behinderung
Epidemiologie der Legasthenie
• Prävalenz: um 5 % - 10 %
(in Deutschland ca. 3 Millionen Betroffene
bzw. 200 000 betroffene Grundschulkinder)
• Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen
• in allen sozialen Schichten
• Familiäre Häufung
Segregation: Geschwister ca. 30 – 45 %
Eltern ca. 30 – 45 %
Genetik der Legasthenie
• Genetische Befunde:
- Heritabilität: 30-70%
- Umweltfaktoren erklären nur 6% der Leseund 13% der Rechtschreibfähigkeiten
(Stevenson und Fredmann, 1990)
• Seit 1983: → Kopplungsanalysen
• 2003 : → erstes Gen gefunden (DYX1C1)
Genetik der Legasthenie
11 gesicherte Genorte (mehrfach gefunden)
und
10 mögliche Genorte (nur einmal publiziert)
in der Regel ein komplexer Erbgang
(mehrere Gene und Umweltfaktoren)
(über 95 % der Fälle)
selten autosomal dominanter Erbgang
Derzeit noch keine molekulargenetische Diagnostik möglich !
Genorte für die Legasthenie
= Genort gesichert
= Genort nicht gesichert
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Neuronenmigration im Ratten-Cortex
RNA-Interferenz (RNAi) von KIAA0319, DCDC2 und Dyx1c1 stört die
Migration in dem Neocortex der Ratte.
Normalerweise wanderten die meisten der Neuronen weit weg von der
ventrikulären Zone und viele erreichen die kortikale Platte (Kontrolle).
Neuronen mit shRNA-Vektoren gegen KIAA0319, DCDC2 und Dyx1c1
verbleiben in der ventrikulären Zone und in der Zwischenzonen
verhaftet.
Paracchini et al., 2007
Wahrnehmung und Verarbeitung
von visueller Information
Gene
Intelligenz,
Gedächtnis,
Aufmerksamkeit
Wahrnehmung und Verarbeitung
von akustischer Information
Umweltfaktoren
Legasthenie
(Lese-Rechtschreibstörung)
Ursachen der Legasthenie
nach Schulte-Körne (2003)
Familiäre
Legasthenie
Genort: Chromosom 4q28
Gen: SPRY1
Autosomal dominante
Vererbung
Marie
1849 - 1911
Hans
1875 - 1959
Karl
1879
Wernt
1912 - 2000
Tiemo
1944
Wernt
1947
14
Martin
1977
Georg
1981
Sibylle
1983
Legasthenie in der Schule
Junge, 9 Jahre, 3. Klasse Grundschule
Legasthenie nicht erkannt; Empfehlung Förderschule (L)
1
Legasthenie nicht
berücksichtigt
Förderuntericht
Legasthenie
nicht anerkannt
Ab itur
Legasthenie-Internat
(CJD Oberurff, Hessen)
Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII
5. Kl. wiederholt
(wegen Legasthenie)
Legasthenie
nicht anerkannt
Legasthenie
nicht anerkannt
(Veitshhöchheim, Bayern)
Gymnasium
(DHG Würzburg, Bayern)
Legasthenie
berücksichtigt
Förderunterricht
Grundschule Hauptschule
Mathematik
alle Fächer
Noten
2
3
Sprachen
4 (Deutsch;
5.-12. Englisch;
7.-11. Französisch)
5
6
3
4
5
5
5
6
7
Jahrgangsstufen
8
9
10
11
12
13
16
19
Zeugnis nach der
freiwilligen
Wiederholung der
Untersekunda (=
11. Klasse) wegen
der schlechten
Noten in den
Sprachen
Wernt Grimm (1912-2000) um 1930
Julius Grimm (1821 – 1911)
Urgroßvater
Aus „Unser Haus“ von Marie Grimm über ihren
Sohn Hans Grimm [Großvater]
Im Herbst 1881 fing der Papa mit Hans zu
lernen an. ...
Hans konnte zwar sehr schön schreiben, mit
richtiger Betonung lesen, er deklamierte wie
ein Erwachsener, von Orthographie hatte er
aber keine Ahnung, und von praktischen
Rechnen, das man heute lehrt, ebenso wenig.
