Verkaufte Schönheit

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Verkaufte Schönheit
The Industry” – und wie
man es wirklich schafft,
top zu sein!
„
gesichtet, die Drehorte besucht, es wurde mit den Interviewpartnern gesprochen und die Spesenabrechnung zerpflückt. Nach 18 Monaten stellte die BBC fest: Der Dokumentarfilm sei über weite Strecken erfunden,
von Falschaussagen war die Rede, von rufschädigenden Presseaussendungen, von Druck, der auf die jungen Models ausgeübt worden sei.
Die Meinung vieler Insider, dass bei dieser „Reportage“ auch eifersüchtige Konkurrenten der Agentur Elite mitgewirkt hätten, die sogar
einen Teil der Produktionskosten übernommen hätten, wurde nie bestä-
Ich bin schon oft gefragt worden, ob es möglich ist, eine harte, ehrliche
tigt, aber ich kann mir das – aus eigener Erfahrung sehr sensibel gewor-
und vor allem auch objektive Story über unser Business zu schreiben,
den – sehr gut vorstellen.
ohne mir selbst oder anderen Kollegen dieser Haifischbranche ans Bein
zu pinkeln. Nach einigem Zögern überwog schließlich die Hoffnung, mit
Gute Agenten reagieren mehr als empfindlich, wenn Entertainmentstars
einem Buch einiges aufklären zu können, gegenüber der Angst, manche
oder Wirtschaftspromis ihre Models mit Callgirls verwechseln oder auf
Leute noch mehr in ihren Vorurteilen zu bestärken.
deren Geschäft Einfluss nehmen wollen.
Es ist praktisch unmöglich, auch für VIPs, Topmodels ohne deren Ein-
Mit ein Grund für dieses Buch war ein Skandal, der eigentlich gar keiner
verständnis zu treffen. Niemand denkt etwas Schlechtes, wenn Frauen
war. Die britische BBC brachte im November 1999 einen Bericht über
ihre weiblichen Waffen einsetzen und für ihre Karriere verwenden, nur
angebliche anrüchige und sogar kriminelle Vorgänge rund um die Mo-
wenn Frauen als ihren Beruf „Model“ angeben, dann sucht man sofort
delagentur Elite, der meiner Meinung nach hauptsächlich auf den State-
nach dem Haar in der Suppe – also nach miesen Geschäftemachern, die
ments von komplexbeladenen Maulhelden basierte. Es geht mir nicht
sie ausbeuten.
darum, irgendetwas zu entschuldigen, aber es muss schon gesagt wer-
Auch die sogenannte „Besetzungscouch“ ist immer wieder ein Thema.
den: Von diesen angeblichen kriminellen Vorgängen wurde immer nur
Ein Beispiel: Eine mittelmäßig erfolgreiche österreichische Fotografin rief
gesprochen, bewiesen wurde nie etwas.
mich eines Tages an und fragte mich, ob ich schon die Fotos von ihrer
Angepatzt wurde vor allem Gérald Marie de Castellac, CEO von ­Elite
besten Freundin erhalten hätte, die sie mir als neues Talent ans Herz legen
Europa und Expartner von Supermodel Linda Evangelista. Der BBC-
wolle. Als ich verneinte, plapperte sie hektisch: „Dann kommen wir beide
Mitarbeiter Donald MacIntyre zeigte junge Models zwischen London
in 15 Minuten bei dir vorbei!“ Gesagt, getan. Ohne Einladung stand sie
und Kiew, Moskau und Neu-Delhi. Ihre Aussagen wiesen auf dubiose
plötzlich in meinem Büro, mit ihrer Freundin aus Graz an ihrer Seite, die
Vorgänge bei der Agentur Elite in Paris hin, da war von sexuellem Miss-
fast 1,80 groß war, bei weitem nicht hässlich, aber auch nicht so umwer-
brauch von Minderjährigen und exzessivem Drogenkonsum die Rede.
