Der Völkermord in Srebrenica - Erinnerungskonflikte in Europa
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Der Völkermord in Srebrenica - Erinnerungskonflikte in Europa
Europäische Erinnerungskonflikte VI. Der Völkermord in Srebrenica1 Bremer Europakoffer / Jean Monnet Modul Erinnerungskonflikte 1. Historischer Hintergrund Nach jahrtausend langer Fremdherrschaft des Römischen, Osmanischen und ÖsterreichischUngarischen Reichs2 wurde Bosnien-Herzegowina 1941 Teil des Unabhängigen Staats Kroatien. Bis 1945 wurden Serben in diesem Marionettenstaat des Deutschen Reichs von kroatischen Ustascha systematisch verfolgt und terrorisiert. Ebenfalls 1941 wurden serbische Tschetnik-Verbände der Jugoslawischen Armee aufgebaut, die 1942 den von Josip Broz Tito geführten Partisanen unterlagen. Noch heute spielt der Partisanenmythos in der kulturellen Erinnerung des Landes eine zentrale Rolle 3. 1945 wurde die Föderative Volksrepublik Jugoslawien proklamiert, die 1963 in Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien umbenannt wurde. Bosnien-Herzegowina wurde eine ihrer sechs Teilrepubliken. Mit der Abschaffung muslimischer Kultur- und Bildungsvereine wurde Titos antireligiöse und antiislamische Regierungspolitik deutlich erkennbar. Mit der Anerkennung der Muslime als Nation erfolgte in den 1960ern eine politische Kursänderung. Die Situation in Jugoslawien und Bosnien-Herzegowina änderte sich in den 1980ern mit dem Tot Titos und dem Beginn der Ära Milošević erneut grundlegend4. 1991 begannen die separatistische Politik und die systematische Bewaffnung der bosnischen Serben sowohl durch die Regierung in Serbien, als auch durch die Serbische Demokratische Partei (SDS) und die Jugoslawische Volksarmee (JNA). 1992 erklärte sich Bosnien-Herzegowina nach einem Referendum, das bosnischen Serben boykottierten, für unabhängig. Die bosnischen Serben reagierten mit der Ausrufung der Serbischen Republik (RS) als Teil Jugoslawiens. Seit 1991 kam es zu Kämpfen zwischen bosnischen Serben und der JNA gegen bosnische Kroaten. 1993 begann die Kriegsführung zwischen bosnischen Muslimen (Bosniaken) und bosnischen Kroaten. Ende 1993 kam es zu einer Brutalisierung des Krieges. Vor allem serbische Paramilitärs verübten Massaker und systematische Massenvergewaltigungen und terrorisierten insbesondere die bosniakische Zivilbevölkerung5 6. 1995 kam es zu mit dem Völkermord von Srebrenica zum traurigen Höhepunkt des Krieges. Ungeachtet des Fakts, dass es sich bei dem Gebiet um eine der sechs UN Schutzzonen in Bosnien-Herzegowina handelte, gelang es bosnische Serben es nach langer Belagerung zwischen dem 10.-19. Juli einzunehmen. Die Bewohner flüchteten in das nahe gelegene Potocari, dem Standort der UN-Blauhelmsoldaten und hofften vergeblich, dort Schutz zu finden7. Die Eroberer begannen, Frauen und Kinder von den Männern zu trennen. Erstere wurden häufig vergewaltigt bevor sie schließlich in Bussen auf bosniakisches Gebiet deportiert wurden. Ca. 8.000 männliche Bewohner und Flüchtlinge wurden in diesen Tagen ermordet und in Massengräbern verscharrt. Durch mehrfache Umbettungen in der folgenden Zeit sollten die Taten verschleiert werden. 8731 Menschen gelten bis heute als verschollen. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und Internationale Strafgerichtshof (IStGH) bewerten das Massaker als Völkermord8. 1 Ebenfalls 1995 wurde der Krieg in Bosnien-Herzegowina mit dem Vertrag von Dayton offiziell beendet und das Land in eine bosniakisch-kroatische Förderation BosnienHerzegowina und die RS geteilt und in seinen Grenzen bestätigt9. 