3. Wahlbarometer 2015
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3. Wahlbarometer 2015
Rechtsrutsch, bei schwächelnder Mitte Medienbericht zur 3. Welle des Wahlbarometer 2015, September 2015 Studie im Auftrag von SRG SSR Projektteam Claude Longchamp Politikwissenschafter, Lehrbeauftragter der Universitäten Bern, Zürich und St. Gallen Martina Mousson Politikwissenschafterin Stephan Tschöpe Politikwissenschafter Aaron Venetz Politikwissenschafter Marcel Hagemann Sozialwissenschafter Johanna Schwab Sekretariat und Administration Inhaltsverzeichnis 1 WICHTIGES IN KÜRZE ................................................................................3 2 EINLEITUNG ..............................................................................................14 2.1 Zielsetzung und Fragestellungen ........................................................14 2.2 Kurze Einbettung der Wahlen 2015 in die jüngere Wahlgeschichte...15 2.3 Thesen und Szenarien zu den Wahlen 2015.......................................22 2.4 Analyseschema des Wahlbarometers 2015 .......................................29 3 BEFUNDE ...................................................................................................34 3.1 Beteiligungsabsichten .........................................................................34 3.2 Potenziale der Parteien bei den Wahlberechtigten .............................35 3.3 Beteiligungsabsichten 2015 ................................................................36 3.4 Entscheidungsabsichten .....................................................................40 3.5 Soziologisches Profil der Parteien .......................................................46 3.6 Weltanschauliche Positionierung der Wählerschaft ...........................54 3.7 Dringliche Themen ..............................................................................60 3.8 Wahrgenommene Themenkompetenzen der Parteien ......................64 3.9 Spezialthema: Energiepolitik ...............................................................70 3.10 Parteipräsidenten ................................................................................74 3.11 Bester Wahlkampf ..............................................................................80 4 WAS SICH AUF DIE WAHL-ABSICHTEN AUSWIRKT .............................85 4.1 Übersicht über die Wirkungsfaktoren .................................................85 4.2 Ergebnisse zu den Wirkungsfaktoren nach Parteien ..........................86 4.3 Zwischenbilanz ....................................................................................89 5 SYNTHESE .................................................................................................90 5.1 Die bisherige Rahmung der Wahl 2015 ..............................................91 6 ANHANG ....................................................................................................96 6.1 gfs.bern-Team .....................................................................................96 Bern, 09. September 2015 Copyright by gfs.bern 2 1 Wichtiges in Kürze 1.1 Wahlabsichten Wäre bereits am 24. August 2015 gewählt worden, hätten sich die Wahlberechtigten mit Beteiligungsabsichten wie folgt verteilt: Die SVP wäre auf 28.0 Prozent der Stimmen gekommen. An zweiter Stelle wäre die SP mit 19.3 Prozent gelegen. Dahinter eingereiht hätten sich die FDP mit 16.9 und die CVP mit 11.1 Prozent. Mit einem Wähleranteil von 7.4 Prozent wäre die GPS an fünfter Stelle gelegen; 4.3 Prozent wären auf die GLP entfallen und 4.2 Prozent auf die BDP. Das ist keine Prognose der Parteistärken für den Wahltag vom 18. Oktober 2015. Es ist der jetzige Stand der Dinge gemäss Wahlbarometer. Grafik 1 Die Messwerte selber sind mit einem statistischen Unsicherheitsbereich versehen. Dieser ist nicht absolut, denn er hängt von der Parteigrösse ab. Bei grossen Parteien fällt er grösser aus, bei kleinen Parteien kleiner. Er variiert auch mit dem verlangten Sicherheitsmass. Man kann diese Berechnungen dazu verwenden, um zu bestimmen, wie wahrscheinlich aktuelle Gewinne und Verluste gegenüber 2011 wären. Gewinne erscheinen bei der FDP zu 94 Prozent wahrscheinlich, bei der SVP zu 85 Prozent. Verluste von BDP und GLP gegenüber 2011 sind zu 96 Prozent wahrscheinlich. Bei der CVP und der GPS haben die Stimmenverluste eine Probabilität von 90 Prozent. Nach verbreiteter statistischer Konvention sind nur Aussagen mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit sicher genug. Effektiv sind die Abweichungen in der letzten Welle gering. Im Mittel der Parteien variieren sie im Wahlbarometer zwischen 1 und 1,3 Prozent für die Jahre 2003 bis 2011. 3 Grafik 2 Aggregiert man Parteistärken auf Blöcke, kann man festhalten: Von der neuen Mitte, 2011 mit BDP und GLP entstanden, geht heute nicht mehr die gleiche Strahlkraft aus. Der Alleingang in einzelnen Fraktionen hat sie anders erhofft, nicht gestärkt, sondern eher geschwächt. Bei SP, GLP und CVP kann man zudem vermuten, dass sich verlorene Volksabstimmungen zu eigenen Initiativen negativ auswirkten. Wahlsieger wäre vielmehr die rechte Seite. Den FDP und SVP wären zusammen mehr als 3 Prozent stärker als 2011. SP und GPS blieben weitgehend stabil (-0.4%-punkte). Schwächeln würde die Mitte (-3.5%-punkte). Keine direkten Aussagen lassen nationale Umfragen auf Sitzverteilungen zu, denn die Mandate werden in den Kantonen verteilt und Listenverbindungen sowie Restmandate bestimmen den Ausgang ebenso. 1.2 Beteiligungsabsichten Anfangs August 2015 hätten sich 50 Prozent der Wahlberechtigten an den nationalen Wahlen beteiligt. Das wären minimal mehr als 2011. Damit würde sich der längerfristige Trend seit 1995 mit einer wieder ansteigenden Wahlteilnahme nochmals bestätigen. Hauptgrund ist die politische Polarisierung. Über dem nationalen Mittel sind die Teilnahmewerte bei der SVP, der GPS, der SP und der CVP. Darunter fallen sie bei der FDP aus. In den letzten 12 Monaten hat sie ihre Mobilisierungsfähigkeit aber verbessern können. Das gilt auch für die SVP. Rückläufig sind die Beteiligungsbereitschaften insbesondere bei der GLP und der GPS. Die CVP und BDP kennen ein anderes Problem. Sie mobilisieren zwar zunehmend besser ihr denkbares Elektorat, nur hat sich ihr Potenzial gegenüber 2011etwas verringert. 4 1.3 Wanderungen der Wählenden seit 2011 Die grössten Wählermärkte gibt es zwischen der SP und der GPS einerseits, der SVP und der FDP anderseits. Im ersten Fall nützt dies der SP, im zweiten Fall ist die Bilanz genau geteilt. Ersteres beobachteten wir schon in früheren Wanderungsanalysen; zweiteres ist neu, denn in den drei letzten Befragungen legte jeweils die FDP zulasten der SVP zu. Jetzt gewinnen beide Parteien insgesamt. Weitere nennenswerte Wählermärkte gibt es von der neuen Mitte von 2011 zur FDP sowie, ganz schwach, von der SP zur GLP. Verglichen mit 2011 kennen die SVP, die FDP und die SP eine positive Mobilisierungsbilanz. Negativ ist sie insbesondere bei der GLP. 1.4 Bisheriger Wahlkampf Die rechte Seite der Wahlwilligen nimmt deutlicher als die linke einen Wahlkampf wahr. Vor allem denkbare SVP- und FDP-Wählenden haben auch klarer eine Präferenz: 61 Prozent der SVP-Wählenden, die bestimmt teilnehmen wollen, halten den Wahlkampf ihrer Partei für den besten. Bei der FDP sind es 44 Prozent. An diese Werte kommen die linken Parteien nicht heran. Bei den voraussichtlichen SP-WählerInnen präferieren 30 Prozent die SP-Kampagne, bei den GPSWählenden sind es gar nur 22 Prozent. Genau gleich hoch ist der Anteil bei der CVP. Personen, die beabsichtigen für die GLP zu stimmen, nehmen vor allem die SVP-Kampagne als die beste wahr, bei der BDP schielt man stark auf die FDP. Wer von sich sagte, keine feste Parteipräferenz hat, bevorzugt auch keine der parteilichen Wahlkampagnen. Im kurzfristigen Zeitvergleich zulegen konnte nur die Kampagne der SVP. Grafik 3 5 1.5 Dringliche Probleme und Lösungen Die Migrationsthematik wird auch im August 2015 mit grossem Abstand am häufigsten als dringendstes Problem genannt. Es folgen Nennungen rund um die EU respektive die Bilateralen auf dem zweiten Rang. Dahinter reihen sich drei Problembereiche, die alle annähernd gleich dringlich erscheinen: die soziale Sicherheit, die Arbeitslosigkeit und die Umweltfrage. Zusammen bilden sie die Top-Fünf der dringlichsten Probleme, von denen man sich eine politische Lösung wünscht. Gewachsen ist der Vorsprung der Migrationsfragen auf alle anderen Problembereichen. Das kommt auch zum Ausdruck, wenn man die Dynamiken seit 2011 studiert. Nirgends ist die Veränderung nach oben so hoch wie hier. Dafür hat die Umweltfrage kurz- und mittelfristig an Bedeutung verloren. 2011 rangierte sie bisweilen an erster Stelle. Im Wahljahr 2015 ist sie vom dritten auf den fünften Rang abgestiegen. Vergleichsweise dringlicher geworden sind die Arbeitslosigkeit und die soziale Sicherheit. Grafik 4 Die von den Themenwählenden wahrgenommenen Kompetenzen der Parteien sind bei der SVP die Migrationspolitik, bei der SP die soziale Sicherheit sowie die Arbeitslosigkeit und bei der FDP die Europa-Frage. Die GPS konnte die Umweltfrage klar besetzen. In keinem Top-Fünf-Thema führend sind die CVP und die GLP, nur in der Europa-Frage erwähnt wird die BDP. Zeitlich gesehen hat der Vorsprung der SVP in Migrationsfragen abgenommen. Es wächst der Anteil, der hier keine parteipolitische Lösung will oder eine überparteiliche präferiert. Das gilt auch für Fragen der Arbeitslosigkeit. 6 Grafik 5 1.6 Spezialthema: Energie Die Energiewende ist das Spezialthema dieses Wahlbarometers. Zunächst sei festgehalten, dass die Einstellungen zur Energiewende 2050 mehrheitlich positiv sind. 74 Prozent sind mit der Forderung einverstanden, wonach die Schweiz langfristig ohne Strom aus Atomkraftwerken auskommen soll. 22 Prozent sind hier umgekehrter Meinung. 7 von 10 befürworten auch eine Beschränkung der Laufzeiten für Kernkraftwerke. 27 Prozent der Wahlberechtigten widersprechen dem ausdrücklich. Argumentativ hofft eine Mehrheit von zwei Dritteln, dass die Energiewende in der Schweiz Jobs schaffe. Genau die Hälfte findet, die in Aussicht stehende Verteuerung der Energie sei für die Schweizer Wirtschaft nicht tragbar. In allen Fragen zeigt sich ein Links/rechts-Gegensatz. Der grundsätzliche Ausstieg aus der Kernenergie ist in allen Parteiwählerschaften mehrheitsfähig – bei der SVP allerdings nur ganz knapp. Das gilt nicht für die Beschränkung der Laufzeit für bestehende Kernkraftwerke. In der SVP-Wählerschaft gibt es mehr Gegner dieser Forderung als Befürworter, und selbst bei der BDP und FDP sind nur knappste Mehrheiten dafür. Ähnliches wiederholt sich bei der Jobfrage. Optimistisch sind hier die Wählerschaften von GPS und GLP über SP und CVP. Einiges an Skepsis zeigt sich dagegen bei der FDP, insbesondere auch bei der BDP- und SVP-Basis. Mehrheitliche Kritik an einer Belastung der Wirtschaft durch die Energiewende zeigt sich aus den gleichen Kreisen. So sind SVP-, knapp auch FDP- und BDPWählende mehrheitlich der Meinung, dies sei nicht tragbar. 7 Grafik 6 1.7 Parteipräsidenten und -präsidentinnen Die höchste Glaubwürdigkeit bei den Wahlberechtigten insgesamt kennt der CVP-Präsident Christophe Darbellay (49%), gefolgt von Christian Levrat (49%). Auf den Rängen drei und vier folgen Philipp Müller (45%) und Toni Brunner (41%). Dabei polarisiert der SVP-Parteipräsident am meisten, gefolgt vom SPParteipräsidenten. Knapp mehr als ein Drittel der Schweizer Wählerschaft hält Toni Brunner für unglaubwürdig, den nächsthöchsten Vergleichswert erreicht Christian Levrat mit 15 Prozent. Auf den hintersten drei Rängen der Glaubwürdigkeitsskala sind die Parteipräsidenten der BDP und der GLP einerseits, das grüne Co-Präsidium andererseits zu finden. Bei diesen drei Präsidien mangelt es namentlich an Bekanntheit nach aussen. Für die Romands sind die beiden Westschweizer Parteipräsidenten Levrat und Darbellay die glaubwürdigsten. Toni Brunner belegt hier den letzten Rang. Im Tessin führt der CVP- vor dem FDP-Präsident. Die SP- und SVP-Präsidenten haben das Nachsehen; sie liegen noch hinter Landolt. Anders präsentiert sich die Lage, werden nur die Angaben der jeweiligen Parteiwählerschaften zu ihren eigenen Parteipräsidenten ihrer eigenen Parteipräsidentin berücksichtigt: Auch hier schneidet Christophe Darbellay mit 84 Prozent Glaubwürdigkeit am besten ab. An zweiter Stelle folgt allerdings Toni Brunner mit 81 Prozent. Hauptgrund hierfür ist, dass beide nach innen nicht polarisieren. Es folgen Christian Levrat und Philipp Müller. Die Bekanntheitsschwächen der Parteispitzen der BDP, GLP und der GPS bestätigen sich tendenziell selbst innerhalb der eigenen Wählerschaft; die Glaubwürdigkeit ist aber für alle drei Parteispitzen in den Augen ihrer WählerInnen intakt. Das gilt am klarsten für Martin Bäumle. 8 Grafik 7 1.8 Systematisierte Gründe für Gewinne und Verluste Aus den bisherigen Wahlbarometer-Befragungen wissen wir, dass eine gute Stimmung im eigenen Wahlkampf und eine hohe Identifikation mit dem eigenen Parteipräsidenten eine zentrale Voraussetzung für ein gutes Abschneiden bei den Nationalratswahlen sind. Das ist grosso modo bei allen untersuchten Parteien gegeben. In der Wichtigkeit folgen die programmatischen Aussagen respektive die Positionierung in den bürgerseitig vorrangigen Themen. Die FDP kann sich hier empfehlen, weil sie die Wirtschaftsentwicklung ganz allgemein thematisiert, aber auch die Migrations- und Energiefragen aufgenommen hat. Falsch wäre es die SVP zur Ein-Themenpartei stempeln zu wollen, denn aus Sicht der Wählenden kommt sie mit ihren Positionen in der Europa-Politik, der Wirtschaftsentwicklung und der Sozialversicherung ebenso gut an. Die Stärken der SP schliesslich liegen ebenfalls im Wirtschaftsbereich, gekoppelt mit sozialpolitischen Forderungen. Mittels Migrationsfragen kann sie sich marginal empfehlen. Stärkster Grund CVP zu wählen, ist die Europa-Frage, während die sozialen und ökologische Fragen für die GPS sprechen. Bei der GLP sind es Infrastruktur- und Umweltthemen, die ziehen, während bei der BDP kein bestimmtes Thema die Wahlabsicht begründet. Wertmässig konnte sich die FDP als Wahrerin des (ökonomischen) Erfolgsmodells Schweiz empfehlen, die SP als Vertreterin einer offenen Schweiz. Bei Wählenden rechts der Mitte spielt die Positionierung von SVP, FDP und beschränkt jene der CVP eine Rolle, bei GPS und SP im linken Spektrum ebenso. GLP und BDP können sich am ehesten als Parteien gegen die parteipolitische Polarisierung empfehlen respektive mit Stärken überparteilicher Allianzen. Der neue Trend besteht in den Parteistärken darin, dass die grösseren Parteien eher gestärkt werden, die kleineren eher geschwächt. Das steht der Aufteilung 9 in immer mehr Parteien gegenüber, wie wir es 2011 erlebt haben. Es spricht auch dagegen, dass Kleinstparteien diesmal grosse Sprünge wie bei der Vorwahl machen könnten. Vielmehr kommt sowohl ein Trend zur Vereinfachung der Parteienlandschaft zum Ausdruck, der die grossen Polparteien stärkt und der rechten Seite mehr nützt als der linken. Tabelle 1 Parteienlager Indikator 2011 3. Welle Wahlbarometer 2015 Trend Regierungslager 78.1 79.5 leichte Zunahme Regierungslager (ohne BDP) 72.6 75.3 Zunahme bürgerlich (SVP, FDP, CVP) 54.0 56.0 Zunahme rechts (SVP, FDP) 41.7 44.9 Zunahme Mitte (CVP, GLP, BDP, EVP) 25.1 21.3 Abnahme rotgrün (SP/GPS/Linke) 28.0 27.6 stabil Mitte/links (SP, GPS,GLP, BDP, CVP, EVP, Linke) 53.1 48.9 Abnahme Bemerkung: Veränderungen von 1.0 Prozentpunkt und mehr gelten als Abnahme respektive Zunahme. Veränderungen darunter, aber von minimal 0.5 Prozentpunkten werden als leichte Zu- oder Abnahme charakterisiert, derweil kleinere Veränderungen nicht kommentiert werden. © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 Dabei fällt auf, dass die Volatilität im Wahljahr wieder gestiegen ist. Im unmittelbaren Nachgang zur überraschenden Aufhebung der Euro-Untergrenze dominierte die Stabilität, mit der Entwicklung des Wahlkampfes geht diese wieder etwas zurück. Profitieren konnte das rechtsbürgerliche Lager. Es ist gut 3 Prozentpunkte stärker als 2011. Derweil ist die Mitte fast 4 Prozentpunkte schwächer als vor vier Jahren. Weitgehend stabil ist das rotgrüne Lager. Das lässt die Schlagzeile zu, dass der Rechtsrutsch gegenwärtig am wahrscheinlichsten ist, allenfalls mit einer Polarisierung zugunsten der grösseren Parteien. In der längerfristigen Betrachtung gleicht dieser Trend sicher nicht dem von 2011. Am ehesten kommt er dem von 2007 nahe. Damals legte allerdings die GPS zu, und es verlor die SP an Stimmenstärke. Momentan sieht es eher nach dem Umgekehrten aus. Neu wäre auch, dass nicht mehr die SVP alleine gewinnt, sondern SVP und FDP zusammen. Bezogen auf die Regierungsbildung sei festgehalten, dass Mitte/links ihre knappe Mehrheit bei den Stimmen verlieren dürfte. Eindeutig mehrheitsfähig wäre ein bürgerlicher Schulterschluss. Was sich bei den jüngsten kantonalen Wahlen als Erfolgsformel herauskristallisierte, dürfte aber auf Bundesebene für die CVP zu grossen Herausforderung werden, denn bei einer Stärkung der SVP im Bundesrat zulasten der BDP würde sie numerisch ihre Rolle als mögliche Mehrheitsbeschafferin verlieren. Denkbar wäre auch, dass die GLP ein zweites SVP-Regierungsmitglied stützen würde. Es bräuchte voraussichtlich aber nicht einzelne, die von der bisherigen Politik abweichen würden, sondern ein weitgehend geschlossenes Verhalten, wenn die CVP für die bisherige Regierungszusammensetzung votieren sollte. 10 1.9 Kurzantworten auf die drei Forschungsfragen 1. Wer will wen wählen? Gemäss Wahlbarometer bleibt 2015 die SVP die stärkste Partei. Auch sonst wird sich aller Voraussicht nach nichts Entscheidendes an der Reihenfolge in der Wählergunst ändern. Zunehmend variabel erscheinen in unserer Befragungsreihe die Parteistärken. Zulegen dürfte die FDP, und neuerdings sind auch Gewinne für die SVP möglich. Stabil bleiben oder leicht stärker werden dürfte die SP, während sich kleinere Wählerverluste für BDP, CVP, GLP und GPS anzeichnen. Direkte Wählerbewegungen sind von bisherigen NichtwählerInnen zu SVP, SP und FDP zu verzeichnen. Attraktivste Partei für WechselwählerInnen ist die FDP, sie gewinnt ehemalige WählerInnen der BDP und der GLP. Links gewinnt die SP auf Kosten der GPS, verliert allerdings schwach an die GLP. Allen Zentrumsparteien fällt es schwer die bisherige Wählerschaft zu halten. Die wichtigste Polarisierung der Wahlabsichten findet im Stadt/Land-Spektrum statt. Wichtigste Wählerbasis des linken Pols bleiben die grossen Agglomerationen, während der rechte Pol nirgends so stark ist wie auf dem Land. Zwar konnte sich die SVP konnte sich nach der Volksabstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative auch in den grossen Agglomerationen empfehlen. Sie sieht sich aber auf dem Land namentlich von der FDP konkurrenziert. Damit teilweise verbunden ist die schichtmässige Herkunft der Wählerschaften. Je tiefer diese ist, desto eher gehen sie nach rechts, je höher, desto eher verändern sie sich nach links. In beide Richtungen stark polarisiert sind mittleren Einkommensklassen. Bei den tiefsten Einkommen stellen wir keinen ausgeprägten Trend zur SVP mehr fest, eher hin zur FDP und SP. 2. Wer will sich an den Wahlen beteiligen? Beteiligungsbereit sind heute 50 von 100 Wahlberechtigten. In höheren Bildungsschichten und Altersklassen ergeben sich höhere Werte. Vor allem bei einer mittleren Bildung und jüngerem Alter sind die Teilnahmeabsichten aber geringer. Zeitlich gesehen stieg die Teilnahmebereitschaft in der laufenden Legislatur stets ein bisschen an. Hauptgrund hierfür ist die Polarisierung in den Debatten, die sich auf die Positionen der Wählenden und der Parteien auswirken. Kurzfristig besser mobilisiert wurden vor allem misstrauische BürgerInnen. Ihre kurzfristig denkbaren Potenziale können SVP, SP und CVP gleich gut mobilisieren. Würde es der FDP gelingen, ihre vergleichsweise mittlere Mobilisierungskraft zu verbessern, könnte sie noch besser abschneiden. Die Möglichkeiten der Mitte-Parteien bleiben aber beschränkt, weil ihre Potenziale nicht wachsen, eher schrumpfen. Das gilt speziell für CVP und BDP. Letztere kann drohende Verluste in der Wählerstärke durch eine gute innere Mobilisierung etwas kompensieren. Das ist bei beiden grünen Parteien hingegen nicht der Fall, so dass sich deren Mobilisierung im Wahljahr insgesamt verschlechtert hat. 11 3. Was sind die zentralen Wahlgründe? Thematische Profilierung ist für die Ansprache von Wählenden von wachsender Bedeutung. Das gelingt Parteien mit klarer Ausrichtung besser als solchen im Zentrum und es gelingt grösseren besser als für kleineren. Profilierte Parteien haben in aller Regel ein Leadthema. Bei der SVP ist es die Migrationsfrage, bei der SP die soziale Sicherheit, bei der GPS die Umweltthematik und bei FDP und CVP sind dies am ehesten die Bilateralen. Bürgerseitig haben sich Migrationsfragen dauerhaft an der Spitze der zu lösenden Probleme etabliert. Das gilt auch für 2015 mit der Aktualität der Asylfrage. Erste Partei für ThemenwählerInnen ist in dieser Frage die SVP. Allerdings steiget gerade in der Migrationsfrage der Wunsch nach überparteilichen Lösungsvorschlägen. Generell gilt, dass Parteien, die mit Themen gewinnen wollen, mehrere Angebote brauchen. Die SVP gewinnt ThemenwählerInnen auch mit ihrer Position zur Sozial- und Wirtschaftspolitik, die SP kann sich ebenso mit Wirtschaftsfragen empfehlen. Für die FDP entscheidend ist, dass sich die Wahrerin des ökonomisch ausgerichteten Erfolgsmodells der Schweiz. Mittlere und kleinere Parteien kennen diese Mehrspurigkeit meist nicht. Themen als Wahlgründe sind im heutigen Umfeld meist wichtiger als Kampagnen und herausgehobene Personen. Hauptgrund hierfür ist, das letztlich alle Parteiwählerschaften ihre ParteipräsidentInnen positiv beurteilen, ebenso die eigene Kampagne schätzen. Die besten Noten gibt die Parteiwählerschaft der SVP für ihren Wahlkampf gefolgt von der FDP. Einiges dahinter folgen die Beurteilungen der Wahlkämpfe von SP und GPS, deren WählerInnen zu wenig von der Wahlkampagne ihrer Mutterpartei erfasst sind respektive nicht durchwegs überzeugt sind davon. Auffällig ist, dass die positive Wahrnehmung und Bewertung von Parteikampagne vor allem dort gut ausfällt, wo es eine werberisch aufwendige Vorkampagne gab. 12 1.10 Datengrundlage Die vorliegende Befragung wurde vom Forschungsinstitut gfs.bern konzipiert und vom gfs-Befragungsdienst realisiert. Die Berichterstattung nahm das Forschungsinstitut gfs.bern vor. Dieses trägt auch die Gesamtverantwortung. Befragt wurden 2013 repräsentativ ausgewählte Stimmberechtigte in der ganzen Schweiz. Um gewisse sprachregionale Aussagen machen zu können, haben wir die Sprachminderheiten überproportional berücksichtigt. Diese wurden, um nationale Aussagen machen zu können, wieder ins richtige Verhältnis gebracht. Tabelle 2 Technischer Kurzbericht Wahlbarometer 2015, 3. Welle Auftraggeber SRG SSR Grundgesamtheit Wahlberechtigte mit Wohnsitz in der Schweiz Herkunft der Adressen Telefonverzeichnis der Swisscom (gepoolt) Datenerhebung telefonisch, computergestützt (CATI) Art der Stichprobenziehung geschichtet nach at random/nach Sprachregionen; Geburtstagsmethode im Haushalt Sprachregionen Befragungszeitraum 21. – 29. August 2015 mittlerer Befragungstag 24. August 2015 Stichprobengrösse minimal 2000, effektiv 2013 n DCH: 1008, n WCH: 605, n ICH: 400 Teilnahmewillige NRW 2015 n = 1316 Stichprobenfehler +/- 2.2% bei 50/50 und 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit Quotenmerkmale Geschlecht/Alter interlocked Gewichtung nach Sprache, Teilnahme, Parteiaffinität Befragungsdauer Mittel Standardabweichung 10.7 Minuten 3.5 Minuten Publikation 9. September 2015, 17h © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 Die Sperrfrist für den aktuellen Bericht ist Mittwoch, 9. September 2015, um 17 Uhr. Zitierweise 3. Welle des SRG-SSR-Wahlbarometer 2015, realisiert vom Forschungsinstitut gfs.bern zwischen dem 21. bis 29. August 2015 bei 2013 repräsentativ ausgewählten Wahlberechtigten. 