Autor: Niall Ferguson Titel: Der Westen und der Rest der Welt

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Autor: Niall Ferguson Titel: Der Westen und der Rest der Welt
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Niall Ferguson
Der Westen und der Rest der Welt.
Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen.
Propyläen Berlin 2011
Civilization. The West and the Rest. Allen Lane. Penguin Books London
978-3-549-07411-4
Zum Autor:
Niall Ferguson wurde 1964 in Glasgow geboren. Heute ist er Professor für Neuere Geschichte mit dem
Schwerpunkt Finanz- und Wirtschaftsgeschichte an der Harvard Universität in Boston USA. Zudem ist er
Senior Research Fellow der Universität in Oxford. Er gilt als einer der pointiertesten Historiker der Welt. Die
letzten Bücher waren „Krieg der Welt“ (2006) und „Der Aufstieg des Geldes“ (2009). Er ist in zweiter Ehe mit
der holländischen Somalierin und Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali verheiratet.
Zum Inhalt:
Niall Ferguson gibt zu Beginn einige Grundsätze seines Geschichtsverständnisses weiter. Für ihn ist die
Vergangenheit nicht einfach abgeschlossen, sondern sie lebt in der Gegenwart weiter, sichtbar in Spuren
von Gegenständen und Dokumenten. Dabei geht es nicht darum, eine Sammlung von Beweisstücken zu
horten, sondern eine Geschichte des Denkens zu erkennen. Er will in seinem Geist das Denken der
Menschen nachvollziehen, weil für ihn historisches Wissen vergangenes Denken erahnen lässt und sichtbar
macht im Kontext der Gegenwart. Er versteht sich und die Historiker ähnlich wie Wildhüter, die erfolgreich
Spuren suchen und finden. Diese Erkenntnis klärt auch über die Gegenwart auf, weil sie ein Bestandteil der
Geschichte ist. Wir studieren Geschichte, um die heutige Situation besser beurteilen zu können (nach R.G.
Collingwood).
Ferguson hat klare Vorstellungen, weshalb der Westen eine solch globale Macht begründet und erhalten hat.
Auf Seite 44 nennt er sechs „Killerapps“, die entscheidenden Faktoren, dafür:
• Wettbewerb durch Dezentralisierung, Gründung von Nationalstaaten und Kapitalismus
• Wissenschaft: Das Studieren, Verstehen und Verändern der Welt sicherte auch einen grossen
militärischen Vorsprung
• Eigentumsrechte: Rechtsstaatlichkeit schützte Privateigentum und Freiheit, führte zu Frieden und
Stabilität und brachte repräsentative Regierungen hervor
• Medizin verbesserte die Gesundheit und erhöhte Lebenserwartung und Wachstum
• Konsumgesellschaft: Gebrauchsgüter wie Kleider spielten eine wesentliche Rolle in Wirtschaft und
industrieller Revolution
• Arbeitsethik: Vor allem der Protestantismus bewirkte eine moralische Arbeitsweise, die zu höherer
Leistung, besserem Zusammenhalt und grösserer Sparquote führte
Diese sechs Faktoren oder nach Ferguson „Killerapplikationen“ führt er in den anschliessenden
Buchkapiteln ausführlicher aus und beschreibt und begründet damit deren Bedeutung für den Aufstieg der
westlichen Gesellschaft und Kultur:
•
Wettbewerb: Am Beispiel Chinas zur Zeit der Ming-Dynastie 1368-1644 zeigt er Aufstieg, Blüte und
Verfall. Durch mangelnden Wettbewerb und zunehmenden Selbstbezug nahm Chinas Bedeutung
wieder ab und die Zeit der Vorherrschaft Europas 1500-1900 war gekommen. 1842 erzwangen die
Briten die Oeffnung Chinas für ihre Märkte.
•
Wissenschaft: Von der Reformation 1530 bis zur französischen Revolution 1789 wurden in Europa
durch Galileo, Pierre de Fermat, Robert Boyle und andere Wissenschaftler 29 bahnbrechende
Entdeckungen und Erfindungen gemacht. Dagegen verbot der osmanische Sultan Selim I die
Druckerpresse und schnitt sich so von der wissenschaftlichen Revolution und dem Fortschritt ab.
Gerade nur ein Buch, eines über die Behandlung von Syphilis, wurde bis 1900 in eine orientalische
Sprache übersetzt. Der agnostische preussische König Friedrich Wilhelm I (1688-1740) gewährte
dagegen Religions- und Pressefreiheit in seinem Reich, was zu kultureller Blüte und Fortschritt
führte.