2. Die rechtliche und politische Aufarbeitung des Völkermords in Srebrenica Schon 1995 wurden erste Anstrengungen zur rechtlichen und politischen Aufklärung der Ereignisse in Srebrenica unternommen. Der UN-Menschenrechtsbeauftragte Tadeusz Mazowiecki erklärte im Juli nach einer einwöchigen Untersuchung, von 40.000 Einwohnern der Enklave seien 7.000 offenbar verschwunden. Im April 1996 untersuchte eine Ermittlungskommission des ICTY erstmals vor Ort Massengräber und Exekutionsorte. Die forensischen Untersuchungen konnten jedoch einerseits aufgrund der sehr hohen Zahl der Ermordeten, Tatorte und Massengräber, andererseits aufgrund der Vertuschungsversuche der serbischen Seite bis heute nicht abgeschlossen werden10. Im November 1999 veröffentlichte die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) einen Bericht über die Ereignisse in Srebrenica, in dem unter anderem auch die Rolle der Blauhelmsoldaten erörtert wird11. Vertreter der RS räumten im Juni 2004 erstmals offiziell die Verantwortung bosnischer Serben für den Völkermord von Srebrenica ein 12. Im November des selben Jahres folgte die erste offizielle Entschuldigung bei den Hinterbliebenen der Opfer 13. Eine bosnisch-serbische Untersuchungskommission übergab der Staatsanwaltschaft im März 2005 eine Liste mit 892 Namen von mutmaßlichen Tätern14. Vor dem ICTY sind mehrere Personen wegen des Völkermordes in Srebrenica angeklagt worden, unter ihnen Radovan Karadžić, der im Juli 2008 gefasst wurde, sowie der weiterhin flüchtige Ratko Mladić. In den Urteilen gegen Nenad Krstić, Vidoje Blagojević und Bojan Jokić bewerten die Richter das Massaker offiziell als Völkermord15. Schon 1993 unternahm Bosnien-Herzegowina einen Versuch beim Internationalen Gerichtshof (IGH) Entschädigungszahlungen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien einzuklagen, da Organe der Republik Serbien für Völkermord in Bosnien-Herzegowina verantwortlich sein. Ende Februar 2007 kam der IGH jedoch zu dem Ergebnis, dass Serbien keine direkte Verantwortung für die Verbrechen, die im Bosnienkrieg begangen wurden, trage und deshalb nicht zu Entschädigungszahlungen herangezogen werden könne. Jedoch bestätigte der IGH das ICTY in seiner Einschätzung des Massakers von Srebrenica als Völkermord16. Im Juni 2007 reichte der Hinterbliebenenverband Mütter von Srebrenica beim Landgericht in Den Haag eine Klage gegen die UN ein, da diese nicht genug unternommen hätten, um den Menschen in der Schutzzone Srebrenica zu helfen17. Das Gericht billigte der UN in seinem Urteil vom 10.7.2008 jedoch Immunität zu, was unter anderem bedeutet, dass sich staatliche Gerichte nicht mit Klagen gegen die Vereinten Nationen befassen können18. 3. Kulturelle Repräsentationen des Völkermords von Srebrenica in Mahnmalen, Videos und Filmen 2 In Srebrenica/ Potocari erinnert ein Mahnmal an den Völkermord. Die Namen der Opfer wurden in Stein gemeißelt und stehen vor dem Friedhof 19 auf dem am 11. Juli 2010, am 15. offiziellen Jahrestag des Verbrechens, 775 weitere, aus den Massengräbern exhumierte und identifizierte Opfer beigesetzt wurden20. Ein weiteres Mahnmal ist auf Vorschlag deutscher Menschenrechtler und der Göttinger Gesellschaft für bedrohte Völker und auf Wunsch der Witwen von Srebrenica in Planung. Auf den Hügeln des Gebiets soll in Zukunft eine Säule der Schande thronen. Diese soll aus den mit Schuhen der Opfer gefüllten Buchstaben UN bestehen und das Versagen der