13 2 Einleitung 2.1 Zielsetzung und Fragestellungen Ziel des Wahlbarometers 2015 ist es, den Prozess der Meinungsbildung zu den Nationalratswahlen aufgrund einer Serie untereinander vergleichbarer, repräsentativer Befragungen von Wahlberechtigten so zuverlässig wie möglich zu begleiten. Die Prognose des Wahlausgangs selber ist kein vorrangiges Ziel. Vielmehr geht es darum aufzuzeigen, was die Ursachen für die Verhältnisse respektive Veränderungen in den Parteiwählerschaften sind. Das Wahlbarometer 2015 schliesst damit an die früheren Befragungsserien an, welche die SRG SSR Medien seit 1999 durch das Forschungsinstitut gfs.bern erstellen liessen. 2.1.1 Fragestellungen Die generelle Fragestellung des Wahlbarometers lautet: Wer wählt wen, warum und mit welcher Wirkung? Konkret meint dies: Wer will sich an den Wahlen 2015 beteiligen? Wer will welche Partei wählen? Was sind die Gründe für den beabsichtigten Wahlentscheid? Als vierter Punkt kommt ein variables Schwerpunktthema hinzu, das sich aus der Situation ergibt. Im aktuellen Fall ist es die Energiepolitik, konkretisiert am Ausstieg aus der Kernenergie und der Energiewende. Damit ist auch gesagt, was das Wahlbarometer nicht leistet: Namentlich liefert es keine kantonalen Analysen. Die Stichprobe wird national respektive sprachregional gebildet; sie reicht nicht, um genaue Aussagen je Kanton zu machen. Sie kann deshalb auch nicht verwendet werden, um die Ständeratswahlen zu untersuchen, beziehungsweise die Sitzverteilung bei den Nationalratswahlen nach Kantonen (und damit insgesamt) zu bestimmen. Nicht weiter analysiert werden zudem Parteien mit einem Wähleranteil von klar unter 5 Prozent. Deren Repräsentanz ist angesichts der Stichprobengrösse zu gering, um differenziert betrachtet werden zu können. Aus politikwissenschaftlicher Warte macht es auch immer mehr Sinn, nationale Wahlanalysen vorzunehmen. Denn die stark kantonal geprägten Parteiensysteme wurden seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts nationalisiert.1 Nationale Parteien waren davor letztlich nur die FDP und die SP. Seither sind die GPS und die SVP hinzugekommen. Ein Beispiel einer weiterhin kantonal stark unterschiedlich strukturierten Partei ist heute die CVP. Insbesondere die Konfessionsräume wirken hier als Grenzen bei der nationalen Ausbreitung. Das gilt letztlich auch für die BDP, kaum aber für die GLP. Getragen wird das Projekt Wahlbarometer von der SRG-SSR-ChefredaktorInnen-Konferenz – realisiert wird es vom Forschungsinstitut gfs.bern. Verbreitet wird es von allen SRG-Medien. Bis zu den Wahlen im Herbst 2015 erscheint nach dem vorliegenden Bericht noch ein weiteres Wahlbarometer. Bereits publiziert wurden die Wahlbarometer 2013 und 2014, welche die jeweiligen Jahresentwicklungen nach den Wah- 1 K. Armingeon: Das Parteiensystem der Schweiz im internationalen Vergleich. Eine Studie mit Daten der Nationalratswahlen 1971-1999. BfS, Neuchatel 2003. 14 len 2011 aufzeigten. In diesem Jahr gab es im März und im Juni je eine Publikation. Die Zeitspanne, die mit dem Wahlbarometer beobachtet und analysiert werden kann, lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen: 1. Vorvorwahlkampf: Erste Versuche des Themenaufbaus, letzte kantonale Wahlen und letzte eidgenössische Volksabstimmungen. 2. Vorwahlkampf: Nominierung in den Kantonen, Listenverbindungen, gezielter Themenaufbau national oder sprachregional. 3. Hauptwahlkampf: Delegiertenversammlungen, Wahlkampfauftakte, parteipolitische Kontroversen, Herbstsession der eidgenössischen Räte/ Werbung; Spekulation über Bundesratszusammensetzung, persönliche Kampagnen. 4. Schlussmobilisierung: Themenzuspitzung und Mobilisierung. Mit dem aktuellen Wahlbarometer beschreiben wir den Einstieg in den Hauptwahlkampf. Vorvor- und Vorwahlkämpfe sind weitgehend abgeschlossen. Wichtigste Eigenschaft dieser Phase ist, dass die mediale Aufmerksamkeit nach dem bekannten Sommerloch schnell ansteigt. Hinzu kommt, dass Parteien fast ausschliesslich unter dem Aspekt der Herbstwahlen thematisiert werden. 2.2 Kurze Einbettung der Wahlen 2015 in die jüngere Wahlgeschichte 2.2.1 Zwischen gemässigtem zum polarisiertem Pluralismus Die Politikwissenschaft behandelte das Parteiensystem der Schweiz lange als typisches Beispiel für einen gemässigten Pluralismus.2 Inhaltlich entspricht das einem Parteiensystem, das sich vom Zwei- zum Mehrparteiensystem entwickelt hat, also parteipolitisch fragmentiert ist, jedoch ideologisch nur beschränkt polarisiert ist. In der Schweiz ist das im Wesentlichen eine Folge der Einführung des Proporzwahlrechts für den Nationalrat gewesen. Mit der Grösse der Wahlkreise mutiert das Parteiensystem weg von der alten Dichotomie zwischen liberalen und konservativen Parteien hin zu einem Parteiensystem, dass durch mehrere parteipolitisch gefasste Konfliktlinien geprägt ist. Um dieses Parteiensystem regierungsfähig zu halten, dominierte in einer ersten Phase eine bürgerlicher Koalition nach dem Mehrheits-/Minderheitsprinzip. Seit 1959 gilt das Konkordanzprinzip mit einer Regierung bestehen aus den grösseren Parteien. Die Wahlen 2003 und 2007 brachten hier eine Veränderung, denn die BDP als kleine Abspaltung der SVP blieb via ehemaliger SVP-Bundesrätin eine Regierungspartei. 2 G. Sartori: Parties and Party Systems. A Framework for Analysis. Cambridge 1976. 15 Grafik 8 Vom gemässigten zum polarisierten Pluralismus Offensichtlich hat sich das Parteiensystem der Schweiz seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts nochmals stark verändert. Zentrales Stichwort ist die Polarisierung. Gewachsen ist namentlich die weltanschauliche Distanz zwischen den Parteien und ihren Eliten. Entsprechend spricht man heute meist von einem polarisierten Pluralismus. Internationale Vergleiche zeigen, dass die Fragmentierung des Parteiensystems im OECD-Raum am dritthöchsten ist. Nur Belgien und Italien kennen eine höhere effektive Parteienzahl als die Schweiz. Bei der Polarisierung befindet sich unser Land an vierter Stelle. Gegensätzlicher sind die Parteien nur in Spanien, Island und Schweden.3 Analytiker wie Hanspeter Kriesi sprechen von einem vollzogenen Übergang zum polarisierten Pluralismus, derweil Adrian Vatter eine Mischvariante zwischen gemässigtem und polarisiertem Pluralismus ortet. Hauptgrund ist, dass die SVP (wieder) eine Regierungspartei sei und sie ein Regierungs-/Oppositionssystem auf Bundesebene nicht erzwingen könne. Der Berner Professor für Schweizer Politik, Adrian Vatter, bewertet seit 2014 das Parteiensystem der Schweiz mit dem Hinweis, dass sich die demokratische Funktionsweise nicht am Wechsel der Mehrheiten im Wettbewerbssystem zeige, sondern an der Integrationsfähigkeit des Konsenssystems. Die institutionellen Voraussetzungen hierfür sieht Vatter weiter für gegeben, zentral bleibe aber die Frage nach der Positionierung und Einbindung der SVP. Gemessen an der (rein) arithmetischen Konkordanz müsste sie mit zwei Sitzen im Bundesrat vertreten sein. Aufgrund der inhaltlichen Konkordanz gäbe es jedoch Widerstände, insbesondere wegen des Gebrauchs der Volksrechte, mit denen die Regierungspolitik, wie beispielsweise bei der angenommenen Masseneinwanderungsinitiative, in folgenreiche Schwierigkeiten gebracht werde. Pascal Sciarini, Genfer Professor für Schweizer Politik, veröffentlichte 2015 eine weitere Analyse4. Gemäss seiner Analyse des Eliteverhaltens hat sich die Schweiz erheblich vom Muster der Konsenspolitik entfernt. Dies gilt nicht nur für Ausnahmefälle, vielmehr ist es der Regelfall geworden. Mit dem Verlust der Mehrheit von FDP und CVP im Parlament sei die Allianzbildung Mitte/rechts respektive Mitte/links vorrangig geworden. Dabei wird auf die Berücksichtigung des Gegenpols in Sachfragen zunehmend verzichtet, im vollen Bewusstsein, dabei mehr Referenden oder Volksinitiativen aus oppositioneller Sicht zu riskieren. Sciarini unterscheidet zwischen grosser und kleiner Konkordanz, mit zwei respektive einer eingebundenen Polpartei. Das zeigt sich auch auf kantonaler 3 A. Vatter Das politische System der Schweiz, Baden-Baden 2014, p. 146 ff. P. Sciarini, M. Fischer, D. Traber: Political Desicion-Making in Switzerland. The Consensus Model under Pressure. Palgrave Macmillan 2015. 4 16 Ebene, denn seit 2015 kennen mehr Kantone die kleine anstelle der grossen Konkordanz.5 Die Zürcher Professorin für Schweizer Politik Silja Häusermann analysiert seit längerem die Folgen des Wandels der Konkordanz in der Schweiz für die Wirtschaftspolitik. Negativ falle auf, dass die Berechenbarkeit der Politik bei gleichzeitig steigender Zahl an Volksentscheidungen sinke. Das gilt ihr zu Folge insbesondere auch für Abstimmungen über Volksinitiativen, die angesichts der zahlreichen Urnengänge hierzu auch an Annahmechancen gewonnen haben.6 Zudem hat sich das Spektrum angenommener Volksinitiativen erweitert, von Ausländer- und Umweltfragen auf Themen des Strafrechts einerseits, aber auch der Wirtschaftspolitik anderseits.7 Die zahlreichen Volksentscheidungen geben zudem den Parteien regelmässig die Gelegenheit, sich zu profilieren. Das erhöht die Unterscheidbarkeit, aber auch die Unterschiede selber unter den Regierungsparteien. Eine Legislaturbilanz des Forschungsinstituts gfs.bern aufgrund von Expertengesprächen und Dokumentenanalysen zeigt, dass nach 2011 effektiv die MitteParteien mit der SP die grösste parlamentarische Wirkung entfalteten. Für die Koalitionsbildung wurde der Ständerat wichtiger, derweil die konkrete, mehrheitsfähige Variante im Nationalrat unter Einschluss der neuen Parteien gebildet wurde. Weniger dramatisch eingeschätzt wird die Bedeutung von Volksinitiativen. Im Einzelfall können sie entscheiden, im Normalfall werden sie überschätzt.8 Grafik 9 Wirkung Parteien pro Jahr in % indexierter Wirkungspunkte 100 13 18 14 16 18 17 20 21 13 14 16 80 25 25 29 24 27 24 27 23 22 24 13 19 21 21 20 21 21 40 25 21 19 12 15 15 8 6 4 17 12 22 22 23 8 7 9 9 9 5 20 15 18 18 22 20 6 12 8 17 17 11 12 16 12 9 19 19 16 9 20 22 SVP FDP.Die Liberalen CVP 24 20 andere 21 23 8 15 22 27 60 20 13 9 8 9 11 12 10 9 10 12 8 8 9 7 BDP GLP 6 6 GPS 26 13 16 17 18 18 SP 0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 © gfs.bern, Parlamentswirkung 2000-2015, Juni/Juli 2015 (N = 333 ausgewählte Parlamentsgeschäfte) 5 Claude Longchamp: Grosse resp. kleine Konkordanz in den Kantonen: http://www.zoonpoliticon.ch/blog/20659/grosse-oder-kleine-konkordanz-die-verhaeltnisse-in-denkantonen/. 6 http://dievolkswirtschaft.ch/de/2015/04/haeusermann-direkte-demokratie-und-wirtschaft/ 7 http://sotomo.ch/wp/wp-content/uploads/2014/12/nzzs-16.11.14-hg-026_027_Hintergrund.pdf 8 Lukas Golder et al.: Das neue Selbstbewusstsein der alten Mitte. Bern 2015, http://www.gfsbern.ch/de-ch/Detail/parlamentswirkung-in-der-schweiz-2011-2015. Ferner: http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/es-regiert-die-koalition-der-vernunft/story/13692545 17 2.2.2 Gesellschaftliche Ursachen Die politische Soziologie präzisiert die Ursachen der neuen Polarisierung. Sie spricht in den europäischen Gesellschaften von grundlegenden Konfliktlinien, welche die Ausbildung von typischen Parteien bestimmt haben.9 Für die Schweiz relevant waren die konfessionelle Spaltung im Gefolge der Reformation, die Ansätze der Trennung von Kirche und Staat nach der Französischen Revolution, die Spaltung städtischer und ländlicher Interessen respektive die Polarisierung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Als Folge daraus ist das für europäische Verhältnisse nicht untypische Parteiensystem mit einer vorrangigen Links/rechtsPolarisierung entstanden, allerdings ohne Überwindung der konfessionellen Spaltung und damit auch ohne dominante Partei. Namentlich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts änderten sich die gesellschaftlichen Konfliktlinien erneut. So sind postmaterialistische Werte hinzugekommen, geformt aus neuen Bedürfnissen der individuellen Selbstentfaltung. Das hat speziell zur politischen Partizipation der Frauen geführt, aber auch zur Entstehung der GPS. Die letzte neue Konfliktlinie betrifft die Globalisierung der nationalstaatlich verfassten Politik, die in der Internationalisierung respektive Europäisierung der Schweizer Politik ihren Ausdruck findet. Sie hat zu einer eigentlichen Gegenbewegung geführt, einer neuen Form des Nationalismus, mit dem auch ein neuer Konflikt zwischen Kulturen entstanden ist, speziell entlang der Trennlinie zwischen Einheimischen und Fremden, wie sie etwa in der Migrationsdebatte zum Ausdruck kommt. 2003 endete die Polarisierung nach links weitgehend, 2007 auch jene nach rechts. Parallel dazu verloren seit den Wahlen 1979 die alten Mitte-Parteien FDP und CVP. Gegenbewegungen hierzu hielten nicht mehr als eine nationale Wahl an. Tabelle 3 Konfliktlinien nach Lipset/Rokkan (1967) und Caramani (2008) kritische Schwelle vorindustrielle Revolution industrielle Revolution postindustrielle Revolution Zeitpunkt Konfliktlinie umstrittene Themen und Ereignisse 16. und 17. Jahrhundert Zentrum vs. Peripherie konfessionelle Spaltung, Tradition oder Moderne, Regeneration Bundesstaat, Kulturkampf Freisinn, katholisch Konservative seit 1789 (französische Revolution) Staat vs. Kirche säkulares vs. kirchlich kontrolliertes Bildungssystem SP, FDP, DP, KP, LP Stadt vs. Land Schutzzölle für landwirtschaftliche Produktion, industrielle im Gegensatz zur landwirtschaftlichen Produktion SP, FDP, DP, KP, LP Kapital vs. Arbeit staatlich regulierte vs. freie durch Märkte koordinierte industrielle Produktion, Entstehung Zauberformel, Generalstreik 1918 SP, FDP, DP, KP, LP, EVP, Nationale Front, BGB, LdU, PdA, Nationale Aktion Materialismus vs. Postmaterialismus Generationen über politische Prioritäten: Bürgerrechte, Pazifismus, Feminismus, Umwelt GPS; ökologische Parteien offene vs. geschlossene Gesellschaft Globalisierung der Wirtschaft; Öffnung der Arbeitsmärkte; Druck durch Billiglohnländer in Asien; wirtschaftliche Integration in Europa; Anti-Amerikanismus Protestparteien; nationalistische Parteien; extreme Rechte, neopopulistische Parteien 19. Jahrhundert spätes 20. Jahrhundert Parteifamilien © gfs.bern, Quellen: Lipset und Rokkan (1967): Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives. New York: Free Press. Caramani, Daniele (2008): Comparative Politics. Oxford: Oxford University Press. Vatter (2014): Das politische System der Schweiz Baden-Baden: Nomos. 9 Comparative Politics, ed. Third edition., by D. Caramani. Oxford 2013, neuerdings auch M. Freitag, A. Vatter: Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz, Zürich 2015. 18 Angeführt wird das Parteiensystem seither nicht mehr von einer sozialen oder liberalen Partei, vielmehr von der SVP, deren Position seit längerem als nationalkonservativ10 respektive rechtspopulistisch11 bezeichnet werden kann Vor allem 2007/8 radikalisierte sich die SVP im Umfeld der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat. Vorübergehend war sie eine Oppositionspartei, seit 2009 ist sie wieder in der Regierung vertreten, hat aber den Gebrauch der Volksinitiative aus oppositioneller Sicht intensiviert. Seit 1999 reihen sich hinter der SVP die SP und die FDP als Repräsentanten einer sozial- respektive liberaldemokratischen Position ein. Es folgt die CVP als christdemokratische Vertretung in der Schweiz. Danach figurieren grüne Parteien, die GPS als linksgrünes und die GLP als grünliberales Beispiel. Die BDP kann man am ehesten als bürgerliche Zentrumspartei bezeichnen. Der Befund der anhaltenden Polarisierung wurde mit den Wahlen 2011 in Frage gestellt.12 Denn erstmals verloren alle Polparteien. Überhaupt zählten alle grösseren Parteien zu den Verliererinnen. Grafik 10 Gewonnen hatten zwei neue Parteien, und zwar die BDP und GLP, die aus Abspaltung von der SVP respektive der GPS hervorgegangen waren. Bezeichnet wurde dies als Trend zur "neuen Mitte", primär durch die Anforderungen des politischen Systems ausgelöst.13 Der GLP gelang es dabei besser, sich als Projekt einer neuen Generation, die auf Ausgleich zwischen ökologischen und liberalen Werten ausgerichtet ist, zu platzieren. Das kann man ansatzweise als Umgang mit einem neuen Konflikt interpretieren. Ob es eine solche Fundierung auch bei der BDP gibt, wird von den Fachleuten mehrheitlich bezweifelt, denn 10 C. Longchamp: Die nationalkonservative Revolte in der Gestalt der SVP. Eine Analyse der Nationalratswahlen 1999 in der Schweiz. In: F. Plasser/P. A. Ulram/F. Sommer (Hg.): Das österreichische Wahlverhalten. Wien 2000. 11 A. Manatschal, C. Rapp: Welche Schweizer wählen die SVP und warum?, in: M. Freitag, A. Vatter: Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz, Zürich 2015. 12 C. Longchamp, L. Golder, M. Imfeld: Von der Polarisierung zur Harmonisierung. Erstanalyse der Nationalratswahlen vom 23. Oktober 2011, gfs.bern, Bern 2011. 13 C. Longchamp: Bilanz zum neuen Parteiensystem aus der Wahltagsbefragung 2011, http://www.zoonpoliticon.ch/blog/15457/bilanz-zum-parteiensystem-aus-der-wahltagsbefragung/ resp. G. Lutz: Eidg. Wahlen 2011, Lausanne 2012, http://forscenter.ch/wpcontent/uploads/2013/10/Selects_2011_Brochure_D.pdf. 19 sie wird eher als Plattform zur Sicherung der Regierungsbeteiligung auf Bundes- teils auch auf Kantonsebene gesehen.14 Nicht gelungen ist in der auslaufenden Legislatur, eine neue, organisatorisch vereinheitliche Mitte zu begründen. Zunächst kündigte die GLP ihre Zusammenarbeit mit der CVP und EVP in der gemeinsamen Fraktion auf; dann verweigerte die BDP eine Union auf Bundesebene mit der CVP.15 Die Phase nach den Wahlen 1991 bis und mit den Wahlen 2007, eingeleitet durch die EU-Debatte bis zum (vorübergehenden) Ausscheiden der SVP aus dem Bundesrat, brachte eine Klärung der Parteienlandschaft auf der rechten Seite, nicht aber auf der linken. Entscheidend hierfür war nicht, wie die ökonomisch inspirierte Wahlforschung annimmt, eine veränderte Wirtschaftslage, sondern ein Umbruch in der schweizerischen Wertelandschaft, traditionellerweise geprägt durch Neutralität und Unabhängigkeit. Deshalb ist es seither eher üblich, die Parteien mindestens im zweidimensionalen Feld mit einer Achse links/rechts und einer zwischen Moderne und Tradition zu bestimmen.16 Politikwissenschaftlich gesprochen bedeutet dies, dass es Phasen des Ab- und Aufbaus von Parteibindungen gibt. Realignment meint, dass traditionelle Konfliktlinien an Bedeutung verlieren, weshalb beispielsweise der Gegensatz zwischen FDP und CVP nicht mehr parteibildend wirkt. Am besten ersichtlich wird das Realignment als Gegenstück, wenn man den Aufstieg der SVP, der SP oder der GPS betrachtet. Er hielt über mehr als eine Wahl an, blieb aber, vielleicht mit Ausnahme der SVP, hinter dem zurück, was man einen neuen Cleavage nennen kann. Bei der SVP kam es zu einer tiefgreifenden Transformation der ehemals reformiert-konservativen Mittelstandspartei zu einer neuen, weltanschaulich nationalkonservativen Partei, bei der vor allem in der Kommunikation auch ein rechtspopulistisches Element hinzukam.17 2.2.3 Repolitisierung, Wahlbeteiligung und Kommunikation Die Polarisierung des Schweizer Parteiensystems einerseits, die Ausbildung neuer Parteien anderseits haben die Beteiligung an Wahlen ansteigen lassen. Die Polparteien mobilisieren dabei WählerInnen mit klaren Positionen auf einer der Konfliktachsen, derweil die neuen Parteien Mitte-Wählende ansprechen konnten, die sich durch die bestehenden Parteien nicht vertreten fühlten, aber eine zentrierte Politik befürworten. Zunächst gilt: Die Wahlbeteiligung ist im internationalen Vergleich tief. Sie ist jedoch, anders als weltweit, nicht mehr sinkend. Denn der internationale Trend geht Richtung einer Beteiligung zwischen 65 und 70 Prozent statt den 80 Prozent, die noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts üblich waren. Gründe für die tiefere Wahlbeteiligung in der Schweiz werden in der Regel in der Komplexität aus direkter Demokratie und Konkordanzsystem gesucht. Der Wiederanstieg seinerseits ist die Folge der Politisierung durch neue Konfliktlinien. Tiefpunkt bei der Teilnahme an nationalen Wahlen war das Jahr 1995. Seither steigt sie konstant, wenn auch nicht im kontinuierlichen Masse. Der Effekt war zwischen 2003 und 2007 erheblich; 2011 hat er etwas nachgelassen. Damals nahmen 48,5 Prozent der Wahlberechtigten an den Nationalratswahlen teil. 14 C. Longchamp: "Die 6. Generation Schweizer Parteien", in: zoonpoliticon, 8. April 2013. "Union von CVP und BDP kommt nicht zustande", swissinfor.ch, 31.10.2014. 16 M. Hermann, H. Leuthold: Atlas der politischen Landschaften, Zürich 2004. 17 H. Kriesi et al. (Hg.): Der Aufstieg der SVP. Acht Kantone im Vergleich, Zürich 2005. 15 20 Grafik 11 Mit den Änderungen bei der Beteiligung verbunden, sind Änderungen in der Potenzialausschöpfung. Das Konzept des Wahlbarometers geht nicht davon aus, wen man wählt, sondern wen man mit welcher Wahrscheinlichkeit wählen würde. Befragungstechnisch ist es aufwändiger; dem Schweizer Wahlrecht ist es aber angemessen. Aufsummiert haben SP und GLP das grösste Potenzial, gefolgt von der GPS, der FDP, der CVP und der BDP. An letzter Stelle figuriert die SVP. Die Reihenfolge kehrt sich allerdings um, wenn man auf die Ausschöpfung der Potenziale abstellt, denn da figuriert die SVP an der Spitze, gefolgt von SP, FDP, CVP und GPS. Die neuen Parteien der Mitte liegen noch weiter zurück.18 Entscheidend ist vor allem, dass es der SVP in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gelang, ihre Potenzialausschöpfung in bisher unbekanntem Masse zu verbessern. Kommen die grösseren Parteien auf Quoten bis 50 Prozent, gibt es bei der SVP Anteile von rund drei Vierteln – mit steigender Tendenz: Das kann als sensationeller Wert gelten.19 18 19 G. Lutz: Nationalratswahlen 2011, Lausanne 2012. M. Senti: "Die Grenzen der SVP-Mobilisierung", in: NZZ, 7.5.2012. 21 Grafik 12 Die hohe Mobilisierungsfähigkeit stellt sich allerdings nicht von alleine ein. Nebst der Positionierung im parteipolitisch weitgehend unbesetzten Feld des Rechts-Konservatismus spielt die Polarisierung entlang der Trennlinie "Einheimische vs. Fremde" eine wichtige Rolle. Hinzu kommt die neue politische Kommunikationskultur, die die SVP mit langgezogenen Kampagnen entwickelt, die auf Angriff mit Skandalisierung setzt, Volksinitiative als Instrumente des Strassenwahlkampfs nutzt und Massenversände von Kampfschriften beinhaltet. Sie verbessern die Verstärkung denkbarer Wahlabsichten bis zur Wahl und sie helfen auch, schwache Bindungen an die Partei, wie sie in weniger politischen Schichten vorkommen, aufzubauen. Allerdings gilt, dass die Effekte stets von neuem erzeugt werden müssen.20 2.3 Thesen und Szenarien zu den Wahlen 2015 Bisher sind verschiedene Thesen zum Charakter der Wahlen 2015 vorgetragen worden. Dabei ist zwischen jene zu unterscheiden, die sich auf das Regierungssystem beziehen respektive vom Parteiensystem handeln. Bezüglich des Regierungssystems werden zwei Perspektiven verfolgt: Die Fortsetzung der bisherigen Regierungszusammensetzung. Der Wechsel zu einer neuen Zusammensetzung den gängigen Konkordanzregeln entsprechend. Die erste Perspektive geht davon aus, dass Abwahlen von Bundesräten nach Parlamentswahlen Belastungsproben für das System sind; es liegt an den Mitgliedern des Bundesrats, den richtigen Zeitpunkt ihres Abgangs zu bestimmen. Konkret gemeint ist damit, dass Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf selber entscheiden solle, ob sie zu einer weiteren Legislatur antritt oder nicht. Gefordert wird hier nicht ein Bruch mit der Zusammensetzung der Bundesregierung, vielmehr ein Abtreten von ParteidogmatikerInnen zugunsten von Brückenbauer20 C. Longchamp, C. Jans: "Wer zahlt, befiehlt! Über den Einfluss von Geld und Kommunikation in Wahlkämpfen der Schweiz": in: Markus Freitag, Adrian Vatter: Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz, Bern 2015. 