fend, dass ich sofort eine positive Entscheidung treffen wollte. Das ver-
Die Elite-Bosse wehrten sich so heftig, dass die BBC eine interne
meintliche Jungtalent trug einen schwarzen Trenchcoat und ging vor mir
­Unter­suchung startete. Die Videokassetten mit den Recherchen wurden
auf und ab. Als ich harmlos fragte, warum sie nicht ihren Mantel a­ usziehe,
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tat sie das in einem Schwung. Unter dem Mantel war sie völlig nackt. Ich
namige Agentur immer wieder verkaufte und dann zum halben Preis zu-
war überrascht und musste schmunzeln. Ihre Figur war wirklich atembe-
rücknahm – oder Marilyn Gaultier in Paris, das waren schon eher meine
raubend, aber es war nie meine Sache, mich einteilen zu lassen. Nachdem
Partner. Stark vernetzt, standen wir im Austausch mit den Megaagentu-
sie den Mantel wieder angezogen hatte, sagte ich zu, es mir zu überle-
ren, in meinem Fall war es Elite, und alle agierten wie Guerillatruppen,
gen, ob ich sie unter Vertrag nehmen würde oder nicht. Die penetrante
sehr flexibel und schnell.
Fotografin drängte mir noch schnell ihre Visitenkarte auf, nicht ohne zu
Es ist absolut unakzeptabel, dass alle, die unermüdlich und hart an
erwähnen, dass sie beide im Whirlpool unter der angegebenen Adresse
der Karriere von jungen Talenten arbeiten, in die Nähe von Zuhälterei
am selben Abend auf mich warten würden. Ich bin ein Vollblutagent; das
und Prostitution gerückt werden. Andererseits ist ein reinigendes Ge-
Risiko, eine falsche Entscheidung zu treffen, besteht permanent, aber al-
witter zum richtigen Zeitpunkt noch nie schlecht gewesen. Wir arbeiten
les, was ich habe, sind meine Glaubwürdigkeit und mein Image, und die
seit mehr als 30 Jahren mit sehr jungen Mädchen und deren Eltern. Wir
sollte ich wegen eines flüchtigen Abenteuers aufs Spiel setzen? Also: So
haben es geschafft, zu beweisen, dass ein Modelcontest nichts mit einer
wird man eine internationale Karriere sicher nicht starten …
Misswahl zu tun hat, und ich werde es sicherlich nicht zulassen, dass
diese langwierige Überzeugungsarbeit wieder von vorne beginnen muss.
In Österreich, einigen Ländern der Dritten Welt und in Osteuropa
­haben die Misswahlen wieder an Bedeutung gewonnen – wohl auch
Ich bin jetzt schon lange genug dabei und sollte eigentlich bereits in aller
wegen einer wiederentdeckten altmodischen Einstellung den Frauen
Ruhe fischen gehen können, aber wo finde ich für meine Agentur einen
­gegenüber: Sei schön und halt den Mund. Die Renaissance der Miss­
Topmanager, der bereit ist, sich von einer 18-Jährigen zusammenstau-
wahlen geht meiner Meinung nach mit der Provinzialität von Veran-
chen zu lassen, die genau weiß, was sie wert ist für die eigene, aber auch
staltern und Sponsoren Hand in Hand, und manche Regionalzeitungen
andere Agenturen?
berichten sehr gerne darüber, wenn entsprechende Inserate geschaltet
Internationale Topagenturen kümmern sich nur um Mädchen, deren
werden.
Potenzial mehr als durchschnittlich ist. Diese Mädchen, die zwar wie alle
Models unterscheiden sich schon allein dadurch von Missen, dass ihre
am Anfang den Anweisungen ihrer Lehrer, den Agenten und Bookern
Karriere länger als ein Jahr dauert. Models werden wegen ihres ­Erfolgs
folgen, lernen sehr schnell und sind in den seltensten Fällen bereit, im
und ihrer Professionalität respektiert, ihre Schönheit steht immer auch in
Job Kompromisse einzugehen.