Vereinten Nationen anklagen21. Für großes Aufsehen auch außerhalb des ehemaligen Jugoslawien sorgte 2005 ein zehn Jahre altes Video, das Angehörige einer serbischen Sondereinheit mit dem Namen Skorpione zeigt, die nach der Einnahme Srebrenicas sechs zuvor offensichtlich gefolterte bosnische Muslime erschießen22. Der Dokumentarfilm Srebrenica 360° soll dem Vergessen entgegen wirken. In ihm berichten Frauen und Männern aus Srebrenica über das harte Leben, über die Arbeitslosigkeit, die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben und ihrer Sehnsucht nach Gerechtigkeit23. Weitere Dokumentarfilme sind Srebrenica: A Cry from the Grave24 und Himmel über Srebrenica25. Ersterer zeichnet jede einzelne Stunde des Massakers nach. In Aussagen von Überlebenden und Hinterbliebenen wird deutlich, wie wichtig es ist, dass die Täter rechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Auch Himmel über Srebrenica befasst sich mit den Ereignissen im Zusammenhang mit der Einnahme der Schutzzone. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf einem „unterbelichtetes Detail, das in den Genozid von Srebrenica führte: die Entscheidungen des Krisenstabes der UNO im Hauptquartier in Zagreb. Am Abend des 10. Juli 1995, einen Tag vor der Einnahme Srebrenicas durch serbische Truppen, stehen alle Zeichen auf Sturm. Der Einsatz der NATO-Luftstreitkräfte steht unmittelbar bevor. Ein französischer General soll anders entscheiden und stellt die Weichen für einen genozidalen Super-GAU mitten in Europa“26. 4. Öffentliche Debatten über den Völkermord von Srebrenica Lange wurde in den serbischen27, aber auch in den westlichen Medien 28 der Völkermord in Srebrenica geleugnet bzw. falsch oder verzerrt dargestellt. Ein Beispiel stellt Jürgen Elsässer, Reporter der Jungen Welt dar. Er relativierte den Völkermord unter Berufung auf serbische Kriegsopfer29 und widersprach der Bewertung als Genozid 30 indem er unter anderem dessen systematischen und gezielten Charakter in Frage stellte. Elsässer behauptete zum Beispiel, für die Geschehnisse müssen sich „[marodierende serbische] Einheiten […] verantworten […]: Viele der Soldaten kamen aus der Region um Srebrenica und wollten den Tod von Angehörigen rächen, die zuvor bei moslemischen Überfällen getötet worden waren.” 31 Die systematische Planung und Durchführung des Massakers wurde jedoch vom ICTY bestätigt. Ein weiteres Beispiel ist ein Artikel von Gerge Pumphrey, der in der Zeitschrift konkret den Völkermord von Srebrenica ebenfalls leugnet32. Neben der Bewertung der Geschehnisse in Srebrenica als Völkermord werden auch die Opferzahlen diskutiert. Zweifler betonen, Opferzahlen seien einerseits erhöht worden, um die serbische Seite zu dämonisieren und andererseits, um von Verbrechen gegen die Serben abzulenken. Unter anderem Radovan Karadžić nutzte das falsche Argument, zu den Wahlen 3 1996 seien in Wählerverzeichnissen 3.000 Tote und Vermisste wieder aufgetaucht, um niedrigere Opferzahlen zu unterstützen33. Auch die Anzahl der lokalisierten Massengräber, der exhumierten Leichen und der bisher identifizierten Toten geben Anlass zu zweifelnden Worten. Diese werden jedoch entkräftet, ruft man sich die Vertuschungsversuche der serbischen Seite ins Gedächtnis, die die ohnehin komplexen und langwierigen forensischen Untersuchungen zusätzlich erschweren34. Des Weiteren wird die Rolle der Blauhelmsoldaten diskutiert. Kritiker werfen ihnen vor, sie hätten den Völkermord zumindest teilweise mitbekommen und durch Nicht-Einschreiten