22 Innen. Denn sie hätten insbesondere im Nationalrat polarisiert, das politische Klima verschlechtert und die Berechenbarkeit von Entscheidungen verringert. 21 Die zweite Perspektive zweifelt grundsätzlich an der Legitimation der BDP als Regierungspartei. Dafür sei sie elektoral zu schwach, und mit der Absage an eine Union mit der CVP sei keine erstarkte Mitte-Gruppierung entstanden. Gefordert wird hier ein bürgerlicher Schulterschluss, der sich sichtbar auf die Ausrichtung von Regierung und Parlament auswirken solle. Vergangene Gegensätze zwischen SVP, FDP und CVP sollten beiseite gelegt werden, die Suche nach den gemeinsamen Interessen ausgehend von einem geeinten bürgerlichen Lager zur bestimmenden Kraft werde.22 Dem verbreiteten Wunsch stehen Bedenken zum Willen der politischen Integration der SVP gegenüber. Als Voraussetzung wird diskutiert, dass ein zweiter SVP-Bundesrat wichtige Dossiers wie die Bilateralen mittragen müsse, selbst wenn dies Abstriche bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative bedingt. Die andere Diskussion betrifft die Erwartungen zum Wahlergebnis der Parteien im Herbst 2015. Sie bleibt letztlich spekulativ, wird aber aufgrund von Wahlbefragungen, Wahlbörsen und Simulationen kantonaler Wahlen auch für den kommenden National- und Ständerat geführt. Hier werden drei unterschiedliche Standpunkte eingenommen: Zunächst, dass alles gleich bleibt wie 2011, dann, dass es 2015 zu einer weiteren Polarisierung komme und schliesslich, dass im Herbst dieses Jahres ein genereller Rechtsrutsch resultiere. Im ersten Szenario geht man davon aus, dass mindestens die Mehrheitsverhältnisse von 2011 gewahrt bleiben. Wichtigste Voraussetzung ist, dass BDP und GLP nicht verlieren. Zudem sollte keine der übrigen Parteien klar gewinnen. Die Stärkenverhältnisse in Parteien sollten gewahrt bleiben, sprich Mitte/links muss in Personal- und ausgewählten Sachfragen eine mehrheitsfähige Allianz bilden können. Entsprechend zeichnet sich in diesem Szenario kein schneller Wechsel im Bundesrat ab. Eveline Widmer-Schlumpf tritt wieder an und wird erneut gewählt. Aufgrund der bisherigen Ergebnisse im Wahlbarometer halten wir das Szenario für nicht besonders wahrscheinlich. Hauptgrund ist, dass insbesondere die BDP, aber auch die GLP seit 2014/5 in ihrem Aufstieg gestoppt erscheinen. Im zweiten Szenario geht man davon aus, dass sich der Trend von 2011, die Polarisierung zu schwächen, fortsetzt. Es gewinnen aber nicht mehr zwingend neue Parteien, sondern auch gewandelte grösseren Regierungsparteien im Zentrum. Voraussetzung hierfür ist, dass keine Polpartei zulegt. In den Parteien selbst werden nicht die Dogmatiker bestärkt, sondern die Brückenbauer. Das Szenario ist möglich. Der Aufstieg der FDP spricht dafür; nötig wäre auch, dass die CVP zulegen könnte, während SVP und SP stagnieren müssten. Das ist in seiner Gesamtheit nicht gegeben. Das dritte Szenario unterstellt eine allgemeine politische Entwicklung nach rechts. Gestärkt werden mindestens zwei der bürgerlichen Parteien. Die Bereitschaft zur personal- und sachpolitischen Kooperation steigt und prägt die Schweizer Politik der kommenden Jahre. Eine Verweigerungsmehrheit der Parteien Mitte/links besteht nicht mehr. Das Szenario ist gegenwärtig das wahrscheinlichste. Denn Gewinne der FDP sind wahrscheinlich, solche der SVP gut möglich. Zudem würde sich das Ergebnis gut in die Wahlergebnisse auf europäischer Ebene seit den jüngsten Europa-Wahlen einordnen. Neu an diesem Muster ist, dass nicht mehr die SVP alleine oder am meisten gewinnt, das rechtsbürgerliche Element aber gestärkt wird. Namentlich die Zuwanderungs21 Typisch hierfür: http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/zeit-fuer-einezaesur/story/14194731 22 Typisch hierfür: http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/zeit-fuer-einezaesur/story/14194731 23 und Europapolitik sprechen aber gegen diese Entwicklung, denn die Positionen von SVP und FDP sind hier nicht kongruent. 2.3.1 Bilanzen kantonale Wahlen seit 2011 Ein erstes Beobachtungsfeld für Trends im Parteiensystem ist die Analyse kantonaler Wahlen. Diese legt seit 2011 nahe, nicht von einem einheitlichen Trend auszugehen. Es zeichnen sich verschiedenen Phase ab, an deren Beginn markante Volksabstimmungen stehen wie etwa die Entscheidung über die Zweiwohnungsinitiative (2012), über die Abzockerinitiative (2013) und über die Zuwanderungsinitiativen (2014). Die jüngste Entwicklung wurde Ende 2014 respektive Anfang 2015 eingeleitet. Grafik 13 Wichtigstes Ereignis war die Aufhebung der Euro-Untergrenze. Sie rückte die Bedeutung von Fragen wie die Standortattraktivität der Schweiz schlagartig ins Zentrum. Die Rede ist seither auch von einem Wiederaufleben liberaler Werte23, die sich um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes gruppieren einerseits, anderseits Skepsis gegenüber Etatismus und Ökologie zum Ausdruck bringen.24 Zu den Neuerungen im Parteiensystem der Schweiz gehört auch, dass namentlich rund um kantonale Exekutivwahlen seit Herbst 2014 bürgerliche Schulterschlüsse entstanden sind, die Erfolge auf Regierungs-, teils auch auf Parlamentsebene für beteiligte Parteien zeigen. Auch auf nationaler Ebene kam es zu einem Schulterschluss zwischen SVP, FDP und CVP, wobei Differenzen in Sachfragen blieben.25 Die Veränderungen, die sich kantonal ankündigen, bleiben insgesamt zurück. Nur eine Bilanz, die der GPS, ist über 1 Prozentpunkt stark. Das ist deutlich weniger als alles, was man seit 1995 gesehen hat. Den grössten Sprung machte die SVP 1999, als sie von 14.9 auf 22.5 hochschnellte. 23 D. Bochsler, P. Sciarini: "Rechte Akzente im Wahljahr", in: NZZ, 22. April 2015. C. Longchamp, M. Imfeld: Das neue Gesicht des Schweizer Modernismus. VOX-Trendbericht 2014, gfs.bern, Bern 2015. 25 C. Forster: "Schulterschluss mit Zwischenräumen", in NZZ, 27.3.2015. 24 24 Tabelle 4 Parteistärken in den Kantonen Partei Kantone (2015) Bund (2011) Diff.: National SVP 23.6 26.6 stärker FDP/LP 19.5 15.1 schwächer SP 18.3 18.7 gleich CVP 12.9 12.3 schwächer GPS 8.7 8.7 gleich GLP 4.8 5.4 stärker BDP 3.1 5.4 stärker Quelle: ZdA Die Trends in den Kantonen werden in der Schweiz regelmässig beigezogen, um Veränderungen auf nationaler Ebene abschätzen zu können. Dafür gibt es Gründe; es treten aber auch Probleme auf.26 Denn die Ausgangslagen sind bei den meisten Parteien ungleich. So ist die SVP in den Kantonen schwächer; Gewinne auf dieser Ebene müssen sich nicht zwingend auf nationale Wahlen übertragen, wie das Beispiel von 2011 lehrt. Insbesondere ist die Polarisierung in den Kantonen geringer, weshalb vor allem die FDP, etwas auch die CVP dort stärker sind. Entsprechend liegt auch die durchschnittliche Wahlbeteiligung in den Kanton über 10 Prozentpunkte tiefer. Zudem unterscheiden sich die verschiedenen Instrumente zur Messung kantonaler Parteistärken, vor allem in der Zuordnung kantonaler Parteien zu nationalen Dachorganisationen. Seit dem letzten Wahlbarometer haben insbesondere die Versuche zugenommen, Schätzungen zur Sitzverteilung im Nationalrat vorzunehmen. Unterstellt wird dabei, dass es bei den Nationalratswahlen zu ähnlichen Entwicklungen kommt wie bei den letzten Wahlen. Das ist, bezogen auf die jüngsten Urnengänge wahrscheinlich, auf die aus den Jahren 2012 und 2013 schon etwas weniger plausibel. Am weitesten fortgeschritten in der Formalisierung dieser Überlegungen sind die Prognosen auf restmandat.ch. Berücksichtigt werden hier die Veränderungen in den Kantonen und die Listenverbindung bei den Nationalratswahlen. Dabei wird für jeden der Kantone eine Wahrscheinlichkeitsrechnung erstellt, wer seine Sitze hält, wer dazu gewinnen könnte, und bei wem Verluste drohen. Die aktuellste Sitzprognose sieht wie folgt aus: Sitzgewinne werden bei der FDP erwartet, aber auch bei der EDU, der EVP und der AL vereinzelt. Verluste dürfte es namentlich bei der GPS geben, gefolgt von der GLP, BDP, SP und SVP. Stabil bleiben dürften CVP, Lega und MCR. 26 Generell hierzu: A. Ladner, I. Tippolini: Wer gewinnt die Wahlen 2007?IDHEAP Working Paper, 3/2007. 25 Grafik 14 Sitzprognose Quelle: www.watson.ch 2.3.2 Kurze Übersicht über den bisherigen Wahlkampf Die zweite Möglichkeit der Trendbestimmung ergibt sich aus Medienanalysen. Sie zeichnen die veröffentlichte Meinung namentlich im Wahljahr noch etwas genauer nach. Denn alle Trend-Untersuchungen mit kantonalen Wahlen enden naturgemäss im Frühling des Wahljahres. Spezifische Wahlkampfeffekte werden damit unterschätzt. Das Forschungsinstitut fög der Uni Zürich legte die bisher umfassendste Analyse vor. Demnach besteht medial eine Dominanz zugunsten von SVP und FDP. 51 Prozent der parteibezogenen Artikel 2015 behandeln mindestens eine der beiden Parteien. Leicht überbewertet erscheinen auch die CVP und GPS, während BDP und SP zu wenig thematisiert werden. Einzig bei der GLP stimmen Medienpräsenz 2015 und Stimmenstärke 2011 genau überein. 26 Grafik 15 Hauptsächliche Themen sind der Wahlkampf der Parteien, der noch vor den Inhalten regierte. Beides ist häufiger als Skandalisierung und institutionelle respektive politkulturelle Einbettungen der Parteien. Die Bewertungen des Wahlkampfes sind ähnlich, wenn auch nicht gleich wie die Parteien. Schlechte Noten erhalten erneut die grünen und kleinen Parteien, mittlere die Polparteien. Neutral bis positiv bewertet werden FDP und CVP. Grafik 16 Ergänzend beigezogen werden kann eine Analyse von Annee politique suisse, die die online-Medien beobachtet. Sie zeigt als Zeitreihe, dass die Thematisierung der Parteien während den Abstimmungskämpfen im ersten Halbjahr stärker war als im bisherigen Wahlkampf. Sie legt auch ein erhebliches Sommerloch nahe. Seither dominiert die SVP eindeutig, in der Regel liegt sie klar vor FDP, SP und CVP. 27 Grafik 17 Medienpräsenz Quelle: Chronik ON: http://www.eurospider.com/chronik-on.html Legende: Die obenstehende Grafik liefert eine Übersicht über die Wahlberichterstattung in Online-Medien, wie sie von Chronik-ON analysiert wird. Grundlage für die Analysen ist eine automatisierte Erfassung der Nennungen der im eidgenössischen Parlament vertretenen Parteien in den OnlineMedien seit dem 1. Januar 2015. Im August betrug das Mittel der Zitierungen 45 Prozent bei der SVP, 28 bei der FDP, 27 bei der SP, 24 bei der CVP. Die GPS wurde in 18 Prozent der Beiträge behandelt, die GLP in 9, die BDP in 8 und die EVP in 4. Damit stimmt die Reihung mit der aus der fög Analyse überein. Prozentual kommen die grossen Parteien aber vermehrt vor; die Summe ergibt jedoch mehr als 100 Prozent, vor allem weil nicht alle Artikel nur eine Partei behandeln. Schliesslich liegen auch erste Analysen zur häufig vernachlässigten Werbeintensität im Wahlkampf vor.27 Sie gehen davon aus, dass Wahlkämpfe in der Schweiz stets teurer werden, und mit 10 Franken pro Wahlberechtigtem etwa gleich viel ausgegeben wird wie in den USA. Was generell gilt, muss aber nicht für jede Partei stimmen.28 So legen die vorläufigen Auswertungen eindeutigen Überhang bei FDP und SVP dar, und zwar im Vergleich zu den anderen Parteien wie auch zu den Vorwahlen. Beide Parteien haben eine intensive werberische Vorkampagne hinter sich, bei der FDP eher auf die Partei gemünzt, bei der SVP mehr auf den Ständeratskandidat im Kanton Zürich zugeschnitten. 27 Transparenz der Parteienfinanzierung, GRECO, Bern 2015. https://www.bj.admin.ch/dam/data/bj/sicherheit/kriminalitaet/korruption/grecoberichte/ber-iii-20156f-d.pdf. 28 http://bazonline.ch/schweiz/standard/Der-wahrscheinlich-teuerste-Wahlkampf-derSchweiz/story/31310933. 28 Grafik 18 Insgesamt verdreifachten sie ihren frühen Werbeaufwand. Verglichen mit der Vorwahl hat vor allem die CVP auf eine Vorkampagne verzichtet. Indes, die genauen Zahlen können auch täuschen, denn CVP, GLP und SP bestritten im Wahljahr je einen Abstimmungskampf zu einer ihrer Volksinitiativen; ihnen gemeinsam ist, dass sie dafür werberisch in Erscheinung traten, aber alle drei in einem ihrer Kernbereiche ein eindeutige Abstimmungsniederlage hinnehmen mussten. 2.4 Analyseschema des Wahlbarometers 2015 2.4.1 Konzept Unter Berücksichtigung der Trends in der Beteiligungs- wie auch der Parteientscheidung haben wir hierfür nachstehende Modellierungen entwickelt. Aggregierte Ebene: Wenn die Polparteien (SVP, SP, GPS) gleichzeitig zulegen, sprechen wir von einer Polarisierung. Ist das nur auf einem Pol der Fall, gehen wir von einem Trend nach rechts respektive nach links aus. Legt keiner der beiden Pole zu, so sprechen wir von einer Zentrierung. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass die Parteien der Mitte insgesamt zulegen. Individuelle Ebene: Selbst wenn die Parteien auf aggregierter Ebene insgesamt gleich stark bleiben, heisst das nicht, dass es keine Verschiebungen bei den Wählenden selber gegeben hat. Denn es gibt auch das Zirkulationsmodell, wonach sich vor allem die Linke durch Neumobilisierungen verstärkt, während sie WechselwählerInnen nach rechts verliert, die Rechte wiederum aber durch Demobilisierungseffekte nicht zwingend stärker werden muss. Schliesslich kennen wir ein viertes Modell, das im Wesentlichen dadurch bestimmt ist, dass die Wahlbeteiligung sinkt, und zwar zulasten aller Parteien. 29 Analytischer gesprochen diente das nachstehende, aus der theoretischen Wahlforschung entlehnte Schema29 dazu, das Konzept des Wahlbarometers zu erstellen, aber auch die relevanten Fragestellungen zu eruieren. Namentlich geht es darum, die Wahlentscheidung hinsichtlich Sachkompetenz, Personenprofile, taktischen Überlegungen und Medienimages der Parteien zu analysieren. Die sollen aufgrund dahinter liegender Parteibindungen mit weltanschaulichen Komponenten untersucht werden. Empirisch ist unsere Studie, weil wir das nicht theoretisch beantworten, sondern aufgrund beobachtbarer Zusammenhänge bei einem repräsentativen Querschnitt von befragten Wahlberechtigten respektive von teilnahmewilligen BürgerInnen. Grafik 19 Neues Wahlmodell gfs.bern Sozial-psychologische Modelle Rational Choice Modelle Kampagne Links/Rechts-Position Kandidaten-orientierung Werthaltungen Taktik, Macht-überlegungen Themen-orientierung Wahlkampf, Ereignisse, Image WahlVerhalten Regierungs-vertrauen © gfs.bern Die Hypothesen, die mit dem Forschungsvorhaben überprüft werden sollen, lauten: Die Wahlabsichten (Teilnahme- und Parteientscheid) können beeinflusst sein durch das Image der parteibezogenen Wahlkampagnen, durch taktische Überlegung zur Machtverteilung, namentlich der Zusammensetzung des Bundesrates, durch das Bild von den SpitzenpolitikerInnen der Parteien, durch die Themenpriorität und -kompetenz in relevanten Fragen, durch das Vertrauen in den Bundesrat durch die Werthaltungen, durch die Position auf der Links/rechts-Achse, durch die soziokulturellen, sozioökonomischen, soziodemografischen und räumlichen Mitgliedschaften und Merkmale der BürgerInnen. 29 R. J. Dalton: Democratic Challenges, Democratic Choices. The Erosion of Political Support in Advanced Industrial Democracies, Oxford 2004. 30 Die vorläufigen Ergebnisse hierzu lassen sich auf dem Stand 2011 wie folgt bilanzieren30: Das Image des Wahlkampfes und die gewünschte Zusammensetzung des Bundesrats sind bei allen Parteien massgebliche Gründe für die Parteienwahl. Bei einer Mehrheit kommt der Personenaspekt, gemessen am Parteipräsidenten hinzu, ebenso der Themenaspekt, operationalisiert durch die Themenkompetenz der Partei in vorrangigen Themen. Eine beschränkt verbreitete Rolle spielen Gewinn-/Verlust-Erwartungen respektive Werthaltungen sowie die Positionierung auf der Links/rechts-Achse. Das Regierungsmisstrauen ist nur für die Wahl der SVP von Belang. Tabelle 5 2.4.2 Methodische Möglichkeiten und Grenzen Theoretisch beträgt der statistische Stichprobenfehler bei gegebener Stichprobengrösse 2.2 Prozentpunkte. Damit ist gemeint, dass bei rund 2'000 Befragten und einem Ergebnis von 50:50 der effektive Wert auch zwischen 47.8 und 52.2 schwanken kann. Die gebräuchliche Interpretation dieses Unsicherheitsintervalls besagt, dass Veränderungen ausserhalb des Stichprobenfehlers hart sind, dass heisst interpretiert werden können, während solche im Stichprobenfehler nicht weiter analysiert werden dürfen. Bei Parteien von 30, 20, 10 oder 5 Prozent Wähleranteil verringert sich der Stichprobenfehler, denn er kann bei einer 1-Prozentpartei nicht im besagten Bereich sein. Die nachstehende Grafik visualisiert den Unsicherheitsbereich am Beispiel des üblichen, aber nicht zwingenden 95-Prozent-Konfindenzintervalls. Konkret bedeutet dies, die Wahrscheinlichkeit, dass der effektive Wert heute mit nur 5 Prozent Unsicherheit ausserhalb des bezeichneten Bereiches liegt. Nun kann man diesen Gedanken weiter treiben, und sich fragen, wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, das bei einer gegebenen Partei eine Abweichung von 30 C. Longchamp: Angewandte Wahlforschung", in VSMS Jahrbuch 2012, Zürich 2012. 31 beispielsweise 1 Prozentpunkt zwischen Ergebnis bei der letzten Wahl und bei der jüngsten Befragung auf eine reale Veränderung verweisen. Die nachstehende Grafik gibt die nötigen Informationen hierzu. Sie besagt, dass dies bei einer 30 Prozent starken Partei mit 75-prozentiger Wahrscheinlichkeit real ist, bei einer 1 Prozent Partei mit 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit. Grafik 20 Auf das jetzige Wahlbarometer und die gemessenen Parteistärken angewendet heisst das: Tabelle 6 Wahrscheinlichkeit der Gewinne und Verluste Wählendenanteil 2011 Stand/Veränderung gemäss Wahlbarometer 2015, 3. Welle Wahrscheinlichkeit von Gewinnen respektive Verlusten FDP 15.1% 16.9%/+1.8% 94% SVP 26.6% 28.0%/+1.4% 85% 18.7% 19.3%/+0.6% 69% GPS 8.4% 7.4%/-1.0% 90% GLP 5.4% 4.3%/-1.1% 96% CVP 12.3% 11.1%/-1.2% 90% BDP 5.4% 4.2%/-1.2% 96% Partei Gewinne Stabilität SP Verluste © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 Das Kriterium der 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit erfüllen die aktuellen Verluste von BDP und GLP, derweil die Gewinne der FDP dem sehr nahe kommen. Auf dem 90-Prozent-Niveau Signifikant sind zudem die aktuell gemessenen Verluste der GPS und der CVP, derweil die Steigerung der SVP etwas weniger gesichert ist, jene der SP deutlich weniger. 32 In der Retrospektive bestätigt es sich, von einer differenzierten Betrachtungsweise der Unsicherheitsbereiche auszugehen. Die mittlere Abweichung betrug in der letzten Befragung der Wahlbarometer von 2003-2011 zwischen 1,03 und 1,36 Prozentpunkte. Das gilt international gesehen als beachtlich, vor allem wenn man bedenkt, dass Umfragen unmittelbar vor dem Wahltag nicht erlaubt sind. Tabelle 7 Abweichungen von Wahlergebnissen in den letzten Wahlbarometer-Wellen 2003 bis 2011 insgesamt und nach Parteien Effektiv letzte Wahlbefragung Effektiv letzte Wahlbefragung Effektiv 22.09.2003 19.10.2003 29.09.2007 21.10.2007 06.10.2011 23.10.2011 SVP 25.3 26.7 -1.4 27.3 29.0 -1.7 29.3 26.6 2.7 SP 23.1 23.3 -0.2 21.7 19.5 2.2 19.9 18.7 1.2 FDP 19.5 17.3 2.2 15.5 15.6 -0.1 15.2 15.1 0.1 CVP 14.5 14.4 0.1 15.4 14.6 0.8 14.2 12.3 1.9 Grüne 6.1 7.4 -1.3 10.0 9.6 0.4 9.3 8.4 0.9 2.5 1.4 1.1 4.9 5.4 -0.5 3.6 5.4 -1.8 Partei letzte Wahlbefragung Abweichung Wahlen 2011 Abweichung Wahlen 2007 Abweichung Wahlen 2003 GLP BDP mittlere Abweichung mittlere Abw. mit neuer Mitte Befragungs1 zeitraum 1 1.04 1.04 1.36 ― 1.05 1.3 27 Tage 22 Tage 19 Tage Distanz mittlerer Befragungstag – Wahlen, Alle Angaben in % © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 Generell gilt, dass die Abweichungen bei wählerstärkeren Parteien grösser sind als bei wählerschwächeren. Bei der SVP liegt die mittlere Differenz bei 1,9 Prozentpunkten, bei der GPS jedoch bei 0.9. Am genauesten war das Wahlbarometer bisher bei der FDP, mit einer durchschnittlichen Abweichung von 0.8 Prozentpunkten. Zu den Gründen hierfür zählt, dass AuslandschweizerInnen in Routinebefragungen kaum erfasst werden können. Zudem bemisst sich die amtliche Parteienstärke nicht an der Zahl der Wählenden, sondern der Stimmen, was man in Befragungen kaum erfassen kann. Schliesslich besteht ein gewisses Problem, die Stimmen der Kleinstparteien in Umfragen genau zu erfragten. Tendenziell werden sie insgesamt unterschätzt. 33 3 Befunde 3.1 Beteiligungsabsichten 3.1.1 Wahlbeteiligung generell und in der Schweiz Im internationalen Vergleich ist die Wahlbeteiligung in der Schweiz tief. Nur gerade die USA kennen eine tiefere Beteiligung. Wichtigster Grund für diese schweizerische Eigenheit dürfte die direkte Demokratie sein. Denn die Teilnahme alle 4 Jahre in der repräsentativen Demokratie lässt sich normativ einfacher begründen, als die regelmässig erwartete Willensäusserer in der direkten Demokratie. Die psychologische Partizipationsforschung kennt sechs Typen von NichtTeilnehmenden: Am häufigsten beobachtet wird Desinteresse (zirka 25% der Abwesenden), gefolgt von Überforderung (20%), danach reihen sich soziale Isolation (18%) und Verdrossenheit (16%) ein, 12 Prozent der Wahlabstinenzler nehmen aber an Abstimmungen teil, und 9 Prozent partizipieren auf andere als institutionalisierte Weise an der Politik. 31 Soziologisch gesprochen kennt die Schweiz, wie überall auf der Welt, eine von der Schicht abhängige politische Partizipation. Besonders an der schweizerischen Situation ist aber, dass die auch das Alter die politische Beteiligung beeinflusst. Je älter die BürgerInnen (bis zirka 70 Jahre), desto wahrscheinlicher ist ihre Teilnahme an Wahlen. Auf der kollektiven Betrachtungsebene gilt, dass die Beteiligung mit der parteipolitischen Polarisierung zusammenhängt. Je geringer sie ausfällt, desto weniger unterscheiden sich die Parteien. Eine tiefe Wahlbeteiligung ist dann die Regel. Je höher allerdings die Polarisierung ist, desto eher werden unterschiede herausgearbeitet, und umso wahrscheinlicher ist es, dass dabei die Wahlbeteiligung steigt. Das ist bei den Polparteien wahrscheinlicher als im Schnitt, bei den Zentrumsparteien jedoch schwieriger. Auf der individuellen Ebene ist die Beteiligung umso wahrscheinlich, als eine eindeutige Nähe zu einer Partei besteht. Das Vorhandensein einer solchen hängt im Wesentlichen vom Alter und der Bildung ab. Je jünger Menschen sind, desto unwahrscheinlicher sind stabile Parteibindungen. Das gilt ganz generell auch für tiefe Bildungsschichten. Allerdings bei weitem nicht alle Personen, die sich mit einer Partei identifizieren oder sich vorstellen können, eine solche zu wählen, beteiligen sich. Entsprechend haben Potenzialbestimmung und Mobilisierungsgrade für die Bestimmung von Parteistärken an Bedeutung gewonnen. 