Zusammenhang mit der Persönlichkeit und der Präsenz vor der Kamera.
Die Mega-Player im internationalen Modelgeschäft waren nicht unbe-
Je besser sie arbeiten, umso unabhängiger können sie agieren, ­80 Prozent
dingt meine Vorbilder. Ich wollte zwar international agieren, aber nicht
ihrer Karriere liegen in ihren eigenen Händen. Der Rest ist die ­Arbeit der
unbedingt von einem branchenfremden Finanzier bevormundet werden.
Agentur – und das entsprechende Quäntchen Glück.
Leute wie Richard Branson, der die berühmte englische Agentur Storm
in London finanzierte, ohne Einfluss zu nehmen, oder mein Freund
Riccar­do Gay in Mailand – ein sehr schlauer Italiener, der seine gleich-
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Der skurrile Grund für meine Abspaltung von Elite war – man glaubt es
Gewalt an die eigene Agentur fesseln, aber es gibt „Große“ – wie Ford
kaum – zu großer Erfolg. Elite konnte die große Zahl an neuen Talenten
oder Wilhelmina –, die eine Mutteragentur sehr wohl respektieren. Und
nicht mehr verwalten. Der Erfolg meiner Models sowohl in den Wett­
es gibt, wie ich sie nenne, „Moloche“ wie IMG. Immer dann, wenn ei-
bewerben als auch auf den internationalen Märkten war unübersehbar
nes der vielversprechenden „New Faces“ in die Nähe einer Kampagne
und schürte wohl auch die Eifersucht.
kommt, gibt es Ärger. In den freundlichsten Fällen passiert eine Vorspra-
Außerdem wollte ich wieder meine Unabhängigkeit haben, mit der ich
che bei der Mutter­agentur, bei der um den Ausstieg aus dem Vertrag
mich 20 Jahre lang sehr wohl gefühlt hatte. Ich brauchte keine Exklusivi-
gebeten wird, da das Model mittlerweile ja nicht mehr im Mutterland
tät und wollte meine Models dort platzieren, wo es für sie am besten war.
wohne und sich selbst managen möchte. Die Wahrheit ist jedoch eine
Ich habe ein System erarbeitet, bei dem ich für die Mädchen mehr
andere: Natürlich hat das Model schon längst den Moloch als ihre neue
machen kann als ein gewöhnlicher Booking-Agent. Die Betreuung funk-
Mutteragentur gewählt. In meinem Fall verlegte IMG sogar den Wohn-
tioniert wie bei persönlichen Managern und erlaubt eine viel bessere
sitz eines nordafrikanischen Models, das ich entdeckt hatte, in die USA,
Kontrolle als im alten System.
um mich dort nach amerikanischem Recht mit einem Heer von Anwälten
Es ist ein Spiel auf dünnem Eis. Ich will nicht lamentieren, aber im
bekämpfen zu können. Und man darf dabei nicht vergessen, dass es für
Grunde genommen ist alles, was ein Agenturbesitzer sein Eigen nennen
Booker manchmal sogar Handgeld gibt, wenn sie ein Model überreden
darf, das Recht, die Miete für sein Büro zu zahlen. Die Versuche, die besten
können, den Vertrag mit seiner Mutteragentur zu brechen.
Models und Booker mit Verträgen an sich zu binden, scheitern meistens.