geduldet. Einige sprechen in diesem Zusammenhang von Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen, dem sich gezielte Vertuschungsversuche durch Politik und Militär anschlossen35. Andere Stimmen betonen, dass die Blauhelme in Srebrenica kaum Kenntnis von den Geschehnissen gehabt haben können, da die Täter sie an entsprechenden Beobachtungen systematisch gehindert hätten. Hinzukommend seien sie im Stich gelassen worden, obwohl sie wiederholt Luftunterstützung angefordert hatten. Auch die unangemessenen Mittel, die zum Schutz Srebrenicas zur Verfügung standen, werden in diesem Zusammenhang diskutiert. Es wird von einer „mission impossible“ gesprochen36. Am 4. Dezember 2006 ehrte die niederländische Regierung ca. 500 Soldaten die in Srebrenica dienten. „[Verteidigungsminister Henk] Kamp erklärte, mit der Verleihung von Orden an die Ehemaligen der „Dutchbat“-Einheit (Dutch Bataillon) in der damaligen UN-Schutzzone erkenne man an, „dass sie in Srebrenica einen außerordentlich schwierigen Auftrag hatten“. Zu Unrecht seien sie für das Desaster in der Enklave verantwortlich gemacht worden.” „In Bosnien stieß die Entscheidung der Niederlande auf heftige Kritik. Demonstranten sprachen vom „Genozid-Orden“ für die Männer.”37 4 1 Verfasserin: Hannah Baumeister, BA Integrierte Europastudien, Universität Bremen, August 2010. Keßelring, Agilolf (Hrsg.) (2007): Wegweiser zur Geschichte – Bosnien-Herzegowina. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 180-185 2 3 Boeckh, Katrin (2007): Jugoslawien und der Partisanenmythos. In: Keßelring, Agilolf (Hrsg.): Wegweiser zur Geschichte – Bosnien-Herzegowina. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 119-127 Clewing, Konrad (2007): Keine >>Befreier<<: Deutsche und Italiener als Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg. In: Keßelring, Agilolf (Hrsg.): Wegweiser zur Geschichte – Bosnien-Herzegowina. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 4355 Sundhaussen, Holm (2007): Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs. In: Keßelring, Agilolf (Hrsg.): Wegweiser zur Geschichte – Bosnien-Herzegowina. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 105-117 4 Calic, Marie-Janine (2007)a: Gescheiterte Idee: Gründe für den Zerfall Jugoslawiens. In: Keßelring, Agilolf (Hrsg.) (2007): Wegweiser zur Geschichte – Bosnien-Herzegowina. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 137- 145 Jakir, Aleksandar (2007): Bosnien-Herzegowina im ersten und zweiten jugoslawischen Staat. In: Keßelring, Agilolf (Hrsg.): Wegweiser zur Geschichte – Bosnien-Herzegowina. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 57-69 5 Es wird geschätzt, dass während des Bosnien-Kriegs 20.000-50.000 Frauen vergewaltigt und 35.000 erzwungen schwanger wurden (vgl. Drakulić, Slavenka (1994): The Rape of Women in Bosnia. In: Davies, Miranda (Hrsg.): Women and Violence: Realities and Responses World Wide. London und New Jersey: Zed Books, 176-181; Goldstein, Joshua S. (2001): War and gender – How gender shapes the war system and vice versa. Cambridge: Cambridge University Press, 563). Auch wenn ein Großteil der Menschenrechtsverletzungen von Serben gegen Bosniaken gerichtet war, so wurden sie doch von allen Kriegsparteien begangen. Sie sind also unabhängig von der Nationalität der Täter. Der Grad der angewandten Gewalt, der häufig das nötige Maß überschreitet, ist indes abhängig von der ethnischen Zugehörigkeit der Opfer (vgl. u.a. 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