31 Marc Bühlmann, Markus Freitag, Adrian Vatter: "Die schweigende Mehrheit. Eine Typologie der Schweizer Nichtwählerschaft", in: Pascal Sciarini, Sibylle Hardmeier, Adrian Vatter (Hg.): Schweizer Wahlen 1999, Bern 2003, ss. 27-58; für eine vorläufige Aktualisierung siehe Katharina Bracher: Desinteressiert, hochzufrieden, inkompetent." In: NZZ am Sonntag, 14.9.2015 34 3.2 Potenziale der Parteien bei den Wahlberechtigten Die Potenziale der verschiedenen Parteien bestimmen sich am Anteil, der eine bestimmte Partei unterstützen will, egal, ob er oder sie auch teilnimmt. Der Bezug erfolgt dabei auf die Wahlberechtigten, genau genommen auf die Wahlberechtigten mit einer Parteipräferenz. Grafik 21 Bemerkung: Das sind nicht Wahlabsichten der Teilnahmewilligen, sondern die Stärken der Parteien unter allen Wahlberechtigten mit einer Parteipräferenz. Demnach kommt die SVP auf gerundete 28 Prozent, die FDP auf knapp 20 Prozent, die SP auf genau 19 Prozent. Die CVP bleibt bei 11 Prozent stehen, die GPS bei 7, die GLP bei 5 und die BDP bei 3 Prozent. Alle anderen Parteien erreichen 1 Prozent oder weniger. Die Werte für das Potenzial sind nicht ganz konstant. So verbesserte sich die FDP vor allem 2014, während die SP anfangs 2015 etwas zulegte und die SVP seit neuestem ansteigt. Eine leichte Verbesserung zeigt sich auch bei der GPS. Weitgehend stabil ist der Anteil der GLP, neuerdings sinken jene der CVP und BDP. Die hier gelieferten Verhältnisse und Trends müssen aber nicht mit den Parteistärken (siehe nächstes Kapitel) übereinstimmen. Denn der Mobilisierungsgrad entscheidet, in welchem Masse ein Potenzial effektiv realisiert wird. So muss die FDP nicht zwingend vor der SP sein, obwohl sie das Potenzial dazu hätte. 35 3.3 Beteiligungsabsichten 2015 Anfangs August hätte sich genau die Hälfte der Wahlberechtigten an der Neubestellung des Nationalrats beteiligt. Der Wert ist im Verlauf der letzten drei Jahre erwartungsgemäss fast konstant gestiegen; von anfänglichen 44 auf die besagten 50 Prozent. Verglichen mit der effektiven Wahlbeteiligung 2011 wäre das eine leichte Steigerung gewesen. Der seit 1995 gültige Trend des Wiederanstiegs der (tiefen) Wahlbeteiligung hätte sich damit bestätigt. Grafik 22 Der Mobilisierungsgrad der Parteiwählerschaften ist in der Regel höher als der Schnitt. Das gilt aktuell für die GPS, SP, SVP und die CVP. Bei den grösseren Parteien ist es einzig bei der FDP nicht so. Im Schnitt liegt die Beteiligungsbereitschaft bei der GLP. Bei der BDP ist sie eindeutig darüber. Die kleine Wählerschaft der jungen BDP ist am besten motiviert wählen zu gehen. Das war sie anfangs Jahr nicht, hat sich aber mit der Wahlkampagne der Partei eingestellt. Denn es wurde zwischenzeitlich klar, dass es bei dieser Wahl um die Zukunft der BDP als Bundesratspartei geht. Erwähnt sei, dass gleichzeitig auch das Potenzial geringer geworden ist, sprich, die Hoffnung, dank der BDP eine neue Kraft in die Politik zu bringen, an Zugkraft verloren hat. Ein vergleichbares Phänomen findet sich auch bei der viel traditionsreicheren, aber konstant erodierenden CVP. Die Potenzialschätzung zeigt einen eher tiefen und sogar sinkenden Wert; die Realisierung des Potenzials ist aber steigend und zwischenzeitlich für eine Zentrumspartei durchaus beachtlich. Die FDP könnte noch mehr, würde sie ihr insgesamt schwer mobilisierbares Potenzial besser mobilisieren können. Sie hat das zwar nach 2011 verbessert, ist aber noch nicht auf dem Stand der anderen grösseren Parteien. Entsprechend verliert sie den zweiten Platz, den sie bei der Potenzialschätzung hatte, an die SP, wie die nachstehenden Ausführungen zeigen werden. 36 Grafik 23 Etwas abstrakter formuliert, wiederholt sich die polarisierende Wirkung des bisherigen Wahlkampfes, wenn man auf die weltanschaulichen Lager abstellt. Personen, die sich entweder dem rechten oder linken weltanschaulichen Pol zugehörig fühlen, wollen zu 61 Prozent wählen gehen, derweil das bei BürgerInnen aus der Mitte im Schnitt nur bei 39 Prozent der Fall ist. Personen ohne Standort auf der Links/rechts-Achse wollen sich zu 31 Prozent beteiligen. Im Verlauf des Wahljahres sind nur die Werte an den ideologischen Polen angestiegen. Grafik 24 37 Von der bei Wahlen relevanten Grundhaltung zeigt das Institutionenvertrauen einen interessanten Einfluss auf die Wahlbeteiligung. Bisher galt, dass sich BürgerInnen mit Vertrauen in den Bundesrat stärker beteiligen wollten, als misstrauische Personen. In der aktuellen Befragung hat sich namentlich letzteres verändert, wollen sich doch je 51 Prozent mit hohem respektive tiefem Vertrauen in die Bundesregierung beteiligen. Geringer sind die Teilnahmeabsichten bei BürgerInnen mit einem mittleren Vertrauen. Grafik 25 Klarer noch sind die Unterschiede in den Beteiligungsabsichten entlang gesellschaftlicher Merkmale. Speziell erwähnt seien die Schulbildung, Alter und Geschlecht. Bezogen auf den höchsten Schulabschluss ist die Beteiligung bei hoher formaler Bildung am höchsten. Hier erreicht sie einen Wert von 63 Prozent. Bei tiefer Bildung liegen die Teilnahmeabsichten bei 55 Prozent. Am tiefsten sind sie AbgängerInnen einer Berufsausbildung mit Lehre. Hier liegt der momentane Teilnahmewert bei 38 Prozent. Zeitlich gesehen ist speziell die Beteiligung der unteren Bildungsschichten angestiegen. Bezogen auf das Alter, liegen die Teilnahmeabsichten bei RentnerInnen am höchsten. Unsere Erhebung ergibt hier einen Mittelwert von 72 Prozent. Bei den Personen unter 40 Jahren kommen wir auf 32 Prozent. Über die Zeit gesehen hat vor allem die Beteiligung der jüngeren BürgerInnen und der RentnerInnen gesteigert werden können. Knapp signifikant ist schliesslich der Unterschied zwischen den Geschlechtern. Männer wollen sich zu 53 Prozent beteiligen, Frauen zu 47 Prozent. Die Unterscheidung ist erst in den letzten Wochen von Belang geworden, denn in den bisherigen Wahlbarometer-Befragungen blieb die Differenz stets nahe bei Null. Unterhalb der Schwelle statistischer Bedeutsamkeit sind die Differenzen unterschiedlichen Siedlungsräumen. Dies gilt notabene auch für die Sprachregionen insgesamt. 38 3.3.1 Beteiligungswanderungen seit 2011 Anders als Schätzungen zur Ausschöpfung wahrscheinlicher Potenziale sind Beteiligungswanderungen gegenüber den letzten Wahlen. Sie stellen nicht auf die aktuellen Möglichkeiten einer Partei ab, vielmehr auf das, was sie bei der letzten Wahl erreichte. Hauptproblem bei dieser Art von Analyse ist, dass die Rückerinnerung an das Verhalten bei der zurückliegenden Wahl verringert ist. Das trifft die Beteiligung mindestens so stark wie die Parteienwahl, denn letztere hat eine höhere Konstanz, derweil die Teilnahme nicht mehr sicher ist. Entsprechend ist Vorsicht angezeigt, die sich darin äussert, dass wir auf harte Quantifizierungen verzichten. Tabelle 8 Mobilisierungsbilanzen der Parteien Wanderung SP GPS GLP BDP CVP FDP SVP Demobilisierung tief tief hoch tief hoch mittel mittel Mobilisierung hoch mittel tief mittel tief mittel hoch Bilanz positiv neutral negativ leicht negativ leicht negativ leicht positiv positiv © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 Die Quintessenz dieser Analyse findet sich in der nachstehenden Grafik. Sie legt nahe, dass die SP und SVP positive Beteiligungswanderungen kennen, und sie bei der FDP eher positiv sind. Im Schnitt fällt sie bei der GPS aus. Eher auf der negativen Seite sind sie bei der BDP, CVP und GLP. Grafik 26 Wählerstromanalyse aufgrund der aktuellen Parteistärken und der Positionierung auf der Links-Rechts-Achse In % Wahlberechtigte, die bestimmt teilnehmen wollen und eine Parteipräferenz haben 30 SVP 25 Parteistärke 20 SP FDP. Die Liberalen 15 10 CVP GPS 5 GLP BDP 0 Links Rechts Nicht-Wählende SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 (n = 1094) Auszug 2 bis 8 aus Skala 0 bis 10 Bemerkung: abgebildet sind Bilanzen der Wanderung. Die Dicke symbolisiert die Stärke der Bilanzen. Wenn die Übereinstimmung nicht ganz identisch ist mit der Bilanz bei der Potenzialanalyse, hat das meist mit Veränderungen des Potenzials zu tun. Dieses ist namentlich bei neuen Parteien nicht stabil, wie wir das am Beispiel der BDP besonders betont haben. Tendenziell gilt das aber auch für die GLP. Bei der FDP fällt die Bilanz umgekehrt leicht positiv aus, weil sie sich gegenüber 2011 verbessert hat, aber auch noch mehr möglich wäre. 39 3.3.2 Zwischenbilanz Wäre im August 2015 gewählt worden, hätten sich 50 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt. Das ist für die Schweiz und den Zeitpunkt für die Wahlen ein eher hoher Wert. Es kann aber durchaus sein, dass er sich bei zum Wahltag in die eine oder andere Richtung verändert, denn Ereignisse spielen insbesondere in der Haupt- und Schlussphase eines Wahlkampfes eine besondere Rolle. Die Polarisierung zeigt Wirkungen auf die Mobilisierung. Das gilt bezüglich der Wanderungsbewegungen seit 2011, aber auch bezüglich der aktuellen Potenzialausschöpfungen. Begünstigt werden dadurch die SVP, die SP, teilweise auch die FDP. Benachteiligt werden die GLP und BDP. Die BDP kann einen Teil davon durch eine gute innere Mobilisierung aufheben. Tendenziell gilt das auch für die CVP, die an Potenzialschwund leidet, das bestehende Potenzial aber wieder etwas verbessert ausschöpft. Neutral ist die Mobilisierung bei der GLP. Die aktuelle Steigerung der Beteiligungsbereitschaft hat sich namentlich auf die Beteiligung der misstrauischen Bürgerschaft ausgewirkt, die heute angibt, sich am 18. Oktober in erhöhtem Masse äussern zu wollen. Mit anderen Worten: Politikverdruss ist in den letzten Wochen verstärkt mobilisiert worden. 3.4 Entscheidungsabsichten Parteistärken sind das Produkt aus Potenzialen einer Partei und deren Realisierung in einem Wahlkampf. Daraus entwickelt sich ihr Anteil an der effektiven Wählerschaft. Was einfach tönt, ist in der Schweizer Praxis aber komplexer. Denn die Parteistärken gemäss amtlicher Statistik entsprechen nicht dem Wählendenanteil, vielmehr dem Stimmenanteil. Effektiv wählt man in der Schweiz in allen Wahlkreise mit mehr als einem Sitz nicht Parteien, sondern Personen. Deren Parteizugehörigkeit entscheidet über die Stimmen, die an die Parteien gehen. Solange man eine Parteiliste nimmt und keine parteifremden KandidatInnen aufführt, spielt das keine Rolle. Sobald aber panaschiert wird, sprich BewerberInnen mehrerer Parteien berücksichtigt werden, ist dies erheblich. Denn die Stimmen gehen im Verhältnis der berücksichtigten ParteikandidatInnen an die Parteien. Leere Linien zählen für die Partei, wenn mit einer Parteiliste gewählt wurden. Nun sind die Phänomene bekannt und auf Ebene der KandidatInnen auch ausgewertet. Das gilt jedoch nicht auf Ebene der Parteien. So weiss man nicht zuverlässig, wie viele Stimmen eine Partei gesamtschweizerische von unveränderten Parteilisten erhält und wie viele sie durch Panaschieren gewinnt oder verliert. Die Vermutung besteht, dass rund die Hälfte der Wählenden panaschieren, in der Mitte mehr als an den Polen, wodurch Parteien im Zentrum tendenziell an Stimmen verlieren. Befragungen hierzu sind im weiteren Vorfeld einer Wahl nicht zuverlässig. Denn das Panaschieren hängt nicht nur von der Parteinähe ab, es ist auch eine Folge der konkreten Nominationen. Wir werden dies im letzten Wahlbarometer untersuchen, haben hier jedoch darauf verzichtet. In der Folge sprechen wir deshalb stets von Wählerstärken, nicht von Stimmenstärken. 3.4.1 Aktueller Stand Wahlabsichten Wäre am 24. August 2015, dem mittleren Befragungstag der dritten Welle zum Wahlbarometer 2015 gewählt worden, hätten sich jene 50 Prozent Wahlberechtigten mit Beteiligungsabsichten wie folgt auf die verschiedenen Parteien verteilt: Die SVP wäre auf 28.0 Prozent der Wählenden gekommen. An zweiter Stelle wäre die SP mit 19.3 Prozent gelegen. 40 Dahinter eingereiht hätten sich die FDP mit 16.9 Prozent und die CVP mit 11.1 Prozent. Es wäre mit einem Wähleranteil von 7.4 Prozent die GPS gefolgt. 4.3 Prozent wären auf die GLP entfallen und 4.2 Prozent auf die BDP. Einiges dahinter hätten sich die EVP mit 1.7 Prozent sowie die EDU und die Lega mit je rund 1 Prozent eingereiht. Auf die übrigen Parteien wären 5.2 Prozent entfallen. Deutlich gemacht sei hier, dass das nicht die Prognose der Parteistärken für den 18. Oktober 2015 ist. Vielmehr ist es der aktuelle Stand der Dinge, wie er sich Ende August präsentiert. Denn bei den obigen Angaben handelt es sich um Messwerte, nicht um Projektionen. Letztere setzten entweder ein Wissen über den Wahlkampf voraus oder aber es müsste aus vielen zurückliegenden Wahlen ersichtlich sein, welches die wahrscheinlichste Entwicklung einer Partei bis zum Wahltag wäre. Beides ist in der Schweiz mit ihrem fragmentierten und föderalistischen Parteiensystem nicht hinreichend gegeben. Festhalten kann man für den Moment: Die Reihenfolge der Parteien wäre fast die gleiche geblieben wie 2011. Einzig die BDP und die GLP hätten möglicherweise die Plätze getauscht. Die FDP wäre näher an die SP herangerückt, überholt hätte sie sie aber nicht, wie sie es als Wahlziel postuliert hat. Grafik 27 Definiert man den Wahlsieg aufgrund der Parteistärke, wäre die SVP eindeutige Siegerin gewesen. 3.4.2 Veränderung Parteistärken gegenüber 2011 Versteht man Wahlsieg als positive Veränderung der Wahlstärke, hätte die FDP gewonnen, gefolgt von der SVP und SP. Verloren hätten die BDP, die CVP, die GLP und die GPS. 41 Mit anderen Worten: Von der neuen Mitte, von der 2011 vielfach die Rede war, geht heute weniger Strahlkraft aus. Das neue Muster entspricht vor allem jenem, das wir als Rechtsrutsch charakterisiert haben, denn FDP und SVP werden gestärkt. Es trifft aber nicht in reiner Form zu, solange eine Möglichkeit besteht, dass auch die SP Stimmen gewinnt. Man kann deshalb ergänzend auch von einer Polarisierung sprechen. Interessanterweise betrifft sie positiv nur die grösseren Parteien, während die mittleren und kleineren Parteien verlieren dürften. Grafik 28 Bezogen auf das Kriterium einer 95-prozentig zuverlässigen Aussage dürfte man aber nur bei der BDP und der GLP von Verlusten sprechen, bei der FDP hart am Limit von Gewinnen. Alles andere wäre stabil. Man kann das Sicherheitsmass aber auch andersherum gebrauchen, demnach wäre die FDP heute mit einer 94-prozentigen Wahrscheinlichkeit stärker als 2011, während bei der SVP die Probabilität 85 Prozent beträgt. Verluste der BDP und GLP sind Ende August zu 96 Prozent wahrscheinlich, derweil solche bei der GPS und der CVP mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent auftreten würden. Dass die SP zulegt, ist beim aktuellen Messwert nur zu 69 Prozent wahrscheinlich. Tabelle 9 Wahrscheinlichkeit der Gewinne und Verluste Wählendenanteil 2011 Veränderung gemäss aktuellem Wahlbarometer Wahrscheinlichkeit von Gewinnen respektive Verlusten FDP 15.1% +1.8 94% SVP 26.6% +1.4 85% 18.7% +0.6 69% GPS 8.4% -1.0 90% GLP 5.4% -1.1 96% CVP 12.3% -1.2 90% BDP 5.4% -1.2 96% Partei Gewinne Stabilität SP Verluste © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 42 Betrachtet man die Veränderungen seit der letzten Befragungswelle fällt vor allem der Anstieg der SVP auf. Über den Sommer hat sie ihren Umfragewert für den Wähleranteil um knapp 2 Prozentpunkte steigern können. An dieser Stelle kann man nur mutmassen, was die Ursache ist. Ohne Zweifel wird man aber die zentrale Debatte in diesem Sommer erwähnen können, ausgelöst an der Delegiertenversammlung der SVP, an der Parteipräsident Toni Brunner zum Wiederstand gegen neue Asylzentren aufrief. Innerhalb der problematischen Migrationsfragen setzt die SVP damit auf die Asylpolitik. Im Kern beklagt die Partei das "Asylchaos" in der Schweiz und nennt als Schuldige SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Es handelte sich nicht nur um ein sommerliches Kampagnenelement, vielmehr steigen die Zahlen für Asylsuchende auch in der Schweiz und eine schnelle Veränderung ist nicht in Sicht. Mit der Kritik an der Funktionsweise des Dubliner-Abkommens innerhalb der EU ist zudem ein länderübergreifendes Gefühl des Politikversagens entstanden, dass nationalistischen und fremdfeindlichen Bewegungen in ganz Europa Auftrieb gegeben hat. Seit längerem verliert die BDP im Wahlbarometer. Ihren Höhepunkt hatte sie vor zwei Jahren, in der letzten Befragung vor der Volksabstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative. SP und GLP kannten die besten Umfragewerte vor einem Jahr, während die CVP seit dem Frühling 2015 etwas schwächer wird. Bei diesen drei Parteien kann man davon ausgehen, dass exemplarisch verlorene Volksabstimmungen zu eigenen Initiativeprojekten massgeblich waren. Grafik 29 Es bleiben Mutmassungen, was die Ursachen sind. Klar ist, dass die innere Demobilisierung bei der GLP erheblich ist. Dies als Folge der exemplarischen Niederlage in der Volksabstimmung über die erste eigene Volksinitiative am 8. März 2015. Ähnliches zeigt sich bei der GPS im Zusammenhang mit diversen kantonalen Wahlen seit Ende 2013. Namentlich in den Medien wurde das mit dem rückläufigen Fukushima-Effekt in Verbindung gebracht.32 32 "Der Fukushima-Effekt ist verpufft", in: SRF, 11.3.2014, Die Zustimmung zur Aussage, die Risiken der Kernenergie seien nicht tragbar. Schnellt nach dem Reaktorunfall in Japan von 53 auf 69% der Einwohner, sank in den Jahren danach wieder auf 64%. 43 3.4.3 Wählerwanderungen Aktuell gibt es an zwei Stellen namhafte WählerInnen-Märkte. Auf der linken Seite betrifft dies die Schnittstelle zwischen SP und GPS, auf der rechten jene zwischen SVP und FDP. Wir schätzen, dass der erste etwa 3 Prozent der Wählenden ausmacht, der zweite 2 bis 3 Prozente. Aktuell legt die SP im ersten Wählermarkt zulasten der GPS zu. Das entspricht der allgemeinen Einschätzung, wonach es eher zu einer Neuformierung der grossen Parteien kommt. Auf dem rechten Wählermarkt gibt es keinen Sieger, denn die Tauschbilanz ist für beide Parteien neutral. Im Vergleich zu den Befunden in den beiden letzten Wahlbarometer-Befragungen hat damit die SVP Punkte gut machen können, sodass man auch hier von einem Trend zur grösseren Partei sprechen kann. Weitere, deutlich kleinere Wählermärkte gibt es zwischen der FDP und der GLP, der FDP und der BDP und der SP gegenüber der GLP. In den beiden ersten Fällen wiederholt sich das Bild, denn Schwankende zwischen der neuen Mitte von 2011 und der FDP neigen heute eher zum liberalen Original. Umgekehrtes findet sich – wenn auch gerade an der Grenze des Berichtenswerten – zwischen der SP und der GLP, verliert doch die SP mehr an die GLP denn umgekehrt. Tabelle 10 Grössere Wählermärkte im Wahlbarometer mit den aktuellen Nutzniesserinnen Wählermarkt Umfang in % Wählende aktuelle Gewinnerin Charakteristik SP/GPS 3% SP grosse Partei bevorzugt SVP/FDP 2-3% keine Partei im Trend Verschiebung zur grossen Partei FDP/GLP 1% FDP (schwach) grosse Partei bevorzugt FDP/BDP 1% FDP (schwach) grosse Partei bevorzugt SP/GLP 1% GLP (schwach) kleine Partei bevorzugt © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 Im Vergleich zur bisherigen Analyse ist vor allem der linke Wählermarkt grösser geworden. Wir werden bei der Links/rechts-Positionierung von SP Und GPS darauf eingehen. Verschwunden sind die kleinen Märkte zwischen GPS und GLP, aber auch zwischen FDP und CVP. Kombiniert man dies mit den Ergebnissen bei der Beteiligungswanderung im vorherigen Kapitel, entsteht die aktuelle Übersicht über die Wählerbewegung. Demnach gewinnt die FDP gegenüber 2011 im aktuellen Wahlbarometer, weil sie Stimmen bei der neuen Mitte von 2011 macht und ihre Mobilisierung verbessern konnte. Die SVP gewinnt vor allem weil sie besser mobilisiert als vor knapp vier Jahren und Stimmen von der CVP holt. Sollte schliesslich die SP zulegen, hat das ebenso mit der Beteiligungsbewegung zu tun, wie mit Gewinnen im rotgrünen Spektrum. Die BDP schneidet etwas schwächer ab, weil sie ehemalige Wählende an die Nicht-Wähler verliert. Hauptgrund ist hier, dass die in die Partei gesetzten Hoffnungen verflogen sind. Nebengrund ist, dass die FDP eine Konkurrenz für Wiederwählende geworden ist. Das genau Gleiche gilt auch für die GLP. Allenfalls kann sie Verluste durch marginalen Gewinn von der SP verringern. Die CVP schliesslich kennt gleich wie die anderen Mitte-Parteien ein geringeres Potenzial, sodass eine negative Bilanz bei der Remobilisierung entsteht, und sie verliert im konservativen Spektrum an die SVP. Hauptproblem der GPS ist und bleibt die Konkurrenz durch die SP. 44 Grafik 30 Wählerstromanalyse aufgrund der aktuellen Parteistärken und der Positionierung auf der Links-Rechts-Achse In % Wahlberechtigte, die bestimmt teilnehmen wollen und eine Parteipräferenz haben 30 SVP 25 Parteistärke 20 SP FDP. Die Liberalen 15 10 CVP GPS 5 GLP BDP 0 Links Rechts Nicht-Wählende SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 (n = 1094) Auszug 2 bis 8 aus Skala 0 bis 10 Bemerkung: abgebildet sind Bilanzen der Wanderung. Die Dicke symbolisiert die Stärke der Bilanzen. 3.4.4 Typisierungen Die wichtigste parteiübergreifende Veränderung seit 2011 betrifft die Verschiebung des Parteienspektrums nach rechts. Schwächer ist die Mitte, praktisch stabil sind die linken Parteien. In unserer Übersicht zur Typisierung nach Parteilagern ist aber die verschwundene Mehrheit für die Mitte/links-Parteien von grösster Bedeutung. Denn dies ist insbesondere bei der Bundesratswahl mitentscheidend. Doch selbst wenn SVP und FDP bei den kommenden Wahlen zulegen, bleiben sie weit von einer gemeinsamen Mehrheit entfernt. Um diese zu erreichen, dürfte es rund die Hälfte der CVP-Stimmen brauchen, oder ein vollständiges Kippen der GLP. Sachpolitisch ist letzteres schon einige Male vorgekommen. Personalpolitisch dürfte die Entscheidung für beide Parteien schwer werden, sollte es zur Kampfwahl um den Sitz der BDP im Bundesrat kommen. Tabelle 11 Parteienlager Indikator 2011 3. Welle Wahlbarometer 2015 Trend Regierungslager 78.1 79.5 leichte Zunahme Regierungslager (ohne BDP) 72.6 75.3 Zunahme bürgerlich (SVP, FDP, CVP) 54.0 56.0 Zunahme rechts (SVP, FDP) 41.7 44.9 Zunahme Mitte (CVP, GLP, BDP, EVP) 25.1 21.3 Abnahme rotgrün (SP/GPS/Linke) 28.0 27.6 stabil Mitte/links (SP, GPS,GLP, BDP, CVP, EVP, Linke) 53.1 48.9 Abnahme Bemerkung: Veränderungen von 1.0 Prozentpunkt und mehr gelten als Abnahme respektive Zunahme. Veränderungen darunter, aber von minimal 0.5 Prozentpunkten werden als leichte Zu- oder Abnahme charakterisiert, derweil kleinere Veränderungen nicht kommentiert werden. © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 45 3.4.5 Zwischenbilanz Hauptergebnis zu den Entscheidungsabsichten ist die Stärkung der rechtsbürgerlichen Parteien. Neu profitieren sowohl die FDP wie auch die SVP vom wichtigsten Trend vor den Wahlen 2015. Die Ursachen sind aber verschieden: Die FDP konkurrenziert die neue Mitte von 2011 erfolgreich, derweil die SVP vor allem bei konservativen Wählerschichten im Umfeld der CVP punkten kann. Beide Parteien sind Nutzniesserinnen der verstärken Mobilisierung im rechten politischen Spektrum. Zudem ist die Wechslerbilanz zwischen beiden Parteien zwischenzeitlich ausgeglichen. Am meisten verliert die politische Mitte. Das trifft letztlich CVP, GLP und BDP in einem ähnlichen Masse, bei den beiden kleineren Parteien macht das aber relativ mehr aus. Gebrochen ist damit ihr Aufstieg in der Wählergunst, denn die Hoffnung auf ein geeintes und erstarktes Zentrum ist verschwunden und auch die Erwartungen, der Alleingang helfe der eigenen Profilierung, dürfte sich nicht erfüllen. Weitgehend stabil ist die Linke. Wenn die SP etwas zulegen sollte und die GPS etwas verlieren dürfte, hat das am ehesten mit Umschichtungen innerhalb des rotgrünen Lager zu tun. Insgesamt ist dieses aber im aktuellen Wahlbarometer praktisch gleich stark wie 2011. 