...
Ostern 1883 trat Hans zugleich mit Otto in die
Vorbereitungsschule mit Überspringung der
untersten Klassen. Seine mangelhafte
Ortographie hing ihm noch lange nach. ... Wir
hätten also Hans, Ostern 1884 in´s Gymnasium
senden können. Bei seiner mangelhaften
Kenntnis der Grammatik und Ortographie
hielten wir es aber für besser, wenn er noch ein
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Jahr in der Vorschule bliebe.
Marie Grimm
geb. Schlumberger
(1849 – 1911)
(meine Urgroßmutter)
Schulheft von Marie Schlumberger (1857)
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Diagostik / Gutachten im
Erwachsenenalter
Warum können FÄ für Humangenetik
ein Gutachten erstellen?
1.Legasthenie hat starke genetische
Ursachen (Übersicht: Grimm T: Genetik der Legasthenie.
Sprache Stimme Gehör 2011; 35:58-66).
2.Legasthenie besteht lebenslang:
„Einmal Legi, immer Legi!“
3. Legasthenie ist eine Behinderung
„Einmal Legi, immer Legi“
Längsschnittuntersuchungen haben
gezeigt, „dass es sich bei der LeseRechtschreibstörung um eine äußerst
entwicklungsstabile Beeinträchtigung
handelt, die sich entgegen der verbreiteten Auffassung auch nicht mit
dem Abschluss der Adoleszenz verliert.“ (J. Schumacher, G. Schulte-Körne, M.M. Nöthen:
Genetik der Legasthenie. medgen, 2006, 151-155).
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„Einmal Legi, immer Legi“
Nachuntersuchung von lese-recht-schreibgestörten Kindern (IQ um 120) im
Erwachsenenalter, die ein Spezialinternat
für Legastheniker besucht hatten, ergab:
Die Rechtschreibleistungen dieser Personen lagen im Erwachsenenalter deutlich
unter dem Durchschnitt in der Bevölkerung
(G. Schulte-Körne et al., Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother,
2003, 85-98).
Diagostik / Gutachten im
Erwachsenenalter
Warum können FÄ für Humangenetik
ein Gutachten erstellen?
1.Legasthenie hat starke genetische
Ursachen (Übersicht: Grimm T: Genetik der Legasthenie.
Sprache Stimme Gehör 2011; 35:58-66).
2.Legasthenie besteht lebenslang:
„Einmal Legi, immer Legi!“
3. Legasthenie ist eine Behinderung
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Behinderung nach WHO
• impairment (Schädigung)
= Mängel oder Abnormitäten der anatomischen, psychischen oder physiologischen
Funktionen und Strukturen des Körpers
• disability (Beeinträchtigung)
= Funktionsbeeinträchtigung oder -mängel
aufgrund von Schädigungen, die typische
Alltagssituationen behindern oder unmöglich
machen
• handicap (Behinderung)
= Nachteile einer Person aus einer Schädigung oder Beeinträchtigung
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Feststellung der Behinderung nach § 69 SGB IX
auf Antrag des Behinderten
GdB /MdE Tabelle
Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz – 1996
Kognitive Teilleistungsschwächen
(z.B. Lese-Rechtschreib-Schwäche [Legasthenie], isolierte Rechenstörung)
Leicht, ohne wesentliche Beeinträchtigung der
Schulleistungen
0 – 10 %
sonst – auch unter Berücksichtigung von
Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen – bis
zum Ausgleich
20 - 40 %
bei besonders schwerer Ausprägung
50 %
Schleswig-Holsteinisches
Oberverwaltungsgericht (AZ: 3 M 41/02)
Es „gilt jedoch für solche Behinderungen des
Prüflings, die nicht die in der Prüfung zu ermittelnde wissenschaftliche Leistungsfähigkeit,
sondern lediglich den Nachweis derselben beeinträchtigen; in derartigen Fällen verlangen der
Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1
GG) und das Grundrecht der freien Berufswahl
(Art. 12 Abs. 1 GG) bei der ärztlichen Vorprüfung
ausnahmsweise einen Nachteilsausgleich durch
Einräumung besonderer Prüfungsbedingungen
(vergl. BverG, VII C 50.76). “
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Beschluss VGH Kassel (03.01.2006)
Ein anerkannter Legastheniker kann im Rahmen der zweiten juristischen Staatsprüfung für
die Anfertigung der Aufsichtsarbeiten eine angemessene Schreibzeitverlängerung beanspruchen.
Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, dem Antragsteller für das Anfertigen der Aufsichtsarbeiten
in der zweiten juristischen Staatsprüfung eine
Schreibzeitverlängerung von jeweils 30 Minuten
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zu gewähren.
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Legasthenie: Prognose
Legasthenie besteht lebenslang
Nahezu alle lernen Lesen,
ausreichendes Rechtschreiben aber
nur wenige
Verbesserte Situation nach Schulende:
Wunschberufe!
Psychologie heute,
Juli 2008
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Legasthenie und Dyskalkulie
• Prävalenz der Dyskalkulie ca. 6,5 %
• Komorbidität mit Legasthenie ca. 17 %
• Komorbidität mit ADHS ca. 26 %
Dyskalkulie
dys (Griechisch) = schlecht, gestört, krankhaft
calculus (Lateinisch) = Rechnung
Nicht identisch mit „schlecht in Mathe“!
Dyskalkulie ist eine Entwicklungsverzögerung des
mathematischen Denkens bei Kindern, Jugendlichen
und auch Erwachsenen. Es handelt sich um
beständige Minderleistungen im Lernstoff des
arithmetischen Grundlagenbereiches.
Dyskalkulie
Prävalenz unter Grundschülern ca. 5 %
Multiaxiale Diagnostik:
• Erhebung der individuellen Entwicklung des Kindes
einschließlich der Schullaufbahn und der
Familiengeschichte.
• Standardisierter Rechentest.
• Intelligenztest.
• Untersuchung des Verhaltens (z. B. Aufmerksamkeit,
Impulsivität) und der Emotionalität (z. B. Schulangst).
• Neurologische Untersuchung einschließlich der
Überprüfung der Hör- und Sehfähigkeit.
.
Dyskalkulie




Fingerzählen im höheren Alter (z.B. 10 Jahre)
Generelle Schwierigkeiten mit numerischen
Einschätzungen
Symbolische Mathematik mehr betroffen als
nicht symbolische Mathematik
Probleme im alltäglichen Leben mit dem
Umgang mit Geld, die Zeit korrekt abzulesen
Dyskalkulie
Wiederholungsrisiko:
Geschwister haben ein 10fach höheres Risiko
für Dyskalkulie
66 % der Mütter, 40 % der Väter, 53 % der Geschwister
und 44 % der Verwandtschaft 2. Grades haben auch
Dyskalkulie (Shalev et al., 2001)
Williams-Beuren-Syndrom: mentale Retardierung,
besonders im sprachlichen Bereich, nicht im
mathematischen Bereich
Turner-Syndrom: haben Probleme in Mathematik
Dyskalkulie
Genetik:
Keine monogene Vererbung
Komplexe Vererbung
Heritabilität bei 52 %
Zwillingsuntersuchungen:
N
beide Dyskalkulie
Konkordanzrate
EZ
40
58%
73%
ZZ
23
39%
56%
Alarcon et al. (1997)
Diagostik / Gutachten im
Erwachsenenalter
Probleme:
• FÄ für Psychiatrie (bei Erwachsenen) haben
in der Regel keine besondere Erfahrung mit
Dyskalkulie, da in der Regel FÄ für KJP die
Diagnostik durchführen.
• Personen mit Dyskalkulie sind häufig im
Erwachsenalter stärker beeinträchtigt als
Personen mit Legasthenie.
Danksagung
Dank meiner Mutter,
Hedi Grimm (1910-2003),
die mir Lesen und
Schreiben beibrachte.
Dank meiner Ehefrau,
Barbara, die mir half
unseren Kindern
beizubringen, mit
Legasthenie zu leben.
Rose „Hedi Grimm“ (Lens, Belgien)
46