•
Eigentum: Die rasante Besiedlung und Entwicklung Nordamerikas in den letzten dreihundert Jahren
wurde durch weit gestreute Eigentumsverhältnisse stark gefördert. Kurz nach der Besiedlung hatten
hohe 75-87% der ansässigen Personen Landeigentum. Der blinde Flecken war jedoch die Sklaverei
der Afrikaner. In Südamerika dagegen besass eine Elite von 2% den meisten Boden samt seinen
Schätzen, was keine sinnvollen Eigentumsrechte und Rechtsstaatlichkeit gedeihen liessen.
•
Medizin: Die Lebenserwartung verdoppelte sich weltweit zwischen 1800 und 2000. In Europa
geschah dies bereits früher von 1770 bis 1890; das erste Land, das diese Höhe erreichte, war
Dänemark, das letzte Spanien. Asien erlebte von 1890 bis 1950 eine Verdoppelung der Lebenserwartung, Afrika 1920 bis 1950, wobei der Rückgang der Sklaverei den Effekt mitbeeinflusste.
Cholera und Typhus waren bereits 1914 fast ausgerottet, dies geschah noch zur Zeit des westlichen
Imperialismus und Kolonialismus. Negatives Begleitphänomen zum gesundheitlichen Fortschritt war
der Rassismus, der pseudowissenschaftliche Kampf gegen die menschliche „Entartung“. Besonders
stark war dies in Deutsch-Südwestafrika und Belgisch-Kongo der Fall, was als Vorlauf der
Judenverfolgung und Slawenunterdrückung im dritten Reich angesehen werden kann. Ansonsten
beschränkt sich Ferguson in diesem Kapitel mehr auf Frankreich und seine Kolonien.
•
Konsum: ist ein ökonomisches System, das dem Menschen viel Auswahl gibt, aber am Ende die
Menschheit doch vereinheitlicht. Die industrielle Revolution begann in England vor allem mit
Textilprodukten, was die Wirtschaftsleistung ab 1830 deutlich erhöhte. Die Beschäftigung in der
Landwirtschaft nahm ab, die in Industrie und Dienstleistung nahm zu, und der Reichtum erhöhte sich.
Innovative und unternehmerische Personen trieben diesen kumulativen, evolutionären Verbesserungsprozess voran. Einige Eckdaten dazu:
1771: 1. Baumwollspinnerei durch Richard Arkwright in Cromford Derbyshire
1775: 1. Dampfmaschine von James Watt
1825: 1. Dampflokomotive fuhr von Stockton nach Darlington
1848/1867: Das Manifest/Das Kapital von Karl Marx (gegen einseitigen, ungleichen Reichtum)
1850: Singer-Nähmaschine durch Isaac Merritt S. in Boston (USA)
1873: Levi Strauss und Jacob Davis liessen den Gebrauch von Kupfernieten für Jeans patentieren
1929-32: Der Aktienmarkt brach durchschnittlich 89% ein, die Produktion 33%, die Preise 25% und
der Welthandel 67%, was zu einer veritablen Weltwirtschaftskrise führte. Hauptgrund war die
katastrophale Geldpolitik der damaligen US-Notenbank.
1939-45: Im Zweiten Weltkrieg siegten die Allierten vor allem wegen britischem Geheimdienst,
sowjetischem Massenheer und amerikanischem Kapital. Für die Niederschlagung der Japaner war
das „Manhattanprojekt“ 1942 entscheidend, das 1945 drei Atombomben hervorbrachte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg breitete sich die Kosumgesellschaft in den USA (und etwas später in
Europa) aus mit Kleidern, Autos, Telefone, Kühlschränke, Waschmaschinen, Tumbler, Fernseher
und Geschirrspüler. Der französische Philosoph und Revolutionär Régis Debray sagte 1986 dazu:
„Rockmusik, Videos, Blue Jeans, Fastfood und TV haben mehr Macht als die Rote Armee.“ Aber
auch Asien erlebte einen kometenhaften Aufstieg, am schnellsten wuchs dabei Südkorea 1973-90.
•
Arbeit: Der Deutsche Max Weber, geboren in Erfurt, Professor für Nationalökonomie an der
Universität in Freiburg, hat als einer der Ersten pointiert festgestellt, dass die Protestanten leben, um
zu arbeiten, und dass sie eine rastlose Berufsarbeit kennen, um sich der Erwählung Gottes zu
vergewissern. Nach seinem Nervenzusammenbruch 1897, unternahm er 1904 eine Reise an die
Weltausstellung in St. Louis USA und besuchte auch dieses aufstrebende Land. Das fand Niederschlag in seinem berühmten Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“.
Ferguson unterstützt grundsätzlich diese These, macht aber auch Einschränkungen, weil Weber
gegenüber den erfolgreicheren Juden und teils Katholiken in Belgien, Frankreich und Italien blind
war. 1940 hatten die protestantischen Länder 40% mehr Einkommen als die katholischen Staaten.