3.5 Soziologisches Profil der Parteien Wie setzen sich die Parteiwählerschaften soziologisch zusammen? In der Schweiz vielfach untersucht wurden die Auswirkungen der konfessionellen Spaltung auf die Parteien, aber auch die Auswirkungen der Schicht. Zu den heute wichtigen Konfliktlinien wird insbesondere der Stadt/Land-Unterschied mit seinen Folgen etwa auf die Individualisierung von Lebensentwürfen gezählt. Typisch schweizerisch ist, dass regelmässig nach Auswirkungen von Generationen und Geschlechtern für die Parteienwahl gefragt wird. Bevor wir auf die Details eingehen, präsentieren wir hier die Übersicht. Sie zeigt, wo eine Partei generell vom Schnitt abweichend ein gesellschaftliches Profil hat. Beispielsweise ist die SVP bei Männern übervertreten, die SP bei Frauen, während die anderen Parteien nach Geschlecht ausgeglichen vertreten sind. 46 Die nachstehenden Ausführungen beschränken sich auf die vier grössten Parteien. Denn die Fallzahlen der befragten Wählenden von GPS, GLP und BDP sind für Merkmalsgruppenanalysen zu gering. Tabelle 12 Signifikant über- und untervertretene Merkmalsgruppen nach Parteien Geschlecht SVP SP Männer (+) Frauen (-) Frauen (+) Männer (-) FDP CVP Alter Siedlungsart Schulbildung grosse/kleine und mittlere Agglomeration (+) ländlich (-) ländlich (+) kleine und mittlere Agglomerationen (+) grosse Agglomeration (-) tief/mittel (+) hoch (-) Haushaltseinkommen Konfession protestantisch (+) katholisch (-) keine (-) keine (+) katholisch (-) protestantisch (+) keine (-) katholisch (+) protestantisch (-) keine (-) (+) übervertreten, (-) untervertreten © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 SVP: Die beabsichtigte Wahl der SVP wird aktuell durch die Schulbildung, das Geschlecht und die Konfessionszugehörigkeit systematisch beeinflusst. Jetzige Stärken finden sich namentlich in den unteren mittleren Bildungsschichten. Am schwächsten ist die Partei bei einem Haushaltseinkommen, das der oberen Mittelschicht entspricht und bei höheren Bildungsschichten. Die SVP ist und bleibt die grösste Volkspartei der Schweiz. Im Kern ist sie unverändert die konservative, im reformierten Milieu verankerte Mittelstandspartei. Indes, sie hat sich massiv entwickelt durch die Ausdehnung in die Agglomerationen und auch in die oberen Einkommensklassen. Denn da ist sie die Partei gegen den Mainstream, sprich gegen die vorherrschenden Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft. 47 Grafik 31 In der laufenden Legislatur hat sich das Profil in mehrfacher Hinsicht verändert. Deutlich zugelegt hat die SVP bei den jüngeren Generationen, in Haushalten mit einem Durchschnittseinkommen und bei einem obligatorischen Schulabschluss. Grafik 32 48 FDP: Interessanterweise kennt die neue FDP-Wählerschaft kaum mehr gesellschaftliche Unterscheidungsmerkmale. Statistisch signifikant ist einzig die Konfessionszugehörigkeit: Konfessionslose sind die offensichtlichste Schwäche der Partei. Grafik 33 In der laufenden Legislatur hat sich das Profil der FDP-Wählerschaft gleich mehrfach geändert. Stärker geworden ist sie in den unteren Einkommensklassen und auf dem Land. Beschränkt gilt das auch für die Bestverdienenden. Etwas profilieren konnte sich die Partei auch bei Frauen. Grafik 34 49 Das Profil der Profil ist heute viel ausgeglichener als in der vorherigen Legislatur. Die Popularisierung der Partei, die von oben initiiert wurde, trägt offensichtlich Früchte. CVP: Raumbezüge sind entscheidend, ob man die CVP wählt oder nicht. Denn die Konfessionszugehörigkeit und die Siedlungsart bestimmen die denkbare Unterstützung der Partei in statistisch signifikanter Hinsicht. Klar über dem Mittel gewählt wird sie von KatholikInnen, klar darunter ist der gegenwärtig Wähleranteil bei Konfessionslosen und ProtestantInnen. Überdurchschnittlich schneidet sie zudem auf dem Land ab, klar darunter in den grossen Agglomerationen. Grafik 35 Massiv verloren hat die CVP in der laufenden Legislatur namentlich in den untersten Schichten. Das gilt sowohl für tiefe Bildungsschichten wie auch untersten Einkommensklassen. Mit dieser Änderung verliert die CVP zunehmend ihren Charakter als Volkspartei. Sie wird immer mehr auf die Vertretung von Regionen und ihrer Kultur zurückgeworfen. Starke Veränderungen dank der Öffnung der Partei zu neuen Schichten und Ballungsräumen lässt sich nicht ausmachen. 50 Grafik 36 SP: Die denkbare Wahl der SP hängt vom Geschlecht, der Konfession und der Siedlungsart ab. Ihre Stärken hat die Partei bei Konfessionslosen und bei den tiefsten Einkommensklassen. Schwächen finden sich auf dem Land und bei KatholikInnen. Die SP von heute ist im Kern keine Arbeiterpartei mehr. Vielmehr ist sie die Vertretung der oberen Mittelschichten, die in den grossen Städten leben, gut ausgebildet sind, und dank Mehrfacheinkommen auch über dem Mittel verdienen. Zudem zeigen ihre WählerInnen am stärksten individualisierte Lebensentwürfe. Neu ist, dass sie einen Teil der untersten EinkommensbezügerInnen mit ihrer Ausrichtung auf Wirtschafts- und Sozialfragen wieder zurückgewinnen konnte. 51 Grafik 37 Der generelle Charakter der SP-Wählerschaft hat sich in der laufenden Legislatur nicht wesentlich verändert. Verbessern konnte sie sich bei den tiefsten Einkommen und Konfessionslosen. Zugelegt hat sie auch in Haushalten mit den höchsten Einkommen. Grafik 38 52 Das Bild würde sich nicht wesentlich ändern, wenn man auch GPS, BDP und GLP miteinbeziehen würde. Das Profil der GPS ist dem der SP sehr ähnlich. Die BDP kennt keine wirklichen Konturen in ihrer gesellschaftlichen Verankerung. Sie ist in erster Linie ein regional unterschiedlich zusammengesetztes Phänomen. Die GLP zeigt stärker eine gesellschaftliche Prägung, verliert aber gerade bei zwei ihrer Stärken: den jüngeren Menschen und den Bestverdienensten. Mittelfristig gesehen, gibt es nicht nur einen Trend. Seit 2011 lassen sich mindestens 3 bestimmen: Mit dem allgemeinen Trend nach rechts wandern vor allem die jüngeren WählerInnen und Menschen mit einem vergleichsweise tiefen Schulabschluss. Zwischen rechts und links polarisiert sind heute vor allem die mittleren Einkommensklassen. Nach links gehen Wählerschaften mit einem sehr hohen Haushalteinkommen und Konfessionslose. Tabelle 13 Wichtigste Änderungen der Parteiverankerung seit den Nationalratswahlen 2011 Merkmal SP CVP FDP unter 40-Jährige tiefe Schulbildung -17% 5-7'000 CHF HH-Einkommen -14% +6% SVP Trend +16% zu SVP +9% zu SVP +13% zu SVP -5% zu SP/FDP bis 3000 CHF HH-Einkommen +11% über 11'000 CHF HH-Einkommen +7% zu SP Konfessionslose +7% zu SP © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 3.5.1 Zwischenbilanz Nach gesellschaftlichen Gruppen differenziert, gibt es einen Rechtsrutsch bei den jüngeren Menschen, in der unteren Mittelschicht und vor allem bei geringer schulischer Qualifizierung. Das Gegenteil zeigt sich in der oberen Mittelschicht, namentlich bei ganz hohen Einkommen durch Doppelverdienst. Hier entwickelt sich das Spektrum eher nach links. Das gleiche gilt auch bei Konfessionslosen als typische VertreterInnen einer individualisierten Lebensweise. Polarisiert sind schliesslich die untersten Einkommensklassen. Sie wenden sich von konservativen Parteien ab, und gehen entweder zur SP oder zur FDP über. Je nachdem, ob man ökonomisch besser oder schlechter gestellt ist, reagiert man ganz anders auf die gegenwärtigen Herausforderungen, und entwickelt man auch andere Wahlabsichten. Grundlegender als diese mittelfristigen Entwicklungen sind die längerfristigen, die sich vor allem am Beispiel des Stadt-Land-Unterschieds und seiner Auswirkungen auf die Parteienwahl zeigen. Typisch für die jüngste Zeit ist, dass es SVP und FDP gelingt, diese denkbare Konfliktlinie zu überwinden. Denn der SVP ist es gelungen, in grosse Agglomerationen vorzudringen und die FDP wächst gegenwärtig auf dem Land. Die wohl auffälligste Eigenheit der aktuellsten gesellschaftlichen Analyse ist die weitgehend Abwesenheit des Alters als Bestimmungsgrösse für den voraussichtlichen Parteienentscheid. Die generationentypischen Profile der Parteilandschaft, die noch vor acht Jahren zentral waren, sind am Schwinden. 53 3.6 Weltanschauliche Positionierung der Wählerschaft Zu den Hintergrundfaktoren einer Wahl, die wir im Wahlbarometer untersuchen, gehören die Weltanschauungen. Sie kommen in den Positionen der Parteiwählerschaft auf der Links/rechts-Achse einerseits und den damit verbundenen Werthaltungen anderseits zum Ausdruck. Ferner zählt das Vertrauen in politische Institutionen zur Weltanschauung. Nicht befragt werden im Wahlbarometer dagegen Parteisympathien. Hauptgrund hierfür ist, dass sie anders als in der Theorie nicht stabil sind und deshalb als Hintergrundvariable für die Parteienwahl nicht taugen. Vielmehr werden sie selber durch den Wahlkampf und die Wahlabsichten beeinflusst, sodass Aussagen hierzu tautologisch sind. 3.6.1 Links/rechts-Achse 87 Prozent der Wahlberechtigten verorten sich inhaltlich auf der Links/rechtsAchse. Für 8 Prozent hat diese Achse keine Bedeutung; weitere 5 Prozent können oder wollen keine Angaben dazu machen. Unter jenen, die sich verorten können, dominiert neu und zum zweiten Mal in Folge knapp die rechts-Position. Interessant ist in dieser Verortung die dynamische Perspektive, denn sie zeigt in groben Strömen, in welche Richtung sich das Schweizer Elektorat bewegt. Dabei sind unterschiedliche Entwicklungen auszumachen: Bis zur Legislaturmitte war tendenziell ein Trend zur Mitte hin auszumachen, was auf Kosten beider Polpositionen geschah. Die jüngsten Zahlen bestätigen jedoch eher wieder mehr Polarisierung in der Schweizer Wählerschaft, und zwar mit Schlagseite gegen rechts. Grafik 39 Die Mobilisierung der Potenziale entspricht diesem Bild, denn auch unter den bestimmt teilnahmewilligen WählerInnen bleibt die Rechte am stärksten. Gerade weil sich dynamisch betrachtet weitaus weniger Bewegung in der Selbst54 einstufung der teilnahmewilligen Wählerschaft findet, ist der Rechtsrutsch hier noch deutlicher erkennbar. Der linke Pol erweist sich als relativ stabil, der rechte Pol hat auf Kosten der Mitte leicht zugelegt, insbesondere im Vergleich zu den Werten aus dem Jahr 2014. Grafik 40 Wird die Links/rechts-Positionierung nach Parteiwählerschaften getrennt ausgewertet, so ist das ein aufschlussreiches Portrait der Selbsteinschätzung der Parteiwählerschaften. Letztlich hängt diese jedoch auch vom Kurs der Parteien ab, die entweder klar links oder rechts oder dann moderat in der Mitte Wählende ansprechen können. Bei den Polparteien ist die Sachlage klar; SVP-WählerInnen positionieren sich eindeutig rechts, die Wählerschaften der SP und der GPS eindeutig links. SympathisantInnen der Mitte-Parteien sind allgemein relativ stabil in ihrer Selbstzuordnung. CVP-, FDP- und BDP-WählerInnen positionieren sich knapp rechts der Mitte, Wählende der GLP dagegen knapp links davon. Neu ist nicht mehr die BDP sondern die CVP die Partei, deren Wählerschaft sich am nächsten an der Mitte positioniert. Die Wählerschaft der GLP positioniert sich tendenziell links der Mitte, steht dieser aber deutlich näher als dem linken Lager. Gleiches gilt rechts für die BDP. Am linken Ende der politischen Achse finden sich die SP und die GPS, wobei der Abstand zur Mitte hier 2015 ähnlich gross ist wie beim Counterpart auf der rechten Seite der SVP. Aufschlussreich sind auch hier die zeitlichen Verschiebungen, wobei diese eindeutig zeigen, dass sich nicht nur das Elektorat als Ganzes, sondern spezifisch die Wählerschaften der Polparteien SVP und SP bis zum Juni 2015 hin polarisierter zeigten. Mit den neusten Zahlen reisst diese Entwicklung an beiden Polen ab, denn beide Wählergruppen haben sich in ihrer Selbsteinstufung erstmals wieder weg von ihrem jeweiligen Pol bewegt. Doch auch in der politischen Mitte ist es zu Verschiebungen gekommen, wenn auch zu weniger drastischen. Die CVP-Wählerschaft hat sich mittelfristig leicht weg von der Mitte Richtung rechts bewegt, diese Entwicklung setzte sich aber ab März 2015 nicht mehr weiter fort. FDP-affine WählerInnen haben sich bis 55 zum März 2015 verstärkt der Mitte angenähert, bewegen sich jetzt aber wieder auf dem Ausgangsniveau. Wählerschaften der beiden neueren Angebote aus der politischen Mitte, BDP und GLP, erwiesen sich in ihren Selbsteinschätzungen bisher als relativ stabil. Umso bemerkenswerter sind die jüngsten Entwicklungen der kleinen Mitte-Parteien, die beide einen Rechtsdrall erfahren haben. Grafik 41 3.6.2 Veränderungen Werthaltungen Die neuere Wahlforschung zeigt, dass es zwischenzeitlich WählerInnen gibt, die sich zwar auf der Links/rechts-Achse positionieren, aber keine eindeutige Parteibindung mehr haben. Vielmehr identifizieren sie sich mit Werthaltungen, die sie verwenden, um Kandidierende, mit denen sie diesbezüglich übereinstimmen, auszuwählen. Drei Wertpolaritäten haben deshalb Eingang in unsere Analyse gefunden: Öffnen vs. Verschliessen, Einzel- vs. Gemeinschaftsverantwortung sowie Ökologie vs. Wohlstand. Die stärkste Spaltung finden wir regelmässig, wenn es um die Frage der Öffnung oder Verschliessung der Schweiz geht und sie hat sich über die Zeit verschärft. Die Wählerschaft der SVP vertritt stabil die Position der Verschliessung mit Abstand am stärksten und schert damit aus, denn alle übrigen Wählerschaften platzieren sich mehr oder weniger deutlich auf der Werteseite der Öffnung. Am deutlichsten und auch klar verstärkt gegenüber 2013 gilt dies für die SPWählerschaft, gefolgt von jener der GPS. Auch die Wählerschaften der der GLP, der BDP und der FDP haben sich stärker dem Pol "Öffnung" zugewandt, während sich jene der CVP etwas davon entfernt hat. Der Wandel ist dabei bei er BDP am stärksten ausgeprägt. 56 Grafik 42 Auf der Werteachse zwischen Umweltschutz und Wohlstand steht die Parteiwählerschaft der GPS eindeutig, jene der SP und der GLP tendenziell auf der Seite des Umweltschutzes. WählerInnen der CVP, der BDP, der SVP und besonders deutlich jene der FDP verorten sich näher am Wohlstands-Pol. Interessant ist dabei, dass sich die GPS-Wählerschaft weg vom Pol zu einer gemässigteren Position hin bewegt hat, ebenso jene der GLP. Bewegung lässt sich auch im bürgerlichen Lager feststellen: Die Wählerschaften von CVP und FDP haben sich eher wieder Richtung Priorisierung von Wohlstand bewegt, jene von SVP und BDP eher wieder etwas weg davon. Grafik 43 57 3.6.3 Regierungsvertrauen Grundsätzlich ist das Vertrauen der Wahlberechtigten in den Bundesrat intakt (67% hohes Vertrauen), lautere oder leisere Kritik ist aber bei 32 Prozent auszumachen. Der Trend verläuft insgesamt einheitlich, aktuell aber zum zweiten Mal in Folge zugunsten des Regierungsvertrauens. Grafik 44 Nach Parteiwählerschaften getrennt betrachtet, fällt vor allem eines auf: Teilnahmewillige WählerInnen der SVP urteilen mit Abstand am kritischsten, geben sich aktuell allerdings wieder weniger kritisch, als dies in den ersten beiden Wellen des Wahlbarometers 2015 der Fall war. Die zweitkritischste Gruppe ist jene der WählerInnen ohne feste Parteipräferenz und diese Gruppe bleibt kritischer als sie es noch 2014 war. 58 Grafik 45 Die GPS-Wählerschaft wurde von einem positiven Trend erfasst und bewegt sich wieder näher an den Werten wie sie 2013 und 2014 festgehalten wurden. Die leichte Vertrauenskrise vom Sommer 2015 scheint damit zumindest vorerst überwunden. Das höchste Vertrauen bringen neu die Wählerschaften der BDP und der GLP dem Bundesrat entgegen. Allerdings muss an dieser Stelle angefügt werden, dass just WählerInnen dieser beiden Parteien eher sprunghaft sind in ihren Einschätzungen zum Regierungsvertrauen. Dahinter folgen CVP- und FDP- und SP-WählerInnen. Für die Wählerschaft der FDP ist dabei seit Sommer 2015 ein positiver Trend festzuhalten, jene der SP ist relativ stabil in ihren Urteilen. Die CVP-wählerschaft vertraut der Regierung wieder stärker als das noch im Frühling 2015 der Fall war, zum zweiten Mal in Folge bestätigt sich ein Abreissen des zuvor negativ gerichteten Trends. 3.6.4 Zwischenbilanz Die Links-rechts-Achse ist und bleibt die wichtigste Polarität in der Schweizer Parteienlandschaft. Mit dem Verlauf des Vorwahlkampfes hat die Polarisierung zwischen den Polparteien zugenommen. Die Plätze getauscht haben die GPS und die SP, denn die GPS hat sich mit dem Wahlkampf klarer als linke Partei positioniert. Auch in der politischen Mitte ist es zu Verschiebungen gekommen, denn die Wählerschaften der BDP und der GLP wurden von einem leichten Rechtsdrall erfasst. War bis zur Legislaturmitte tendenziell ein Trend zur Mitte hin auszumachen, weicht dieser insgesamt wieder mehr der Polarisierung der Schweizer Wählerschaft, und zwar mit Schlagseite gegen rechts. Wertemässig fallen die Polarisierungen schwächer aus, einzig die Frage der Öffnung oder Verschliessung der Schweiz spaltet das Elektorat wirklich. Die stärksten Polarisierungen finden zwischen SVP und SP/GPS statt (Öffnung) 59 respektive zwischen FDP und GPS (Wohlstand vs. Ökologie und Staats-/Eigenverantwortung) oder bei der Verantwortungsthematik zwischen SP und BDP. Das Regierungsvertrauen ist vergleichsweise hoch. Vor allem die SVP kann misstrauische BürgerInnen binden, am zweithäufigsten sind diese unter Parteiungebundenen vertreten. 3.7 Dringendste Themen 3.7.1 Medien- und BürgerInnen-Themen Kurz vor dem Erscheinen dieses Berichtes veröffentlichte das Forschungsinstitut fög die erste substanzielle Untersuchung über die Medieninhalten im Wahljahr 2015. Sie wertet Publikationen der Printmedien über die Parteien aus. Demnach sind mit 44 Prozent aller Beiträge nicht die Themen der Parteien das entscheidende, sondern die Strategien und ihre Umsetzung im Wahlkampf. Die Inhalte liegen an zweiter Stelle, mit einem Anteil von 41 Prozent. Es folgen institutionelle Frage zum Parteiensystem mit 8 und Skandal mit 7 Prozent. Beschränkt man sich auf die Themen, stehen Migrationsfragen an der Spitze, gefolgt von Sozialpolitik und Fragen der Infrastruktur. Danach werden Finanz-, Bildungs- und Wirtschaftsfragen gelistet, die noch vor Themen der Sicherheits-, Aussen- und Umweltpolitik rangieren. Betrachtet man nur die Monate Juli und August, haben Migrationsfragen nochmals an Bedeutung gewonnen, und sind aussen/europapolitische und Sicherheitsthemen wichtiger geworden. Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik zeigen genau Gegenteiliges. Grafik 46 Unsere Analyse geht umgekehrt vor. Sie fragen nicht, was die veröffentlichen Meinung publiziert, sondern wie sich die BürgerInnen-Meinungen, speziell der wahlwilligen Personen entwickeln. Da ergeben sich neben Gemeinsamkeiten auch einige auffällige Unterschiede. 60 3.7.2 Themenorientierung der Schweizer Wählerschaft insgesamt und nach Sprachregionen Der Problemdruck im Bereich Migration bleibt ungebrochen hoch, die Migrationsthematik wird auch im August 2015 mit Abstand am häufigsten als dringendstes Problem, das die Schweizer Politik lösen soll, genannt. Zwar wurde die Asylthematik von der SVP als Wahlkampfthema lanciert – personalisiert über Bundesrätin Sommaruga – die Medien aber sind über die Sommermonate aus realpolitischen Begebenheiten auf das Thema aufgesprungen und das dürfte den erneuten Anstieg erklären. Die Flüchtlingsdramen in und rund um Europa bewegen die Menschen und mögen die Themenwelt zu Beginn der Wahlkampfhauptphase dominieren, daneben existieren aber durchaus andere Themen, die in gewissen Untergruppen ähnliche Brisanz erlangen. Nennungen rund um die EU, die Euro-Krise und die Bilateralen beispielsweise auf dem zweiten Rang und Nennungen der AHV sowie der sozialen Sicherheit auf dem dritten. Arbeitslosigkeit und die Umweltproblematik bereiten auf den Rängen vier und fünf immerhin noch rund 10 Prozent der Wahlberechtigten Sorgen, das Gesundheitswesen respektive die Krankenkassen 8 und die Energiewende 6 Prozent. Weiter finden sich die Themen Wirtschaftsentwicklung, Bildungswesen und Familie in den Top-Zehn-Problemen der Schweizer Wahlberechtigten. Grafik 47 Die Top-Fünf der Themen oder die prioritären Themen sind damit erneut durch Fragen der Zuwanderung, der Aussenpolitik, der Abfederung wirtschaftlicher Effekte und der Umwelt geprägt. Das war bereits im Juni der Fall und mit einer Einschränkung auch im April dieses Jahres: Im Vergleich zu den ersten beiden Wellen des Wahlbarometer 2015 bestätigt sich zum zweiten Mal in Folge ein rangmässig höherer Problemdruck rund um Arbeitslosigkeit, wogegen Nennungen des Gesundheitswesens und der Krankenkassen dadurch aus den TopFünf verdrängt wurden. Besonders im Tessin ist dieser Problemdruck zu Arbeitslosigkeit greifbar, denn dieses Problem belegt bei italienischsprachigen Wahlberechtigten bereits den 61 zweiten Rang der dringendsten Probleme. Neu ist dem auch in der Westschweiz so, wobei der Abstand zur erstplatzierten Migrationsthematik in der Romandie klar grösser ist als im Tessin. In der Deutschschweiz dagegen ist Arbeitslosigkeit erst auf dem fünften Rang der dringendsten Probleme zu finden, Umweltsorgen rangieren dort höher. In der Westschweiz hat die Umweltthematik etwas weniger Dringlichkeit, dafür stehen dort Familienfragen relativ weit oben auf der Prioritätenliste. Die Problemwahrnehmung der WestschweizerInnen ist auch wegen der hohen Priorisierung von Fragen sozialer Sicherheit stärker sozialpolitisch geprägt. Das Tessin zeichnet sich auch durch einen höheren Problemdruck im Gesundheitsbereich und in EU-Fragen aus. Beide Probleme lasten im Tessin signifikant häufiger als in der Deutsch- oder in der Westschweiz. Die Deutschschweiz wiederum hebt sich durch eine übermässig starke Betonung der Migrationsthematik von den anderen beiden Sprachregionen ab. Das Mittelfeld der dringendsten Probleme bleibt national von mittelfristig zu lösenden Fragen der Politik bestimmt und erweist sich als relativ stabil: Problemdruck ist hier rund um Krankenkassen, die Energiewende, die Wirtschaftsentwicklung, das Schulwesen und die Familien wahrnehmbar. Tabelle 14 Rangierung Probleme nach Sprachregion Rang National Deutsche Schweiz Französische Schweiz Italienische Schweiz 1 Migration Migration Migration Migration 2 EU & Europa/Bilaterale EU & Europa/Bilaterale Arbeitslosigkeit Arbeitslosigkeit 3 AHV/soziale Sicherheit AHV/soziale Sicherheit AHV/soziale Sicherheit EU & Europa/Bilaterale 4 Arbeitslosigkeit Umwelt EU & Europa/Bilaterale Krankenkassen 5 Umwelt Arbeitslosigkeit Energiewende Umwelt 6 Krankenkassen Krankenkassen Familien AHV/soziale Sicherheit 7 Energiewende Wirtschaftsentwicklung Umwelt Familien 8 Wirtschaftsentwicklung Schulwesen Wirtschaftsentwicklung Wirtschaftsentwicklung 9 Schulwesen Energiewende Krankenkassen Schulwesen 10 Familien Familien Schulwesen Energiewende © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 (N = 2013) 3.7.3 Dynamische Perspektive Die dynamische Perspektive hilft zu erkennen, bei welchen Problemen es sich um strukturelle Phänomene handelt und welche eher situativ zu lesen sind. Die Sommermonate mit intensiver Berichterstattung über die Asylthematik in den Medien haben der Migrations- und Asylthematik nochmals Schub verliehen, der Problemdruck hat sich weiter akzentuiert und bewegt sich mittlerweile auf einem Niveau, wie wir es noch nie festgehalten haben. Unterstrichen wird diese Aussage, wenn man sich die im Rahmen des Wahlbarometer 2011 erhobenen Werte vergegenwärtigt: Die Migrationsthematik rangierte während vier von sechs Wellen des Wahlbarometers 2011 ebenfalls an oberster Stelle, wurde allerdings nie von mehr als 26 Prozent der Stimmberechtigten als dringendstes Problem genannt. 