Sing Sing (PDF 207 kB)
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KOLUMNE ILLUSTRATION: PETER WANNER Sing Sing M usik finden alle gut. Ausser mir. Mein Nachbar hört sich nämlich gerade seine «Die schönsten Sommerhits der Achtzigerjahre»-CD auf Repeat an, und das bringt selbst einen gestandenen Mann wie mich aus dem Rhythmus. Der Singsang von «Sunshine Reggae» bricht sich an den sonnenwarmen Wänden der umstehenden Altstadthäuser – ein Stück, so schön und erspriesslich wie AbricotpudelHämorrhoiden im Sonnenuntergang. Gleichzeitig tauchen dazu Bilder und Gefühle auf, die sich nicht einmal die Mühe geben, echt sein zu wollen. Der reinste Secondhand-Shop der Emotionen. Des Gefühlsterrors. Sommer, Sonne, Drinks am Strand, und das Leben ist easy … Jetzt mal im Ernst: Haben Sie jemals an einem Meeresstrand gelegen und in der sonnencremedunstigen Hitze einer Caipirinha verkostet? Oder jemanden gesehen, der solches tat? In der aussermusikalischen Realität ballert einen das ja innert Sekunden zuverlässig ins Koma. Songs wie «Sunshine Reggae» tragen Mitschuld an brachialen Körpertorturen: Zahllose, gern nordeuropäische Touristen landen beim Versuch, solche musikalischen Gutfühl-Befehle ernsthaft in die Praxis umzusetzen, als menschliche Pendants zu Grillbratwürsten (sie sind nach dem dritten «Sex On The Beach» in der Mittagssonne auf dem Liegestuhl weggesimmert) oder mit ausgeschlagenen Zähnen (sie griffen stammhirngelenkt in präkomatöser Konfusion einem bikinibekleideten Wassertier an delikatere Körperstellen) in den Arztpraxen auf Mallorca, Ibiza und Co. von Jürg Odermatt Apropos Torturen: Ich würde mich selbst als durchaus besonnen und nicht unfriedfertig bezeichnen. Aber jetzt, da die laue Brise zum siebten Mal an diesem Nachmittag ihr «Sunshine, sunshine reggae/Don’t worry/Don’t hurry/Take it easy» zu mir in die Stube trägt, beginne ich über eine Stippvisite zu fantasieren: Auf dem Rücken und in Händen trüge ich einen friedlich vor sich herschnurrenden Flammenwerfer, meine klitzekleine Baseballkeule käme ebenfalls mit zu Nachbars. Damit baute ich ihren CD-Player zu einer Skulptur im «Mad Max»-Design um, die an die vergängliche Tandhaftigkeit unserer Warenwelt erinnern soll. Frischauf und munter ging es alsbald wieder heim, mit einem Liedchen auf den Lippen: «Sunshine, sunshine reggae/ Let the good vibes get a lot stronger!» Sing! Sing! Und jetzt alle! SPRECHSTUNDE 44