Dr. Gerti Senger 102 Z65 A Wir alle sind Beziehungswesen

Transcription

Dr. Gerti Senger 102 Z65 A Wir alle sind Beziehungswesen
1
Dr. Gerti Senger
102 Z65 A
Wir alle sind Beziehungswesen. Wir werden in Beziehungen
geboren und verletzt. Aber wir können auch in Beziehung heilen
und unser Lebensglück finden…
Wachsen durch Liebe
In Großstädten wird heute jede zweite Ehe geschieden. Die
Generation
der
Heiratsfähigen
stellt
sich
auf
„Lebensabschnittspartner“ ein. Ehen werden von vorneherein
„scheidungsgerecht“ geplant. Just in der Phase, in der die stabile
Zweierbeziehung in Frage steht, revolutionieren neue Thesen die
partnerschaftlichen Vorstellungen:
o Liebe kann ein ganzes Leben dauern. o Der vermeintlich
falsche Partner ist meist der richtige. o Die romantische Liebe ist
nicht das elementare Lebensereignis, sondern nur ein Trick der
Natur. o Und: Die Partner selbst können für einander die besten
Therapeuten sein.
Meist bedarf ein Partnerschaftsproblem gar keiner speziellen,
fachmännischen Lösung: Wenn das Klima verändert wird, in dem
das Problem entstand, löst sich das Problem auf. Das gilt übrigens
nicht
nur
für
Liebes-,
sondern
auch
für
familiäre
und
Freundschaftsbeziehungen.
Dass es in Beziehungen zu Konflikten kommt, ist nahezu
unvermeidbar. Mit schlafwandlerischer Sicherheit legt die/ der
andere den Finger auf alte Wunden und es kommt zu neuerlichen
Verletzungen. Auch wenn der Anfang dieser Beziehung auf das
Gegenteil hoffen ließ, und man meinte, mit diesem Menschen
„lebendig“ sein zu können. So lebendig, wie es noch ein- oder
zweijährige Winzlinge sind, die von äußeren Einflüssen noch nicht
geformt oder besser „deformiert“ sind. Kleinkinder lächeln, bzw.
lachen 300 Mal am Tag, nur 12 Mal Erwachsene.
Deformierungen
durch
Kindheitsverletzungen
bleiben
niemandem erspart. Auch unter idealen Bedingungen des
2
Aufwachsens kann nicht jedes Bedürfnis nach Nähe befriedigt,
nicht jedem Impuls nach Freiheit nachgegeben und nicht jedes
Verlangen nach Anerkennung gestillt werden. Erziehung und
Umwelteinflüsse folgen Regeln. Und Regeln schränken ein,
frustrieren und verletzen.
Es liegt in der Natur des Menschen, mit diesen Verletzungen
irgendwie fertig zu werden. Man bekommt zu wenig Wärme und
sagt: „Ich brauche gar keine Wärme.“ Man sehnt sich vergeblich
nach Anerkennung und holt sich diese in Zukunft über einen
anderen: „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau.“
Verliebtheit ist ein
Trick der Natur
Jeder weiß, dass zum Beispiel in den ersten zwei Jahren einer
Liebesbeziehung der Himmel voller Geigen hängt. Ein Trick der
Natur - die Verliebtheit ist dazu da, jenen Menschen zu
„engagieren“, der die Fähigkeit hätte, die alten, verdrängten
Verletzungen zu heilen. Aber noch bevor ein Wachstums- und
Heilungsprozess einsetzt, entsteht ein massiver Machtkampf.
Jeder erwartet vom anderen genau die Verhaltensweisen, die
dazu geeignet wären, die Defizite der Kindheit auszugleichen: „Sei
immer lieb zu mir“, „Gib mir Geborgenheit“, „Anerkenne mich“,
„Schau mich an“, „Laß
mir Freiheit“. Anfänglich werden diese
Wünsche spontan erfüllt. Dann wird darum gestritten und
gekämpft, oft bis der Scheidungsrichter das letzte Wort hat.
Jeder
Mensch
strebt
nach
Macht
im
Sinne
von
Einflussnahme. Bis jetzt waren die Quellen der Macht allerdings
geschlechtsspezifisch verteilt: Frauen gewannen ihre Macht aus
ihrer Begabung und Möglichkeit, für andere zu sorgen. Männer
bezogen ihre Macht aus ihrer Unabhängigkeit. Hier der siegende
Held, da die unterwürfige Samariterin. Heute sind die Karten neu
gemischt: Beide Geschlechter werden darauf trainiert, Sieger zu
sein. Nicht nur in Chefetagen, Werkstätten und Büros, sondern
auch bei Tisch und im Bett. Wie leicht es zu einem Machtkampf
3
kommt, wenn zwei aufeinanderprallen, die siegen wollen, liegt auf
der Hand.
Machtkämpfe beginnen harmlos: „Sie soll das Altpapier
wegschaffen, ich kümmere mich ohnedies schon um den Mist“
heißt es. Oder: „Wenn ich das für sie/ihn erledige, bin ich immer
dafür verantwortlich.“
Es geht immer um Macht, Macht, Macht! Vor allem aber geht
es darum, das Gefühl eigener Ohn-Macht zu überwinden. Der
Machtkampf darf nicht aufhören, denn das hieße für jeden, sein
Terrain,
seinen
mühsam
errungenen
Sicherheitspuffer
zu
verlieren.
In diesem Zustand kommunizieren zwei Menschen nicht
mehr wirklich miteinander. Es wird nur noch gespöttelt, zynisch
kommentiert. Dialoge, bei denen Inhalte ausgetauscht werden,
finden nicht mehr statt. Dabei ist das, was sich beide wünschen,
so erschütternd einfach, dass es auf einen einfachen Nenner
gebracht werden könnte: „Respektiere mich, gib mir Raum.“
Schade um all die Energie, schade um das Erstarren oder
Zerbrechen einer Beziehung, die bereichern, zu seelischem und
geistigem Wachstum
hätte beitragen können. Anstatt wie
Kampfhähne aufeinander los zu gehen, könnten zwei Menschen
Kindheitsverletzungen,
Ängste
und
versteckte
Bedürfnisse
aufspüren. Wenn der erste Schritt zu einer gegenseitigen Öffnung,
zum Hören, Da-sein und individuellem Wachsen getan ist, hat der
blockierende Machtkampf ein Ende. Die Gewissheit, endlich
gehört und verstanden zu werden, ermöglicht die notwendige,
innere Sicherheit. Ist die erst einmal da, stellt sich das zweite
menschliche Grundbedürfnis wieder von selbst ein – die
Lebendigkeit.

Documents pareils