2013 bewegte sich der Wert noch auf diesem Niveau, seither ist er aber deutlich angestiegen. So ist die Migrationsthematik klar als strukturelles Problem der Schweizer Politik zu charakterisieren, sie erfährt allerdings aktuell eine situative Verschärfung aufgrund der Flüchtlingsthematik. Nennungen zur EU als dringendstes Problem der Schweizer Politik sind eher situativ zu lesen. Die EU-Thematik rangierte zwar bereits vor den Wahlen 2011 regelmässig im Mittelfeld dringender Probleme, der Problemdruck hat sich aber seit der Annahme der Masseneinwanderung klar verschärft. Die EU-Thematik 62 bleibt im Wahlbarometer 2015 zum dritten Mal in Folge auf dem zweiten Rang der dringendsten Probleme, das verleiht ihr ebenfalls Züge eines strukturellen Problems. Allerdings ist der Problemdruck zum zweiten Mal in Folge rückläufig, was wiederum eher für eine situative Prägung spricht. Die im August 2015 drittplatzierte Arbeitslosigkeit lastet primär in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz schwer, eine Zunahme an Nennungen ist jedoch nicht festzustellen. Der Rekordwert vom Herbst 2014 war einmalig, Nennungen haben sich seither auf stabilem Niveau halbiert. Stabil hält sich auch die viertplatzierte Umweltthematik, die seit dem Reaktorunfall in Fukushima und dem darauffolgenden politischen Bekenntnis des Landes zur Energiewende einen festen Platz in der Problemlösungshierarchie der schweizerischen Politik einnimmt. Die AHV und soziale Sicherheit sind ähnlich wie die Migrationsthematik als strukturelle Sorge der Schweizer Wahlberechtigten zu beschreiben. Bereits im Wahlbarometer 2011 rangierte das Thema immer in den Top-Fünf und auch etwa im Credit Suisse Sorgenbarometer33 ist das Thema seit Jahren in den Spitzenrängen vertreten. Interessant ist im Vergleich zur Problemlage der Wählerschaft unmittelbar vor den Wahlen 2011 zudem, dass sich Sorgen um die Wirtschaftsentwicklung und Konjunktur deutlich verringert haben und nicht mehr in den Top-Fünf Sorgen vorzufinden sind. Sie wurde von der Perzeption der EU als dringendes Problem der Schweiz verdrängt. Die Vergangenheit lehrt uns, dass die Problemlast eine fluktuative Grösse ist, die von der Tagesaktualität stark mitgeprägt werden kann. Das war im Wahljahr 2011 gerade für die Umweltthematik der Fall, denn die Nennhäufigkeit dieses Themas stieg im Nachgang zur Reaktorkatastrophe in Japan sprunghaft an. Im Wahlbarometer 2015 fanden wir ähnliches rund um die EU-Thematik, wenn auch in klar abgeschwächter Form. Eindeutige Trends finden sich aktuell einzig für die EU-Thematik, wo der Trend Richtung Abschwächung anhält, und die Zuwanderung, wo die jüngsten Zahlen auf eine zusätzliche Verschärfung der Problemlage hinweisen. Grafik 48 Die Problemlage im August 2015 präsentiert sich damit auf nationaler Ebene fast schon Monothematisch durch die Asylfrage geprägt. Gerade auch im Vergleich zu den 2011 erhobenen Werten, verdeutlicht sich die Eindimensionalität der aktuellen Problemwahrnehmung. Daneben bestätigt sie sich als stärker EUorientiert als vor den Wahlen 2011, versehen mit einer nachhallenden Sensibilisierung für Umweltfragen. 33 http://www.gfsbern.ch/de-ch/Detail/credit-suisse-sorgenbarometer-2014 63 Ein gewisser Respekt vor Nachwirkungen des Frankenschocks ist greifbar in der Problemwahrnehmung der Schweizer Wahlberechtigten, beschränkt sich jedoch bisher auf den Arbeitsmarkt und lastet im Tessin und in der Romandie weitaus stärker als in der Deutschschweiz. 3.7.4 Zwischenbilanz Klar dominantes Thema ist und bleibt die Migrationsfrage, und zwar bei allen Parteiwählerschaften. Gerade im linken Wählerumfeld aber auch bei WählerInnen der Mitte-Parteien ist die Problemwahrnehmung in dieser Frage nochmals angestiegen. Bei SVP und der BDP dagegen scheint der Zenit überschritten. Die Asylthematik wurde von der SVP als Wahlkampfthema lanciert, personalisiert über Bundesrätin Sommaruga. Die Medien waren über die Sommermonate auf das Thema aufgesprungen, allerdings eindeutig realpolitisch bedingt: Die Flüchtlingsdramen in und rund um Europa veranlassten zu Schlagzeilen und sie bewegen die Menschen. So mag die Asyl- und Flüchtlingsthematik die Themenwelt zu Beginn der Wahlkampfhauptphase dominieren, daneben existieren aber relevante andere Themen, die ähnliche Brisanz erlangen, nicht zuletzt, weil die Themenhierarchie eine regional unterschiedliche Prägung kennt. Arbeitslosigkeit beispielsweise bereitet, im Tessin aber auch in der Westschweiz, überdurchschnittlich viele Sorgen. Das nationale Muster wird nämlich in den Sprachregionen durchbrochen; im Tessin und in der Westschweiz rangiert die Arbeitslosigkeit höher auf der Problemskala als EU-Fragen. Im Tessin liegt sie gar nur unwesentlich hinter der Migrationsthematik. Zudem stehen weitreichende und umfassende politische Entscheidungen in der Schweiz an, beispielsweise über die Altersvorsorge oder die Energiewende. Beiden Themen misst auch die Schweizer Wählerschaft bereits heute Relevanz bei, denn die prioritären Themen waren im August 2015 auch von solchen der Abfederung wirtschaftlicher Effekte und der Umwelt geprägt. 3.8 Wahrgenommene Themenkompetenzen der Parteien 3.8.1 Profile in den vorrangigen Themen Wie gut sind die Parteien in den zentralen Themen der Wahlberechtigten profiliert? et. Als prioritär werden dabei die ersten fünf von der Gesamtwählerschaft genannten dringendsten Probleme erachtet. Diese Betrachtungsweise erlaubt zunächst eine Zuspitzung des Themenprofils der Parteien und zeigt auf, dass bei der SVP, der SP, der GPS und der FDP klar eines dieser fünf Top-Themen dominiert, während das Themenprofil der übrigen Parteien weniger geschärft ist. Bewertet man die wahrgenommene Kompetenz in den prioritären Themen für jede Partei einzeln, ergibt sich folgendes Bild: SVP: Verfügt über eine Kernkompetenz im Bereich der Migrationspolitik. Es finden sich weiter Kompetenzzuschreibungen bei EU-Themen und Fragen der Arbeitslosigkeit. Nur sehr eingeschränkte Kompetenzzuschreibungen jedoch im rund um soziale Sicherheit und gar keine wenn es Umweltfragen geht. Damit wird die SVP in vier von fünf Top-Themen als mehr oder weniger kompetent erachtet. FDP: Höchste Kompetenzzuschreibung in EU-Fragen. Zudem attestiert man den Liberalen Themenkompetenz, wenn es um soziale Sicherheit geht und 64 eingeschränkt auch rund um Migration und Arbeitslosigkeit. Ebenfalls In vier von fünf Top-Themen vertreten. BDP: Gemessen an den Top-Fünf-Themen wenig geschärftes Themenprofil, am Rande Kompetenzzuschreibungen bei EU-Fragen, ansonsten keine in den Top-Fünf-Themen. CVP: Kompetenzzuschreibungen am ehesten rund um soziale Sicherheit, sehr beschränkt auch zu Migrationsproblematik, EU-Fragen und Arbeitslosigkeit. In vier der fünf Top-Themen vertreten. GLP: Relevante Kompetenzzuschreibungen einzig Umweltfragen, ganz am Rande auch in EU-Fragen und damit präsent in zwei der Top-Fünf-Themen. SP: Kernkompetenzen bei AHV, sozialer Sicherheit und Arbeitslosigkeit, gewisse Kompetenz weiter bei Migration, Europa und am Rande Ökologie. In allen Top-Fünf-Themen vertreten. GPS: Kernkompetenz eindeutig in Umweltfragen, ansonsten geringfügige Kompetenzzuschreibungen Migrationsthematik und damit in zwei der Top-FünfThemen vertreten. Grafik 49 Bemerkung: 2014 wurde die Antwortkategorie "mehrere Parteien gleich" eingefügt, was zuvor auf "keine Partei/alle gleich" zusammengefasst erhoben wurde. Änderungen der Werte bei dieser Kategorie (keine Partei) erklären sich mitunter oder vorwiegend durch diese Änderung am Fragebogen. 3.8.2 Dynamische Perspektive Die dynamischen Entwicklungen der wahrgenommenen Parteikompetenzen zu den fünf prioritären Problemen helfen, die Trends der durchschnittlichen Themenkompetenz inhaltlich zu unterlegen. Beim dringendsten Problem der Schweizer Politik, der Migrationsfrage, sind zwei Umstände augenfällig; die SVP ist die Leaderin, wenn es um die Migrationsthematik geht, allerdings je länger je weniger. Die Themenkompetenz der 65 SVP ist von 2013 auf 2014 deutlich zurückgegangen, hielt sich zwischenzeitlich auf diesem tieferen Niveau, brach jedoch mit der jüngsten Welle weiter ein (-6%-punkte). Die SP konnte sich seit 2013 kontinuierlich stärker profilieren, der Aufwärtstrend nahm jedoch bereits im Juni 2015 ein Ende, so dass sie nun den dritten Rang belegt. Am ehesten könne also die Polparteien mit ihren je unterschiedlichen Lösungsansätzen die Migrationsthematik für sich beanspruchen – jedoch beide je länger je weniger. Denn am zweithäufigsten geben Befragte an, dass sie keiner Partei die Lösung der Problematik zuschreiben und diese Ansicht ist zumindest kurzfristig im Steigen begriffen. Grafik 50 Für Lösungsbeiträge zur EU-Problematik wird am ehesten auf die FDP gesetzt. Der Trend für die FDP wies bereits 2014 auf eine erstarkte Position in EUFragen hin, die im Juni 2015 nochmals ausgebaut und seither konsolidiert werden konnte. Die FDP hat nicht nur der SVP die Themenführerschaft auf diesem Gebiet, wie sie 2013 noch bestand, strittig gemacht, sie hat auch allen anderen Parteien hinter sich gelassen. Konkurrenz droht ihr höchstens von Links, denn die SP hat ihr Formtief von 2014 eindeutig überwunden und rückt der FDP mit den jüngsten Werten auf die Fersen. Die SVP folgt auf dem dritten Rang. Herrscht besonders im Frühjahr und Sommer noch bei relevanten Anteilen Verunsicherung in dieser Frage (weiss nicht), wich diese mit der jüngsten Erhebung einer stärkeren Fokussierung auf die SP und einer Konsolidierung der FDP als die relevanten Parteien, wenn es im weiteren Sinne um die EU geht. 66 Grafik 51 Wenn es um Fragen der sozialen Sicherheit geht, konnte die SP ihren Status als kompetenteste Partei erstmals seit 2013 wieder einnehmen. Der Anstieg im Vergleich zum Juni 2015 ist eindrücklich und verweist darauf, dass der Wahlkampf und damit die thematische Profilierung in vollem Gange sind. Die Zeit der Verunsicherung darüber, wer in AHV-Fragen und sozialer Sicherheit denn nun kompetent sei, scheint fürs erste überwunden. Bemerkenswert ist, dass auch die FDP sich auf diesem Gebiet kontinuierlich zu profilieren vermag. War sie noch 2013 ein Schlusslicht, belegt sie zwischenzeitlich den zweiten Rang, noch vor der überparteilichen Lösung, die im Grunde bei allen Problemen das Mittelfeld bildet. Die Profilierungsbemühungen der SVP hingegen, wie sie sich 2014/2015 bemerkbar machten, sind versandet. Grafik 52 67 Eine Dynamik in der Kompetenzzuschreibung rund um Arbeitslosigkeit erweist sich als nachhaltig – der Abwärtstrend der SVP auf diesem Gebiet. Sprunghaft zeigen sich die Einschätzungen zur SP; aktuell gerade von einem Aufwind erfasst, der sie seit 2014 erstmals wieder an die Spitze katapultiert. Nur unwesentlich hinter der SP liegen allerdings Nennung von keiner Partei und von weiss nicht, was von einer gewissen Verunsicherung in dieser Frage zeugt. Grafik 53 Bilanzieren wir diese Einzelentwicklungen über alle Parteien und die fünf prioritären Themen hinweg, entsteht ein umfassendes Bild zur Themenkompetenz. Angeführt wird diese Liste aktuell von der SP, die ihre verhalten bereits existierende Führung über die Sommermonate hinweg ausbauen konnte. Wie zuvor gezeigt, konnte sie sich kurzfristig besonders in Fragen der sozialen Sicherheit und der Arbeitslosigkeit, beschränkt auch rund um die EU-Problematik profilieren. Auf dem zweiten Rang, gleichauf mit 'keine Partei' kommt die GPS zu liegen, schlichtweg wegen ihrer durchschlagenden Kompetenzzuschreibungen beim Thema Umwelt. Der Trend der Themenkompetenz der GPS steht und fällt allerdings mit der Priorisierung von Umweltfragen. Ist das Umweltthema nicht unter den Top-Fünf-Themen, steht es schlecht um die Beurteilung der Themenkompetenz der GPS (siehe 2014). Ist das Thema Umwelt hingegen prioritär, ist es von der GPS besetzt. Die Problemlösungskompetenz der gesamthaft drittplatzierten SVP wird in den Top-Fünf-Themen mittel- und kurzfristig leicht rückläufig eingestuft. Zwar gehört ihr nach wie vor das Migrationsthema, doch selbst auf diesem Kerngebiet hat sie Einbussen punkto Themenkompetenz zu verbuchen. Weitere Verluste bei den Themen Arbeitslosigkeit und soziale Sicherheit konstituieren den Gesamtrückgang mit. Stabil und verhalten stetig auf dem Weg nach oben findet sich auf dem vierten Rang die FDP. Dieser Aufstieg erklärt sich durch ein breiteres Themenprofil als noch 2013 und durch Gewinne, wenn es um EU-Fragen oder solche der sozialen Sicherheit geht. 68 Grafik 54 Das Mittelfeld wird von der SVP, der FDP und der GPS besetzt, die mit je unterschiedlichen perzipierten Kompetenzen punkten können, davon abgekoppelt bestätigt sich zum zweiten Mal in Folge die CVP. Die GLP hält sich stabil knapp vor der BDP. Unter dem Strich ist damit Bewegung in die Rangfolge der Parteien geraten: Die SP führt das Feld wieder mit Abstand an. Das Mittelfeld ist bestimmt von der GPS zusammen mit den bürgerlichen Parteien, währen die CVP und die neuen Angebote der politischen Mitte die Schlusslichter bilden und somit als wenig thematisch profiliert beschrieben werden können. 3.8.3 Zwischenbilanz Der einsetzende Wahlkampf hat das Parteienprofil verändert hat. Die Migrationsfrage "gehört" nicht mehr ausschliesslich der SVP. Vielmehr wird sie kontroverser beurteilt, mit relevanten Anteilen für ihr politisches Gegenüber, die SP. Damit ist das Profil der SVP nicht mehr auf Migrationsfragen beschränkt, es präsentiert sich breiter und umfasst auch EU-Fragen, soziale und individuelle Sicherheit. Die Themenführerschaft in der Europa-Frage hat die Partei allerdings abgegeben, FDP und SP haben sich an ihrer Stelle profiliert. Generell macht sich langsam aber sicher Wahlkampfstimmung bemerkbar und die Parteien scheinen sich in den Köpfen der Wählerschaft zu positionieren. So deutlich wie nie zuvor wird etwa den Grünen Kompetenz in Umweltfragen zugeschrieben und auch die SP wird von der Wählerschaft wieder präsenter auf ihren Kernthemen wahrgenommen. Die FDP vermag sich verstärkt und breiter zu profilieren, einzig die CVP und die kleinen Mitte-Parteien scheinen davon (noch) nicht erfasst zu sein. 69 3.9 Spezialthema: Energiepolitik Im Rahmen des Wahlbarometers wird für jede Welle ein Spezialthema festgelegt, zu welchem ein paar Vertiefungsfragen gestellt werden. Die Themen ergeben sich aus der politischen Realität des Landes. Für die erste Welle 2015 wurde die Aufhebung der Euro-Untergrenze thematisiert, für die zweite Welle war es antizipierend die Asylfrage und im Rahmen der vorliegenden dritten Welle wird die Schweizer Energiepolitik thematisiert. Im Rahmen der Energiestrategie 2050 wollen Bundesrat und Nationalrat die Schweizer Energieversorgung total umbauen. Dazu gehören der langfristige Atomausstieg und die Reduzierung des CO2-Ausstosses durch Senkung des Verbrauchs von Heizöl, Benzin und Diesel. Grundsätzlich stehen die Schweizer Wahlberechtigen diesem Entscheid optimistisch gegenüber, denn nicht nur pflichten sie mehrheitlich der Aussage bei, dass die Energiewende Jobs in zukunftsträchtigen Branchen schafft (70% eher/ voll einverstanden). Sie stützen ebenso mehrheitlich den Grundsatzentscheid, dass die Schweiz langfristig ihren Strom ohne Atomkraft herstellen soll (69% eher/voll einverstanden). Und sie geben sich mehrheitlich damit einverstanden, die Laufzeit der bestehenden Atomkraftwerke zu beschränken (67% eher/voll einverstanden). Relevante Anteile kritischer Stimmen finden sich allerdings, wenn es um die wirtschaftliche Tragbarkeit dieses Entscheids geht. Gewichtige 43 Prozent der wahlberechtigten Schweizer und Schweizerinnen zweifeln mehr oder weniger stark daran, dass die durch die Energiestrategie entstehende Verteuerung von Strom, Heizöl und Benzin für die Wirtschaft tragbar sei. 50 Prozent und damit die Mehrheit wiedersprechen dem. Wahlberechtigte mit Teilnahmeabsicht an den Wahlen sind allen vier Aussagen gegenüber gleich eingestellt wie die Gesamtheit der Wahlberechtigten, sind jedoch noch deutlicher in ihren Einschätzungen und bejahen den Atomausstieg etwas stärker als die Aussage, die Energiewende schaffe neue Jobs. Grafik 55 Eine zentrale Grösse bei der Beurteilung der vier getesteten Aussagen zur Energiepolitik ist die Parteibindung und es zeigt sich deutlich, dass es sich bei diesen Einschätzungen um hochpolitische Fragen handelt. Kaum umstritten ist das grundsätzliche Bekenntnis zu einem langfristigen Ausstieg aus der Atomkraft. Von links bis rechts im Parteienspektrum erklärt man sich mehrheitlich damit einverstanden, dass die Schweiz ihren Strom langfristig ohne Atomkraft herstellen soll. Mit über 80 Prozent Unterstützung fast schon unangefochten ist diese Ansicht innerhalb der Wählerschaften der GPS, der SP, der GLP und der CVP vertreten. Bei BDP-, FDP- und besonders deutlich SVPaffinen Wählergruppen ist Widerstand zu verorten, er bleibt jedoch minderheitlich. Im Falle der SVP allerdings nur knapp. 70 Grafik 56 Ähnliches gilt für die Aussage, dass die Energiewende neue Jobs in zukunftsträchtigen Branche schaffe: Sie wird zwar von allen Parteiwählerschaften mehrheitlich geteilt, im Umfeld der BDP, der FDP und der SVP bestehen allerdings relevante Zweifel. Grafik 57 Umstrittener ist die Laufzeitbeschränkung bestehender Kraftwerke, denn sie wird von WählerInnen der SVP mehrheitlich abgelehnt (51% eher/überhaupt 71 nicht einverstanden), während sie im linken Parteienspektrum bis hin zur CVP breite Unterstützung geniesst. Im Umfeld der BDP und der FDP sprechen sich zwar Mehrheiten für solche Laufzeitbeschränkungen aus, gegenteilige Stimmen sind aber gewichtig (BDP: 45%, FDP: 35% eher/überhaupt nicht einverstanden). Grafik 58 Noch polarisierter präsentiert sich das Meinungsbild, wenn es um die Wirtschaftsverträglichkeit der Energiewende respektive der dadurch entstehenden Verteuerung von Strom, Heizöl und Benzin geht. Zweifel an der Wirtschaftsverträglichkeit der Energiewende bestehen zwar auch in linken Wählersegmenten, sind aber eindeutig in der Minderheit. Im Umfeld der GPS äussern 18 Prozent solche, im Umfeld der SP sind es immerhin 28 Prozent und bei der GLP 17 Prozent. Bereits im Umfeld der CVP erreichen sie mit 40 Prozent ein nicht vernachlässigbares Niveau und mutieren dann im bürgerlichen Lager definitiv zur Mehrheitsmeinung. 52 Prozent der BDPWählerschaft, 53 Prozent jener der FDP und 57 Prozent der SVP sind einverstanden damit, dass die Verteuerungen von Strom, Heizöl und Benzin nicht tragbar sind für die Schweizer Wirtschaft. Parteiungebundene stellen sich in dieser Frage ebenfalls auf die Seite der bürgerlichen und rechten Parteien und damit gegen die Mehrheitsmeinung. 72 Grafik 59 Kurz noch ein paar Worte zu anderen relevanten Spaltungen. Mit dem Ausstieg an und für sich zeigt sich keine einzige Untergruppe nicht mehrheitlich einverstanden, in dieser Frage finden sich höchstens graduelle Unterschiede der Unterstützung. Dasselbe gilt für die zukunftsträchtigen Jobs und auch für die Laufzeitbeschränkung. Polarisiert ist lediglich die Frage der Wirtschaftsverträglichkeit und auch diese nur beschränkt. Differenzen bestehen in den Sprachregionen: Die Mehrheitsmeinung wird durch die deutschsprachige Schweiz bestimmt, wo 56 Prozent nicht an der Wirtschaftsverträglichkeit der Energiewenden zweifeln. Anders in der französischsprachigen Schweiz und im Tessin, wo Mehrheiten angeben, die Energiewende respektive die dadurch entstehenden Verteuerungen seien nicht tragbar für die Wirtschaft (FCH: 46% (relative Mehrheit), ICH: 56% eher/ voll einverstanden). 3.9.1 Zwischenbilanz Einiges spricht dafür, dass die Energiestrategie 2050 aus Sicht der Stimmberechtigten die richtige Stossrichtung hat. Klare Mehrheiten bekennen sich zum langfristigen Atomausstieg der Schweiz und sehen gar Potenzial in Form von zukunftsträchtigen Jobs, die durch die Energiewende geschaffen werden sollen. Geht es allerdings um die Laufzeitbeschränkung bestehender Kraftwerke, erhalten die Meinungen eine klar politische Prägung: Gegen rechts nimmt der Widerstand gegenüber dieser Massnahme zu, jedoch stellt sich einzig die BDPWählerschaft mehrheitlich gegen Laufzeitbeschränkungen. Auch die Frage der Wirtschaftsverträglichkeit spaltet die politischen Lager: Links bis hin zum CVPund GLP-affinen Elektorat glaubt man klar daran, rechts dagegen finden sich relevante und mehrheitliche Zweifel. So sind Fragen der Energiepolitik in der Schweiz eindeutig parteipolitisch geprägt und sie werden im Falle der Wirtschaftsverträglichkeit der Energiewende auch regional unterschiedlich gelesen: den optimistischen Mainstream bestimmt die Deutschschweiz, eher pessimistisch fallen Äusserungen der TessinerInnen und der französischsprachigen Wahlberechtigten aus. 73 3.10 Parteipräsidenten 3.10.1 Medienpräsenz und Glaubwürdigkeit Fragen der Glaubwürdigkeit von PolitikerInnen spielen im Wahlkampf 2015 eine besondere Rolle. Namentlich die Debatte über das Lobbying ist medial zu einem vorrangigen Thema geworden. Besondere Aufmerksamkeit geniessen darüber hinaus ParteipräsidentInnen, werden sie medial doch gerne allein verantwortlich gemacht für das Auf und Ab einer Partei. Systematische Untersuchungen zeigen, dass Parteipräsidenten nach den Bundesräten vorrangige Vertreter von Parteien sind. Dabei haben Vertreter des Zentrums eine erhöhte Wahrscheinlichkeit genannt zu werden. Generell gilt, wer häufiger kommt, wird auch mehr geschätzt. Eine Auswertung im laufenden Wahlkampf zeigt, dass Christoph Darbellay und Philipp Müller die grössten Medienliebling sind, gefolgt von Christian Levrat und Toni Brunner.34 Grafik 60 Quelle: www.20minuten.ch Am häufigsten zitierte PolitikerInnen neben Mitgliedern des Bundesrates und Parteipräsidenten sind solche, die ein auffälliges Eigenprofil haben. Oskar Freysinger von der SVP ist einer davon, aber auch Christoph Mörgeli und Thomas Minder gehören dazu. 3.10.2 Glaubwürdigkeit der ParteipräsidentInnen nach Aussen Die höchste Glaubwürdigkeit bei den Wahlberechtigten insgesamt erlangt im August 2015 der CVP-Parteipräsident Christophe Darbellay (49%), gefolgt von Christian Levrat (49%). Auf den Rängen drei und vier folgen Philipp Müller (45%) und Toni Brunner (41%), wobei beim SVP-Parteipräsidenten am deutlichsten auch Misstrauensvoten im Raum stehen. Knapp mehr als ein Drittel der Schweizer Wählerschaft attestiert Toni Brunner Unglaubwürdigkeit, den nächsthöchsten Vergleichswert erreicht Christian Levrat. Mit 15 Prozent Un34 http://www.20min.ch/schweiz/news/story/10077938 74 glaubwürdigkeit bewegt er sich aber auf einem anderen Niveau. Auf dem letzten Rang der Glaubwürdigkeitsskala ist das Grüne Co-Präsidium zu finden. Bei diesem wird die Glaubwürdigkeit zwar nicht grundlegend in Frage gestellt, es mangelt vielmehr an Bekanntheit der beiden Präsidentinnen. Hauptgrund für die Bekanntheit von ParteipräsidentInnen ist die Amtsdauer. Deshalb sind die Werte für das Präsidium der GPS und der FDP tiefer. Dasselbe gilt augenscheinlich auch für die beiden Parteipräsidenten der neuen Mitte-Parteien GLP und BDP. Martin Landolt und Martin Bäumle bewegen sich mit Anteilen 35 respektive 36 Prozent der Wahlberechtigten, die sie nicht kennen auf ähnlichem Niveau wie das GPS-Präsidium (39%). Punkto Glaubwürdigkeit schneiden sie allerdings leicht besser ab, denn Martin Landolt und Martin Bäumle sind für je 29 Prozent der Befragten glaubwürdig. Grafik 61 Für die Trendbetrachtung verwenden wir Mittelwerte, was zu Folge hat, dass nur noch Wertungen der Glaubwürdigkeit und nicht mehr Bekanntheitswerte berücksichtigt werden. Dadurch verändert sich die Rangfolge leicht. In der dynamischen Perspektive zeigt sich, dass für zwei Parteipräsidenten klare Trends festgehalten werden können: Philipp Müller und Christian Levrat gelang gegenüber den 2014 erhobenen Werten eine kontinuierliche Steigerung ihrer Glaubwürdigkeit. Im Fall von Philipp Müller führte das dazu, dass er sich von Christophe Darbellay abheben konnte, Christian Levrat dagegen hat sich ihm angenähert. Erstmals liegen mit der aktuellen Welle des Wahlbarometers Christian Levrat und der stabile Christophe Darbellay gleichauf auf dem zweiten Rang. Beide Präsidenten neuen politischen Mitteparteien haben gegenüber der zweiten Welle leicht an Glaubwürdigkeit eingebüsst. Da wir jedoch für Martin Landolt und Martin Bäumle lediglich über zwei Messpunkte verfügen, bleibt die nächste Welle abzuwarten, um zu wissen, ob dieser Trend nachhaltig ist. So oder so, halten sich Martin Bäumle und Martin Landolt auf den Rängen vier und fünf und haben hierarchisch betrachtet nicht eingebüsst. Dicht dahinter folgt das GPS-Co-Präsidium, das seit Anfang 2015 von einem Aufwärtstrend erfasst wurde und sich zwischenzeitlich wieder auf dem Ausgangswert von 2014 landet. Das Schlusslicht bildet wie bisher Toni Brunner, der kurzfristig erstmals wieder verliert und das am deutlichsten von allen Parteipräsidenten. 