Models sind zwar nicht optisch, aber charakterlich ein nur sehr leicht
Ich muss gestehen: Viele Male wurden mir Models gestohlen oder Ver-
verzerrtes Spiegelbild der Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurden.
träge entwendet, Konkurrenzagenturen in Wien schreckten nicht einmal
Die meisten würden ihr Leben in anderen Bereichen wahrscheinlich sehr
davor zurück, mich beim Staatsanwalt wegen Betrugs anzuzeigen, um ein
ähnlich leben.
ganz bestimmtes Model zu bekommen. Windige Advokaten stellten sich
Die Sehnsucht nach ewiger Jugend und Schönheit ist archaisch; dass
immer wieder in den Dienst der „bösen Sache“, informierten die Presse,
unsere Gesellschaft denen nicht vergibt, die damit anscheinend über-
und wenn sie vor Gericht scheiterten, dann interessierte das niemanden
reich gesegnet sind, liegt auf der Hand und erhöht die Lust an Skanda-
mehr. Die Mehrzahl der Geschäftsführer der besten Agenturen in Brati­
len – selbst wenn sie erfunden sind und nichts dahintersteckt.
slava, Prag oder Budapest sind ehemalige Booker meiner Agentur Look
Models. Niemand fragt sie heute mehr nach dem Diebstahl von Daten.
Booker sind die ersten Vertrauten und die nächsten Ansprechpersonen
von Models. Verlassen sie eine Agentur, so folgen ihnen die Models sehr
Wir, die „Scouts“ oder Mutteragenturen, müssen sehr viel vorfinanzie-
oft an eine neue Adresse.
ren. Wir holen die Mädchen meist von weit her. Mit Hilfe von Friseu-
Es ist etwa in der ganzen Branche kein Geheimnis, dass die riesige US-
ren und Stylisten entscheiden wir, ob das Haar geschnitten oder gefärbt
Agentur IMG immer gerne Models von kleineren, schwächeren Mutter­
werden muss, wir verändern vielleicht die Form der Augenbrauen und
agenturen übernimmt. Wie gesagt: Man kann Models sowieso nicht mit
zeigen, wie man sich am besten selbst schminkt. Wir machen Schnapp-
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schüsse im Bikini, und wenn kleine Figur- oder Hautprobleme bestehen,
Buying“ von den Produktionsfirmen oder den Fotoagenturen durchführen
dann gibt es das entsprechende Programm dagegen. Wenn diese ersten
zu lassen. Die Besetzung für eine Werbekampagne ist ein sensibles Ge-
Adjustierungen erfolgt sind – das kann nach drei Monaten oder auch
schäft und wird bei uns total unterschätzt. Ich glaube, es war besser, als die
schon nach drei Tagen sein –, startet die Testphase. Wir beginnen mit er-
Werbeagenturen und ihre Kreativen das alles noch selbst gemacht haben.
fahrenen Fotografen, die den jungen Mädchen beim Shooting helfen und
Wir kämpfen auf kleinen Märkten, um den Nachwuchs zu etablie-
die die nötige Geduld für diese ersten Schritte eines Models haben. Hin
ren und seine Beliebtheit zu vergrößern; kaum haben wir das geschafft,
und wieder kommen auch Fotografen zum Einsatz, die solche Fotoses-
kaum beginnen die Models (und auch wir) Geld zu verdienen, ziehen sie
sions gratis machen, um Material für ihre eigenen Präsentationsmappen
meist auch schon weiter, zu einem größeren Futtertrog.
zu haben, mit denen sie sich bei großen Magazinen um Jobs bewerben.
Mit einigen Ausnahmen – wie zum Beispiel Linda Evangelista eine ist,
Wenn die Fotos überzeugen, machen wir auch bezahlte Tests, die
die ihrer Mutteragentur fast ein ganzes Modelleben lang treu blieb – pas-
Agentur finanziert alles vor und zieht die Kosten von späteren Gagen
siert das in unserer wunderbaren Welt der Schönen und Reichen j­eden
ab. Die sogenannten Blitzkarrieren kommen heute fast nicht mehr vor.