Nach Ferguson sind Hauptgründe in der Alphabetisierung durch protestantische Geistliche und
Missionare fürs Bibellesen und in den Druckereien zu suchen. Er bezeichnet dies als protestantische Wortethik. Diese förderte zudem gegenseitiges Vertrauen, Treue, Sparsamkeit, Ehrlichkeit,
Offenheit und ganz konkret Kreditnetzwerke. Heute scheint diese Ethik in Europa abgenommen zu
haben, und die Europäer gelten als Faulpelze, Glaubenskritiker, Gottlose und Ueberalterte der Welt!
Ferguson spricht von „Warnografy“, das sich aus Pornografie und Kriegsspielen zusammensetzt und
Theologie und Jesusglaube abgelöst habe. Amerika scheint noch eine Ausnahme zu sein, Gründe
dafür scheint ihm der Wettbewerb unter den Kirchen und der Gottesdienst als Konsumform. Gott
werde dort so zum Analytiker, Sorgenonkel und persönlichen Coach degradiert. Die Finanzkrise
bezeichnet er als Kapitalismus ohne Sparen, Leben auf Pump, das auf die Dauer nicht funktionieren
werde. Der Westen mit seiner hohlen Konsumgesellschaft und der Kultur des Relativismus wird bald
vom aufstrebenden China überholt und vielleicht gar abgehängt werden. In China haben dagegen
Werte wie Moralität, Recht und Eigentum heute einen hohen Stellenwert. Viele chinesische
Unternehmer sind sogar Christen geworden, die Stadt Wenzhou gilt als chinesisches Jerusalem.
Am Schluss des Buches im Kapitel „Die Rivalen“ zieht Ferguson Bilanz. Er erwähnt zuerst den Griechen
Polybios, der schon in den Historien 6 den zyklischen und phasenhaften Aufstieg und Fall von Kulturen
beschrieben hatte. Die Stufen waren griechisch präzise und harmonisch geordnet in Urmonarchie, Königtum,
Tyrannei, Aristokratie, Oligarchie, Demokratie und Ochlokratie (Pöbelherrschaft). Ferguson dagegen sieht
Zivilisationen und Kulturen als komplexere und interagierende Systeme zwischen Ordnung und Chaos.
Er vergleicht sie eher mit fraktaler Geometrie und asymmetrischen Organisationen wie bei Termiten und
überoptimierten Elektrizitätsnetzen. Bei Fehlfunktionen sind Katastrophen wie Finanzkrisen und Kriege die
Folge. Für seine Theorie hat er natürlich etliche Beispiele, viele Reiche erlebten nach einem langsamen
Niedergang ein schnelles Ende:
• römisches Reich 400 nChr (Verwüstung durch die Hunnen)
• Inkareich 1535 (schnelle Eroberung durch Spanier)
• China 1520-1650 (Ende der Ming-Dynastie; 1968 waren die USA 33-70 mal reicher als China)
• Französisches Königreich 1789-93 (französische Revolution)
• Osmanisches Reich 1875-1922
• Japan 1942-45
• Grossbritannien 1945-56 (als Weltreich mit vielen Kolonien)
• Sowjetunion 1985-91 (Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur)
Auch Huntingtons „Kampf der Kulturen“ stimme er nur teilweise zu, weil ethnische Konflikte und lokale
Kriege stärker zugenommen haben als religiöse. Ferguson sieht eher einen „Zusammenbruch der
Kulturen“ als Folge dieser Auseinandersetzungen. Noch einmal macht er auf den Aufstieg und die Strategie
Chinas aufmerksam, die ihren Handelsbilanzüberschuss vermindern wollen wie folgt:
• Mehr konsumieren
• Mehr importieren
• Mehr im Ausland investieren (z.B. Rohstoffabbau und Handelswege in Asien und Afrika)
Als Grundlagenschriften für die westliche Kultur empfiehlt der schottische Historiker folgende Werke:
• King-James Bibel
• Isaac Newton: Principia
• John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung
• Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle und Der Wohlstand der Nationen
• Edmund Burke: Betrachtungen über die französische Revolution
• Charles Darwin: Ueber die Entstehung der Arten
• William Shakespeares Schriften
• Abraham Lincolns Reden
• Winston Churchills Reden
Hier zeigen sich gewisse Unterschiede zu deutscher, französischer, italienischer und anderssprachiger
Weltliteratur und auch im kulturellen Empfinden und Selbstverständnis. Trotzdem finde ich diese Werke
bedenkens- und beachtenswert, weil sie Meilensteine in der gesellschaftlichen Entwicklung darstellten.