75 Grafik 62 Die erzielten Glaubwürdigkeitswerte der ParteipräsidentInnen ausserhalb ihrer eigenen Wählerschaft, geben Aufschluss darüber, wie weit die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Person über das eigene Lager hinausreicht. Untenstehende Tabelle fasst die Kennzahlen hierzu zusammen. Die höchste Glaubwürdigkeit erlangen alle ParteipräsidentInnen innerhalb der Sympathisierenden ihrer jeweiligen Partei, was nicht überrascht. Am weitesten über die eigene Wählerschaft hinaus verankert sind und bleiben Christophe Darbellay und Christian Levrat, was ihr gutes Abschneiden insgesamt erklärt. Immer mehr überzeugt auch Philipp Müller andere Wählergruppen als seine eigene, allen übrigen Parteipräsidenten und Parteipräsidentinnen gelingt das nicht. Tabelle 15 Akzeptanz der Parteipräsidenten in Zielgruppen (in % glaubwürdig) Präsident Total eigene Partei gesicherte Mehrheit in anderen Parteien C. Darbellay (CVP) 49 84 SP (62), GLP (52), BDP (63) C. Levrat (SP) 49 80 GPS (64), GLP (62), CVP (63), BDP (59) P. Müller (FDP) 45 70 GLP (50), CVP (56), BDP (57), SVP (54) T. Brunner (SVP) 41 81 - M. Landolt (BDP) 29 60 - M. Bäumle (GLP) 29 65 - A. Thorens/R. Rytz (GPS) 24 47 - © SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 (N = 2013) Alle übrigen Parteipräsidien haben weniger Strahlkraft über das eigene Elektorat hinaus. Schwächen der Präsidien der neuen Mitte-Parteien BDP und GLP aber auch bei jenem der GPS sind jedoch eher rund um den geringen Bekanntheitsgrad der PräsidentInnen zu verorten, denn ihre Glaubwürdigkeit ist grundsätzlich intakt. 76 3.10.3 Sprachregionale Eigenheiten Nach Sprachregionen aufgeschlüsselt zeigt sich, dass die Parteipräsidenten unterschiedlich beurteilt werden. Für die Romands sind die beiden Westschweizer Parteipräsidenten die glaubwürdigsten, gefolgt von Philipp Müller und dem GPS-Präsidium. Toni Brunner belegt hier den letzten Rang. Im Tessin führt Philipp Müller die Rangliste knapp vor Christophe Darbellay und dem GPS-Präsidium an. Das GPS-Co-Präsidium schneidet im Tessin deutlich besser ab als in den anderen beiden Sprachregionen und konnte sich dabei auch steigern. Den letzten Platz belegt auch hier Toni Brunner. In der Deutschschweiz führt Philipp Müller die Liste mit Abstand an. Hinter ihm folgt neu Christian Levrat auf dem zweiten Rang. Er hat den drittplatzierten Christophe Darbellay damit knapp überholt. Die Präsidenten der BDP und GLP teilen sich den dritten Rang gefolgt von Regula Rytz auf dem vierten. Toni Brunner folgt als letzter. Grafik 63 Bemerkenswert ist, dass die TessinerInnen mit Ausnahme von Christian Levrat bei allen ParteipräsidentInnen die besten Urteile abgeben. 77 3.10.4 Glaubwürdigkeit der ParteipräsidentInnen nach Innen Deutlich anders präsentiert sich das Bild, werden nur die Angaben der jeweiligen Parteiwählerschaften zu ihren Parteipräsidenten berücksichtigt: Zwar schneidet auch so betrachtet, Christophe Darbellay mit 84 Prozent Glaubwürdigkeit am besten ab, direkt hinter ihm folgt jedoch auf dem zweiten Rang Toni Brunner (81%) knapp vor Christian Levrat (80%). Somit ist das SVP-Elektorat dem eigenen Parteipräsidenten weitaus wohlwollender gesinnt als die Gesamtheit der Wahlberechtigten. Christian Levrat und Christophe Darbellay schneiden in beiden Betrachtungsweisen gut ab, denn sie gelten für klare Mehrheiten ihrer Wählerschaft als glaubwürdig und für das weitere Elektorat zumindest relativmehrheitlich. Die Bekanntheitsschwächen der Parteispitzen von FDP und BDP sind weniger verbreitet als jene der ökologischen Parteien, denn innerhalb des eigenen Elektorates sind Philipp Müller und Martin Landolt bekannt und werden auch weitgehend als glaubwürdig wahrgenommen (70% resp. 60%). Die Bekanntheitsschwächen der Parteispitzen der GLP und der GPS bestätigen sich allerdings selbst innerhalb der eigenen Wählerschaft bei Anteilen plus minus einem Viertel, die Glaubwürdigkeit ist aber für beide Parteispitzen in den Augen ihrer WählerInnen intakt. Relativierend muss festgehalten werden, dass die Anteile 'kenne Person nicht' bei allen amtsjüngeren Parteipräsidien im abnehmen begriffen sind. Grafik 64 Die Glaubwürdigkeitswerte unterliegen innerhalb der eigenen Parteiwählerschaft stärkeren Fluktuationen als in der Gesamtheit der Schweizer Wählerschaft. Sieht man von der Bekanntheit ab, schneidet Martin Landolt innerhalb der eignen Wählerschaft am besten ab. Er hat im Vergleich zum Juni 2015 mächtig zugelegt, und zwar in demselben Ausmass (+0.7) wie Martin Bäumle, der aktuell zusammen mit Toni Brunner den dritten Rang der innerparteilichen Glaubwürdigkeit belegt. Der zweite Rang gehört dem stabilen Präsidenten der SP. 78 Grafik 65 Eindrücklich war die bisherige Entwicklung der Glaubwürdigkeitseinschätzungen des Parteipräsidenten der FDP: Innerhalb seiner eigenen Wählerschaft konnte er diese klar ausbauen. Der bisherige, steile Aufwärtstrend riss mit den jüngsten Zahlen allerdings erstmals ab. Die Beurteilungen von Christophe Darbellay dagegen erholen sich nach einem kurzfristigen Tief im Juni 2015 wieder. Er landet gleichauf mit Philipp Müller auf dem vierten Rang. Davor führte er das Feld allerdings zwischenzeitlich an und muss daher eher zu den Verlierern gezählt werden. Dasselbe muss für das Grüne Co-Präsidium festgehalten werden. Seit dem Frühjahr 2015 folgen die Glaubwürdigkeitswerte der beiden Frauen einem deutlichen Abwärtstrend, davor führten sie das Feld zweimal in Folge an. 3.10.5 Zwischenbilanz ParteipräsidentInnen sind vor allem nach innen wichtig. Bei Polparteien ist das noch verstärkt der Fall, in der Mitte etwas erschwert. Dennoch gilt: Alle drei Parteipräsidenten, die bis 2008 in ihr Amt gewählt wurden, kennen innerparteilich eine breite Abstützung. Bei ParteipräsidentInnen, die erst kurze Zeit im Amt sind, liegen die Werte für die Unterstützung in der Partei tiefer. Das hat seinen Grund weniger in einer grösseren Opposition als in einer geringeren Bekanntheit. Nach innen konnten sich jene Parteipräsidenten am besten profilieren, die nach aussen verloren haben. Das gilt zumindest für Martin Bäumle und Martin Landolt. Toni Brunner nämlich verliert nach innen und nach aussen an Glaubwürdigkeit. Das GPS-Präsidium steigert sich nach aussen, verliert aber gegen Innen. Der SP-Präsident konnte seine Glaubwürdigkeit nach Aussen festigen, bei der eigenen Wählerschaft hält er sich stabil. Philipp Müller gelang die Profilierung punkto Glaubwürdigkeit nach innen und nach aussen. Christoph Darbellay hält sich nach aussen stabil, bei der eigenen Wählerschaft aber schwanken die Werte. Ein überparteiliches Glaubwürdigkeitsprofil haben Christophe Darbellay, Christian Levrat und zwischenzeitlich auch Philipp Müller. Toni Brunner polarisiert bei den meisten anderen Wählerschaften zu stark. Die Co-Präsidentinnen der GPS sowie die Präsidenten der GLP und der BDP sind nach aussen wenig bekannt. 79 3.11 Bester Wahlkampf Medieninhaltsanalysen bestätigen es regelmässig: Massenmedien berichten kritisch über Wahlkämpfe. Das gilt auch diesmal. Nur über die Strategien und die Kampagne der FDP wird mehrheitlich Positives geschrieben. Aussagen zu den Kampagnen der SP und CVP sind insgesamt neutral. Derweil sind Darstellungen zur GPS, GLP, BDP und SVP mehrheitlich negativ. Grafik 66 3.11.1 Bewertungen der Wahlwilligen Das Ende der Sommerferien in der Schweiz kann als Startschuss für die eigentliche Hauptwahlkampfphase angesehen werden. Die Parteien sind zwischenzeitlich personell, thematisch und organisatorisch aufgestellt und damit in den Startlöchern für die Endphase. Wer macht aus Sicht der Wahlberechtigten den besten und wer den zweitbesten Wahlkampf? Diese Frage stellt sich am Ende der Analysen zum Stand der Meinungsbildung. Trotz sich langsam breitmachender Wahlkampfstimmung antworten nach wie vor die meisten Befragten mit "weiss nicht" auf die Frage nach dem besten Wahlkampf. Erst dahinter folgt die SVP, die aus Sicht von 23 Prozent der Wahlberechtigten den besten Wahlkampf betreibt. Dahinter folgt die FDP gleichauf mit Nennungen keiner Partei (13%). Die SP macht für sieben Prozent den besten Wahlkampf, die CVP für 3 Prozent und die GPS für zwei Prozent. Die GLP und die BDP scheinen neben den grösseren Parteien etwas unterzugehen und werden nur selten bis gar nicht genannt (BDP: 0%, GLP: 1%). In der dynamischen Perspektive zeigt sich, dass die SVP gegenüber den 2014 erhobenen Werten etwas eingebüsst hat, die FDP dagegen eher gewonnen und die CVP kurzfristig leicht verloren hat. Alle anderen Parteien werden stabil eingeschätzt. 80 Grafik 67 In zweiter Linie wird häufigsten die FDP genannt, gefolgt von der SVP und SP. Während aber die FDP auch in der Frage nach dem zweitbesten Wahlkampf tendenziell Boden gutmacht und der SVP gleiches gelingt, verliert die SP tendenziell. Das gilt auch für die viertplatzierte CVP. Die kleineren Parteien halten sich auf den hinteren Rängen stabil. Grafik 68 81 3.11.2 Sprachregionale Eigenheiten Die Bewertungen der Wahlkämpfe fallen in den Sprachregionen weiterhin signifikant unterschiedlich aus, die Verhältnisse gleichen sich aber immer mehr an. In der Deutschschweiz wird der Wahlkampf der SVP mit Abstand als bester bewertet, gefolgt von jenem der FDP und der SP. Französischsprachige Wahlberechtigte mit fester Teilnahmeabsicht votieren ebenfalls am häufigsten zugunsten des SVP-Wahlkampfes, Rang zwei gehört neu auch dort der FDP, die damit die SP hinter sich gelassen hat. Im Tessin punktet primär die Lega mit ihrem Wahlkampf, denn als besten Wahlkampf beschreiben TessinerInnen jenen der "anderen Parteien", gefolgt von jenem der SVP und der FDP. Teilte sich die FDP diesen dritten Rang noch im Juni mit der CVP, hat die FDP diese zwischenzeitlich hinter sich gelassen und ist damit in allen drei Sprachregionen mit ihrem Wahlkampf angekommen. Grafik 69 82 3.11.3 Wirkungen auf die Parteiwählerschaften Selbstredend ist, dass die meisten Parteiwählerschaften den Wahlkampf ihrer eigenen Partei als besten oder aber wenigstens zweitbesten bezeichnen. Das ist bei 61 Prozent der SVP-Wählenden so, bei 44 Prozent der FDP-Wählenden, bei 22 Prozent der CVP-Wählenden, bei 30 Prozent der SP-Wählenden und bei 22 Prozent der GPS-Wählenden. Einzig bei den BDP- und GLP-Wählenden liegt der Wahlkampf der eignen Partei nicht zuvorderst. Bei der BDP finden 14 Prozent die FDP sei Spitze und 9 Prozent geben die eigene Partei an. GLPWählende befinden die Wahlkämpfe der SVP (28%) und der FDP (11%) für besser als den eigenen (8%). Grafik 70 Die Trendbetrachtung der addierten Nennungen des besten und des zweitbesten Wahlkampfes legt nahe, dass die Wählerschaften der SVP und der FDP bereits früh von den Wahlkampfaktivitäten ihrer jeweiligen Partei überzeugt gewesen sind, denn es findet sich nur wenig Bewegung in deren Einschätzungen. Die SVP hat sich aus Sicht ihrer WählerInnen mit den jüngsten erhobenen Werten leicht gesteigert, die FPD hat verglichen mit März 2015 minim an Schwung eingebüsst. Das gilt auch für die SP, während die Werte der CVP schwanken. Nach einem Hoch im Juni 2015 überzeugt der CVP-Wahlkampf die eigene Wählerschaft aktuell weniger. Ganz ähnlich sieht die Situation bei der GPS aus, wobei hier noch nie eine Mehrheit gefunden werden konnte, die den eigenen Wahlkampf als den besten beschreibt. Der jüngste gemessene Wert entspricht jedoch dem tiefsten, der seit Anfang 2015 gemessenen Werte. Imposant ist die Entwicklung der BDP, die aus Sicht ihrer Wählerschaft eindeutig in Fahrt gekommen ist und sich vom Schlussrang ins Mittelfeld entwickelt hat. Die Werte der GLP schwanken stark. Im Juni 2016 schien sie aus Sicht ihrer WählerInnen von einem Formtief erfasst gewesen zu sein, das sie aber überwunden zu haben scheint. 83 Grafik 71 3.11.4 Zwischenbilanz Für die Wahlberechtigten macht die SVP den besten Wahlkampf, gefolgt von FDP und SP. Während kurzfristig alle Parteien ausser der BDP kleinere Einbussen zu verzeichnen haben, gilt gerade das Gegenteil für die FDP. Die Wahlberechtigten SchweizerInnen schätzen den FDP-Wahlkampf als einzigen besser ein, als noch im Juni 2015. Diese Partei scheint damit definitiv vom Wahlkampf erfasst und konnte diesen Eindruck auch wirksam transportieren. Sie bleibt aber trotz Aufwind hinter der SVP zurück. Selbstredend beurteilen alle Parteiwählerschaften den eigenen Wahlkampf besser als den anderer Parteien. Nur bei der BDP und der GLP ist das nicht der Fall. BDP-Wählende orientieren sich eher am Wahlkampf der FDP-, GLPWählende an jenem der SVP. Aus Sicht der eigenen Wählerschaft allerdings macht die BDP mit ihrem Wahlkampf eindeutig Boden gut und er wird häufig als der zweitbeste genannt. Das ist bei der GLP weniger der Fall. 84 4 Was sich auf die Wahlabsichten auswirkt 4.1 Übersicht über die Wirkungsfaktoren Ausgangspunkt des letzten Analysekapitels ist kein Ergebnis, sondern ein Modell. Dieses wurde in der Wahlforschung entwickelt, um die Hintergründe von Parteien systematisch untersuchen zu können. Bekannt ist es als Trichtermodell von Russell J. Dalton, das verschiedene theoretische Zugänge kombiniert. Empirische Studien hierzu kann man in zwei Kategorien teilen: solche, die explizit mit der Parteibindung arbeiten und solche, die das nur implizit machen. Wenn man Wahlabsichten unter anderem mit der Parteibindung erklären will, rangiert diese stets an erster Stelle. Das hat entsprechenden Studien auch den Vorwurf eingetragen, tautologisch zu sein. Denn Parteibindungen beeinflussen Wahlabsichten und Wahlabsichten beeinflussen Parteibindungen. Entsprechend verzichten wir im Wahlbarometer darauf, und messen Parteibindungen nur implizit mit Grundhaltungen zu Parteien. Für die Analyse von Schweizer Wahlen haben wir das allgemeine Modell weiter adaptiert. Untenstehende Grafik gibt die Übersicht. Unser Bericht wurde entsprechend aufgebaut. Zuerst haben wir das beabsichtigte Wahlverhalten als Teilnahme- und Entscheidungsabsicht beschrieben, dann das soziologische Profil der Parteien, die relevanten Prädispositionen, die Themen- und Personenorientierung und zu guter Letzt den bisherigen Wahlkampf. Grafik 72 Neues Wahlmodell gfs.bern Sozial-psychologische Modelle Rational Choice Modelle Kampagne Links/Rechts-Position Kandidaten-orientierung Werthaltungen Taktik, Macht-überlegungen Themen-orientierung Wahlkampf, Ereignisse, Image WahlVerhalten Regierungs-vertrauen © gfs.bern Statistisch gesehen lassen sich die Zusammenhänge formalisieren. Eingesetzt wird hierfür die multivariate Regressionsanalyse, welche die Zusammenhänge zwischen einer abhängigen Variable (Parteistärke) und einer Reihe unabhängiger gleichzeitig bestimmt. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, dass die 85 Einflüsse gleichzeitig geschätzt werden, das heisst denkbare Mehrfacheinflüsse gegeneinander abgegrenzt werden. Die Übersicht der Befunde findet sich in der nachfolgenden Tabelle, die sich wie folgt liest: In der ersten Spalte sind die Indikatoren, die in die Analyse miteinbezogen worden sind, in den Spalten danach folgen die Angaben zur Wichtigkeit für die Parteien. Wenn in einer Parteispalte nichts steht, heisst das, der Indikator trägt nichts Eigenständiges zur Klärung der Parteiwahl bei. Um nicht missverstanden zu werden: Das heisst nicht, dass es keinen Zusammenhang gibt, sondern nur, dass der Zusammenhang durch einen der anderen Indikatoren gleich gut oder besser erklärt wird. Wenn also etwas steht, handelt es sich um Einflussgrössen, die bei der Partei wirken, und zwar in der Reihenfolge wie sie mit Nummern aufgeführt sind. Die finale Information findet sich in der untersten Zeile. Demnach können wir die Wahl der SVP am besten erklären. 66 Prozent der Entscheidungen lassen sich mit einem der 17 aufgeführten Indikatoren statistisch signifikant herleiten. Das Modell funktioniert auch bei der SP recht gut. Hier können wir 49 Prozent der Wahlentscheidungen erklären. Bei der GPS kommen wir auf 48 Prozent. Geringer sind die Effekte bei den anderen Parteien. Die FDP liegt dabei mit 29 Prozent noch vorne, die GLP und die BDP mit 18 Prozent ganz hinten. Modifikationen am Modell speziell für kleine Parteien im Zentrum helfen zwar, die Güte zu verbessern; die Erklärungskraft bleibt aber klar unterdurchschnittlich. Wenn unser Modell nicht vollständig ist, hat das mit weiteren parteispezifischen Faktoren zu tun, die wir in der Übersicht nicht untersuchen können. Dazu zählen kantonale Eigenheiten, aber auch die Bindung an KandidatInnen, die wir hier nicht untersuchen können. Immerhin, alles was über 0.3 ist, gilt bei Repräsentativ-Befragungen mit über 1000 Teilnehmenden als gut. 4.2 Ergebnisse zu den Wirkungsfaktoren nach Parteien SVP-Wahl: Wer SVP wählen will, macht das am wahrscheinlichsten wegen des Programms. Das überrascht so weit nicht, denn die Partei beherrscht wie keine andere, die kommenden Probleme zu thematisieren und entsprechende Forderungen zu stellen. Allerdings, die SVP darf aufgrund der Wählerpräferenzen nicht auf ein Thema reduziert werden. Migrationsfragen sind ihr Kerngebiet mit Ausstrahlung, zeigen aber verschiedenste Schattierungen. In unserer jüngsten Erhebung kommt die etwas umfassendere Sicht auf die Partei darin zum Ausdruck, dass die zugeschriebenen Themenkompetenzen in der Sozialpolitik, zur Wirtschaftsentwicklung sowie in der Europa- und der Migrationsfrage für Teile der aktuell denkbaren Wählerschaft entscheidend sind. Zweiter Faktor, der zur Wahl der SVP beiträgt, ist der Wahlkampf. Dieser zeichnet sich in aller Regel dadurch aus, dass er nicht trennscharf beginnt und endet, vielmehr ein langgezogenes Campaigning bevorzugt wird, das sich je nach Umständen einem neuen Thema annimmt. Dieses wirkt, weil es positive Meinungen zur Partei langfristig aufzubauen hilft, bei bestimmten Zielgruppen im Umfeld von Wahlen punktuelle Bezüge zur Partei zu einer Wahlabsicht formiert und Abwanderungen an andere Parteien meist nur gering vorkommen. Das gilt auch diesmal, wie die Potenzialschätzungen und die Mobilisierungsfähigkeit beweisen, denn die Partei kennt in beiderlei Hinsicht Spitzenwerte. Im Vorfeld dieser Befragung spitzte die Partei das geschickt auf zwei Fragen zu, nämlich auf Fragen des Asylwesens und der Bundesratsvertretung. Möglich wurde das nur, weil sich die Partei langfristig neu ausgerichtet und positioniert hat. Unsere Analyse zeigt, dass sich die SVP mit ihrer klaren Position im rechten politischen Spektrum empfehlen kann. Die Frage nach der Abkapselung ist diesmal nicht signifikant; sie kommt aber im starken Misstrauen gegenüber dem Bundesrat indirekt zum Ausdruck. In diesem Kontext sind auch Personenfragen von Be86 lang, speziell am Beispiel der Identifikation mit dem Parteipräsidenten. Angesichts dieses geschärften Profils kann die SVP 2015 mit Stimmengewinnen rechnen. FDP-Wahl: Auch bei der FDP ist das Programm von Bedeutung. Dabei geht es weniger um eine umfassende liberale Sicht, vielmehr um einige Positionen. Die Kritik an der Energiewende zählt hierzu, aber auch die Sorge um die Wirtschaftsentwicklung und Positionen in der Migrationsfrage. Werte spielen bei der FDP eine beschränkte Rolle. Sie kann am klarsten materialistische Präferenz in der Wählerschaft abholen und sich damit als Partei des klassischen Erfolgsmodells der Schweiz profilieren. Gleich bedeutsam wie die Themen und Werte ist bei der FDP, dass die gute Stimmung nach Innen zurückgekehrt ist. Weltanschaulich kann sich die FDP mit ihrer rechtsliberalen Position empfehlen, aber auch mit ihrer grundsätzlich positiven Auffassung des Staates. Anders als in vielen journalistischen Artikeln zeigte unsere Untersuchung diesmal keinen spezifischen Effekt durch den neuen Parteipräsidenten. Im Vergleich zu früheren Analysen dieser Art fällt auf, dass die Themenprofilierung der Partei genützt hat und dass sie gelernt hat, nach Innen positiv zu wirken. Beides hat die Ausgangslage für die Wahlen 2015 verbessert. Wie wir bei der Mobilisierungsfähigkeit betont haben, wäre sogar einiges mehr möglich. SP-Wahl: Bei der SP entscheidet zunächst ebenso das Programm. Im aktuellen Kontext kann sich die Partei mit wirtschafts- und sozialpolitischen Aussagen von den anderen Parteien abgrenzen. Steuerfragen, welche die SP mit ihrer jüngsten Initiative thematisieren wollte, spielen aber keine eigenständige Rolle. Vielmehr kann sie am Rand mit ihren Positionen in der Migrationspolitik punkten. Im Vergleich zu früheren Untersuchungen kommt diesmal das "Sozialdemokratische" im Programm wieder besser zum Ausdruck. Denn die Umwelt und Energiepolitik der SP ist für den Wahlentscheid nicht entscheidend. Es folgen der Wahlkampf, die weltanschauliche Positionierung und der Parteipräsident als weitere Determinanten der Wahlentscheidung. Speziell erwähnt sei, dass hier die Öffnung gegenüber dem Ausland als Wert von Bedeutung bleibt, während spezifische Aussagen in EU-Fragen keine Wirkungen mehr erzielen. Mit diesem Profil kann die SP nicht mit Sicherheit auf WählerInnen-Gewinne zählen; sie kann aber ihre Position im Parteienspektrum halten. CVP-Wahl: Die Struktur der Bestimmungsgründe bei der CVP geht ebenfalls vom Programm aus. Nach Innen wirken die Positionen in Fragen der Bilateralen, der Arbeitsbeschaffung, der Migration und der Familie. Die verlorene Volksabstimmung im Frühling des Wahljahres tut dem bei der eigenen Wählerschaft keinen Abbruch. Es folgen die Stimmung im Wahlkampf, die gut ist, und das Image des Parteipräsidenten. Neu ist, dass sich die CVP nicht nur aufgrund ihrer Mitte-Position empfehlen kann, sondern auch mit einem bürgerlichen Profil. Anders als in der Parlamentsarbeit ist die vermittelnde Rolle, etwa bei der Energiewende, in der Wählerschaft nicht von entscheidender Bedeutung. Mit dem so gefestigten Profil kann die Partei aber nicht neue WählerInnen gewinnen, im besten Fall die bestehenden halten. GPS-Wahl: Die GPS wird gewählt, weil sie Ökologie und Soziales verbindet. Geschätzt wird ihre Sozial-, Energie- und Umweltpolitik. Dabei sind heute die konkreten Aussagen wichtiger als die damit verbundenen Werte. Hinzu kommen der Wahlkampf, die linke Position und das Parteipräsidium. Anders als bei der SP sind Wirtschaftsfragen weniger wichtig, und auch die Öffnungspolitik zieht hier nicht im gleichen Masse. Hier gilt, wie bei der CVP: Halten der bisherigen Wählerschaft ist das Ziel, das es anzustreben gilt. GLP-Wahl: Die Wahl der GLP leitet sich aus deren Umwelt- und Bildungspolitik ab. Wirtschaftsfragen sind kein eigenständiger Faktor, der wirkt. Die Energiewende, Gegenstand der eigenen Volksinitiative, die im Frühling abgelehnt wurde, ist kaum mehr ein Profilierungsthema für die Partei. Es folgen der eigene Wahlkampf und der Parteipräsident. Letzterer ist eher wichtiger als bei den meisten anderen Parteien. Vor allem die Vermittlungsfähigkeit zwischen den Lagern wird intern geschätzt. Wertfragen sind dagegen irrelevant. 