Tag so. Man kann sich auf nichts und niemanden verlassen, und ich woll-
Mutteragenturen bauen ihre Models sorgfältig und auf lange Sicht auf –
te dabei immer der Gegenpol sein und meine Handschlagqualität unter
diejenigen auf kleinen Märkten schicken sie zum Beispiel in den Ferien
Beweis stellen.
ins Ausland – und versuchen, ihren Marktwert stetig zu erhöhen.
Es ist ein seltenes Talent, zu erkennen, ob aus einem jungen, meist
Man merkt relativ schnell, ob ein Mädchen weiß, worauf es ankommt:
schüchternen Mädchen ein Model werden kann oder nicht – vor allem,
dass sie die Fotografen inspiriert und dass sie immer wieder, wenn auch
wenn es keine Fotos gibt. Elite-Chef John Casablancas, der Erfinder der
nur für Tests, von Interessenten angefragt wird. Kann sie gut aus sich her­
weltweit erfolgreichen Supermodels, machte aus manch namenloser jun-
ausgehen, unterscheidet sie ganz klar zwischen Privatem und Geschäft­
gen Schönheit eine eigenständige Persönlichkeit und unabhängige Busi-
lichem, lernt sie, sich zu bewegen und gute von weniger guten Fotografen
nesswoman.
zu unterscheiden, dann ist sie auf einem richtigen Weg. Gute Models sind
In meinen frühen Jahren in der Branche war es noch leichter mög-
immer intelligent! Es ist verdammt schwer, sich heutzutage durchzuset-
lich, jemanden zu entdecken. Der Markt war überschaubar, die meisten
zen. Die Konkurrenz aus Osteuropa und Südamerika ist übermächtig.
­Models kamen aus heimischen Gefilden, und ich war den Kunden so
Eine gute Mischung aus Fingerspitzengefühl, Selbstvermarktung und
nah, dass wir immer und überall nach Talenten für ganz bestimmte Pro-
dem Wunsch, stetig besser zu werden, ist die wichtigste Voraussetzung,
jekte Ausschau hielten. Das änderte sich schnell, als man bald nicht mehr
um eine Chance zu haben, es wirklich bis an die Spitze zu schaffen. Die
zufrieden war, mit den immer gleichen Models zu arbeiten; so schnell
Pyramide ist steil und an der Spitze gibt es nur ganz wenige Plätze.
wuchsen keine neuen nach, daher musste man mit anderen Agenturen
kooperieren, Scouting-Reisen machen und im Ausland Modelcastings
Der österreichische Markt ist klein, trotzdem haben wir qualitativ sehr gute
veranstalten.
Fotografen. Ich persönlich bedaure, dass wir Modelagenten zu vielen Kunden den direkten Kontakt verloren haben, weil man es bevorzugt, das „Art
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Bei einem meiner ersten Castings in Bratislava tauchte ein „kleines Mäd-
Valerie kam aus einer zerrütteten Familie, der Vater war früh ver-
chen“ auf. Es stammte aus einer kleinen Ortschaft, zwei Autostunden
schwunden, die Mutter war alkoholkrank, und der einzige Halt, den sie
von Bratislava entfernt, und kam mit seinen Großeltern. Sie sah unge-
im Leben bisher gehabt hatte, waren die erdverbundenen Großeltern.
fähr so aus wie Cindy Crawford bei ihrem ersten Casting für den Elite
Das mag auch der Grund dafür gewesen sein, dass sie sich später – trotz
Model Look. Sie war 15 Jahre alt, hatte zirka zehn Kilo zu viel und war
ihrer oder vielleicht gerade wegen ihrer offensichtlichen Schönheit – als
geschminkt wie ein Pfingstochse. Es gab praktisch keine Infrastruktur
pathologische Lügnerin entpuppte.
in der Slowakei, keine Make-up-Artists mit Qualität oder entsprechende
Sie war eines jener Models, die viel zu schnell Erfolg hatten und zu
Friseure. Und wir mussten bei diesem Casting all diese Tätigkeiten unter
intensiv leben wollten. Zunächst musste ich sie vor ihrer gierigen Mutter
meiner Anleitung in einem Bus durchführen, weil es in der eigens ange-
beschützen, die ständig nur Geld von ihr wollte und mit allen Tricks
mieteten Turnhalle nur fünf Grad hatte.
versuchte, das von mir für Valerie angelegte Treuhandkonto zu knacken.
Die „Kleine“ war schüchtern, aber selbstbewusst, sie sprach fast kein
Valerie flog nach Paris, New York und London, heimste Kampagnen
Englisch, hatte aber ein Leuchten in den Augen, das mein Scout-Herz
ein, für die sich andere einige Jahre hinten anstellen mussten, aber sie
sofort höher schlagen ließ. Ich erklärte ihr die notwendigen Veränderun-
war nie glücklich. Ihre Boyfriends, immer mit afrikanischen Wurzeln,
gen beim Styling, und ihr Großvater strahlte sie stolz an und nickte ihr
kamen und gingen und nahmen immer einen großen Teil von Valeries
aufmunternd zu.
Taschengeld mit. Ihre Attitüde wurde immer schwieriger, sie fühlte sich
Ein paar Monate später war das Finale. Es gelang mir, Linda Evange-
als „weiße Naomi“. Ihre ersten Erfolge waren gigantisch, aber ihre noch
lista mit 50.000 Dollar dazu zu überreden, zuerst in Bratislava und dann
nicht gefestigte Persönlichkeit hielt mit den Erfolgen nicht Schritt. Gut
in Wien in der Jury zu sitzen. Wir organisierten die Finalveranstaltungen
dotierte Jobs für Rimmel, Chanel und Mango wechselten sich ab mit Ex-
knapp hintereinander. Linda und ich waren inzwischen, nach anfäng­
zessen, bei denen sie im Studio lauthals nach einer Ladung Kokain rief
lichen Schwierigkeiten, so etwas wie gute Freunde und uns ziemlich
oder die Stylistin bei einem Shooting in der Karibik als Hure beschimpfte.
­einig, was die Auswahlkriterien bei angehenden Models betraf.
Es stellte sich heraus, dass die Stylistin die Frau eines renommierten eng-
Das „kleine Mädchen“ hatte etwas abgenommen, allerdings nicht
lischen Fotografen war, der Valerie fotografieren sollte, und der Skandal
enug, und konnte ein paar Worte mehr Englisch als vor drei Monaten;
war perfekt. Da sie auf einer Yacht in der Karibik waren, wurde Valerie
eigentlich war sie nach den klassischen Modelmaß-Richtlinien zu klein,
im nächsten Hafen an Land gesetzt und nach London zurückgeflogen. In
doch ihre Strahlkraft war einmalig. Aus den anderen 19 durchaus hüb-
unserer Branche nennt man das: „She was burning all the bridges“; sie
schen Kandidatinnen stach sie heraus wie ein Diamant unter ein paar
hat verbrannte Erde hinterlassen. Trotz all dieser Schwierigkeiten im Be-
Glasscherben. Sie lachte und flirtete mit der Jury, dass es eine Pracht
reich Disziplin und den immer ärger werdenden Lügengeschichten hielt
war, sie suchte immer Augenkontakt mit Linda – und sie wurde unsere
ich mit ihr durch.
Siegerin!
Ich besorgte ihr eine Wohnung in New York und jemanden, der dar-
Das „kleine Mädchen“ – nennen wir sie Valerie – hatte gekämpft und
zum ersten Mal in seinem Leben etwas gewonnen.
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auf achtete, dass sie morgens aus dem Bett stieg, wenn sie eine Buchung
hatte. Ich zog mit ihr durch die schwarzen Clubs in New York, redete mit
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Gunter Sachs
Fotos: Wolfgang Schwarz (4), Axel Zeininger (1)
Linda Evangelista
Fotos: Wolfgang Schwarz (9)