87 BDP-Wahl: Als einzige der Parteien erscheinen bei der BDP keine programmatischen Aussagen bei den relevanten Wahlgründen. Das ist wohl das Schicksal einer jeden Mitte-Partei, namentlich einer jungen. Gewählt wird sie, weil sie einen gefälligen Wahlkampf macht, der nach innen wirkt und, weil der Parteipräsident ihr Dreh- und Angelpunkt ist. Geschätzt wird darüber hinaus eine vermittelnde Position auf bürgerlicher Basis. Tabelle 16 Regression Parteiwahl nach Indikatoren Indikatoren GPS SP GLP CVP BDP FDP SVP 4 5 Themenkompetenzen 6 Migration 4 1 EU & Europa AHV/soziale Sicherheit 1 Umwelt 4 1 5 Arbeitslosigkeit 3 3 2 2 Krankenkasse/Gesundheitswesen Energiewende/Kernenergie 2 1 1 Wirtschaftsentwicklung 3 2 2 4 1 Schulen, Bildung, Forschung 2 Familie 5 Wahlkampf bester Wahlkampf 4 3 3 3 1 6 9 4 6 2 Personenidentifikation ParteipräsidentIn 7 Prädispositionen 8 (Öffnen) Werthaltung: Öffnen/Verschliessen 7 (Ökonomie) Werthaltung: Ökologie/Ökonomie Werthaltung: Eigenverantwortung/ Gemeinschaftsverantwortung links/rechts 5 (links) 7 (links) 7 3 (rechts) (rechts) 6 (rechts) 5 8 (Vertrauen) (Misstrauen) Regierungsvertrauen/-misstrauen Gesamterklärung (R2) 6 (rechts) 0.48 0.49 0.18 0.27 0.18 0.29 0.66 Lesebeispiel: Die obenstehende Tabelle zeigt auf, welche Erklärungsansätze für die Wahl einer Partei signifikant sind, und zwar in der multivariaten Analyse. Diese schätzt die Wirkungen eines Ansatzes unter Berücksichtigung aller anderen. SRG SSR/gfs.bern, Wahlbarometer 2015, 3. Welle, 21.8. – 29.8.2015 (n = 1316) Was bleibt? In der Regel sind die erkennbaren programmatischen Aussagen der wichtigste Grund, warum man eine Partei wählt. Anders als bei den Ausführungen zum Kompetenzprofil, das stark am Parteiimage ausgerichtet ist, ist die Breite der programmatischen Aussagen mindestens bei den grösseren Parteien höher und sie wirkt differenzierter. Generell wichtig ist zudem, dass der eigene Wahlkampf gut ankommt. Bei BDP und FDP ist das gar entscheidend, bei den anderen ähnlich wichtig wie das Programm. Dahinter folgen meist Grundhaltungen und das Parteipräsidium. Bestätigt wird damit, dass es nicht einfach eine Determinante der Wahlentscheidungen gibt. Dies gilt insbesondere, wenn man auf das Konzept der Parteibindung verzichtet. Vielmehr wirkt, wie die Wahlforschung betont, eine 88 Kombination aus Orientierungen an Themen, Kampagnen, Personen und Werten, wobei der Mix von Partei zu Partei, aber auch über die Zeit variieren kann. 4.3 Zwischenbilanz Antworten in Befragungen zu Wahlabsichten fallen insgesamt nicht beliebig aus; vielmehr haben sie eine Systematik. Prädispositionen gegenüber Werten, Themen und Personen, die sich im Wahlkampf konkretisieren lassen, sind entscheidend. Entsprechend macht es Sinn, Parteipräferenzen vor Wahlen auch modellartig zu untersuchen. Unsere Ergebnisse hierzu zeigen wiederholt vergleichbare Effekte. Dazu gehören: Polparteien lassen sich mit dem Trichtermodell besser erklären als Zentrumsparteien. Grosse Parteien lassen sich besser erklären als kleine. Am besten erklärbar ist die SVP, am schlechtesten sind es kleine Parteien in der Mitte. Dies lässt vermuten, dass die Wahl einer Partei, insbesondere einer grossen und profilierten Partei auch in der Schweiz zuerst programmatisch erklärt werden kann. Parteikampagnen bleiben aber wichtig, denn sie sind für eine gute Stimmung an der Basis notwendig, und dies ist Voraussetzung für die Mobilisierung. Nach Innen wirken die Parteikampagnen mittels Stimmungslage und Personenidentifikation durchaus. Nach Aussen ist die Wirkung unterschiedlich zu beurteilen. Da sind die thematischen Positionierungen das Entscheidende. Bisher gelungen ist dies der SVP, SP und FDP, im Grenzbereich befinden sich die GPS, CVP und GLP. Dagegen sehen wir keinen Anlass, auch bei der BDP ein Alleinstellungsmerkmal zu identifizieren. 89 5 Synthese Für die Suche nach einer übergeordneten Antwort haben wir aufgrund der Theorien der Wahlforschung, sofern für die Schweiz von Belang, drei Szenarien formuliert: die Fortsetzung des Trends von 2011, die erneute Polarisierung des Parteienspektrums und der Rechtsrutsch. Nimmt man die Hauptaussage aus der aktuellen Wahlbarometer-Befragung ist das erste Szenario unwahrscheinlich. Namentlich BDP und GLP werden elektoral nicht im bisherigen Masse wachsen können. Halten ist das oberste Ziel, das nicht einmal gesichert werden kann. Gleichzeitig machte das Wahlbarometer seit Herbst 2014 klar, dass die grösseren Parteien nicht, wie dies 2011 der Fall war, allesamt WählerInnen verlieren werden. Heute erscheint das bei der CVP möglich, bei der FDP unwahrscheinlich, wie bei der SVP neuerdings auch. Halten dürfte sich die SP, bei allfällig leichten Gewinnen, wahrscheinlich kompensiert durch entsprechende Verluste bei der GPS. Der Titel zum vorliegenden Bericht lautet denn auch "Rechtsrutsch, bei schwächelnder Mitte". Etwas differenzierter könnte man sagen, es finde eine weitere Polarisierung der Wählerschaft statt, wobei die rechten Parteien mehr davon haben als die linken. Wenn dem so bleibt, gilt das dritte Szenario, allenfalls durchmischt mit dem zweiten. Grafik 73 Vor allem in der langfristigen Perspektive beeindruckend ist die Polarisierung der Wählerschaft. Die SVP bewegte sich auf der 10er Skala rund einen Punkt nach rechts, die SP und die GPS je einen halben nach links. Vergleichsweise wenig geändert hat sich bei CVP und FDP, wobei die FDP dauerhafter etwas rechts der CVP stand, und dies auch heute knapp so ist. Indes, die Differenz zur SVP ist elektoral grösser denn je. 90 Theoretisch gesprochen orientieren sich Schweizer Wahlen nicht an den zentripetalen Kräften, die auf die Mitte zielen, sondern an den zentrifugalen, die von den Rändern ausgehen. Was den Klassikern der Wahlforschung unwahrscheinlich erschien, ist für das 21. Jahrhundert manchenorts typisch geworden. Ausgangspunkt bildeten die amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000, als die Republikaner erstmals nicht den Medianwähler ansprachen, sondern die Opposition rechts mobilisierten. Geändert wurde damit die zentrale Logik, nach der grosse Gewinne nicht im politischen Zentrum zu machen sind, wenn die Wahlbeteiligung tief ist, sondern via Remobilisierung der verlorenen Wählerschaften an den Rändern. Natürliche Folge dieser Entwicklung ist, dass die Wählerschaft polarisiert wird, und die Wahlsiege auch mit klar abgegrenzten politischen Positionen möglich werden. Für die Frage der Gewichtung politischer Pole ist es allerdings von entscheidender Bedeutung, ob die mobilisierbaren Potenziale links und rechts der Mitte gleich gross sind. Genau das interessiert uns in dieser Synthese der Befunde, die wir erarbeitet haben. Diese rekapitulieren wir kurz anhand der drei konstant gehaltenen Forschungsfragen für das Wahlbarometer. 1. Wer will wen wählen? Gemäss Wahlbarometer bleibt 2015 die SVP die stärkste Partei. Auch sonst wird sich aller Voraussicht nach nichts Entscheidendes an der Reihenfolge in der Wählergunst ändern. Zunehmend variabel erscheinen in unserer Befragungsreihe die Parteistärken. Zulegen dürfte die FDP, und neuerdings sind auch Gewinne für die SVP möglich. Stabil bleiben oder leicht stärker werden dürfte die SP, während sich kleinere Wählerverluste für BDP, CVP, GLP und GPS anzeichnen. Direkte Wählerbewegungen sind von bisherigen NichtwählerInnen zu SVP, SP und FDP zu verzeichnen. Attraktivste Partei für WechselwählerInnen ist die FDP, sie gewinnt ehemalige WählerInnen der BDP und der GLP. Links gewinnt die SP auf Kosten der GPS, verliert allerdings schwach an die GLP. Allen Zentrumsparteien fällt es schwer die bisherige Wählerschaft zu halten. Die wichtigste Polarisierung der Wahlabsichten findet im Stadt/Land-Spektrum statt. Wichtigste Wählerbasis des linken Pols bleiben die grossen Agglomerationen, während der rechte Pol nirgends so stark ist wie auf dem Land. Zwar konnte sich die SVP konnte sich nach der Volksabstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative auch in den grossen Agglomerationen empfehlen. Sie sieht sich aber auf dem Land namentlich von der FDP konkurrenziert. Damit teilweise verbunden ist die schichtmässige Herkunft der Wählerschaften. Je tiefer diese ist, desto eher gehen sie nach rechts, je höher, desto eher verändern sie sich nach links. In beide Richtungen stark polarisiert sind mittleren Einkommensklassen. Bei den tiefsten Einkommen stellen wir keinen ausgeprägten Trend zur SVP mehr fest, eher hin zur FDP und SP. 91 2. Wer will sich an den Wahlen beteiligen? Beteiligungsbereit sind heute 50 von 100 Wahlberechtigten. In höheren Bildungsschichten und Altersklassen ergeben sich höhere Werte. Vor allem bei einer mittleren Bildung und jüngerem Alter sind die Teilnahmeabsichten aber geringer. Zeitlich gesehen stieg die Teilnahmebereitschaft in der laufenden Legislatur stets ein bisschen an. Hauptgrund hierfür ist die Polarisierung in den Debatten, die sich auf die Positionen der Wählenden und der Parteien auswirken. Kurzfristig besser mobilisiert wurden vor allem misstrauische BürgerInnen. Ihre kurzfristig denkbaren Potenziale können SVP, SP und CVP gleich gut mobilisieren. Würde es der FDP gelingen, ihre vergleichsweise mittlere Mobilisierungskraft zu verbessern, könnte sie noch besser abschneiden. Die Möglichkeiten der Mitte-Parteien bleiben aber beschränkt, weil ihre Potenziale nicht wachsen, eher schrumpfen. Das gilt speziell für CVP und BDP. Letztere kann drohende Verluste in der Wählerstärke durch eine gute innere Mobilisierung etwas kompensieren. Das ist bei beiden grünen Parteien hingegen nicht der Fall, so dass sich deren Mobilisierung im Wahljahr insgesamt verschlechtert hat. 3. Was sind die zentralen Wahlgründe? Thematische Profilierung ist für die Ansprache von Wählenden von wachsender Bedeutung. Das gelingt Parteien mit klarer Ausrichtung besser als solchen im Zentrum und es gelingt grösseren besser als für kleineren. Profilierte Parteien haben in aller Regel ein Leadthema. Bei der SVP ist es die Migrationsfrage, bei der SP die soziale Sicherheit, bei der GPS die Umweltthematik und bei FDP und CVP sind dies am ehesten die Bilateralen. Bürgerseitig haben sich Migrationsfragen dauerhaft an der Spitze der zu lösenden Probleme etabliert. Das gilt auch für 2015 mit der Aktualität der Asylfrage. Erste Partei für ThemenwählerInnen ist in dieser Frage die SVP. Allerdings steiget gerade in der Migrationsfrage der Wunsch nach überparteilichen Lösungsvorschlägen. Generell gilt, dass Parteien, die mit Themen gewinnen wollen, mehrere Angebote brauchen. Die SVP gewinnt ThemenwählerInnen auch mit ihrer Position zur Sozial- und Wirtschaftspolitik, die SP kann sich ebenso mit Wirtschaftsfragen empfehlen. Für die FDP entscheidend ist, dass sich die Wahrerin des ökonomisch ausgerichteten Erfolgsmodells der Schweiz. Mittlere und kleinere Parteien kennen diese Mehrspurigkeit meist nicht. Themen als Wahlgründe sind im heutigen Umfeld meist wichtiger als Kampagnen und herausgehobene Personen. Hauptgrund hierfür ist, das letztlich alle Parteiwählerschaften ihre ParteipräsidentInnen positiv beurteilen, ebenso die eigene Kampagne schätzen. Die besten Noten gibt die Parteiwählerschaft der SVP für ihren Wahlkampf gefolgt von der FDP. Einiges dahinter folgen die Beurteilungen der Wahlkämpfe von SP und GPS, deren WählerInnen zu wenig von der Wahlkamgane ihrer Mutterpartei erfasst sind respektive nicht durchwegs überzeugt sind davon. Auffällig ist, dass die positive Wahrnehmung und Bewertung von Parteikampagne vor allem dort gut ausfällt, wo es eine werberisch aufwendige Vorkampagne gab. 92 5.1 Die bisherige Rahmung der Wahl 2015 An der Einschätzung, dass das Parteiensystem Schweiz längerfristig von einem gemässigten zum polarisierten Pluralismus mutiert, dürfte sich auch mit dem aktuellen Wahlbarometer nicht ändern. Es bleibt jedoch die in der Einleitung skizzierte Ambivalenz, die Adrian Vatter wie folgt umschreibt: "Das Schweizer Parteiensystem kann mindestens für den kurzen Zeitraum des Jahres 2008 nach dem Austritt der SVP aus dem Bundesrat und der von ihr angekündigten Fundamentalopposition vorübergehend dem Typ eines polarisierten Pluralismus zugeteilt werden. Nach dem Wiedereintritt der SVP in die Regierung entspricht die Schweiz heute wohl am ehesten einem Mischtyp mit starken Zügen eines polarisierten Pluralismus, allerdings ohne dessen Haupteigenschaft eine eindeutigen antisystemischen Fundamentalopposition, dafür einer grossen Regierungskoalition und zwei starken Polparteien.". In Kenntnis des vorliegenden Wahlbarometers kann festgehalten werden, dass die Polarisierung vor allem aufgrund der zentralen Herausforderung hoch ist und nicht abgenommen hat. Die regierenden Parteien sind sich namentlich im Verhältnis von Bilateralen und Masseneinwanderungsinitiative nicht einig. Etwas moderater fällt die Bilanz zur SVP beim politischen Stil aus. Zwar hat sie ihre Kommunikation schrittweise Richtung Rechtspopulismus verändert, in ihrer Programmatik bleibt sie aber eher eine national-konservative Partei, denn eine rechtspolitische. Schliesslich sei auf die Regierungsbeteiligung verwiesen. Das spricht gegen eine Fundamentalopposition der SVP und verlangt nur randständig einen Systemwechsel mit dem Übergang zur Volkswahl des Bundesrats oder einer klaren Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition. Vielmehr ist die SVP bestrebt, ihre Stärke in den Regierungen zu erhöhen, wobei auf Bundesebene die BDP die zentrale Zielscheibe darstellt. Aus der Sicht der politikwissenschaftlichen Theorie ist entscheidend, in welchem Masse die verschiedenen relevanten Parteien gewillt sind, zusammenzuarbeiten respektive Allianzen für die Regierungsbildung einzugeben. Das hängt mitunter vom Wahlergebnis ab, aber auch von seiner Interpretation. Beim Wahlergebnis zeichnet sich ein Rechtsrutsch ab, indes nicht alleine zugunsten der SVP, sondern auch der FDP. Treffend ist, dass die Mitte die Rechnung bezahlen könnte, und zwar nicht nur die neue, sondern auch die alte Mitte. Aktuell kennen Mitte-Parteien Schwierigkeiten ihre Wählerschaften zu halten. Diese neigen teilweise zu Wahlabstinenz, teilweise zu anderen Parteien als noch 2011. Die Interpretation des Wahlergebnisses dürfte zunächst die Wiederkandidatur der von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf beeinflussen. Sollte sie zurücktreten, wäre der Kampf um ihren Regierungssitz eröffnet. Sollte sie erneut kandidieren, ist mit einer Kampfsituation zu rechnen, an der sich vor allem die SVP beteiligen würde. Es ist gut denkbar, dass in diesem Zusammenhang nicht nur die Partei- und Personenfrage von Belang sein wird, sondern auch Sachfragen. Denn bei einem Wechsel zu je 2 SVP respektive FDP steht die Fortführung der Energiewende zur Debatte, und die Europa-Politik dürfte nicht unwesentlich beeinflusst werden. Beides sind Kernthemen der kommenden Legislatur; das Abwägen zwischen Bilateralen und Masseneinwanderung wohl schon schnell nach den Wahlen. Unmittelbar denkbar sind mindestens zwei Szenarien: Eine Fortsetzung der bisherigen Regierungszusammensetzung auf der Basis der inhaltlichen Konkordanz, wobei es zu einer sozialliberalen Absicherung der Europa-Politik mit der SVP in der sachpolitischen Opposition kommen dürfte; ein bürgerlicher Schulterschluss unter den grösseren Parteien, die sich nicht nur in der neuen Zusammensetzung des Bundesrates zeigen müsste, sondern auch eine bürgerliche Sicherung der Europa-Politik beinhalten 93 müsste; in diesem Fall ist mit der sachpolitischen Opposition namentlich der SP und der Gewerkschaften zu rechnen. Allenfalls sind die Mehrheitsverhältnisse sehr knapp, sodass nicht die Parteien und Fraktionen, sondern die einzelnen Gewählten den Ausschlag geben, in welche Richtung sich die Bundesratszusammensetzung und programmatische Politik weiterentwickelt. Aufgrund der aktuellen Befragungsergebnisse sind die Mehrheiten nicht eindeutig: Mitte/links stellt im Nationalrat selbst bei breitester Aufstellung aller Voraussicht nach keine Mehrheit mehr. Auf der anderen Seite wird es, selbst bei Gewinnen für SVP und FDP, nicht für eine Mehrheit reichen, wenn nicht die CVP oder GLP ihre Positionen wechseln. Sollte das der Fall sein, dürften sie mindesten die Energiewende gefährden, einem der zentralen Politikbereiche, in denen sie in der letzten Legislatur gestaltend wirkten. Immerhin, es ist zu erwarten, dass sich nebst der Polarisierung der Parteienlandschaft 2015 auch ein Rechtsdruck ergeben wird. Die kantonalen Wahlen namentlich seit der Entscheidung über die Masseneinwanderungsinitiative sprechen genauso dafür wie die jüngsten Umfrageergebnisse. Anders als bei früheren Wahlen dürfte allerdings nicht die SVP alleinige Siegerin sein. Kurzfristige Gründe hierfür sind wie immer im Wahlkampf zu suchen, den Ereignissen, die diesen prägen, und den (Re)Aktionen der Parteien darauf. Ohne Zweifel muss man hier die Asylpolitik erwähnen. Deren Aktualität und Krise zugleich hat in ganz Europa eine Welle der Betroffenheit ausgelöst, aber auch zu heftigen Kontroversen geführt, was die richtige Antwort sei. In der Schweiz hat sich die SVP als erste Partei des Themas angenommen und an ihrer Delegiertenversammlung vor der Sommerpause zum Widerstand gegen Asylzentren aufgerufen. Konkretisiert wurde die Debatte durch die Kontroverse um eritreische Flüchtlinge, einer der grossen Gruppen Asylsuchender in der Schweiz. Die Wahlkampfoffensive der SVP blieb aber nicht ohne Gegenreaktion, denn ihr wird zunehmend Fremdenfeindlichkeit und Rassismus vorgeworfen. Medienanalysen zeigen, dass die SVP den ganzen Sommer hindurch die höchste Präsenz kannte, gerade auch wegen ihren Positionen in der Asylpolitik. Wenn ihr also das Agenda Setting gut gelang, konnte sie nicht verhindern, dass sie gerade in den Medien teils hart kritisiert wurde. In unserer Untersuchung bestätigt sich, dass die Migrationsfrage bevölkerungsseitig das Thema Nummer 1 ist. Wenn es nicht immer einfach ist, zwischen den verschiedenen Aspekten der Zuwanderung und Integration trennscharf zu unterscheiden, besteht doch kein Zweifel, dass auch hier die Asylthematik den Kern der aktuellen Beschäftigung ausmacht. Den Themenwählenden erscheint die SVP dabei als kompetenteste Partei, wenn auch mit schwindendem Vorsprung. Vermehrt wünscht man sich gerade in diesem Bereich überparteiliche Lösungen. Auch werberisch führt die rechte Seite im Wahlkampf 2015. Die Ausgaben für Partei und Personenwerbung erscheinen höher denn je, und sie sind stark auf SVP und FDP konzentriert. Hauptgrund hierfür ist, dass beide politischen Parteien einen eigentlichen Vorwahlkampf mit Inseraten und Plakaten geführt haben. Die SVP hat zudem ein eigentliches Politmarketing mit Gadgets und Videos aufgezogen. In unserer Untersuchung zeigt sich das daran, dass die Wahlkämpfe beider Parteien am häufigsten wahrgenommen werden. Von den denkbaren WählerInnen beider Parteien werden sie ebenso am meisten als die besten taxiert. Das blieb nicht ohne Folgen für die Potenziale und die Mobilisierung. Bei ersterem führt die SVP mit wachsendem Vorsprung auf die FDP, die noch vor der SP liegt. Bei der Mobilisierung zeigt sich bei der SVP ebenso ein Spitzenwert, derweil die FDP hier zwar Fortschritte macht, aber immer noch eine Schwäche hat. Mittelfristige Gründe für denkbare Veränderungen in den Parteistärken sehen wir in den zentralen Entwicklungen der Legislatur. Diese war durch die Annahme mehrerer Volksinitiativen gekennzeichnet. Namentlich ökologische und migrationskritische Initiativen haben Erfolgschancen; neu zeichnen sich auch 94 offene Fenster für Verschärfungen des Strafrechts oder Wirtschaftskritik ab. Allerdings gelingt dies nicht immer; vielmehr braucht es eine breite, bisweilen überparteiliche Trägerschaft oder eine Opposition die gezielt auf bestehende und tabuisierte Missstände zielt. Die erste Hälfte der Legislatur geprägt haben das Ja zu Zweitwohnungsinitiative und zur Minderinitiative, derweil die Zustimmung zur Minder- aber auch Pädophileninitiative das Klima danach bestimmt haben. Seitens der Regierung und des Parlaments haben die Finanzmarktpolitik und die Energiewende markante Zeichen gesetzt. Dabei kamen trotzt formal bürgerlicher Mehrheit im Bundes-, Stände- und Nationalrat die neuen Mehrheitsverhältnisse zum Tragen. Auswertung zur Fraktionswirkung bestätigen diese Einschätzung. Namentlich der Ständerat ist zur Chambre de Coalition avanciert, wo sich vermehrt SP, CVP und FDP gegen die SVP durchsetzen. Gewachsen ist damit auch die Kritik an der Funktionsweise der Behörden, denen vor allem von rechts pauschalisierend eine eigentliche Mitte/linksPolitik vorgeworfen wird. Abstimmungsniederlagen insbesondere der SP, der GPS und der GLP haben den Eindruck verstärkt, die Stossrichtungen zwischen behördlicher und direktdemokratisch bestimmter Politik stimmten nicht mehr überein. Speziell die jüngsten kantonalen Wahlen zeigten, dass die grosse Konkordanz kein Tabu mehr ist, und man auch mit Regierungen ohne SP oder ohne Frauen regieren will. Namentlich bürgerliche Schulterschlüsse haben dies ermöglicht, sodass eine Neuausrichtung auch der Bundespolitik ohne BDP, dafür mit zwei SVP-Vertretern im Bundesrat schon vor der Parlamentswahl zum Thema avanciert ist. Langfristige Gründe legen den Schluss nahe, dass die Wahlen von 2011 stark durch den Fukushima-Effekt geprägt waren. Dieser hat zwar den Grünen im Parlament kaum Vorteile gebracht, aber Hoffnungen bezogen auf neue Parteien Mitte/links und Mitte/rechts geweckt. Vor allem aber haben sie die anhaltende Dominanz der Migrationsfrage gestoppt, welche die SVP über mehrere Wahlen hinweg begünstigt hatte. Denkt man sich diese Effekte wieder weg, werden die Polarisierung einerseits, die Rechtsentwicklung anderseits die zentralen Trends, deren Ursachen in der starken Anti-EU-Haltung der Schweizer Politik begründet ist, die sich am Beispiel der Personenfreizügigkeit ausdrückt. Wirtschaftlichen Vorteilen stehen gesellschaftliche Folgen gegenüber, die teils zu einer neugestellten Identitätsdebatte führten, teils die national ausgerichtete Politik beförderten. 95 6 Anhang 6.1 gfs.bern-Team CLAUDE LONGCHAMP Verwaltungsratspräsident und Vorsitzender der Geschäftsleitung gfs.bern, Verwaltungsrat gfs-bd, Politikwissenschafter und Historiker, Lehrbeauftragter der Universitäten Bern, Zürich und St. Gallen, Dozent an der Zürcher Hochschule Winterthur, am MAZ Luzern und am VMI der Universität Fribourg und am KPM der Universität Bern. Schwerpunkte: Abstimmungen, Wahlen, Parteien, politische Kultur, politische Kommunikation, Lobbying, öffentliche Meinung, Rassismus, Gesundheits- und Finanzpolitik Zahlreiche Publikationen in Buchform, in Sammelbänden, wissenschaftlichen Zeitschriften MARTINA MOUSSON Projektleiterin, Politikwissenschafterin Schwerpunkte: Analyse politischer Themen und Issues, nationale Abstimmungen und Wahlen (SRG-Trend, VOX-Analysen, Wahlbarometer), Image- und Reputationsanalysen, Integrierte Kommunikationsanalysen, Medieninhaltsanalysen, Qualitative Methoden, Gesellschaftsthemen (Jugendforschung, Rassismus, Familien, Mittelschicht) STEPHAN TSCHÖPE Leiter Analyse und Dienste, Politikwissenschafter Schwerpunkte: Koordination Dienstleistungen, komplexe statistische Datenanalytik, EDV- und Befragungs-Programmierungen, Hochrechnungen, Parteien- und Strukturanalysen mit Aggregatdaten, Integrierte Kommunikationsanalysen, Visualisierung AARON VENETZ Datenanalytiker, Politikwissenschafter Schwerpunkte: Datenmodellierungen, Qualitative Methoden, Recherchen, Datenanalyse, Programmierungen, Medienanalysen, Visualisierungen 96 MARCEL HAGEMANN Datenanalytiker, Sozialwissenschafter Schwerpunkte: Datenanalyse und Datenbanken, Programmierungen, Integrierte Kommunikationsanalysen, Medienanalysen, Recherchen, Visualisierungen, Hochrechnungen JOHANNA LEA SCHWAB Sekretariat und Administration, Kauffrau EFZ Schwerpunkte: Desktop-Publishing, Visualisierungen, Projektadministration, Vortragsadministration 97 gfs.bern ag Hirschengraben 5 Postfach CH – 3001 Bern Telefon +41 31 311 08 06 Telefax +41 31 311 08 19 [email protected] www.gfsbern.ch Das Forschungsinstitut gfs.bern ist Mitglied des Verbands Schweizer Markt- und Sozialforschung und garantiert, dass keine Interviews mit offenen oder verdeckten Werbe-, Verkaufsoder Bestellabsichten durchgeführt werden. 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